Читать книгу Als ich verlor, was ich niemals war - Matthias Dhammavaro Jordan - Страница 7
ОглавлениеBangkok – Tokio – Berlin
Annas Flugzeug würde in drei Tagen in Bangkok Richtung Tokio abheben. Wir packten unsere Rucksäcke, verabschiedeten uns von unseren Freunden, von Jomana und Garun, die das Restaurant betrieben, und dann machten wir uns mit dem Nachtzug auf den Weg nach Bangkok.
Wir stiegen im Malaysia Hotel ab, verbrachten den folgenden Tag in Chinatown und den Straßen von Bangkok, den großen Kaufhäusern, machten eine Schifffahrt auf dem Chao-Phraya-Fluss, gingen noch irgendwo essen und am nächsten Abend fuhren wir mit dem Taxi zum Flughafen.
Es fühlte sich für mich nicht wie ein langer Abschied an, denn wir waren im Laufe unserer Beziehung ja schon öfters einige Monate getrennt und irgendwie gehörten diese Phasen der ‚Trennung‘ scheinbar zu unserer Beziehung. Es hatte also nichts Beunruhigendes oder Trauriges oder gar Dramatisches. Anna freute sich darauf, nach Japan zu fliegen und eine neue Erfahrung zu machen, und ich freute mich darauf, mich mit der Meditation und der Lehre Buddhas eingehender zu beschäftigen, auch wenn das in den nächsten Monaten in Berlin sein würde statt in einem Kloster.
Im Flughafengebäude fanden wir noch zwei freie Plätze in einem Restaurant, tranken noch eine Cola und aßen einen Hamburger. Dann brachte ich sie zum Check-in. Dort umarmten wir einander innig und verabschiedeten uns mit einem liebevollen Kuss und ich wünschte ihr alles Gute in Japan. Natürlich wollten wir in Kontakt bleiben, ab und zu mal schreiben, ab und zu mal telefonieren. Dann ging alles sehr schnell. Ihr Flug wurde aufgerufen, sie ging zum Check-in und weg war sie. Mutige Frau, dachte ich so bei mir, als ich den Flughafen verließ und mich ein Taxi zurück ins Hotel fuhr.
Ich hatte noch drei Tage in Bangkok, bis auch mein Flieger nach Berlin zurückflog. Ich wandte mich wieder der Meditation zu. Auf der Dachterrasse des Hotels übte ich mich in Gehmeditation, ging tagsüber zur Schlangenfarm, machte ein paar Ausflüge, besuchte das Kloster Wat Po, kaufte mir ein Buch über Zen-Buddhismus, verbrachte ein paar Stunden den Spiegel lesend im Goethe-Institut und war alles in allem zufrieden mit dem, wie es gerade war.
Im Goethe-Institut kam ich mit einem Deutschen ins Gespräch.
Er hatte sich kürzlich mit einer Thailänderin vermählt und freute sich darauf, den Rest seines Lebens in diesem wunderbaren Land zu verbringen. Doch er hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht und nicht daran gedacht, mit seiner Frau, die mittlerweile von ihm schwanger war, zu besprechen, an welchem Ort sie zukünftig gemeinsam leben wollten. Wie sich dann herausstellte, war sie der festen Überzeugung gewesen, dass sie gemeinsam nach Deutschland gehen würden, um dort zu leben. Der junge Mann wirkte recht verzweifelt.
Die Griechen prägten für diesen Zustand das Wort ‚Dilemma‘, und auf Thai heißt das: Glühn mai gao, gleih mai ork – was so viel bedeutet wie: ‚Man kann es nicht herunterschlucken, aber auch nicht ausspucken.‘
Ich wünschte ihm trotzdem alles Gute und war froh, nicht in seiner Haut zu stecken.
Zurück in Berlin
Das Flugzeug landete irgendwann mittags in Berlin, ich nahm Bus und S-Bahn und war wieder in Berlin-Moabit. Mein Bruder Reinhold, der mittlerweile bei mir wohnte, war gerade in Fulda und ich schlief erst mal für den Rest des Tages. Ich hatte noch keine Lust, irgendjemanden zu sehen. Ich kaufte ein paar Lebensmittel und verbrachte den Abend bei mir, mit mir, und es fühlte sich gut an. Ich spürte weiterhin diese innere Gesammeltheit und Gelassenheit, meditierte ein paar Stunden und genoss die Ruhe und Stille und das Schweigen, denn es war ja niemand da, und die Geräusche der Straße störten mich nicht.
Am nächsten Tag traf ich dann meine Freunde und Bekannten wieder.
Ich wohnte im zweiten Stock eines vierstöckigen Hauses und fast direkt unter mir machte eine neue Kneipe auf. Die Betreiber waren ehemalige Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“, ein Ableger der RAF. Sie wurden durch die Lorenzentführung berühmt und berüchtigt, und nachdem sie ihre Haftstrafe abgesessen hatten, eröffneten einige von ihnen diese Kneipe, die sie bezeichnenderweise ‚Untergrund‘ nannten.
Fritz Teufel saß immer mal morgens dort und frühstückte und ich lernte Gerald, der als Geschäftsführer fungierte, kennen und mögen. Er war einer der Köpfe der „Bewegung 2. Juni“ gewesen. Seine Frau hatte, glaube ich, sieben Jahre auf ihn gewartet, bis er wieder aus dem Gefängnis entlassen wurde. Wir trafen uns regelmäßig im ‚Untergrund‘, tranken Bier, aßen Pommes, spielten Karten und ließen die Zeit an uns vorüberziehen.
Diesmal wusste ich schon, wann mein nächster Flieger zurück nach Bangkok gehen würde, und somit hatte ich ein klares Datum und genügend Zeit, um hoffentlich genug Geld zu verdienen. Wir schreiben das Jahr 1987, es ist Mai und ein paar Aufträge für Platten legen, Zäune bauen und Rasen anlegen kommen herein.
Immer noch zehrte ich von diesen Tagen in Suan Mokkh, auch meditierte ich fast regelmäßig, aber der Alltag hatte mich wieder mit den gewohnten Freizeitbeschäftigungen, den Treffen mit meinen Freunden und Kneipenbesuchen eingefangen.
Anna ruft an und erzählt, dass sie ein kleines Zimmer und auch einen Job gefunden habe. Sie arbeite in einem Club und verdiene dabei eine Menge Geld. Es gehe ihr gut, sie vermisse mich auch ein wenig, aber ansonsten habe sie ein paar Mädels aus England und Deutschland kennengelernt, mit denen sie ab und zu durch Tokio streife. Ich freute mich für sie. Mutige Frau, dachte ich mal wieder.
In Suan Mokkh hatte ich mir ein paar Bücher in englischer Sprache gekauft und machte mich daran, mit den Lehren des Buddha vertraut zu werden, las, was Ajahn Buddhadasa lehrte, und versuchte auch im Alltag Achtsamkeit zu üben.
An diesem Nachmittag musste ich am Geldautomaten warten, bis eine Frau vor mir fertig war, und als ich meine Karte reinsteckte, bemerkte ich, dass da noch zwanzig Mark im Schlitz steckten. Sie konnte noch nicht weit sein und tatsächlich nahm ich den Schein, lief hinter ihr her und sagte, dass sie etwas vergessen habe. Vor wenigen Monaten noch hätte ich mir allerdings überlegt, ob ich ihn nicht lieber selbst behalten sollte. Ich staunte über mich und ordnete diese Ehrlichkeit dem meditativen Prozess zu, der bereits Früchte zu tragen schien.
An einem Abend ging ich mal wieder in den ‚Untergrund‘. Die meisten Stühle waren besetzt, an der Theke standen zwei Männer, die sich unterhielten, und ich verfolgte die Unterhaltung ein wenig. Ich weiß nicht mehr den Inhalt des Gesprächs, aber ich bemerkte an einem Punkt der Unterhaltung, dass der eine die Frage des anderen nicht verstanden hatte, aber trotzdem eine Antwort darauf gab. Dem anderen fiel das gar nicht auf und sie redeten weiter.
Und dann hörte ich mal genauer hin, auch auf das, was ich so sagte.
Ich erschrak darüber, wie wenig man sich gegenseitig zuhörte und wie emsig jeder darauf bedacht war, seine Geschichten loszuwerden.
Da meine Achtsamkeit auch weiterhin alles erfasste, bemerkte ich, wie ich schneller atmete, nur um mit der nächsten Ausatmung auch meine Geschichten zum Besten geben zu können. Ich fühlte mich langsam davon gestresst, kaum einen Satz entspannt zu Ende sprechen zu können, und es begann mich zu nerven. Hörte überhaupt irgendjemand zu?
Ich hatte keine Lust mehr, abends zu saufen, zu kiffen, in Kneipen zu sitzen und Karten zu spielen oder mit irgendwelchen Frauen zu schlafen. Es machte mir keine Freude mehr und fühlte sich so sinnentleert an.
Während einer Meditation in Suan Mokkh hatte ich eine entsprechende Erkenntnis und sagte zu Santikaro: „Ich glaube, dass achtzig Prozent der menschlichen Kommunikation aus Missverständnissen besteht.“ Und er meinte nur: „Nein, neunundneunzig.“
Da ich nicht jeden Tag arbeitete, begann ich Gedichte und Geschichten aufzuschreiben, hängte mir abends eine Leinwand an die Wand und malte abstrakte Bilder mit Titeln wie ‚Der Abstand zwischen zwei Punkten ist immer gleich‘ oder ‚Alle bedingt entstandenen Erscheinungen vergehen‘ oder ‚Offene Verbindungen‘.
Es machte mir viel Freude, und ich hatte das erste Mal das Gefühl, Kunst zu machen. Ich entdeckte zwar den Gedanken in mir: Wie werden diese Bilder anderen gefallen? Aber auch hier hatte ich genug Achtsamkeit, die das Gieren nach Beifall und Anerkennung entlarvte und diese Gedanken sofort verwarf. Ich fühlte mich so frei und präsent wie noch nie zuvor in meinem Leben.
Als ich gerade von einer Baustelle zurückkam, rechnete ich einige Posten im Lkw schnell durch, schaute auf die Straße, sah die Autos, sah die vorbeieilenden Menschen und fragte mich, wohin die denn alle gehen. Plötzlich kam der Gedanke: „Will ich das eigentlich mein ganzes Leben lang machen?“ „Nein!“, war die entschiedene Antwort aus irgendeiner Ecke meines Gehirns – oder kam es aus meinem Herzen?
Ich will dich, Leser, nicht mit weiteren, belanglosen Geschichten langweilen, die sich sowieso immer nur wiederholten.
Die Tage zogen ins Land, der Sommer kam und ging auch wieder und eine leise, aber stetige Ernüchterung und Übersättigung machte sich in mir breit.
