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2.3 Jahrgangsmischung aus reformpädagogischer Sicht

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Aus reformpädagogischer Sicht entwickelten sich Konzepte, die sich mit pädagogischen Argumenten für die Jahrgangsmischung aussprachen. Sie können als Gegenmodell zur Volksschuldidaktik betrachtet werden, in der die jahrgangsübergreifende Klassenbildung gezwungenermaßen aus fehlenden räumlichen und personellen Ressourcen resultierte.

Als prominente Vertreterin und Vertreter sind Maria Montessori (1870–1952), Peter Petersen (1884–1952) und Berthold Otto (1859–1933) zu nennen, die das Jahrgangsklassensystem kritisierten und sich konzeptionell sehr ausführlich zur Jahrgangsmischung äußerten. Die Jahrgangsklasse wurde als eine »unnatürlich« zusammengesetzte Lerngruppe betrachtet, da nirgendwo anders als in der Schulklasse Gruppen in Jahrgängen zusammengesetzt sind.

Maria Montessori, italienische Ärztin (erste Frau, die Medizin studieren konnte) und Pädagogin, betrachtete Jahrgangsmischung als natürliche Umgebung, ähnlich der Altersstruktur in der Familie. Sie plädierte für die Mischung von drei Jahrgängen, begründete dies aber nicht explizit (vgl. Montessori 1972, 86). Die Kombination dieser Altersstufen erweist sich Maria Montessori zufolge als Förderung der Entwicklung des Kindes:

»In vielen Schulen werden erst die Jungen von den Mädchen geschieden und dann alle noch nach den Lebensjahren, jeder Jahrgang in eine eigene Klasse. Das ist ein fundamentaler Irrtum, der zu allerlei Fehlern führt – diese künstliche Absonderung, in der sich der soziale Sinn nicht entwickeln kann. […] Unsere Schulen zeigten, wie Kinder verschiedenen Lebensalters einander halfen. Der Kleinere schaut, was der Größere tut, und fragt allerlei darüber, und der Ältere erklärt es ihm. Dies ist wirklicher Unterricht, denn die Auslegung und Erklärung eines fünfjährigen Kindes steht dem Begreifen eines dreijährigen so nahe, dass das Kleine alles leicht begreift, während wir seine Intelligenz kaum zu erreichen wüßten. Es besteht eine Harmonie zwischen ihnen und ein Gedankenaustausch, der zwischen einem Erwachsenen und einem so kleinen Kind nicht möglich ist. Es gelingt den Lehrerinnen nicht, dem dreijährigen Kind alle Dinge begreiflich zu machen; aber das Kind von fünf Jahren macht es ihm klar. […] Die Leute machen sich Sorgen, ob das Fünfjährige, während es […] dem anderen hilft, selbst wohl genug lernen wird. Erstens unterrichtet es nicht dauernd, es hat auch seine Freiheit und weiß sie zu gebrauchen. Aber […] daneben legt es, selbst unterrichtend, seine eigenen Kenntnisse sauber fest, denn es festigt jedes Mal gehörig seine Kenntnis, weil es diese aufs Neue analysieren und mit ihr umgehen muß, es sieht also alles mit größerer Klarheit« (ebd., 87ff.).

Das ausführliche Zitat verdeutlicht verschiedene Begründungen der Jahrgangsmischung von Montessori: Die Zuordnung der Kinder zu geschlechts- und altershomogenen Klassen betrachtet sie als unnatürliche Vorgehensweise. Gerade die Verschiedenheit der Kinder wirkt sich positiv auf die kognitive und vor allem soziale Entwicklung der Schülerinnen und Schüler aus. Das Helfen der Kinder untereinander spielt dabei eine zentrale Rolle und lässt gegenseitige Achtung und Interesse entstehen. Die jahrgangsübergreifende Lerngruppe bietet ein soziales Umfeld, in dem den Kindern ermöglicht wird, sich in wechselnden Rollen zu erleben: Sie können von den Kenntnissen der Älteren profitieren und jüngere Kinder unterstützen. Zudem weist Maria Montessori in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich Kinder im Hinblick auf das Erklären und Begreifen näherstehen als Erwachsene und Kinder.

