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Kapitel 1: Pilgerfahrt

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Das unangenehme Räuspern des Piloten direkt in die Lautsprecheranlage ließ ihn hochschrecken. Gerade erst war er ein wenig eingenickt auf dem Kissen, das ihm eine freundliche Flugbegleiterin gebracht hatte. Tom liebte es, Business Class zu reisen und in den bequemen Sesseln einzusinken. Es hatte etwas von Clubatmosphäre und Wohnzimmer zugleich. So ließ sich auf Dienstreisen das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. „Verehrte Fluggäste, in wenigen Minuten werden wir …“, der Rest wurde wieder von Geräuschen verschluckt, die sicherlich nichts im Mikrofon eines Cockpits zu suchen hatten. Eher klang es, als würde ein Zug mit quietschenden Bremsen in einen Bahnhof einfahren. Tom gellten die Ohren. Gehörte die Bedienung einer einfachen Sprechanlage denn nicht zur Ausbildung eines Flugkapitäns? Eine Stunde Einweisung wäre doch sicher keine Überforderung in der mehrjährigen Ausbildung. Und zur Technik dürften gerade diese Menschen eigentlich kein gespaltenes Verhältnis haben. Schnell schob er diesen Gedanken beiseite, der ihm ein wenig mulmig werden ließ. Er hatte noch keinen einzigen Flug erlebt, bei dem es nicht unangenehm aufgefallen wäre, wie inkompetent Durchsagen an die Passagiere gemacht wurden. Meist viel zu schnell und undeutlich ausgesprochen, manchmal von einem Klopfen oder Räuspern eingeleitet, das einem das Trommelfell zu zerkratzen drohte, aber niemals so, dass das Wohlbefinden der Fluggäste gesteigert wurde, wozu die Ansage ja ursprünglich einmal gedacht war. Flugkapitäne eigneten sich anscheinend nicht für diese Aufgabe. Vielleicht waren ihre Kabinen auch überklimatisiert und deshalb hörten sich die Stimmen so heiser an, sinnierte er. Aber das konnte ja wohl keine Entschuldigung sein. In Zügen gab es so etwas nicht. Die Lokführer wurden mit solch lästigen Details, wie Durchsagen an die Fahrgäste, nicht belastet. Jedenfalls hatte er das noch nicht erlebt. Meistens gab es dort eine Computerstimme, eiskalt, aber wenigstens mit klarer Aussprache. Das war natürlich auch viel wichtiger, damit man den richtigen Bahnhof zum Aussteigen nicht verpasste. Im Flugzeug wäre das ja schlecht möglich. Die Zugführer hatten dafür mit ganz anderen Lasten zu kämpfen. Es gab inzwischen eine eigene Therapieabteilung bei der Bahn für Lokführer, die Menschen überrollt hatten, welche sich vor den Zug geworfen hatten. Vor ein Flugzeug hatte sich seines Wissens noch niemand geworfen, wahrscheinlich waren die Start- und Landebahnen einfach besser bewacht. Warum nur denken Kinder, dass Lokführer ein Traumberuf ist, wenn diese Menschen so schreckliches erleben müssen. Na ja, eigentlich war es ja gut, dass Kinder noch nicht mit so viel Lebensrealität belastet wurden. Auf einmal hatte er die Bilder im Kopf. Wie aus dem Nichts kommt ein Körper geflogen, gleichzeitig mit dem Schock der Versuch zu bremsen, der dumpfe Aufprall, das Knirschen von Knochen unter den Rädern und dann die zerstückelten menschlichen Überreste im Fahrgestell. Er schüttelte sich. Wie wird man so etwas wieder los? Wie geht man mit dem Schuldgefühl um, einem Menschen das Leben genommen zu haben? Ganz gleich, ob man das wollte oder nicht. Das dumpfe Nagen in der Seele bleibt: Hätte ich es vielleicht verhindern können? Vielleicht war ich nicht aufmerksam genug? Habe ich schnell genug gebremst? Überhaupt - warum konnten Menschen, die unbedingt aus dem Leben scheiden wollten, das nicht ganz still und für sich alleine machen. Warum müssen Elternteile vorher noch ihre Kinder oder den Partner umbringen? Er hatte von einem Vater gelesen, der erst seine beiden Kinder und dann sich selbst verbrannte. Was können denn die Kinder dafür? Und was für ein schrecklicher Tod ist das? Warum mussten immer wieder Polizisten und Einsatzkräfte ihr Leben lassen, oder hinterher psychologisch betreut werden, weil sie Schreckliches mit anschauen mussten? Gibt es denn keine Regeln für so etwas, ein Knigge für Selbstmörder? Konnte man nicht ein Handbuch für korrekten Suizid herausbringen. Etwa mit dem Titel: „Wie bringe ich mich um, ohne anderen zu schaden?“