Mit meinem Bruder Reinhold erlebte ich ein paar schöne Zeiten. Nach durchgezechten Nächten in Diskos und Kneipen fuhren wir morgens zum Teufelsberg, filmten uns gegenseitig mit einer Videokamera, schauten uns Sonnenaufgänge an, philosophierten über das Leben, genossen die Zeit miteinander, und der Tag meiner Abreise kam immer näher, worauf ich mich freute.
Es war kurz nach Weihnachten, als ich mich freudig und leicht mit meinem Rucksack und einem Ticket auf den Weg nach Bangkok machte.
Wat Pang Bua – das Kloster am Lotusteich
Anna war schon zwei Tage in Bangkok und wir trafen uns im vereinbarten Hotel, fielen uns in die Arme, und es fühlte sich so an, als ob keine Zeit seit unserer letzten Begegnung verstrichen war. Sie sah gut aus, hatte ihre Haare hellblond gefärbt, und wir erzählten einander die Geschehnisse der letzten Monate.
Wir hatten Pläne: erst nach Koh Samui und dann gemeinsam nach Indien.
Koh Samui war wie immer – Sonne, Strand und Meer. Art und Andy waren auch wieder da und wir machten das, was man auf so einer Insel eben macht. Wir hatten ja schon Übung darin.
Ich erfuhr, dass es hier auch ein kleines Kloster gab, namens Wat Pang Bua, was so viel heißt wie ‚Kloster am Lotusteich‘. Es war ein Zweigkloster von Suan Mokkh, und zu meiner Freude würde dort bald ein Meditationskurs stattfinden. Voller Begeisterung erzählte ich Anna davon, die ebenfalls Interesse zeigte, mitzumachen. Einige Tage später meldeten wir uns an und checkten ein.
Es war wieder ein Schweigekurs und Anna und ich würden nun zehn Tage keinen Kontakt miteinander haben. Santikaro war da, Ajahn Ranschuan und Ajahn Po, ein damals zirka sechzigjähriger Thai-Mönch, der in Suan Mokkh als zweiter Abt fungierte. Sein Englisch war eher dürftig und sehr bedächtig, aber es klang irgendwie süß.
Wie mir jemand erzählte, hatte Ajahn Po sieben Jahre in einer Höhle gelebt, und er meinte später mal, dass man im Dunkeln das Licht seines Geistes einschalten müsse.
Er hatte angeblich fortgeschrittene Stufen der Meditation erlangt, manche behaupteten sogar über ihn, dass er geistige Kräfte wie das Gedankenlesen und Ähnliches entwickelt habe.
Einige Jahre später kam er mir mal in einer stockdunklen Nacht entgegen und stand plötzlich vor mir. Ich selbst hatte natürlich eine Lampe in der Hand, denn es gab hier sehr viele Giftschlangen, und man musste besonders nachts aufpassen, wohin man seinen Fuß setzte. Aber er lief ohne Lampe herum. Bei einem späteren Retreat fiel ein Teilnehmer von einem Podest herunter und musste ins Krankenhaus gebracht werden, und obwohl sich Ajahn Po zu der Zeit drei Kilometer weiter weg aufhielt, meinte er am nächsten Morgen, was denn gestern Abend passiert sei, denn er sei unruhig geworden.
Es gab ein Problem mit den Toiletten in diesem Kloster, denn sie wurden nur noch für diese Retreats benutzt, die vielleicht viermal im Jahr stattfanden. Die Wurzeln der Bäume wuchsen in die Abwasserrohre hinein und verstopften alles, so dass nichts mehr abfließen konnte. Ajahn Po suchte Freiwillige, die sich dieses Problems annahmen. Ist ja klar, dass ich dabei war.
Er wickelte etwas Stacheldraht um ein Bambusrohr, damit wir so die Wurzeln und alles, was sich da noch so verfangen hatte, herausziehen konnten. Wir machten uns an die Arbeit, aber die Wurzeln waren zu dick geworden, so dass diese ‚Werkzeuge‘ einfach nicht funktionierten. Ich musste kurz überlegen, griff dann aber mit bloßen Händen beherzt in diese Rohre und riss alles, was da drinnen war, heraus. Nach erledigter Arbeit mussten wir uns erst mal ordentlich waschen. Es fühlte sich irgendwie gut an, trotz der ganzen Fäkalien an Armen und T-Shirt.
Ajahn Po lächelte uns anerkennend zu und meinte, dass wir uns gerade in Dhammaduty geübt hätten, einer zu erledigenden Aufgabe, die für alle nützlich sei. Selbstloses Tun und das Erfüllen einer notwendigen Aufgabe seien genauso wichtig und nützlich wie Meditation, meinte er noch.
Ich konnte das zwar nicht ganz glauben, freute mich aber über sein Lob und seine Anerkennung. Das kam meiner frühkindlichen Konditionierung entgegen, denn Lob verschaffte mir eine gewisse Sicherheit des Seins im Leben.
Dann traf ich einen weiteren Westler in Mönchsroben, der Ajahn Po bei diesem Retreat unterstützen sollte. Ich sprach ihn auf Englisch an und er antwortete mir auf Englisch. Definitiv hörte ich hier einen bayrischen Slang heraus. Und so war es auch.
Viriya war sein Mönchsname und er lebte eigentlich in Suan Mokkh, aber war immer mal in anderen Klöstern unterwegs. Seit vier Jahren sei er nun schon in Roben, nachdem er in München einfach keinen Sinn mehr in seinem Leben fand und es ihn schließlich, nach mehreren Meditationskursen, hierher verschlagen hatte.
Ajahn Po hatte einen Gong in der Hand und brauchte etwas, um ihn anzuschlagen. Ich fand einen passenden Stock und schlug gegen den Gong, dass es nur so schepperte. Ajahn Pos Rat folgend wickelte ich ein Tuch um den Stock, schlug ihn wieder an, und er sagte: „Jetzt ist es anders.“ „Ja, jetzt ist es besser“, ergänzte ich. „Anders“, meinte er wieder, „ja, besser“, sagte ich nochmals, woraufhin er mich einfach nur anlächelte. Irgendetwas hatte ich in dem Moment verstanden.
Wir waren zirka fünfundzwanzig Teilnehmer. Ajahn Po, Santikaro, Viriya und Ajahn Ranschuan waren unsere Lehrer – oder besser gesagt, unsere spirituellen Freunde, die den Retreat leiten würden.
Dann begann der Retreat mit einer Einführung. „Meine lieben Freunde im Dhamma …“, eröffnete Ajahn Ranschuan ihren Vortrag an diesem Abend, und eine Welle tiefer Vertrautheit machte sich auf den Weg durch meinen ganzen Körper.
Es ging in diesem Retreat wie immer darum, seinen Geist auf das zu richten, was im Moment stattfindet, egal, was man gerade tut, und zur Erinnerung: Das war die Achtsamkeit, der Schlüssel zur Weisheit. Diesen Satz hatte ich nicht vergessen. Er hatte etwas Geheimnisvolles, ja fast schon magisch Vielversprechendes, und ich wollte mehr darüber erfahren.
Meditation
Eines Abends saßen wir wieder in der Meditationshalle und waren angehalten, den Atem immer wieder zu spüren, sollten beobachten, wenn sich Gedanken einschleichen würden, diese bemerken und dann erneut zum Atem zurückzukehren – immer wieder und immer wieder. „Es brauche Geduld, viel Geduld“, meinte Ajahn Ranschuan in ihrer sanften, freundlichen und liebevollen Art. Sie hatte Recht!
Da saß ich nun, Matthias Jordan, Wahlberliner, Landschaftsgärtner, dreißig Jahre alt, in Beziehung lebend, keine Kinder, keine Pläne, keine Ahnung, wie das Leben weitergehen würde. Aber es war mir egal, ich machte mir keine großen Sorgen oder Gedanken über die Zukunft und ließ alle diese Gedanken kommen und wieder gehen und kommen und wieder gehen, konzentrierte mich nach Anleitung auf meinen Atem, immer wieder und immer wieder.
Und dann spürte ich auf einmal an der Nasenspitze dieses feine Gefühl des Atems, spürte für die gesamte Dauer des Atmens dieses Gefühl, es zog mich an, es zog mich hinein und dann war nur noch Atem da, fein, leicht, nur das und mehr nicht, aber begleitet von einem Gefühl tiefer, ausgedehnter Freude. Ich fühlte mich nur noch als Atem, ohne irgendwelche Gedanken. Ich war hier, und zwar genau hier.
Als der Gong erklang, hörte ich die vibrierenden Wellen des Schalls an mein Trommelfell klopfen, sie wurden dann immer feiner und leichter, bis ich schließlich nichts mehr hörte. Ich saß da, die Beine schmerzten jetzt, aber es war mir egal, es waren nur Empfindungen, ohne dass sie mich irgendwie irritierten. Stattdessen fühlte ich eine innere, noch nie erlebte feine Freude, und es kam mir der Gedanke: Ich bin der Atem. Denn der war immer noch im Vordergrund meiner Wahrnehmung.
Die Abendsession war beendet und ich ging zurück in mein sehr kleines Zimmer, das mir Ajahn Po angeboten hatte. Es war etwas über einen Meter breit und gut zwei Meter lang und so musste ich nicht mit den anderen in den Dormitorien schlafen.
Hier hatte ich meine wenigen Sachen verstaut, übersichtlich und klar. Ich legte mich hin und verweilte noch in diesem Frieden, bis wir wieder um vier Uhr von der Glocke zur Morgenmeditation geweckt wurden.
In den Pausen saß ich am Lotusteich, schaute auf die rosa Blüten und die grünen Blätter, spürte den warmen Wind auf meiner Haut, sah leichte Wellen auf dem Teich tanzen, vom gleichen Winde gekräuselt, und beobachtete Ameisen bei ihrem geschäftigen Treiben. Alles bewegte sich in seiner eigenen Natürlichkeit und ich fühlte in mir einen tiefen Frieden.
Nach einem der Vorträge über das Anhaften und die daraus resultierenden Konsequenzen des Leidens in seinen mannigfaltigen Formen, wie Ängsten, Sorgen und Unsicherheiten, lud Ajahn Ranschuan zu Fragen ein. Ein Teilnehmer meinte, dass es doch auch positives Anhaften gäbe, wie das an seinen Kindern oder seinen Liebsten.
Dazu meinte Ajahn Ranschuan nur: „Nein, man kann seine Liebsten auch ohne Anhaftungen lieben, denn Anhaftungen führen immer zu Sorgen, Kummer, Leid und Schmerz und besetzen den Geist. Ein sorgenvoller Geist ist immer in der Zukunft, also nie im Jetzt. Weiterhin besitzt ein anhaftender Geist nicht mehr die Fähigkeit, Veränderungen zu akzeptieren, weil er schon eine Vorstellung davon hat, wie etwas zu sein habe, und so wird der natürliche Fluss der Dinge behindert …“ Das war eine sehr klare Ansage.
