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Die Frage nach dem Glück

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Jeder Mensch muss täglich Entscheidungen treffen. Dazu braucht er Kriterien, äußere Normen und innere Haltungen. Den inneren Haltungen hat sich Aristoteles zugewendet. Er entwickelte seine „Nikomachische Ethik“ in einer Krisenzeit des Staates. Krise kommt vom Griechischen krinein und bedeutet „unterscheiden/​entscheiden“. Der Mensch muss unterscheiden lernen, was zu tun ist.

Wenn Aristoteles – wie erwähnt – der Meinung war, dass Menschen glücklich werden wollen, und niemand will, dass sein Leben misslingt, stellt sich die Frage, wie der Weg dorthin zu finden ist. Glück kann man nicht machen, Glück stellt sich ein. Einen schwachen Stern kann man nur sehen, wenn man ihn nicht direkt fixiert. So kann man auch das Glück nicht direkt anzielen. Es stellt sich ein, wenn man „richtig“ lebt. Was aber ist das richtige Leben? Das griechische Wort für Glück heißt Eudaimonia. Eu heißt „gut“ und daimon ist der Geist. Also frei übersetzt: Das Glück findet der Mensch, wenn er dem guten Geist folgt. Was aber ist dieser gute Geist? Aristoteles gibt darauf eine erste Antwort: Glück kann sich einstellen, wenn der Mensch tugendhaft lebt. Tugenden sind tauglich zur Lebensbewältigung. Der Mensch auf dem Weg zum Glück soll vier Tugenden verwirklichen: Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß.

Klugheit heißt zunächst, dass der Mensch all das, was er tut und entscheidet, im Blick auf das Ende bedenken soll: quidquid agis prudenter agas et respice finem8 (Was immer du tust, tue es klug und bedenke das Ende). Selbst wenn man den Lauf der Dinge nicht voraussehen kann, gibt es doch Kriterien für kluge Entscheidungen. Gerade im Bereich der Politik und der Wirtschaft besteht die Gefahr, zu kurzfristig zu denken. Der Kluge denkt langfristig. Ein kleiner Gedankenfehler am Anfang kann zu einer Katastrophe am Ende führen, so hat es Thomas von Aquin (um 1225 – 1274) sinngemäß formuliert.

Ignatius von Loyola (1491 – 1556) hat dazu im ausgehenden Mittelalter eine wichtige Entscheidungsformel entwickelt. Wenn du heute eine wichtige Entscheidung zu treffen hast, dann versetze dich in die Stunde deines Todes und überlege, wie du aus der Perspektive des Lebensendes die heutige Entscheidung hättest treffen wollen. „Als wäre ich in der Todesstunde, bedenke ich die Form und das Maß, das ich dann hinsichtlich der jetzigen Wahl wünschte eingehalten zu haben; und danach richte ich mich und treffe im Ganzen meine Entscheidung.“9 Dahinter steht ein bestimmtes Menschenbild, dass jeder Mensch einmal Rechenschaft ablegen muss über sein Leben. Der Mensch weiß zwar nicht, was in den nächsten zehn Minuten geschieht, aber es gibt doch Anhaltspunkte, in welche Richtung sich das Leben entwickeln sollte. Dazu ein Beispiel: Wenn jemand immer nur viel Geld verdienen will, aber dabei seine menschlichen Beziehungen ruiniert, ist das langfristig nicht segensreich. Spätestens auf dem Sterbebett kommen all diese Fragen hoch und es fragt sich, was am Ende bleibt. Untersuchungen sagen: vor allem gute menschliche Beziehungen. Man könnte auch sagen: Am Ende bleibt nur die Liebe. So schaut der Kluge auf das Ganze.

Die Gerechtigkeit hat mehrere Aspekte: Es geht zum einen um eine Sachgerechtigkeit, die sich auf die angemessene Kenntnis dessen bezieht, was zu bearbeiten ist. Der Mensch muss mit seinen Entscheidungen dem Sachstand gerecht werden. Dann gibt es die Tauschgerechtigkeit, die darauf abzielt, faire Geschäfte zu tätigen und den anderen nicht zu übervorteilen. Hinzu kommt die Verteilungsgerechtigkeit, welche eine gerechte Verteilung endlicher Güter im Auge hat. Schließlich gibt es eine personenbezogene Gerechtigkeit, die darin besteht, dem einzelnen Menschen in seiner jeweiligen Situation gerecht zu werden. Man soll in dem Sinne „jedem das Seine“ geben, suum cuique. Dabei ist Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln.

Alle Menschen haben dieselbe Menschenwürde und sind von daher auch vor dem Gesetz gleich, und doch ist ein Kind anders zu behandeln als ein Erwachsener. Außerdem sind bei ähnlichen Biografien die Umstände einer konkreten Situation unterschiedlich. Deshalb gilt es oft um der größeren Gerechtigkeit willen besondere Einzelfallentscheidungen zu treffen. Dies nennt die Tradition von Aristoteles her Epikie. Außerdem hat Gerechtigkeit immer mit Barmherzigkeit und Vergebung zu tun. Barmherzigkeit ist eigentlich eine göttliche Eigenschaft, die dem Menschen vergebend entgegenkommt, aber der Mensch sollte diese göttliche Barmherzigkeit auch an den anderen weitergeben: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“, heißt es im großen christlichen Gebet, dem Vaterunser. Allerdings ist zwischen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit die rechte Mitte zu finden: „Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist Grausamkeit; Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit ist die Mutter der Auflösung“10 – auch von Strukturen, so hat es Thomas von Aquin formuliert.