Eine fröhliche Stimme ertönte neben ihm: „Na, woran denken Sie denn gerade?“ Tom schreckte hoch und fing an zu stottern: „Ach g-ga-gar nichts. Sie wissen doch, wir Männer haben nicht so tiefsinnige Gedanken.“ - „Na, das muss aber ein grimmiges Gar-Nichts sein, ihrem Gesicht nach zu urteilen!“, meinte die Stewardess besorgt. Aber er wusste aus Erfahrung, dass es besser war, nicht zu versuchen, einer Frau die Gedankengänge eines Mannes zu erklären. So hielt sie ihn nur für ein bisschen schlicht unter dem Scheitel, aber was wäre gewesen, wenn er versucht hätte, ihr den völlig logischen Aufbau seiner Gedanken zu erklären. Etwa in diesem Sinne: „Ach, ich habe gerade daran gedacht, dass es einen Leitfaden für Suizid geben sollte.“ – „Wie kommen Sie denn darauf?“ – „Na ja, eigentlich durch die Durchsage des Piloten.“ – „Moment, ich bringe Ihnen gleich etwas zur Beruhigung, sie müssen sich nicht aufregen, wir sind gleich gelandet, bleiben Sie ganz ruhig…“ Dann war es doch besser, einfach zu behaupten, man würde nichts denken. Es war zwar nicht die Wahrheit, aber wenigstens wird man nicht angeschaut wie ein armer Irrer. Die besorgte Stewardess brachte ihn auf einen anderen Gedanken: Die Durchsagen im Flugzeug könnten doch gut von den Flugbegleiterinnen gemacht werden, die mit ihren angenehmen Stimmen und wohltuenden Umgangsformen sicher besser geeignet wären.

Er merkte, wie sein Blick an einer der Stewardessen hängenblieb – vielleicht einen Augenblick länger als unbedingt notwendig. Sie war ihm direkt in die Arme gelaufen, als er vorhin die Bordtoilette verließ. Das hatte ihn ein wenig aus dem Konzept gebracht. Er war es nicht mehr gewohnt eine zarte, schöne Frau in den Armen zu halten. Zu lange war es nun her. Und es ließ ihn nicht kalt, das musste er sich eingestehen. Danach hatte sie ebenfalls ein Auge auf ihn geworfen, so schien es ihm. Normalerweise merkte er gar nicht, wenn eine Frau ihn genauer unter die Lupe nahm, wahrscheinlich, weil es ihn nicht interessierte, aber hier war es anders. Der ungeplante Zusammenstoß hatte wohl auch bei ihr eine Wirkung hinterlassen. Sehr zuvorkommend hatte sie ihn behandelt, ihm persönliche Fragen gestellt und nebenbei fallen lassen, dass sie nach diesem Flug erst einmal ein paar Tage frei hätte. Dabei kniete sie ganz dicht bei ihm, so dass ihre langen braunen Haare sanft auf seinem Arm lagen. Es kam ihm vor, als läge ein Schimmer Sternenstaub darauf. Das zarte Gesicht kam seinem ganz nah und am liebsten hätte er sie geküsst. Er fühlte sich ein bisschen albern. Eigentlich hatte er gedacht, mit dem Ende der Pubertät könnten Schmetterlinge im Bauch nicht mehr überleben. Solche Gefühle hatte er völlig aus seinem Leben verbannt. Aber nun flatterten sie wieder, die Schmetterlinge. Noch einmal kamen ihm Zweifel: Vielleicht hätte er sich mit ihr verabreden sollen. Sie war genau die Frau, die ihn sofort in ihren Bann zog, vor allem diese großen, braunen Augen mit einem kleinen Hauch von Schalk, die so wirkten, als könnten sie direkt in seinen Kopf hineinschauen. Aber darauf konnte er sich nicht einlassen. Er war noch nicht bereit für eine neue große Liebe, und kleine Lieben gab es bei ihm nicht. Der Schmerz saß noch zu tief. Aber er ließ sich noch einmal ein Glas Sekt bringen. Als sie sich zu ihm herab beugte, zog er tief den Duft ihrer Haare in die Nase und hatte das Gefühl, das Prickeln des Sternenstaubes zu fühlen. Das musste für den Moment reichen. Beim Aussteigen zwinkerte er ihr schelmisch zu und hoffte einfach, dass Zeit und Ort kommen würden, wo sie sich wieder sahen. Dann von der Last befreit, die ihn bedrückte.