Dann sprach sie über Gefühle und erklärte, dass sie nichts Reales seien, sondern immer nur aufgrund von Bedingungen entstünden. Bevor ein Gefühl entstehen könne, müsse es immer zu einem Kontakt über die Sinne kommen, und dann entstehe entweder ein angenehmes, unangenehmes oder neutrales Gefühl.
Eijeijei, war das eine nüchterne Betrachtung der so hochgeschätzten Gefühle, dachte ich bei mir. Und sie ergänzte, dass man mal beobachten solle, wie schnell sich diese Gefühle immerzu verändern würden. Und meine Gefühle änderten sich – und zwar immerzu.
Am nächsten Tag war es aus unerklärlichen Gründen vorbei mit dem Frieden.
‚Scheiße‘, dachte ich, ‚was ist los?‘ Tausende von Gedanken während der Meditation, keinen ruhigen Geist mehr – und mein Ärger war wieder im Anmarsch.
Mein kritischer Blick war plötzlich wieder unterwegs, ich fand wieder jemanden, den ich geistig runtermachte und abwertete. ‚Wie die dasitzt, wie der da läuft …‘, und dann passierte es, dass jemand seinen Löffel während des Essens fallen ließ. In der Stille der im Schweigen eingenommenen Mahlzeit klang der auf den Steinfußboden aufschlagende Löffel wie ein Auto, das gegen eine Wand fuhr.
Voller Verachtung trafen den Verursacher meine bösen Gedanken: ‚Du Idiot, du sollst doch achtsam essen, aufpassen, was du machst, nicht deinen belanglosen Gedanken hinterherjagen und verdammt nochmal diesen Löffel festhalten.‘ Und immer weiter ging es in diesem ärgerlichen Gedankenstrom, bis ein Gong das Ende der Mahlzeit anzeigte und ich mir bewusst wurde, welche Gedanken ich gerade hatte, oder besser gesagt, welche Gedanken mich gerade hatten.
Hat das denn nie ein Ende? Nein, es hatte noch kein Ende, und wenn doch, dann nur ein vorläufiges. Aber so wie der Ärger kam, so ging er auch wieder, und es wurde wieder zur Meditation eingeladen, angekündigt durch einen Gong.
Und auch diese Tage vergingen in äußerlichem Schweigen, aber innerlich gab es immer wieder diesen Aufruhr, ein Wechselbad der Gefühle und vieler Erinnerungen und Gedanken, die einfach kamen, ohne eine Einladung abzuwarten. Und die meisten dieser Gedanken hätte ich bestimmt nicht eingeladen. Dann kam der letzte Tag und das Schweigen wurde wieder ‚gebrochen‘.
An diesem frühen Abend saß ich an meinem Lieblingsplatz, am Lotusteich, und zeichnete mit einem Stöckchen verschiedene Zeichen in den Sand, beobachtete die Ameisen, spürte den warmen Wind auf meiner Haut und fühlte eine unglaubliche Stille in mir.
Ich war dem Schweigen näher als dem Reden und dann stand Anna vor mir. „Na“, meinte sie zu mir, und ich wusste nichts darauf zu erwidern, zwang mich aber zu einem „Na“, und ein paar Worte fielen nur langsam aus meinem Mund.
Es gab gerade nicht wirklich etwas zu sagen und so schwiegen wir, und ich deutete an, dass es mir gerade lieber wäre, noch etwas allein hier zu sitzen. Anna musste sowieso noch etwas erledigen.
Dann gab es eine letzte Abendmeditation und einen letzten Vortrag mit praktischen Hinweisen für den Alltag und Ermutigungen, die Meditation weiter zu üben.
Von all den Worten, die Ajahn Ranschuan an diesem Abend sprach, sind mir bis heute zwei Sätze sehr deutlich in Erinnerung geblieben: „Mache das Beste aus jedem Moment!“ und „Werde dein bester Freund!“
Am nächsten Morgen herrschte die übliche Aufbruchsstimmung.
Matten, Sitzkissen und Petroleumlampen wurden weggeräumt, Rucksäcke gepackt, Erfahrungen ausgetauscht, Adressen auch, und wir verabschiedeten uns von Santikaro, Viriya, Ajahn Po und Ajahn Ranschuan.
Irgendwie hatte Anna etwas ‚Seltsames‘ an mir wahrgenommen – und ich selbst auch.
Beim Abschied fragte sie Ajahn Ranschuan, ob es denn möglich sei, den spirituellen Weg gemeinsam in einer Partnerschaft zu leben, oder müsse man dazu in ein Kloster gehen? Ajahn Ranschuan meinte auf diese Frage, dass es wundervoll für eine Partnerschaft sei, wenn man auch hier einen gemeinsamen Weg gehen würde. Anna schien mit dieser Antwort sichtlich zufrieden zu sein und mich beschlich das leise Gefühl, dass sie die Frage nur gestellt hatte, damit ich diese Antwort hörte.
Indien oder nicht?
Bevor wir nach Indien weiterreisen wollten, gingen wir zurück zu unserer Bungalowanlage am Chaweng Beach. Ich fühlte mich sehr mit mir verbunden, sehr auf mich selbst fokussiert, und meine Achtsamkeit war gut entwickelt.
Anna fand die Meditation und die Lehre Buddhas ganz interessant, war aber doch nicht so sehr beeindruckt davon wie ich und wollte weiter nach Indien. Aber wollte ich auch nach Indien? Hier auf Koh Samui erwartete uns das Übliche: Sonne, Strand und Meer, viel gutes Essen und Kokosnuss-Milchshakes. Es faszinierte mich nicht mehr.
Traum
In dieser Nacht hatte ich folgenden Traum: Ich wache morgens auf, gehe ins Restaurant und alle sehen sehr krank aus, sind weiß im Gesicht, haben dunkle Ringe unter den Augen und sie laufen sehr schleppend und müde umher, wie von einer Krankheit befallen, aber scheinen es selbst nicht zu bemerken. Ich spüre nichts von den Symptomen und will herausfinden, was los ist. Als ich in der Stadt ankomme, sehe ich eine Amerikanerin, und sofort weiß ich, dass sie weiß, was passiert ist, dass sie vielleicht etwas damit zu tun haben könnte. Ich stürme auf sie zu, sie rettet sich in einen Fahrstuhl, ich schaffe es gerade noch hinein und frage sie: „Was ist hier los?“ Sie will erst nichts sagen, druckst herum, aber ich bleibe dran, zwingend, beständig, fordernd, und lasse nicht locker, bis sie sagt: „Es ist hier eine Kokosnuss-Epidemie ausgebrochen.“
Der Traum hatte eine Bedeutung, die sich mir nur gefühlsmäßig erschloss.
Kurz gesagt: Auch das Schönste, Schmackhafteste, Beste, Tollste wird eines Tages, irgendwann einmal öde, spröde und ohne Geschmack und Faszination sein. Und wenn man das nicht bemerkt, kann einen auch das Schönste und Beste krank machen.
Dieses Gefühl hatte ich in etwas abgemilderter Form mittlerweile bei allem, was ich auf dieser Insel machte, sogar wenn ich mit Anna schlief, bekam das auch diesen Geschmack, und ich begann mir Sorgen zu machen. Aber worüber sorgte ich mich eigentlich? Dass mir Bekanntes genommen wird, dass ich das ‚Schöne‘ nicht mehr als solches sehen, fühlen und erleben konnte, dass sich eine tiefe Ernüchterung in mir breit machte? Was passierte hier eigentlich mit mir?
Ich sprach mit Anna. Ich wollte nicht nach Indien, ich wollte nach Suan Mokkh, sie könnte ja mitkommen. Denn zum Abschied hatte Santikaro noch in einem Nebensatz erwähnt, dass man auch außerhalb der Retreats in Suan Mokkh willkommen sei, und das hatte ich mir gemerkt, und mehr noch, es wurde für meine Ernüchterung zu einer Art Rettungsring und allein der Gedanke daran gab mir ein besseres Gefühl.
Anna wollte nach Indien und ich nicht – und – wir hatten ein Problem.
Wir überlegten und erwogen verschiedene Möglichkeiten und kamen zu der Lösung, dass jeder das tun solle, was er mag, und wir uns ja wieder in Nepal, in Katmandu, treffen könnten, in sechs Wochen oder so, den genauen Zeitpunkt wollten wir noch bestimmen.
Sie würde noch eine Woche auf Koh Samui bleiben, bevor sie nach Indien aufbrach.
Sie war enttäuscht darüber, dass ich nicht mitwollte, und ich war auch enttäuscht, aber vor allem war ich ernüchtert: in Bezug auf Sonne, Strand und Meer, von all den Kokosnuss-Milchshakes, dem Windsurfen, den Stranddiskos – von allem.
Und hier fasse ich dieses Wort ‚Enttäuschung‘ im wahrsten Sinne seiner Bedeutung auf, dass ich keiner Täuschung mehr erliegen wollte, ja nicht einmal erliegen konnte, sogar, wenn ich es gewollt hätte. Irgendetwas in mir hatte verstanden, dass es da draußen in der Welt nichts gibt, was eine Beständigkeit von Freude oder Glück versprechen konnte. Ich war wirklich satt!
Abstecher nach Suan Mokkh
Am nächsten Tag verabschiedete ich mich von Anna und wir verabredeten, uns mit Telegrammen auf dem Laufenden zu halten und uns in Nepal wiederzutreffen.
Ich nahm die Nachtfähre, kam morgens in Surat Thani an, nahm den Bus nach Suan Mokkh, stieg aus und betrat dann dieses wunderbare Waldkloster. Ich fühlte diese Stille und Ruhe, spürte den Frieden und die Geborgenheit der riesigen Bäume.
Santikaro begrüßte mich und zeigte mir ein großes Dormitorium, in dem ich mich einrichten könne. Es waren noch drei andere Männer da. Einen kannte ich noch vom letzten Retreat.
Dann schlenderte ich durch den Wald, ging zur Meditationshalle im Dschungel, setzte mich zur Meditation hin und fühlte plötzlich eine große Welle der Traurigkeit und Schwermut über mich hereinbrechen.
Was machte ich hier eigentlich? War das richtig, war das falsch? Anna alleine nach Indien gehen zu lassen? Bin ich verrückt geworden? Tief in mir drinnen wusste ich, dass ich am richtigen Ort war, aber irgendwie wusste ich auch, dass ich bei Anna sein sollte. Ich fühlte diese tiefe, schwere, innere Zerrissenheit und wusste nicht mehr, was richtig oder falsch war.
Da saß ich nun, alleine, mitten im Dschungel, und weinte die bitterlichen Tränen des Abschiednehmens. Aber es war nicht nur der Abschied von Anna. Erst später verstand ich, dass es der Abschied von meinem gewohnten Leben war, von allem, was ich bisher gelebt und geliebt hatte und was mir doch nicht die Erfüllung bieten konnte, wonach sich mein innerstes Wesen so sehr sehnte. In diesem Moment verstand ich nichts mehr. Ich sehnte mich nach Gesellschaft, nach Vertrautem, letztendlich nach Liebe und Verbundenheit, und dann war mir klar, was ich zu tun hatte.
