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Selbständig und doch nicht frei

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Nunzia ist die Managerin der Familie und als solche ist sie permanent auf der Suche nach neuen Geschäftsideen. Die Zeiten sind schwierig für die sizilianische Mafia. Nach den Attentaten der Jahre 1992 und 1993 geht der Staat entschieden gegen den militärischen Arm der Cosa Nostra vor. Immer häufiger gehen der Polizei Mitglieder ihres Clans ins Netz. Die steigende Zahl inhaftierter Männer stellt sie vor neue Herausforderungen. Als Clanchefin muss sie für deren Unterhalt und den der Angehörigen aufkommen. Das bedeutet neue, nicht vorhergesehene Ausgaben. Sie steigt daher in das verbotene Glücksspiel ein, lässt Spielautomaten für sich arbeiten, die die Kasse für sie klingeln lassen und für satte Gewinne sorgen.

Doch Nunzias große Stärke liegt im Finanzwesen. Die hübsche junge Frau mit dunkelblondem, halblangem Haar ist eine gern gesehene Kundin etlicher Großbanken in und um Nizza. Sie eröffnet Konten und Depots und spezialisiert sich auf Aktien und Portfolios. Die Herkunft des investierten Geldes, das ausschließlich aus illegalen Einkünften stammt, scheint niemanden zu interessieren. Nunzia ist eine aparte Erscheinung, ihr Auftreten ist gewandt, wie ihre Brüder legt auch sie Wert auf Designerkleidung. Aber sie ist vor allem intelligent, wie auch die Ermittler feststellen. Immer bemüht, jedes noch so kleine Risiko so gering wie möglich zu halten. Wenn sie etwa mit ihrem Anwalt sprechen muss, tut sie das nur von einem öffentlichen Telefon aus. Der Gebrauch von Mobiltelefonen ist genau reglementiert und nur auf einige Themen beschränkt.

Das Risiko klein halten bedeutet auch, selbst über möglichst viele Informationen zu verfügen und möglichst wenig vom Wissen anderer abhängig zu sein. Die junge Frau bildet sich daher sprachlich und fachlich ständig weiter. Sie studiert die Feinheiten des Internets und lernt Französisch, sie verfolgt täglich die Aktien- und Börsenkurse in Radio und Fernsehen, und zu ihrer permanenten Lektüre gehört die hochseriöse Tageszeitung der italienischen Industriellenvereinigung, „Sole 24 Ore“, die sie auch im Gefängnis weiterhin lesen wird.

Selbständig, unabhängig, intelligent und emanzipiert, so wird Nunzia Graviano beschrieben. Als die junge Frau jedoch in Frankreich eine Beziehung zu einem aus Syrien stammenden Arzt beginnt, schlagen die althergebrachten Muster wieder durch und die Brüder zu. „Ich bin Sizilianer, du bist Sizilianerin, wir haben Traditionen. Wir kennen keine Scheidung und jede Beziehung muss in einer Ehe enden“, gibt ihr Bruder Giuseppe unmissverständlich zu verstehen. „Und“, fügt der Auftraggeber des Mordes an Pater Puglisi hinzu, „welche Religion hat denn der überhaupt?“ Die Botschaft ist klar: Der Freund wird von der Familie nicht akzeptiert. Vor die Wahl gestellt, sich entweder für die neue Liebe oder für die Ursprungsfamilie zu entscheiden, entscheidet sich Nunzia für Letztere – und bleibt damit letztlich den alten Prinzipien verhaftet. Dieselbe Frau, die nach der Verhaftung ihrer Brüder zu ihren „Untergebenen“ sagte: „Jetzt bin ich es“, gibt nun klein bei.

1999 wird Nunzia Graviano das erste Mal verhaftet und als Mafiosa verurteilt. 2011 nimmt die Polizei sie erneut fest. Zwei Jahre später kommt es zu einer weiteren Verurteilung. Wieder war Nunzia als Geschäftsfrau für den Clan tätig. Wieder leitete sie die Geldgeschäfte. Zur Tarnung führte sie offiziell eine Bar in Rom. In Wirklichkeit wurde weiter schmutziges Geld verwaltet und reingewaschen. Gelder aus Schutzgelderpressungen und anderen illegalen Aktivitäten. Zu den Spielautomaten kam das Transportwesen hinzu. Nunzia gab weiterhin die Linie vor und hatte noch immer ihre Leute fest im Griff. Und das Schmutzgeld wurde nach wie vor in Paketen verschnürt ins Haus geliefert.

Derzeit sind die Graviano-Brüder und ihre Schwester in Haft. Das Kapitel der Familie ist aber weiterhin offen und Teil der jüngsten Kriminalgeschichte Italiens. Denn das Paten-Brüderpaar ist nicht nur mitverantwortlich für den Mafia-Terror der 1990er-Jahre, es soll auch in der hohen Politik mitgemischt haben. Laut berühmten Kronzeugen wie Nino Giuffrè und Gaspare Spatuzza waren es die Brüder Graviano, die in jenen Jahren als Vermittler zwischen dem damaligen Polit-Neueinsteiger Silvio Berlusconi und der Cosa Nostra agierten. Danach habe die Mafia dessen Partei Forza Italia von Anfang an unterstützt. Als Gegenleistung wollte die Cosa Nostra in Ruhe gelassen werden. Sie wollte Schutz für sich und ihre Mitglieder. Gaspare Spatuzza, seit 2008 pentito und Zeuge der Justiz, soll von Giuseppe Graviano selbst davon erfahren haben. Anfang 1994, gab er zu Protokoll, habe er sich mit seinem Boss in einer Bar in der eleganten Via Veneto in Rom getroffen, die in dessen Eigentum war. Giuseppe Graviano habe offen über die neue Partei und ihre beiden Gründer gesprochen: Silvio Berlusconi und Marcello dell’Utri. Berlusconis Weggefährte, der im Mai 2014 rechtskräftig wegen Mafia-Verwicklungen verurteilt worden ist, soll damals als Mittelsmann der Politik agiert haben. Dank der beiden Politiker „hat die Mafia das Land in der Hand“, zitierte Spatuzza weiter aus seinem Gespräch mit Graviano.

Im darauffolgenden Frühling gewann der Mailänder Medienzar seine erste Wahl und wurde Ministerpräsident. Filippo Graviano hat die Aussagen seines ehemaligen, und nun reuigen, Auftragskillers zurückgewiesen. Giuseppe Graviano schweigt dazu eisern. Bis heute sind die Aussagen Spatuzzas Gegenstand von Untersuchungen. Eines der schwierigsten Kapitel der jüngsten italienischen Geschichte ist damit weiterhin offen. Und damit auch die Ermittlungen zu den Morden an Falcone und Borsellino.

Wie mächtig die Bosse sind – und vor allem waren –, zeigt die Geburt ihrer Kinder. Dem Storch gelang es sogar, die Gefängnismauern des Hochsicherheitstrakts zu überwinden. Beide Ehefrauen gebaren 1997 im Abstand von rund einem Monat in einer Privatklinik in Nizza ihre Kinder. Und das, obwohl beide Männer schon lange hinter Gittern saßen.

Die Stunde der Patinnen

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