Es war heiß und stickig, als Tom aus dem Flugzeug stieg, die Luft flimmerte und er hatte Angst bei jedem Streichholz, das nun aufflammte um eine Zigarette anzuzünden, dass die Luft explodieren würde. Die Raucher schien das unangenehme Klima hier überhaupt nicht zu interessieren. Hastig zogen sie Teer und Nikotin ganz tief in ihre Lungen ein, dann entspannte sich langsam die Körperhaltung und der Stress wich aus ihrem Gesicht. Der lange Flug musste eine Qual für sie gewesen sein. Es war sicherlich anstrengend, wenn man immer nur von einer Kippe zur nächsten lebt. Zum Glück war ihm dieses Laster erspart geblieben, und er konnte entspannt die Gangway hinabsteigen. Ihm setzte das Klima längst nicht mehr so zu, wie noch vor zwei Jahren, als er das erste Mal hier gewesen war. Damals hatte er das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Er hatte einen Druck gespürt, der ihm Angst machte, richtige Todesangst. Er konnte den Eindruck nicht abschütteln, als hätte sein letztes Stündlein geschlagen. Am liebsten wäre er gleich wieder umgekehrt und hätte den nächsten Flieger zurück genommen. Inzwischen hatte er die Zeit genutzt und ein intensives Training absolviert. Ein Personal Trainer hatte ihn auf alle Situationen vorbereitet. Er war körperlich so fit, wie nie zuvor in seinem Leben und konnte frei atmen und das trotz der hohen Luftverschmutzung in dieser Stadt. Na ja, wenn er recht überlegte, schlimmer als Zigarettenqualm war die Atemluft sicher auch nicht. Früher hätte er es nie für möglich gehalten, dass vieles im Leben durch Disziplin und Anstrengung zu bewältigen war, aber vielleicht war es auch die richtige Motivation, die einen Menschen zu Höchstleistungen antrieb. Jetzt war er froh, dass er wieder eine Hürde geschafft hatte.

Als er durch die Passkontrolle war und aus dem Flughafengebäude heraustrat, wurde er trotzdem fast erschlagen von dem gewaltigen Lärm und dem chaotischen Gewimmel. An dieses orientalische Großstadtgetümmel musste er sich erst wieder gewöhnen. Er hatte die Dinge gern im Griff und überschaubar, wusste, wo es lang ging, aber hier war das fast unmöglich. Hunderte von verschiedenen Verkehrsmitteln fuhren bunt durcheinander, falls man das fahren nennen konnte. Wo er hinblickte gab es unzählige Beinahe-Zusammenstöße. Fahrräder und Rikschas schossen durch die kleinsten Lücken. Autos aus jedem Baujahr, viele älter als er selber, aber sicher alle ohne technische Überprüfung, blockierten die Zufahrten. Die allgegenwärtigen Pickups, mit Menschentrauben auf der Ladefläche, funktionierten als unfreiwillige Taxis. An jeder Straßenecke sprangen Leute auf und andere herunter, nur um wieder eine andere Ladefläche zu erklimmen, die sie in eine andere Richtung brachte. Busse, die wie Sardinenbüchsen vollgestopft waren mit menschlichen und anderen Wesen, schossen durch Lücken, durch die sie gar nicht passen konnten. Aus Fenstern und Türen quollen Körper heraus und sogar oben auf dem Dach klammerten sich Gestalten an allem fest, was Sicherheit bot gegen den halsbrecherischen Fahrstil des Busfahrers, der ursprünglich wohl Henker werden wollte, aber die Arbeit als Busfahrer viel effektiver fand. Dazwischen flatterten, muhten, gackerten und bockten Esel und Kühe, Hühner und Gänse und manches Getier, das es wohl nur an diesem Ort der Welt gab. Zumindest hatte er es noch nirgendwo vorher gesehen. Die Vorstellung, dass all das, abgesehen von den Heiligen Kühen, auch in den Mägen landete, ließ ihn erschaudern. Und dann die vielen Fußgänger, die sich völlig unerschrocken all den metallischen Ungetümen entgegenstellten und erstaunlicherweise fast immer unversehrt davon kamen. Die Devise war hier: Schnell oder tot! Alles hupte, muhte, schrie und klingelte wild durcheinander, als ob davon irgendetwas schneller voran gehen würde. Schaudernd wandte er sich von dem Spektakel ab. Er musste es wieder lernen, sich auf das Wesentliche zu fokussieren, ohne alles andere aus den Augen zu verlieren. Anders konnte er an diesem Ort nichts bewirken. Das Chaos würde ihn gnadenlos verschlingen. In seinem Kopf fühlte er jetzt schon ein dumpfes Kreisen, dabei hatte seine Pilgerfahrt gerade erst begonnen.