Ich packte meine Sachen und versuchte Santikaro zu erklären, was in mir geschah. Der meinte nur, ich solle mir einen Baum aussuchen und dort ein Blatt beobachten, das sich im Wind hin- und herbewegt. Das versuchte ich drei lange Minuten und machte mich dann auf den Weg zur Hauptstraße.
Dort erwischte ich ein Taxi nach Surat Thani und hatte noch ein paar Stunden Zeit, bis die Nachtfähre ablegen würde. Ich kaufte mir eine Flasche Mekong-Whisky und betrank mich, fand aber noch den Weg zu meinem Platz auf der Fähre, wo ich bald darauf einschlief.
Einige Stunden später wurde ich vom Tuten der Fähre geweckt, packte leicht verkatert meine Sachen, denn in zirka zehn Minuten würden wir in Koh Samui anlegen.
Wieder ein Sammeltaxi, das mich zu ‚meinem‘ Strand brachte.
Anna und ich freuten uns beide sehr, umarmten und küssten uns, und doch klang immer noch im Hintergrund der Abschied mit seiner dumpfen Melodie, ein Abschied, der sich nur etwas verzögern würde.
Nach ein paar Tagen auf Koh Samui fuhren wir gemeinsam nach Bangkok und bezogen ein Hotel. Anna kaufte sich ein Ticket nach New Delhi, und ein paar Tage später brachte ich sie zum Flughafen.
Ich war froh, dass ich diese Entscheidung getroffen hatte und Anna noch mal sah, bevor sie nach Indien aufbrach. Alles zu seiner Zeit – auch die Erleuchtung konnte noch etwas warten.
Zurück nach Suan Mokkh
Am übernächsten Tag war ich wieder auf dem Weg nach Suan Mokkh und kam noch rechtzeitig zum nächsten Retreat. Alles war gut!
Ajahn Po, Ajahn Ranschuan und Santikaro würden ihn leiten. Ich erkannte ein paar vertraute Gesichter, Jean, der ‚blöde‘ Franzose, war auch da, wir freuten uns über das Wiedersehen und so schwang ich mich langsam, leise und freudvoll auf zehn Tage des Schweigens ein.
Als der Retreat zu Ende war, blieb ich.
Ich fuhr nach Chaiya, einem kleinen Ort zirka fünfzehn Kilometer von Suan Mokkh entfernt, mit einem Bahnhof, zwei Hotels, einer Bank, vielen Geschäften, und ließ mir beim ansässigen Friseur die Haare abrasieren. Da fielen sie, meine blonden Locken, im Takte des Rasierers langsam, aber stetig zu Boden, bis ich mich das erste Mal ohne Haare im Spiegel sah.
Es fühlte sich richtig gut an!
Wieder in Suan Mokkh teilte mir Ajahn Po eine echte Mönchshütte zu, die hierzulande Kuti genannt wird. Sie stand auf zirka einen Meter fünfzig hohen Betonstelzen und man erreichte sie über eine Treppe. Die Kuti war aus Holz gebaut und das Dach mit Wellblech gedeckt. Der Innenraum war zirka zweieinhalb mal drei Meter groß und hatte vor der Treppe eine kleine Veranda mit einem Holztisch und einer Holzbank: mein neues Zuhause.
Ich glaube, ich fing langsam an, mich an das Wort ‚glücklich‘ zu gewöhnen, denn anders konnte ich mein Gefühl nicht beschreiben, das sich langsam in mir breit machte, obwohl eine alte Abneigung und eine gehörige Portion Misstrauen diesem Wort gegenüber immer noch im Hintergrund mitschwangen.
Aber war ich nicht hier, um mich zu ‚erneuern‘? Auch um meine Sichtweisen, Meinungen, Vorstellungen und mein festgefahrenes Bewertungssystem in ein neues Licht zu stellen?
Wollte ich nicht mein ganzes dreißigjähriges Leben neu bewerten und überlegen, wie es weitergehen sollte? Gab es irgendeinen Sinn in diesem Leben? Gab es hier irgendetwas zu finden, was wirklich von Wert war? Und viele andere Fragen kamen in mir auf.
Nein, ich hatte den Traum vor meinem ersten Retreat nicht vergessen! Wenn ich mich darauf einließ, fühlte ich immer noch die Hand, die etwas aus meinem Herzen herausriss, und diese unbeschreibliche Leichtigkeit und Freiheit, die ich daraufhin spürte.
Jetzt gab es einen neuen Rhythmus im Kloster und keine geregelten Meditationszeiten.
Als eines Tages Viriya, der bayrische Mönch, wiederkam, organisierte er täglich zwei Meditationssessions für die Westler, die wie ich noch eine Weile im Kloster geblieben waren. Abends wurden ab und zu Kassetten mit Vorträgen abgespielt, und ich schwang mich auf diesen Rhythmus ein.
Morgens, vor dem Frühstück, fegte ich gemächlich, aber sehr achtsam einige Wege und machte mir ein kleines Feuer unter der Hütte, auf dem ich mir heißes Wasser zubereitete. Das war erlaubt, ein kleines Feuer. Was nicht erlaubt war, war Rauchen, und ich muss gestehen, dass ich mir doch ab und zu eine ansteckte.
Die meiste Zeit des Tages lief ich durch den Wald, machte kleine Zeichnungen und übte mich weiterhin in Meditation und Achtsamkeit.
Es gab zwei Begriffe, an denen man in Suan Mokkh nicht vorbeikam: Achtsamkeit und Nicht-Anhaften. Das war es, worauf es hier ankam, und Ajahn Buddhadasa meinte sogar: „Wenn wir die Dinge festhalten und daran anhaften, werden sie zur Quelle des Leids – das ungeschickte Festhalten aufzugeben, ist der Schlüssel zur buddhistischen Praxis.“
Ich liebte diese kurzen, klaren Anleitungen, und so übte ich mich in ihnen.
Ich versuchte wirklich alles zu beobachten und beobachtete auch, wie schnell ich wieder bei irgendwelchen Geschichten aus der Vergangenheit gelandet war. Wie war das noch mal mit der Geduld? Ich brachte die Achtsamkeit immer wieder zurück zu dem, was ich tat, denn alles sollte zur Meditation genutzt werden, und das beschränkte sich nicht nur auf das Sitzen.
Eines Tages lief ich die Wege entlang, es hatte geregnet und ich fand trotzdem ein trockenes Stückchen Holz, um damit Feuer machen zu können. Sehr achtsam beugte ich mich nach vorne, sah, wie die Finger meiner Hand bereit waren, dieses Hölzchen zu greifen, alles in achtsamer Beobachtung, als ich plötzlich verstand, was ich da tat: Ich nahm mir ein Stück Holz, das vorher einmal eine Funktion hatte. Vielleicht war es ein Zweig, an dem Blätter wuchsen und Blüten blühten, manch ein Vogel ruhte sich auf ihm aus, manche Schlange wickelte sich darum herum, abertausende von Regentropfen hatten ihn berührt, die Sonne hatte auf ihn geschienen, der Wind um ihn geweht, und nun lag es hier, direkt vor meinen Füßen, um einer weiteren Bestimmung zugeführt zu werden. Denn bald würde es zu Asche verbrannt werden, der Wind die Asche irgendwo hintragen, und doch ging nichts verloren.
Weiterhin verstand ich die ‚Unschuld‘ meines Tuns, denn ich nahm etwas Lebloses, musste nicht töten oder verletzen, um den Nutzen dieses Hölzchens voll auszuschöpfen.
Und diese Betrachtungen geschahen innerhalb von ein oder zwei Sekunden. Es war aber ein Verstehen, ohne zu denken. Später lernte ich, dass man so etwas Einsicht nennt oder die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind. Diese zwei Sekunden hinterließen einen nachhaltigen Eindruck in mir, auch wenn die Intensität und Tiefe in der Erzählung hier leider nicht vermittelt werden kann.
Nach solchen Erlebnissen, denn es sollten noch ähnliche kommen, war ich sehr ermutigt, weiterhin die Achtsamkeit zu üben und auch das Nicht-Anhaften, wozu es gleich am nächsten Tag eine gute Gelegenheit gab.
Ich hatte mir einen schönen Platz für meinen Gehpfad ausgesucht, zwischen zwei großen Bäumen im Halbschatten liegend, und ihn sehr ordentlich gefegt.
Als ich an diesem Nachmittag zu ‚meinem‘ Pfad ging, sah ich schon von Weitem, dass ein anderer darauf wandelte. ‚Das kann doch nicht wahr sein, sieht er denn nicht, dass er schon von jemand anderem angelegt und genutzt wird? Dieser Egoist! Ich glaub, es geht los …‘
Der Ärger über diese Unverschämtheit baute sich immer mehr auf, und als mich der darauf Wandelnde freundlich anlächelte, war ich sprachlos. Ich erinnerte mich an das Nicht-Anhaften, lächelte leicht gezwungen zurück und lief einfach weiter. Na, das hatte ich gut gemacht, dachte ich mir, gerade noch die Kurve gekriegt.
Ich ging zurück zu meiner Hütte, machte ein Feuer, kochte mir einen Kaffee und rauchte unerlaubterweise eine halbe Zigarette.
Achtsamkeit machte Spaß. Die kleinen Dinge wurden immer interessanter, und da ich beobachtet hatte, dass sich alles von klein nach groß entwickelte und aufbaute, wandte ich dieses Prinzip auch beim Feuermachen an. Ich legte kleine Hölzchen aufeinander, zündete sie an und legte immer größere darauf, bis das Feuer schließlich groß genug war, um Wasser zu kochen. Es war eine Geduldsübung.
Die Gehmeditation übte ich nun bei meiner Hütte und lief im Uhrzeigersinn um sie herum. Ich bemerkte den Schatten des Dachs auf dem Sand. Ich nahm einen Stock und zeichnete die Außenrisse des Schattens nach, um nach einigen Umrundungen meiner Hütte festzustellen, dass der Schatten sich weiterbewegt hatte, die von mir gezeichnete Linie aber nicht. Und so zeichnete ich immer wieder den neuen Schatten nach und ein tiefes Gefühl von Zeitlosigkeit und Hiersein durchflutete mich. Hier – immer nur Hier, das war es. Hätte ich dieses ‚Kunstwerk‘ auf Leinwand gemalt, hätte ich es ‚Zeitlinien‘ genannt.