Die beiden letzten aristotelischen Tugenden von Tapferkeit und Maß können zusammen gesehen werden. Maß heißt nicht Mittelmaß, sondern Maß bedeutet, die rechte Mitte zwischen zwei Extremen zu finden. Aristoteles macht dies fest am Begriff der Tapferkeit. Tapferkeit ist die rechte Mitte zwischen dem Handeln des feigen Soldaten, der im Straßengraben liegen bleibt und sich nicht heraustraut, und dem Tollkühnen, der blind ins Feld rennt. Das rechte Maß der Mitte ist die Feigheit, etwas zu überwinden und doch nicht blind ins Feld zu rennen, sondern klug zu entscheiden. Diese Mitte ist nicht nur die Mitte zwischen zwei Extremen, sondern im Maße, in dem der Mensch diese Mitte lebt, findet er auch seine eigene.

Das Gegenteil dieser Tugenden sind die sogenannten Laster, die schon im vierten Jahrhundert von Evagrius Ponticus (345 – 399) zusammengefasst worden sind. Sie sind für viele Fehlentwicklungen verantwortlich. Es sind dies Hochmut (Eitelkeit, Stolz, Übermut), Geiz (Habgier), Wollust (Ausschweifung, Genusssucht), Zorn (Rachsucht, Vergeltung, Wut), Völlerei (Gefräßigkeit, Maßlosigkeit, Selbstsucht), Neid (Eifersucht, Missgunst) und Acedia (Faulheit, Feigheit, Ignoranz, Trägheit des Herzens). Dieser Lasterkatalog liefert den Hintergrund für die sieben Wurzelsünden (oft fälschlich als „sieben Todsünden“ bezeichnet), weil in ihnen die Abkoppelung des Menschen von Gott zum Ausdruck kommt und sie die Wurzel für viele andere Sünden in sich bergen. Ein Großteil des Fehlverhaltens von Menschen hat Maßlosigkeit zum Hintergrund. Vor allem aber stellen der Stolz, die Rachsucht und Vergeltung sowie der Verlust an geistiger Spannkraft und innere Erschlaffung (Acedia) eine große Gefahr für den Menschen dar.

Dies ist ein erster philosophischer Zugang zur Frage, was Menschen im Tiefsten suchen und wie innere Haltungen auf dem Weg zum Glück helfen können. Es wird zu zeigen sein, dass das Christentum über diese Tugenden hinausgeht. Thomas von Aquin knüpft im Mittelalter an der aristotelischen Tugendethik an und erweitert diese um die christlichen Tugenden von Glaube, Hoffnung und Liebe. Glauben heißt dabei Vertrauen finden in den tragenden Grund des Lebens. Hoffnung bedeutet, über die Endlichkeit des Lebens hinauszublicken und darauf zu vertrauen, dass das Leben nicht im Nichts endet. Liebe meint die Liebe zu sich selbst, zum Nächsten, zu Gott.

Ebenfalls im Übergang vom vierten zum fünften Jahrhundert hat Augustinus (354 – 430) über den freien Willen und über die Herkunft des Bösen nachgedacht: Der Mensch ist frei, sonst wäre jedes Lob für einen Schüler sinnlos11 und das Böse kommt seiner Meinung nach aus dem Menschen selbst, lässt man den Engelsturz einmal beiseite. Pico della Mirandola (1463 – 1494) wiederum nimmt im ausgehenden Mittelalter den freien Willen des Menschen als Zugang zur Beschreibung der Menschenwürde. Schließlich ist es Immanuel Kant, der im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert den Begriff der Menschenwürde genauer entwickelt. Die Menschenwürde wird zum zentralen ethischen Argumentationspunkt für die Menschenrechte und vieler Rechtssysteme. Der Einzelne steht im Mittelpunkt, ganz im Unterschied zu der sich in England am Beginn des neunzehnten Jahrhunderts unter der Federführung von Jeremy Bentham (1748 – 1832) und John Stuart Mill (1806 – 1873) entwickelnden Ethikrichtung, die als Utilitarismus bezeichnet wird. Sie fragt nach dem größten Nutzen für die größte Zahl. Das klingt verlockend, lässt aber den Einzelnen weitgehend außer Acht. Gegenwärtig wird über eine Diskursethik von Jürgen Habermas (geb. 1929) gesprochen, die für einen herrschaftsfreien Diskurs eintritt. Ein solch herrschaftsfreier Diskurs auf Augenhöhe sollte auch zwischen den Religionen möglich werden. Darüber hinaus haben sich Bereichsethiken wie Medizinethik, Wirtschaftsethik, Medienethik, politische Ethik herausgebildet.

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