Mitten in dem Getümmel entdeckte er jemanden, der ein Schild mit seinem Namen hochhielt. Das war der Chauffeur seiner Firma. Offensichtlich war wenigstens von dieser Seite für alles gesorgt, das stimmte ihn etwas versöhnlicher. Die Firma, ein großer Schweizer Pharmakonzern, war das einzig stabile in seinem Leben. Zwar war sie nur ein Vehikel, ein Mittel zum Zweck, aber trotzdem war sie es, die seinem Leben die Kontinuität gab, die ihm sonst gefehlt hätte. Es gab ja nichts anderes mehr. Man hatte ihn dort wohlwollend aufgenommen, als er sich neu orientieren musste. Schnell hatten die Vorgesetzten sein großes Potential erkannt und ihm jede Tür geöffnet, die ihn weiter brachte. Deshalb waren es friedliche Gedanken, die um seinen Auftraggeber kreisten. Und bei all dem, was er an privaten Interessen in diesem Land verfolgte, wollte er doch seine Arbeit nicht zu kurz kommen lassen. Das war er seinen Bossen schuldig.

Aber der innere Friede währte nicht lange. Schon als er im Auto saß und es einfach nicht vorwärts gehen wollte, fing er wieder an, mit sich zu streiten. Warum nur hatte er sich wieder an diesen nervenaufreibenden Ort schicken lassen? Er wusste, dass es in seiner Firma Mitarbeiter gab, die sich darum reißen würden, einmal ihr klimatisiertes Büro verlassen zu dürfen und sich in das orientalische Großstadtgetümmel zu stürzen. Manche warteten schon lange auf ihre Chance, aber wieder und wieder wurden sie übersehen und er wurde stattdessen entsandt. Und bei all dem, was ihm gehörig auf die Nerven ging an diesem Ort, hatte er doch selbst dafür gesorgt, dass man ihn nicht übersehen konnte. Er sprach fließend den Hauptdialekt des Landes und kannte sich mit der Mentalität und den Gepflogenheiten aus. In seinem Fach war er der Beste, war in der Materie zu Hause, wie kein anderer. Fast war es, als hätte er selber Medizin und Pharmakologie studiert. Er war unverzichtbar geworden, dafür hatte er jede freie Stunde geopfert. Er war allein und musste auf niemanden Rücksicht nehmen, aber während andere ihre Freizeit genossen und aufwendigen Hobbys nachgingen, nutzte er die Zeit, um sich in diese Ausgangsstellung zu katapultieren. Alle bewunderten ihn dafür, aber nur er allein wusste, was ihn derart antrieb, dass man schon fast von Besessenheit sprechen konnte. Wie ein Sportler hatte er auf alles verzichtet und hart trainiert, nur ging es hier um etwas Wichtigeres als eine Medaille. Man konnte fast sagen, sein Seelenheil hing davon ab, dass er seiner inneren Berufung folgte. Auf keinen Fall durfte er versagen, diese Möglichkeit hatte er völlig ausgeblendet.