Keine Gedanken gerade an irgendetwas, woran auch? Das, was ich gerade erlebte, war viel zu spannend, um es mit Gedanken zu kontaminieren. In dieser Zeitlosigkeit fühlte ich eine Stille, die sich für einen Teil in mir etwas beängstigend anfühlte. Aber dann war da noch dieser Beobachter in mir, der beides wahrnahm, sowohl die tiefe Stille als auch das Ängstliche, und von der Warte des Beobachters aus gab es nichts Beunruhigendes mehr. Ich war erfüllt von tiefer Freude und dem Gefühl, am richtigen Platz zu sein, und irgendwie ging es mit der Erleuchtung langsam, aber sicher voran, so dachte ich.
Ich machte es mir abends zur Gewohnheit, mich mit dem Wasser zu duschen, das bei Regen vom Dach meiner Kuti herablief und sich in einem Tonkrug von der Größe einer Tonne sammelte. Vor meiner Hütte war ein Pflanzenbeet angelegt, mit ein paar Trittsteinen darin. Ich stellte mich auf diese Steine und übergoss mich mit Regenwasser in der Absicht, Wasser zu benutzen, aber es nicht zu verschwenden, und wässerte damit gleichzeitig die Pflanzen. Das fühlte sich verdammt gut an, und ich fühlte mich eingebunden in den großen Kreislauf des Seins und des Werdens.
Diese Zufriedenheit war einem Teil in mir verdächtig – es kann doch nicht so einfach sein!?
Während einer unserer Gruppenmeditationen war ich mit dem Atem so sehr verbunden, dass ich jeden einzelnen Atemzug spürte, und plötzlich hörte ich eine Stimme von irgendwoher: „Du bist getragen von einer Welle fließender Existenz.“
War das Gott, der zu mir sprach? Aber im Buddhismus glaubte man ja nicht an einen Schöpfergott, und ich erklärte es mir so, dass es die innere Weisheit war, die da zu mir sprach. Und die Erleuchtung rückte in fühlbare Nähe, so dachte ich.
Ein paar Tage später ging ich in eine der Toiletten, hockte mich auch hier sehr achtsam nieder und war dabei, Tage zuvor Gegessenes wieder auszuscheiden. In dem Moment ‚sah‘ ich den gesamten Kreislauf des Essens. Ich sah die Reisfelder und die Bauern, die sie bewirtschafteten, sah, wie sie ernteten, wie der Reis gekocht, in Teller abgefüllt, in Münder geschoben und in Körpern verdaut wurde. Ich verstand, wie das verdaute und ausgeschiedene Essen wieder zu Erde wurde, zum Dünger für Bäume und andere Pflanzen. Ich sah und verstand diesen ganzen Kreislauf.
Auch diese Einsicht dauerte nicht länger als ein, zwei Sekunden, und ich fühlte mich erfüllt, eingebunden, ja weise und auf alle Fälle auf dem richtigen Weg.
Auf der anderen Seite von Suan Mokkh sollte ein neues Meditationszentrum entstehen und so gingen wir zweimal die Woche dorthin, um zu arbeiten. Wir schleppten Sand und Zement, verteilten Erde, trugen Steine und folgten den Anweisungen von Ajahn Po, der das alles gut im Blick hatte.
Zum Arbeiten war ich eigentlich nicht hierhergekommen, dachte ich so bei mir, und fühlte mich in meiner Meditation etwas unterbrochen. Das Wort – Nicht-Anhaften – kam mir plötzlich wieder in den Sinn und ich erinnerte mich daran, dass Ajahn Buddhadasa einmal sagte: Wenn man nur seine Aufgaben erfülle, sei das schon das Ausüben des Dhamma.
Egal, ich arbeitete weiter und lernte so auch die anderen kennen.
Darunter war Pierre, ein ‚französischer‘ Schweizer. Er war fünfundvierzig Jahre alt, hatte in Frankreich seinen Verlag verkauft, lebte zurzeit auf Hawaii und war am Überlegen, ob er nach Thailand übersiedeln sollte. Er nahm es mit der Achtsamkeit sehr genau und füllte die Eimer und Schubkarren sehr langsam und bedächtig mit den Händen – denn es komme ja nicht darauf an, etwas schnell zu erledigen, sondern achtsam. Wie war das doch gleich wieder mit der Geduld? Wir lernten uns später gut kennen und wurden Freunde.
Ein weiterer in der Gruppe war Paul aus Österreich. Er war vor vier Wochen in Suan Mokkh angekommen und hatte ein Jahr lang in einem Zen-Kloster in Japan gelebt.
Die dortige Praxis drehte sich größtenteils um die Lösung rätselhafter Fragen, genannt Koans, die der Lehrer seinen Schülern stellte.
„Ein Koan kann man nicht durchs Denken lösen, sondern die Antwort muss aus deinem intuitiven Verständnis kommen“, meinte er. Einige der bekanntesten Koans lauten: ‚Wie klingt der Klang einer klatschenden Hand?‘ oder: ‚Wie sah dein Gesicht vor der Geburt deiner Eltern aus?‘
„Und darauf gibt es Antworten?“, fragte ich sehr erstaunt. „Ja“, meinte Paul, „der Sinn eines Koans ist es, das Denken anzuhalten und die Intuition zu schärfen, und aus diesem Raum kommen die Antworten.“
Ich wollte es ausprobieren und er meinte: „Okay, versuch’s mal hiermit: Ein Wildpferd rast auf dich zu. Halte es an!“ Alles klar.
Im Geiste sah ich nun dieses Wildpferd auf mich zurasen und versuchte, es anzuhalten. Ich warf ihm ein Lasso um den Hals. Falsche Antwort. Ich baute ein enges Gitter drumherum, auch die falsche Antwort. Dann erschoss ich es, ganz falsche Antwort, und Paul meinte, es könne Monate dauern, bis man eine Lösung aus dem Raum der Intuition bekommen würde.
Ich übte mich weiter in Meditation und eines Abends sah ich dieses Wildpferd wieder vor meinem inneren Auge auf mich zurasen und war sehr überrascht, was ich dann tat: Ich sprang einfach auf.
Wow, dachte ich, das ist die Lösung, einfach aufspringen. Und da es jetzt keine Trennung mehr zwischen dem Pferd und mir gab und ich immer da war, wo es war, hatte ich es auf diese Weise angehalten. Paul schien mit dieser Antwort zufrieden zu sein.
Ab und zu hielt Ajahn Buddhadasa Vorträge, meist morgens, wenn er sich am fittesten fühlte; schließlich war er schon achtzig Jahre alt. Wir hörten ihm auf dem Boden sitzend zu, den Geräuschen des Dschungels lauschend, während Santikaro das Gesagte ins Englische übersetzte, und irgendwann fingen die Hühner und Hähne an zu gackern.
Ajahn Buddhadasa sprach immer wieder von der zentralen Bedeutung der Meditation und davon, dass man am Atem alle Gesetzmäßigkeiten des Universums erleben könne, nämlich das Entstehen, Verweilen und Vergehen.
Bei seinem Studium der buddhistischen Schriften hatte er ein Wort entdeckt, das Atammayata heißt, und er meinte, dass darin die gesamte Bedeutung der buddhistischen Lehre enthalten sei. Es bedeute in freier Übersetzung, dass der Geist einen Zustand erreichen könne, wo er von den Dingen der Welt nicht mehr verführt, hineingezogen oder sonst wie beeinflusst werden könne, und doch würde man das tun, was zu tun ist.
Alleine über dieses Wort hielt er damals insgesamt zehn Vorträge und machte durch viele Beispiele deutlich, wie wichtig es sei, an nichts anzuhaften, und dann sagte er etwas, was ich nie mehr vergessen sollte: „Es gibt nichts, das es wert wäre, zu sein, zu haben, zu werden oder festzuhalten.“
Als ich das hörte, fühlte es sich an, als ob plötzlich eine riesige Last von mir genommen wurde. Hörte ich hier nicht genau das Gegenteil von dem, was in der westlichen Welt mit ihrer materiellen Orientierung gelehrt und gelebt wurde?
War ich nicht so erzogen worden, immer etwas zu haben oder zu werden, irgendetwas darstellen und vorzeigen zu müssen? Und hier hörte ich genau das Gegenteil!?
Ich sah mein ganzes Bemühen, irgendetwas sein zu wollen, und sei es nur der dynamische Jungunternehmer in Berlin, der immer etwas haben oder später etwas werden und sein wollte. Ich erinnerte mich an all die Eitelkeiten und Selbstdarstellungen als mühevoller Versuch, gut dazustehen, etwas darzustellen, etwas sein zu wollen, andere zu beeindrucken.
Und ja, die mir lieb gewordenen Dinge wollte ich schon festhalten, auf alle Fälle wollte ich sie nicht verlieren.
Aber dann schaltete sich mein Verstand ein und zweifelte diese Behauptung an. „Was soll das heißen: Es gibt nichts, das es wert wäre, zu sein, zu haben und zu werden? Natürlich gibt es Werte, wie das Gute im Menschen, Großzügigkeit und die Liebe zum Beispiel. Und hat es keinen Wert, gute Freunde, Partner oder Kinder zu haben? Auch ein gewisser Wohlstand und Lebensstil haben einen Wert. Die Position in der Gesellschaft oder im Beruf hat auch einen Wert. Und auch die Erfüllung von Träumen oder Zielen und Hoffnungen hat einen Wert.“
Das wurde auch nicht bestritten, und Ajahn Buddhadasa sagte mal, dass man sich an alledem erfreuen, aber nicht daran festhalten solle. Das war die eigentliche Kernaussage dieses Satzes.
Er machte uns darauf aufmerksam, ja fast schon warnend und sehr eindringlich, dass alles die Natur des Vergehens in sich trage und dass das Festhalten an Vergänglichem der sichere Weg ins Unglück sei. Und auch das weltliche Glück, das immer wegen etwas entstehe, sei vergleichbar mit einer Schlange und ihrem attraktiven bunten Schwanz: Sobald du den schönen Schwanz ergreifst, dauert es nicht lange und die Schlange wird dich beißen.
Ich spürte, dass er aus klarer innerer Überzeugung und direktem Einsichtsvermögen sprach, auch ohne die thailändische Sprache zu verstehen.
Ich machte mir über alles, was er sagte, Gedanken, erwog es, betrachtete es, und ja, ich musste nach reiflicher Überlegung allem zustimmen.
Im Buddhismus geht es nicht darum, Glaubenssätze zu übernehmen, sondern selbst zu eigenen Antworten und Erkenntnissen zu kommen. Und das, was man nicht versteht oder nachvollziehen kann, solle man seinem Rat zufolge nicht wegwerfen, sondern zur Seite legen und es ein anderes Mal wieder hervorholen, um es erneut zu bedenken und zu kontemplieren. Verwerfen kann man es später immer noch.
Ich fühlte eine tiefe Verbundenheit zu diesem Mann. Er sprach mir aus dem Herzen, er sprach zu meinem Herzen, er berührte mein Herz und er strahlte Weisheit und Herzenswärme aus.
Aber was für mich noch viel wichtiger war: Ich vertraute ihm!