Montessori scheint davon auszugehen, dass es die Aufgabe der Älteren ist, jüngeren Kindern zu helfen. Der umgekehrte Fall wird als Lernchance nicht einbezogen. Der Sorge, dass ein älteres Kind nicht genug lernt, wenn es den Jüngeren hilft, begegnet Maria Montessori damit, dass das ältere Kind beim Helfen sein Wissen festigt.

Damit wird die Befürchtung von Kritikern, dass die älteren Kinder nicht genügend lernen würden entschärft. Montessori meint dazu: Das Kind »vervollkommnet […] das, was es weiß, indem es lehrt, denn es muß seinen kleinen Wissensschatz analysieren und umarbeiten, will es ihn an andere weitergeben. Dadurch sieht es die Dinge klarer und wird für den Austausch entschädigt« (ebd., 204). Anzumerken ist, dass bei Montessori das gegenseitige Helfen ausschließlich positiv konnotiert ist und die Theorie der Entkopplung des Lernstands vom Jahrgang unberücksichtigt bleibt, da ausschließlich davon die Rede ist, dass die Älteren den Jüngeren helfen. Mit der von Montessori ausschließlich positiv dargestellten Wirkung von Jahrgangsmischung stellt sich die Frage, inwiefern diese Idealisierung »geradegerückt« werden könnte, um eine fundierte Theorie begründen zu können.

Peter Petersen, Universitätsprofessor in Jena und Gründer der Jena-Plan-Schule, spricht vom Bankrott der Jahrgangsklasse. Drei Jahrgänge werden im Konzept des Jena-Plans (Petersen 1927, erstmals veröffentlicht) in Form von Stammgruppen zusammengefasst. Diese bestehen aus der Untergruppe (1. bis 3. Schuljahr), der Mittelgruppe (4. bis 6. Schuljahr), der Obergruppe (7. bis 8. Schuljahr) und der Jugendlichengruppe (9. bis 10. Schuljahr). Die jahrgangsübergreifenden Stammgruppen haben zum Ziel, dass ältere Schüler den jüngeren sowie »Klügere dem nicht so Begabten« (Petersen 1934/1984, 135) helfen. Petersen erläutert, wie sich Kinder gegenseitig in Inhalte oder Arbeitstechniken einführen bzw. erzieherische Aufgaben wahr- und übernehmen. Diese Gespräche betrachtet er als Potenzial, welches das didaktische Handeln der Lehrperson ergänzt. Damit sich dieses Potenzial entfalten kann, muss der Unterricht entsprechend gestaltet und den Kindern in ihren »Kräften, Neigungen, Interessen und menschlichen Beziehungen Bewegungs- und Äußerungsfreiheit gegeben werden« (ebd., 65). Mit dem jährlichen Wechsel innerhalb der Stammgruppen durch das Verlassen bzw. Hinzukommen von Schülerinnen und Schülern sollen Stigmatisierungen (z. B. der Langsame, der Kluge) möglichst verhindert werden. An oberster Stelle steht bei Peter Petersen die Gemeinschaft – das heißt die Schulgemeinde. Dieser ordnet sich der Mensch mit seiner Individualität unter (vgl. Burk 2007, 27). Petersen sieht in jahrgangsübergreifenden Lerngruppen ein Verhältnis von »Lehrling, Geselle und Meister«, was aus heutiger Sicht kritisch zu betrachten ist, da erstens das individuelle Leistungsvermögen verdeckt bleibt und zweitens die Gefahr besteht, dass die einzelnen Jahrgänge eher in hierarchischen Verhältnissen und weniger in gleichberechtigten Beziehungen zueinanderstehen (vgl. Laging 2003, 13).