Als er im Hotel eincheckte, hatte er sich wieder beruhigt. Er wusste, was er zu tun hatte und würde seinen Plan bis zum Ende durchziehen. Nichts und niemand konnte ihn jetzt noch davon abbringen. Mit einem finsteren Gesichtsausdruck nahm er seinen Schlüssel entgegen und bemerkte gar nicht, dass der kleine, freundliche Portier ängstlich ein wenig auf Abstand ging. Erst als Tom sich umdrehte war er wieder auf dem Boden der Tatsachen. Hinter ihm war ein Mann in das Hotel gekommen, der in seiner Verkleidung völlig deplatziert wirkte. Ein schwarzer Maßanzug schmiegte sich an die schlanke Figur, den schwarzen, dünnen Mantel hatte er wegen der Hitze über den Arm gelegt und auf der Nase prangte wahrhaftig eine große, dunkle Sonnenbrille, die sein Allerweltsgesicht zur Hälfte verdeckte. Aus dem Ohr schaute ein Stöpsel mit Kabel. Der Mann sah aus, als wäre er irgendeinem Hollywoodstreifen entsprungen, wo er den wichtigen Geheimagenten spielte. Der Mann wirkte an diesem Ort wie eine groteske Karikatur. In diesem Outfit würde er nur an einem Platz der Welt nicht auffallen, und das war das Bankenviertel in Zürich. Dort war die Mehrheit der Menschen gekleidet, dass sie aussahen wie Pinguine. Manchmal, wenn Tom um die Mittagszeit dort entlanglief, fühlte er sich so von Pinguinen umgeben, dass er meinte, sogar das Geschnatter zu hören, und er musste an den alten Kinderreim denken: Pitsch, Patsch, Pinguin. Aber hier wusste doch jeder sofort, dass man den geheimen Vertreter irgendeiner Regierung auf den Fersen hatte. Er musste auf der Hut sein. Zu leicht konnte man seine Absichten missverstehen. Für sein Vorhaben brauchte er absolute Anonymität.


Fröhlich pfeifend kam Andrea am nächsten Morgen aus ihrem Zimmer im Hotel die weitläufig gewendelte Treppe herunter, die mit einem vornehm wirkenden, roten Teppich ausgelegt war. Es war klar, hier sollten sich die Gäste wie VIP´s fühlen. Aber es lag wohl nicht nur am Teppich, dass sie geradezu ekstatisch war, wie elektrisch aufgeladen. Ihre Beschwingtheit kam eher von dem Gefühl der Überlegenheit. Natürlich hatte sie herausgefunden, in welchem Hotel er abgestiegen war! In ihrem Metier war das ein Kinderspiel. Sie musste nur die Passagierliste mit den örtlichen Buchungen abgleichen. Und ebenso einfach war es gewesen, im gleichen Hotel ein Zimmer zu bekommen. Als Flugbegleiterin konnte sie immer und überall noch ein Zimmer ordern, selbst wenn alles ausgebucht war. Eine Hand wäscht die andere, in dieser Branche hilft jeder jedem. Den Urlaub hatte sie zum Glück schon vor dem Flug beantragt. Nun hatte sie genug Zeit für ihren kleinen Plan mit dem großen Mann. Sie freute sich diebisch auf sein Gesicht, wenn sie ihm „zufällig“ über den Weg lief, diesmal hoffentlich nicht vor der Toilettentür - obwohl es schön gewesen war, in seinen muskulösen Armen zu landen. Er war hoch gewachsen, nicht zu kräftig, aber anscheinend doch sehr stark. Die fast schwarzen Haare und der dunkle Teint gaben ihm ein südländisches Aussehen, nur die hohe Gestalt ließ auf eine nördlichere Herkunft schließen. Die Haare waren ein bisschen widerspenstig und standen kreuz und quer, was ihm ein jungenhaftes Wesen verlieh. Er war sicher ein Magnet für die Blicke vieler Geschlechtsgenossinnen. Eigentlich ein Wunder, dass er noch Single war. Es war ihr natürlich nicht entgangen, dass auch sie eine gewisse Wirkung auf ihn hatte. Normalerweise hätte sie das nicht groß beachtet, denn als Stewardess hielt sie sich strikt an die Anweisung, berufliches und privates nicht zu vermischen. Aber jetzt hatte