Dann hatte er dieses tiefe, satte Lachen, was so schnell beendet war, wie es begonnen hatte. Wie eine Welle, die aufsteigt, im Wind tanzt und dann wieder zum Ozean wird.
Er strahlte eine innere Ruhe und Konzentration aus, die ich so noch nie bei einem Menschen erlebt hatte. Ich empfand eine tiefe Zuneigung und großen Respekt für diesen Mann.
Ich erkor ihn zu meinem ‚spirituellen Vater‘, und ich sollte, auch noch nach seinem Tod, sehr oft von ihm träumen.
Die Tage gingen dahin in ihrem eigenen Rhythmus. Sie waren erfüllt von Meditations- und Arbeitsperioden, und immer wieder schrieb ich meine kleinen Erkenntnisse auf, malte Bilder, meist abstrakte, die diese Erkenntnisse wortlos aufzeigen sollten. Ich liebte dieses Sein in dieser klaren, einfachen Natürlichkeit.
Achtsamkeit und Nicht-Anhaften waren das Mantra, das mich immerzu begleitete und woran ich mich ständig erinnerte. Ich fühlte einen Frieden und eine innere Klarheit in mir, war aber auch konfrontiert mit diesen Kräften, die man Herzenstrübungen nennt.
Ja, da war diese Gier in mir, und viele Erinnerungen kamen mir in den Sinn, wo mein Handeln von ihr bestimmt wurde, wo ich einfach nicht genug haben konnte von etwas, nicht, weil ich nicht satt war, nein, sondern weil ich es einfach haben konnte. Ja, in Berlin habe ich es oft wild getrieben. Habe mit Frauen geschlafen, obwohl ich wusste, dass es dabei nicht um Liebe ging, sondern einfach nur deshalb, weil es sich anbot.
Und immer wieder spürte ich diesen Ärger und einen knallharten Kritiker in mir, und ich war froh, dass das Prinzip des Entstehens, Verweilens, Vergehens auch hier seine Gültigkeit hatte.
Wie weit meine Achtsamkeit entwickelt war, merkte ich an kleinen Dingen.
Eines Nachts wachte ich auf und musste pinkeln. Ich kroch unter dem Moskitonetz hervor, stand auf, bewegte mich in stockdunkler Hütte auf das Regal zu, griff hinein und fand zielsicher die Streichhölzer, ganz im Dunkeln und ohne etwas zu sehen. Alles in meiner Hütte war auf seinem Platz und mit Achtsamkeit genau da abgelegt, wo es hingehörte, und deshalb konnte es auch gar nicht woanders sein.
Die erste ‚Erleuchtung‘
Es geschah an einem Morgen im April.
Als ich erwachte, fühlte ich eine starke innere Wachheit und Gegenwärtigkeit. Ich öffnete die Tür meiner Hütte und die Welt schien verändert. Die Farben der Bäume und Pflanzen, den leichten Wind auf meinem Gesicht nahm ich plötzlich in einer vorher noch nie erlebten Intensität wahr, und ich erinnerte mich an die Zeit in meiner Jugend, wo wir öfters LSD einnahmen, so ungefähr fühlte es sich an und doch total anders.
Keiner der aufkommenden Gedanken war in der Lage, mich in seine Geschichte hineinzuziehen, keine Herzenstrübung hatte die Chance, anzuwachsen, alle geistigen Bewegungen wurden sofort als das entlarvt, was sie waren. Dann lief ich durch den Wald und staunte über alles, was ich da sah. Ich verstand alles, ohne dieses Verständnis rational in Worte fassen zu können. Ich fühlte mich mit mir tief verbunden und spürte keine Trennung zu den Dingen da draußen.
Dann fand ich einen trockenen Ast, legte ihn irgendwo im Dschungel ab und fand ihn später mit einer sicheren Selbstverständlichkeit wieder. Meine Achtsamkeit war messerscharf.
Da lag dieser Dunghaufen und ich wusste, dass er genau da liegen musste und keinen Zentimeter weiter. Ich verstand das Wehen des Windes, das Bellen der Hunde und das Strahlen der Sonne. Ich verstand, dass alles an seinem Platz war und nur genau da sein konnte, wo es war, und keinen Millimeter weiter. Ich fühlte eine übergeordnete Gesetzmäßigkeit, die alles regulierte, und ich war mittendrin, gehörte dazu, war Teil des Ganzen, nein, ich war das Ganze.
Ich war beseelt und voller Energie. Das Wort ‚glücklich‘ fühlte sich zu beschränkt an, um damit mein Erleben zu beschreiben, alle Worte fühlten sich zu beschränkt an, um das wiederzugeben, was ich da erlebte. Ich fühlte mich leicht, gesammelt und sicher in diesem Sein, und vor allem gab es da keine Zeit, sondern nur diesen einen, unglaublich ewigen, zeitlosen Moment.
Ich konnte nicht darüber nachdenken, denn dieses intensive Erleben erfüllte jeden Winkel meiner Wahrnehmung, und so hatten Gedanken kaum eine Chance, eine Lücke zu finden.
Ich vermied es, anderen Menschen zu begegnen, wollte nicht gestört werden und verzichtete an diesem Tag auch aufs Essen – das wäre einfach zu profan gewesen.
Ich erlebte diesen Zustand ein paar Tage lang mit wechselnder Intensität, aber einer sehr gesammelten, einsichtsvollen und achtsamen Grundschwingung. Ich schlief nur wenige Stunden und meine Meditation war still, ruhig, konzentriert und gesammelt.
Dann wurde mir klar, was hier passiert war – ich war erleuchtet!
Als ich so einen Weg entlanglief, kam mir Viriya entgegen, schaute mich an und meinte zu mir: „Wir sind hier nicht in einer Flugschule!“ ‚Arschloch‘, dachte ich, ‚du neidest mir dieses Erlebnis doch nur, und obwohl du Mönch bist, hast du so was noch nicht erlebt, sonst würdest du das nicht sagen … Idiot.‘ Ich entgegnete ihm: „Ist das so?“ und lief einfach weiter.
Upps, was kamen denn da für Reaktionen aus meinem erleuchteten Geist? Egal, kann schon mal passieren, und ich sammelte mich wieder und genoss dieses Hiersein mit der Gewissheit, dass die Erleuchtung jetzt stattgefunden hatte, und wollte es mit jemandem besprechen und, ja, es mir bestätigen lassen.
Ich ging zu Ajahn Ranschuan, die vor ihrem Häuschen gerade ihre Wäsche aufhing, und erzählte ihr, was ich in den letzten Tagen so erlebt hatte und dass ich ja jetzt gehen könnte, weil das Ziel – Erleuchtung – wohl jetzt erreicht sei.
Sie schaute mich aus ihren freundlichen und sehr klaren Augen an und sagte dann mit viel Mitgefühl zu mir: „Hafte nicht daran an!“
Was?! Ich wollte Lob und Lobpreisung und Anerkennung, wollte die Bestätigung meiner Erleuchtung – und dann sagt sie sowas?
Sie meinte weiter, dass das alles sehr gut sei, was ich da erlebe, und ein Zeichen dafür sei, dass ich die Achtsamkeit gut entwickelt hätte und dass Achtsamkeit dann diese starke Konzentration hervorbringe, die ich gerade erlebte.
Dann meinte sie, ich solle mit dem ‚kontemplativen Blick‘ auf die Dinge schauen, mit dem Dhamma-Auge, denn es gehe ja darum zu verstehen, wie die Dinge wirklich sind, und dass ich der Weisheit die Möglichkeit geben solle, mir diese Einsichten zu bescheren. Auch gebe es andere Faktoren, wie liebende Güte, Mitgefühl und Gleichmut, die ebenfalls entwickelt werden müssten.
Wie weit meine liebende Güte und mein Gleichmut entwickelt waren, konnte ich an meiner Reaktion auf Viriya ablesen.
Später erzählte sie mir einmal, dass sie in einem Dschungel gelebt hatte, als sie nicht weit von sich entfernt einen Tiger durchs Unterholz streichen hörte. Aber sie empfand keine Angst. Aus ihren Augen spürte sie ein helles Licht strömen und sie fühlte eine Stärke und Kraft, die keinen Raum für Angst ließen.
‚Der Tiger hätte keine Chance gehabt‘, dachte ich bei mir, als sie mir das erzählte. Aber auch das seien einfach nur ‚Abfallprodukte‘ der Meditation und nicht das Ziel.
Ich ging etwas enttäuscht und doch irgendwie erleichtert zurück in meine Hütte.
Die Intensität meiner Erfahrung legte sich langsam wieder und ich fragte mich, wie lange ich das eigentlich ausgehalten hätte? Keine Ahnung!
Achtsamkeit und Nicht-Anhaften blieben das Mantra.
Penang – Katmandu
Unterwegs und doch immer hier
Mein Visum würde bald ablaufen, und ich beschloss, am übernächsten Tag den Nachtzug nach Penang in Malaysia zu nehmen, um es erneuern zu lassen.
Ich packte meinen Rucksack und verabschiedete mich von Ajahn Po, Viriya und Ajahn Ranschuan. Dann stand ich am Bahnhof in Chaiya und wartete auf den Zug aus Bangkok, der um zwei Uhr morgens ankommen sollte.
Ich hatte alle Zeit der Welt, war weder in Eile noch ungeduldig. Es genügte mir, einfach zu sein. Das Nicht-Anhaften übte ich weiter und in seinem Schlepptau bemerkte ich eine Art Vertrauen.
Ich vertraute darauf, dass alles so geschehen würde, wie es geschehen muss, und weshalb sollte ich mich da einmischen? Das hatte zur Folge, dass ich weder einen Sitzplatz noch eine Fahrkarte im Zug reservierte. Die Fahrt dauerte immerhin fünfzehn Stunden und manchmal länger, und auch ein Hotelzimmer in Penang hatte ich nicht gebucht.
Ich genoss es, sorgenfrei und planlos mit dem Leben zu fließen. Im Zug bekam ich dann den vorletzten Sitzplatz, in Penang das letzte Zimmer in meinem Hotel, und ich hatte das Gefühl, dass das Leben es gut mit mir meinte.
Wieder zurück in Suan Mokkh erreichte mich ein Telegramm von Anna. Sie werde in etwa einer Woche nach Katmandu fliegen und wolle wissen, ob und wann ich kommen würde.
Ach ja, Anna. Ich hatte sie nicht vergessen, aber auch nicht sehr oft an sie gedacht.
Es fühlte sich an, wie an ein anderes Leben erinnert zu werden, mein altes Leben.