Das Konzept des Gesamtunterrichts von Berthold Otto (1859–1933) stellt einen enormen Bruch mit dem etablierten Jahrgangsklassensystem dar. Im Gesamtunterricht treffen sich Kinder und Jugendliche zwischen 6 und 17 Jahren in einem großen Raum, analog zum Gespräch am Familientisch. Berthold Otto schreibt dazu:

»Der Gesamtunterricht […] bezieht sich auf das Zusammensein der ganzen Schule, wo 6jährige bis 17jährige zusammen sind. Gerade daran liegt es mir außerordentlich viel, an der geistigen Gemeinschaft verschiedener Lebensalter. Es ist das auch, wodurch die Familie in der geistigen Ausbildung der Kinder den bisherigen Schulen entschieden überlegen ist. […] Man muss am Familientisch so sprechen, dass die Kinder es schließlich alle verstehen, und ebenso müssen wir hier, wenn wir uns vom 6jährigen bis 17jährigen hinauf verständigen wollen, die Verständigungsmittel in der Sprache und in der ganzen Darstellungsweise dessen, was wir gesehen, gedacht und erlebt haben, so einrichten, dass wir zu einer gegenseitigen Verständigung gelangen. Wir haben dadurch mehr, als es bei einer rein gleichaltrigen Klasse der Fall sein kann, ein Abbild der Art und Weise, wie die Menschen selbst bei der Erforschung der Welt geistig miteinander verkehren; denn die verschiedenen Menschen, die auf verschiedenen Gebieten tätig sind, stehen selbstverständlich auf recht verschiedenen Standpunkten, und die gegenseitige Verständigung fällt mitunter recht schwer« (Otto 1913, 7f.).

Nach Otto (vgl. ebd.) werden Kinder und Jugendliche in diesem Unterricht darauf vorbereitet, dass Menschen verschiedene Interessen haben und über verschiedene Fähigkeiten verfügen, sich verständlich zu machen. Gelernt wird nicht nur, sich über verschiedene Themen inhaltlich auszutauschen, sondern auch, sich gegenseitig zu respektieren und geduldig zu sein. Auch wenn der Gesamtunterricht nicht durchgängiges Prinzip in Ottos Schulkonzept ist, so zeigt sich doch ein großer Unterschied im Vergleich zur Jahrgangsklasse. Mit seinem Verweis auf die Erforschung der Welt stellt Otto das wissbegierige Kind mit dessen Fragen und Interessen in den Mittelpunkt des Unterrichts (vgl. Klaas 2013, 29). Die Verschiedenheit der Anderen wirkt nicht lernhemmend, sondern anregend. In der gegenseitigen Toleranz und Achtung der Verschiedenartigkeit der Menschen liegt Otto zufolge ein erzieherischer Wert (vgl. ebd.).

Den Konzepten von Maria Montessori, Peter Petersen und Berthold Otto ist gemeinsam, dass sie den jahrgangsübergreifenden Unterricht als bewusst zu gestaltende pädagogische Herausforderung verstehen, die positiv bewältigt werden kann. Durch die Betonung des didaktischen Handelns und dem Anspruch eines starken Reflexionsvermögens vonseiten der Lehrperson unterscheiden sich die reformpädagogischen Begründungen der Jahrgangsmischung deutlich von der Volksschuldidaktik des Kaiserreichs. Allerdings lässt sich nur schwer beurteilen, inwieweit die reformpädagogischen Ideen tatsächlich im Unterricht umgesetzt wurden bzw. ob die Verfechterinnen und Verfechter reformpädagogischer Vorstellungen auch Einfluss auf die Schulreform hatten (vgl. Schmitt 1992, 11). Interessanterweise lässt sich feststellen, dass sich aktuelle Begründungen eng an reformpädagogischen Sichtweisen orientieren, was in Abschnitt 2.5 noch weiter ausgeführt wird ( Kap. 2.5).

Jahrgangsübergreifender Unterricht

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