sie Urlaub. Und sein Zwinkern beim Verlassen des Fliegers hatte sie in ihrem Plan bestärkt. Der konnte doch nicht einfach so mit ihr flirten und meinen, er könne sich dann aus dem Staub machen. Dem würde sie mal richtig einheizen. Sie hatte ihm ja die Chance gegeben, dass er die Initiative ergreifen konnte. Aber nein, er hatte es nicht anders gewollt. Obwohl er sichtlich beeindruckt gewesen war, gab er sich gleichzeitig merkwürdig zugeknöpft. Vielleicht wollte er erobert werden, nicht jeder Mann ergreift gern die Initiative, das würde ja herauszufinden sein. Schon auf den letzten Stufen sah sie ihn am Buffet stehen, die Haare wieder ohne Erfolg gestylt. - Ein Süßer also, zumindest was das Frühstück anging, analysierte sie mit fachmännischem Blick. Croissants mit Marmelade und Kaffee, nicht gerade landestypisch, aber was wollte man am ersten Tag verlangen. Immerhin war er keiner von diesen Touristen, die sich um jeden Preis anbiedern wollten und jede unsinnige Sitte übernahmen. Hinterher beschwerten sie sich dann beim Reiseveranstalter, dass es immer nur Reis mit scharfem Curry gegeben hatte. Als hätte es nichts anderes zur Auswahl gehabt. Sie selber bevorzugte es herzhafter, Käse und Wurst, dazu Rührei mit Speck. Auch nicht gerade landestypisch, aber in diesem Hotel offensichtlich im Angebot. Nur ein kräftiges, dunkles Brot suchte sie vergeblich, also griff sie nach den Körnerbrötchen. Und sie konnte es sich leisten, ein wenig mehr auf den Teller zu nehmen. Figurprobleme kannte sie nicht, noch nicht. Sie wusste, dass sich das nach ein, zwei Kindern sehr schnell ändern konnte. Aber noch war es nicht so weit. Erst der Mann und dann die Kinder…

Sie stellte sich knapp hinter ihn. „Tom, Tom Richter?“ Er drehte sich erstaunt um, als er seinen Namen hörte, dann entglitten ihm die Gesichtszüge. Sie war froh, dass er nicht den Teller fallen ließ, auf dem sich sein Frühstück befand. Die Überraschung war ihr gelungen. „Ja…, Ja das ist aber eine Überraschung“, stammelte er vor sich hin. „Andrea, Andrea Jung“, stellte sie sich vor. „Ich bin ihre Stewardess von gestern“, fügte sie noch hinzu, immerhin werden Menschen in Uniform im richtigen Leben oft nicht gleich wiedererkannt. Aber diese Vorsichtsmaßnahme war überflüssig. Er hatte sie sofort richtig eingeordnet, das konnte sie ihm ansehen. Einen Moment genoss sie den Triumph und grinste über beide Ohren, dann kamen die Zweifel. Sie war sich nicht sicher, ob er sich wirklich freute, sie zu sehen. Sie wurde das Gefühl nicht los, als wenn sie irgendwie ungelegen kam. Nicht, dass gleich seine Freundin auftauchte. Das wäre peinlich! Im Flugzeug war er zwar allein gereist, aber er konnte sich ja hier mit ihr verabredet haben. Wenn man da auf die richtige Zicke traf, musste man sich auf Schlammcatchen im Hotel einstellen, nur mit Joghurt, Corn Flakes und Marmelade. In ihrem Kopf tauchten Bilder auf von umgeworfenen Schüsseln, zerschlagenem Geschirr, vollgeschmierten Möbeln und hilflosen Bediensteten, die unter Einsatz ihrer unbefleckten Schürzen versuchten die ineinander verschlungenen Frauenkörper zu trennen. Sie bemühte sich, ihr Kopfkino abzustellen und Tom ein gewinnendes Lächeln zuzuwerfen, der sie etwas skeptisch anschaute. Anscheinend versuchte er ihren Gesichtsausdruck zu deuten, was ihm natürlich nicht gelang. Zum Glück stellte er ihr nicht die Frage, an was sie gerade denke, denn sie hätte ihm geantwortet: „An gar nichts!