Es war nun Anfang Mai und ich überlegte hin und her. Ja, ich wollte Anna wiedersehen und mir auch eine Auszeit vom klösterlichen Leben nehmen, und nach Katmandu wollte ich auch schon immer mal. Also entschloss ich mich, in einigen Tagen nach Bangkok zu fahren, um mich auf den Weg nach Nepal zu machen. Wir wollten zusammen auf dem bekannten Annapurna Treck wandern, der in der Nähe von Pokhara beginnt. Dazu hatte ich extra meine Wanderschuhe aus Berlin mitgenommen, die mich eigentlich die ganze Zeit in Thailand belasteten, auch eine warme Trekkingjacke hatte ich die ganze Zeit mit mir herumgeschleppt.
Aber schon ein paar Wochen vorher war während eines Retreats in unseren Schlafraum eingebrochen worden und die Jacke und die Schuhe wurden mir geklaut. Außerdem war ich barfuß in einen verrosteten Nagel getreten, die Wunde hatte sich entzündet und längeres Gehen bereitete mir Schwierigkeiten. Mit der Trekkingtour würde es also wohl nichts werden, für mich auf alle Fälle nicht.
Auch hier erkannte ich einen Zusammenhang zwischen langem Planen und den Vorkehrungen, die man traf, und dass alles anders kommen kann, als man es geplant hatte. Als mir die Sachen geklaut wurden, ärgerte ich mich überhaupt nicht darüber, denn ich war ja im Nicht-Anhaftungs-Modus, und wenn ich ehrlich bin, war ich sogar erleichtert, im wahrsten Sinne des Wortes, denn ich musste den ganzen Kram nicht mehr mit mir herumschleppen. Dann erinnerte ich mich an ein altes Sprichwort: „Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, dann erzähle ihm von deinen Plänen.“
Das Ticket war schnell besorgt, Anna über meine Ankunftszeit informiert und aus dem Flugzeug sah ich zum ersten Mal die Gipfel des Himalayas, und „das ist der Mount Everest“, meinte eine der Flugbegleiterinnen noch.
Wir landeten in Katmandu, wo Anna in der kleinen Ankunftshalle auf mich wartete. Wir freuten uns beide, einander wiederzusehen, und hatten viel zu erzählen.
Sie war schon seit drei Tagen hier, hatte ein Hotelzimmer organisiert, und so erkundeten wir erst einmal die Stadt. Ich bemerkte, dass ich sehr bei mir war und nach all den Wochen keine Lust verspürte, mit Anna zu schlafen oder ihr sonst wie körperlich näher zu kommen. Wäre das nicht im Kontext meiner klösterlich-meditativen Erfahrung geschehen, hätte ich mir echte Sorgen gemacht. Aber Anna war auch nicht fit, sie hatte Durchfall und fühlte sich schlapp, und so fiel ihr meine Distanz nicht sofort auf.
Meinen zweiunddreißigsten Geburtstag feierten wir in Katmandu, und sie überreichte mir als Geschenk ein T-Shirt, worauf ein kleines, abstraktes Bild gestickt war, und ich erschrak zunächst, denn es sah genauso aus wie eine Zeichnung aus meinem Notizbuch.
Ja, die liebe Anna hatte mir diese Zeichnung ‚entwendet‘ und dem Sticker als Vorlage gegeben. Wir verstanden uns gut und verlebten ruhige und harmonische Tage in Nepal. Ohne mich wollte sie auch nicht auf den Annapurna Treck gehen. Wir blieben eine Woche in Pokhara, machten kleine Tagesausflüge, besuchten tibetische Klöster und fuhren wieder nach Katmandu.
Anna flog zurück nach Berlin, ich zurück nach Bangkok, um schließlich auch drei Tage später wieder in Berlin zu landen.
Berlin
Es war Ende Mai 1988, der Frühling war schon eine Weile da und ich musste mich wieder um Aufträge kümmern. Berlin fühlte sich fremd an. Ich war nicht am richtigen Ort, machte nicht die richtigen Dinge, so fühlte es sich zumindest an. Auf jeden Fall musste ich mich jetzt erst mal orientieren.
Anna orientierte sich auch neu. Bislang hatte sie Geschichte und Germanistik studiert, dieses Studium abgebrochen und schaffte dann auch die Prüfung zum Studium als Industriedesignerin an der Hochschule der Künste.
Bevor ich mich als Landschaftsgärtner selbstständig machte, hatte ich auch sechs Semester Industriedesign studiert, dieses Studium aber dann abgebrochen. Ich ging nur noch halbherzig zur Uni, war an den Projekten nicht mehr interessiert, störte mich immer mehr an einer gewissen Arroganz, die ich meinen Mitstudenten unterstellte, und die Aussicht, später für die Industrie zu gestalten, war nicht besonders attraktiv für mich. Als Semesterarbeiten entwickelte und baute ich immerhin einen Hocker, eine Lampe, lernte etwas über Bildhauerei, Malerei und Gestaltung und hatte eine tolle Projektwoche an der Nordsee mit meinen Mitstudenten und dem Bildhauer, Professor Günther Ohlwein.
Wir wohnten damals in der Mühle von Hannes Wader in Strukum und beschäftigten uns mit Windobjekten. Wir verbanden Holzstäbe miteinander und bespannten sie mit Papier, so dass sie aussahen wie Drachen, nur dass sie nicht in die Luft flogen, sondern auf dem Boden rollend vom Wind bewegt werden sollten. Sie wurden dann genauso vom Wind mitgenommen, wie ich es mir vorgestellt hatte.
Eine Woche Arbeit wurde in wenigen Minuten vom Wind verweht, von Wasser durchnässt und wieder in seine Bestandteile zerlegt. Dann sammelten wir die Einzelteile wieder ein, brachten sie zum Müll und mich beschlich damals schon ein leises Gefühl der Sinnlosigkeit in Bezug auf dieses ganze Projekt.
Vergänglichkeit! Unbeständigkeit! Ja, das fühlte ich sehr stark in diesem Moment.
Dann entdeckte ich das angeschwemmte Strandgut: viele Plastikflaschen, Holz- und Baumteile, alte Schuhe, die alle vom Wasser weich abgeschliffen waren und eine besondere Faszination auf mich ausübten. Ich verband dieses Strandgut mit ihrer jeweiligen Geschichte, sah den Baum, an dem einst Äste wuchsen, im Gesamtgefüge eines Waldes und sah den Baum, der hier tot vor mir lag. Da lagen Plastikflaschen und Schuhe und viele andere Gegenstände, die alle eine Geschichte erzählen könnten. Alle diese Dinge hatten eine Funktion und einen Nutzen gehabt. Jetzt lagen sie hier, vom Wasser angespült, vom Sand eingegraben und von der Sonne geblichen – nutzlos und verbraucht.
‚Sieh an‘, dachte ich, ‚da hatte ich ja schon damals solche ernüchternden Gedanken gehabt.‘
Auf alle Fälle verbrachten Anna und ich viel Zeit miteinander und trafen auch oft unsere Freunde. „Alles wie gehabt“, wie Burkhard manchmal so einfach und doch sehr zutreffend meinte.
Abends malte ich abstrakte Bilder und war dazu übergegangen, Kartoffelsäcke und Sackleinen als Leinwand zu verwenden. Dieses Material schien mir am geeignetsten, um durch die Wiederverwendung von bereits Benutztem eine Art Einklang mit der Natur sowie einen nachhaltigen Gebrauch natürlicher Ressourcen auszudrücken, einer Eingebung folgend, die mir in Suan Mokkh beim Duschen über den Pflanzen gekommen war.
Ich erledigte verschiedene Gartenbauarbeiten, hatte in diesem Sommer gut zu tun, aber diese Ernüchterung wollte nicht weichen.
Ein Nachmittag mit Anna
Eines schönen Nachmittags war ich mit Anna bei ihr verabredet. Wir kochten zusammen, tranken Rotwein, lachten und erinnerten uns an unsere gemeinsamen Reisen durch Asien und sprachen über verschiedene Erlebnisse.
„Hättest du dem Mann wirklich die Flasche auf den Kopf geschlagen?“, fragte sie mich plötzlich, und ich wusste gar nicht, was sie meinte. „Welcher Mann? Welche Flasche?“, fragte ich erstaunt. „Na, du weißt schon, als wir damals in Penang waren und …“ „Ach ja, stimmt ja, das hatte ich fast vergessen“, unterbrach ich sie und erinnerte mich sofort an diesen Abend.
Wir aßen abends immer an einem der zahlreichen Essensstände direkt an der Straße. Gleich nebenan befand sich eine Moschee. Das Freitagsgebet war gerade beendet und um uns herum waren fast nur weiß gekleidete Männer mit ihren traditionellen Mützen, dazwischen auch ein paar Rikscha-Fahrer. Einer von ihnen saß nur wenige Meter von uns entfernt, als er plötzlich unter den Tisch griff, eine Katze in der Hand hielt, aufsprang und sie gegen eine Wand schleuderte. Alle Restaurantbesucher verstummten auf der Stelle und starrten in seine Richtung. Wir auch.
Aber der war mit der Katze noch nicht fertig, ergriff einen großen Stein und schlug, über ihr kniend, mehrmals auf sie ein. Wir waren entsetzt, konnten nicht glauben, was wir gerade sahen. Als er mit der Katze fertig war, kehrte er an seinen Tisch zurück und aß weiter, so als ob nichts geschehen wäre. Es blieb mucksmäuschenstill.
Anna war besonders entsetzt und warf dem Mann böse, verachtende Blicke zu. Der bemerkte das, stand plötzlich auf und bewegte sich langsam auf uns zu. Oh, Mann. Neben mir stand eine Kiste mit leeren Cola-Flaschen, und ganz automatisch ergriff meine rechte Hand eine der dicken Glasflaschen, während ich in mir eine klare Entschlossenheit fühlte. Anna saß vor mir und der Mann kam immer näher. Irgendwie hatte ich geistig eine Schutzlinie zwischen ihm und Anna gezogen, und er blieb tatsächlich zirka einen halben Meter vor dieser Grenze stehen und meinte auf Englisch, dass die Katze ihn gebissen habe, und sagte noch irgendetwas anderes, was wir nicht verstanden. Dann ging er zurück auf seinen Platz und die Flasche zurück in den Kasten.
„Ja, mein Schatz, ich hätte sie ihm auf den Kopf geschlagen“, war meine sichere Antwort auf ihre Frage.
Dann erinnerten wir uns wieder daran, wie es überhaupt dazu kam, vor zirka zwei Jahren, nach Asien zu reisen. Eigentlich hatten wir ganz andere Pläne – und alles begann damals mit einer kleinen Meldung am 26. April 1986.
Ein russisches Atomkraftwerk in Tschernobyl hatte Probleme und irgendetwas trat aus. Dann wurden die Nachrichtensprecher immer ernster und die Meldungen darüber auch. Und irgendwann verstanden wir, nein, es war kein kleiner Unfall, sondern eine schwerwiegende Bedrohung. In Berlin hatten wir damals noch Glück im Unglück, weil der Wind in diesen Tagen aus Westen wehte und somit die radioaktive Wolke von Berlin fernhielt. Es kamen die ersten Warnungen: Kinder sollten nicht im Sand spielen und man sollte sich bei einsetzendem Regen davor hüten, nass zu werden.
Einige Tage später saßen Anna und ich auf meinem Balkon und spielten mit dem Gedanken, auszuwandern. Wir malten uns alle möglichen Horrorszenarien aus, die mit einer nuklearen Katastrophe einhergehen würden, und kamen zu dem Schluss, dass Südostasien sicherer war als Europa. Wir dachten darüber nach, in Thailand vielleicht ein Restaurant und einen Surfbrettverleih aufzumachen. Und so kam es, dass wir uns damals auf den Weg nach Asien machten, um die Möglichkeiten vor Ort etwas genauer abzuchecken.
„Wie die Zeit vergeht“, sagten Anna und ich gleichzeitig und wir mussten lachen.
Das Thai-Curry, das wir an diesem Nachmittag gemeinsam zubereitetet hatten, war schon zur Hälfte gegessen, als Anna mir plötzlich diese bedeutungsschwangere Frage stellte: „Könntest du mit dem Gartenbau eine Familie ernähren?“ Irgendetwas in mir erstarrte: „Äh, ja, glaube schon“, murmelte ich etwas erschrocken. Nein, sie war nicht schwanger, aber eben in dem Alter, wo diese Gedanken für eine junge Frau ganz normal sind.
Ist das die Richtung, in die unsere Beziehung gehen würde, der ‚normale‘ Weg?
War ich denn überhaupt schon bereit dafür? War ich dafür überhaupt geschaffen?
Nichts, aber auch gar nichts klang in mir an. Weder fühlte ich eine freudige Stimmung in mir aufkommen, noch sah ich erwartungsfrohe Bilder mit Eigenheim und zwei Kindern vor meinem inneren Auge. Ein Leben als Familienvater war für mich ganz und gar unvorstellbar. Anna musste mein Unbehagen bemerkt haben und beließ es bei dieser Frage. Sie meinte nur noch: „Nein, nicht heute oder morgen“‚ … aber irgendwann und dann für immer …‘, ergänzte ich im Stillen diesen Satz, ausgeliehen aus dem Film Casablanca.
Nein, sie wolle ja auch ihr Studium beenden, meinte sie dann, vielleicht noch ein bisschen von der Welt sehen, aber es schien so, als wollte sie schon mal vorchecken und meine generelle Haltung mit dieser Frage prüfen. Ich glaube, ich war haushoch durchgefallen.
Ein neuer Gedanke
Ich weiß nicht mehr genau, wann diese Entscheidung fiel, es war eher wie ein ‚Kippen‘ in eine Richtung. Irgendetwas in mir schloss mit Berlin ab und es formierten sich Gedanken und Ideen der besonderen Art: „Hey, wie wäre es eigentlich, wenn ich für ein paar Monate ins Kloster gehen und Mönch auf Zeit werden würde?“
Ich hatte eine interessante Rechnung aufgemacht. Ich überlegte, wie viele Einsichten und ‚Erleuchtungserlebnisse‘ ich in diesen Wochen gehabt hatte. In acht Wochen hatte ich soundso viel erlebt, in neun Monaten würde ich also soundso viel erleben!?
Anna war schließlich auch sieben Monate in Japan gewesen, sie könnte unmöglich etwas dagegen haben. Auch wenn Anna etwas schluckte, als sie von meinen Plänen hörte, meinte sie dann doch: „Na ja, neun Monate sind ja keine Ewigkeit.“
Ihre Mutter lebte in Australien und würde nächstes Jahr fünfzig werden und Anna war eingeladen, sie zu besuchen. Sie wäre dann sowieso zwei Monate in Australien und wir könnten uns dann wieder im April des kommenden Jahres in Bangkok treffen und zusammen zurück nach Berlin fliegen. Das hörte sich alles sehr gut für mich an und deckte sich mit meinem Zeitfenster.
Allerdings wollte ich nicht wegen irgendwelcher Verpflichtungen wieder nach Berlin zurück. Also beschloss ich, meinen Lkw und einen Teil der Werkzeuge zu verkaufen. Reinhold würde meine Wohnung übernehmen, und die schon vorliegenden Aufträge würde ich an befreundete Landschaftsgärtner abgeben. Gesagt, getan.
Abschied von Berlin
Nach einem letzten Sommer in Berlin, mit den üblichen Freizeitbeschäftigungen, zog der September ins Land. Ich hatte alles verkauft, was ich zum Gartenbau nicht mehr brauchte, regelte noch ein paar Formalitäten, und zwei Tage vor meiner Abreise fuhr ich nochmal durch die Straßen Berlins.
Es kamen mir viele Erinnerungen an vergangene Zeiten in dieser Stadt hoch. Immerhin hatte ich bislang elf Jahre hier gelebt, gelebte Zeit, gelebtes Leben, viel erlebt, und doch war ich nirgendwo angekommen, wo ich hätte sagen können: Hier bleibe ich!
Es war ein Abschiednehmen ohne Trauer. Es fühlte sich so an, als wäre ich in einen Kokon eingehüllt, während die Häuser und Straßen und die vielen Erinnerungen an mir vorbeizogen. Und am vorletzten Abend traf ich mich zum letzten Mal mit meinen lieben alten Freunden im ‚Untergrund‘. Wir lachten und tranken Bier, witzelten und sprachen über dies und das, die alten Zeiten, die gemeinsamen Erlebnisse, und irgendwie war ich schon gar nicht mehr da.
Den letzten Tag verbrachte ich mit Anna. Wir waren mittlerweile darin geübt, uns eine Weile nicht zu sehen, und so war es auch nicht weiter schlimm, denn wir hatten so etwas ja schon öfter durchgemacht. Wir führten eine sehr unübliche Beziehung und waren immer mal für längere Zeit räumlich getrennt. Ich glaube auch, dass wir beide das zu schätzen wussten, denn so konnte jeder die Dinge tun, die er tun wollte, und niemand musste sich für den anderen verbiegen.
Dann hatten wir ein letztes gemeinsames Abendessen bei ihr und eine letzte gemeinsame Nacht, und das machte es mir nicht leichter, sie eine Weile nicht zu sehen.
Kurz vor dem Schlafengehen schrieb ich noch etwas auf, was ich selbst nicht richtig verstand, aber es kam aus meinem Herzen, und Poesie ist ja bekanntlich dazu da, etwas in Worte zu fassen, wofür es eigentlich keine Worte gibt.
Die Bande …
… wie geschmiedete Ketten, aber Ösen gleich, eine geschlossene Öffnung.
Und durch den Sumpf der Dinge zeichnet sich die Klarheit ab,
wird von dem Nichts aufgefressen.
Mein Land, so weit du sehen kannst, mein, und kein Fleck,
dem ich gehöre, der mir gehört.
Die Sonne ergießt, Orgasmus gleich,
ihre hellen Fluten in schwarze Schluchten,
und die Reiter machen sich auf den langen Weg durch die grüne Wüste.
Eine Tasse Kaffee vertreibt die Spiralnebel.
Elitär vertrocknete Äste schwingen leicht im Winde
und schlagen ihre Vergänglichkeit ins innere Auge des Betrachters.
Steine rollen und Fliegen fliegen, bis sie am Bande gefangen verstummen.
Trost und Erlösung kommen erst in der Ewigkeit?!
Abgebrannte Zigarettenstummel und zerdrückte Cola-Dosen,
lieblich gelagert neben Einwegflaschen und Plastiktüten,
machen den Weg zum Gipfel seltsam
und zugleich befremdlich schön verführerisch.
Eingebunden in Gewalten.
Heißer Kaffee läuft die Kehle hinunter, und eine glimmende Zigarette
zwischen Mittel- und Zeigefinger der linken Hand,
in dieser Stellung der Meditation verharrend,
werde ich warten und Zeiten an mir vorüberziehen lassen.
Ein Kind schaukelt leicht im Wind,
nur gehalten von einem Strick am Ast.
Eine seltsame Verbundenheit bilden die Bande des Strickes
um des Kindes Halse straff gezogen.
„Lass dich nicht so hängen!“, schreie ich ihm entgegen.
Und während es antwortet:
„Die Zeiten haben sich geändert
und für einen Cadillac gebe ich alles!“,
erkenne ich in ihm mein Spiegelbild.
Die Zustimmung des lachenden Publikums
über sein Todesurteil verblüfft mich weniger
als das Zurückkommen des Bumerangs.
Barfuß springe ich durch Feuersglut,
während die Stiefmütterchen nicht ihre Farbe verlieren.
Einem Rollschuhfahrer gleich, Walkman am Gürtel hängend,
fliege ich über schwarzen Asphalt und verliere mich in grünen Wiesen,
wo schon lange nichts mehr wächst.
Polizisten schießen auf Kinder,
und Kinder werden schon lange nicht mehr geboren.
Spanien liegt fern, Amerika liegt fern.
Der Wind verstärkt sich im dichten Gestrüpp
und Häuser zerren Flugzeuge auf die Felder.
Schweißnasse Hand zwischen erigierten Beinen.
Nackte Körper, durch Lügen gerodet, gestraft durch ihr Sein,
belohnt von dem Nichts.
Einsam zieht der Falke seine Kreise.
Rückblick
Genau genommen hatte ich alles gehabt, was ein normales Leben lebenswert macht. Eine tolle Freundin an meiner Seite, eine schöne Wohnung mit Balkon, gute Freunde und ein Beruf, der mir Spaß machte und der mich vielleicht nicht reich, aber doch wohlhabend gemacht hätte.
Aber es fehlte etwas. Ich konnte gar nicht genau sagen, was da fehlte. Ich fühlte, dass das nicht alles gewesen sein konnte. Aber vielleicht war es genau das: alles zu haben und doch nicht erfüllt zu sein, trotzdem eine tiefsitzende Unzufriedenheit zu spüren und kein Silberstreif am Horizont zu sehen, dass sich an dieser Unzufriedenheit etwas ändern würde, wenn ich diesen Lebensstil so weitergeführt hätte.
Es fühlte sich richtig an, mir diese Auszeit zu nehmen, alleine, nur mit mir, mein Leben zu leben, meine Lebensreise zu machen und keine Ahnung zu haben, wo und vor allem ob ich irgendwo ankommen würde.
Reinhold übernahm, wie gesagt, meine Wohnung, und ich holte am nächsten Tag alle wichtigen Dinge, wie Pass, Geld, Reiseschecks, aus meinem Regal, packte meinen Rucksack, vergewisserte mich des Tickets nach Bangkok und fuhr am nächsten Abend mit der S-Bahn nach Berlin Schönefeld, von wo mein Flieger mich direkt nach Bangkok bringen würde.
Die Maschine hob gemächlich ab, durchstieß irgendwann die Wolken, und als es langsam dunkel wurde, fiel ich in einen tiefen Schlaf.