“ Das war zwar nicht wahr, aber besser man wird für ein wenig schlicht gehalten, als für völlig verrückt. Ein Mann würde nie verstehen, was im Kopf einer Frau vor sich ging. Immerhin lud er sie ein, mit ihm zu frühstücken, nicht dass sie ihm das auch noch vorschlagen musste. Der Frühstücksraum war in westlichem Stil, hell und freundlich eingerichtet, vielleicht ein bisschen karg für ihren Geschmack. Sicher waren die glatten, schmucklosen Wände und der Steinfußboden schuld an der unterkühlten Atmosphäre. So zogen sie sich in eine Ecke zurück, die hinter einem Mauervorsprung versteckt lag, das gab etwas mehr Geborgenheit. Anscheinend hatte er das gleiche Empfinden, denn er war es, der das lauschige Plätzchen ausgewählt hatte. Sie machten es sich auf der gepolsterten Bank bequem, die halbrund in die Ecke eingelassen war. Durch den Mauervorsprung fühlten sie sich unbeobachtet. Minuten später unterhielten sie sich angeregt über das Leben, die Liebe und Politik. Ganz nebenbei bemerkte sie, dass er ausgesprochen viel Kaffee trank, der hier im Hotel auch noch sehr stark zubereitet wurde. Er hatte bestimmt noch den ganzen Tag Herzrasen. Vielleicht trank er auch nur deshalb so viel, um seine Nervosität zu überspielen, wozu der Kaffee, ihrer Meinung nach, nicht die beste Wahl war. Sie erfuhr, dass er Single war, aber schon einmal verheiratet gewesen und auch ein Kind gehabt hatte. Mehr war über dieses Thema allerdings nicht herauszubekommen. So sehr sie sich auch bemühte, er blockte alles ab. Sie spürte, dass es mit Schmerz verbunden war. Er war nicht einfach nur verschlossen, im Gegenteil, er redete gern und viel und ungeheuer interessant, aber es tat ihm sichtlich weh, darüber zu reden. Also ließ sie ihn in Ruhe und wechselte feinfühlig das Thema, worauf er dankbar einstieg. Er erzählte von seiner Arbeit als Pharmareferent bei einem Schweizer Konzern, und was er gerade in diesem Teil der Erde für seine Firma zu tun hatte. Dann philosophierten sie über die ungeheure Macht der großen Konzerne und die Zwiespältigkeit, die damit verbunden war. Geschickt versuchte er, ihre Skepsis zu überwinden und sie davon zu überzeugen, dass diese Macht notwendig war, um die Welt zum Guten zu verändern. Heute seien es nicht mehr Kanonen und Raketen, die das Gesicht der Welt veränderten, sondern wirtschaftliche Interessen und Einflüsse. Sie merkte sehr schnell, dass er redegewandt und ungeheuer überzeugend sein konnte, aber das hieß nicht, dass sie sich einfach geschlagen geben würde. Sie hatte schon noch ihre Zweifel, ob die großen Wirtschaftsbosse auch immer die Guten in dieser Welt waren. Als er aufbrechen musste, um die ersten Termine wahrzunehmen, sie waren inzwischen beim vertrauten Du angelangt, bemerkte sie noch ein wenig philosophisch: „Du hast die Gabe, sehr überzeugend zu sein – aber das heißt nicht, dass du immer Recht hast!“ Sie sah, wie er zusammenzuckte, anscheinend war doch noch etwas zu retten bei ihm und hinter der selbstsicheren Fassade versteckte sich ein weicher, verletzlicher Kern. Andrea spürte die unbändige Macht der mütterlichen Gefühle, auf diesen großen Jungen mit dem kleinen Herzen aufzupassen. Sie wusste ja nicht, dass Tom beim Aufstehen den Mann mit dem schwarzen Anzug erblickt hatte. Er hatte seinen Platz geschickt direkt an dem Tisch vor dem Mauervorsprung gewählt, unsichtbar von ihrem Platz aus, aber so, dass er sicher die Hälfte des Gespräches mitbekommen hatte. Vielleicht war er doch gefährlicher als er angenommen hatte und das karikierte Auftreten nur ein Trick, um seine Gegner in Sicherheit zu wiegen.


Der Tag, an dem die Kuh vom Dach fiel

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