Читать книгу Kritik der digitalen Unvernunft - Matthias Eckoldt - Страница 7
1Typografische und algorithmische Vernunft
ОглавлениеWorin gründet der Verlust an Vertrauen in die ehemals vierte Gewalt im Staate? In einer demokratischen Gesellschaft soll die Presse eigentlich die drei Säulen des Staatswesens – Legislative, Exekutive und Judikative – kritisch beleuchten und hinterfragen. Sie hat Informations-, Transparenz-, Kontroll- und Initiativfunktionen. Sicher wurden in Teilen der Medien diese Aufgaben in den letzten Jahren immer mehr vernachlässigt. Ressorts wie Reise- oder auch Unternehmensjournalismus erweisen sich als korrupt, weil sie sich zunehmend als verlängerter Arm der Public-Relations-Abteilungen verstehen. Am ehesten nehmen noch der Politik- und Kulturjournalismus ihre angestammte Funktion ernst. Doch auch das sehen Demonstranten, die mit dem Kampfslogan »Lügenpresse« grölend durch die Straßen ziehen, anders. Diese Menschen unterschiedlichster weltanschaulicher Couleur eint ihre Fundamentalopposition gegen alles, auf das sie keinen direkten Einfluss nehmen können.
Um den Prozess zu verstehen, der zur Erosion der Deutungshoheit öffentlicher Medien führte, lohnt es sich, auf der Zeitachse zurückzugehen. Und zwar zunächst bis zur Gründung von Amazon. Wenn es Zufälle gäbe, wäre es vielleicht einer, so aber – und vor allem aus heutiger Sicht – fiel die Business-Entscheidung des Investmentbankers Jeff Bezos geradezu zwangsläufig. 1995 erkor er Bücher zu dem Produkt, mit dem er seinen disruptiven Angriff auf den herkömmlichen Handel startete. Er eröffnete einen Buchladen, in dem nicht eine durch den Besitzer und die Verlagsvertreter ausgewählte kleine Anzahl von Exemplaren präsent war, sondern einfach alle Titel, die es auf dem Markt gab. Jedes Buch war nur einen einzigen Klick weit entfernt. Kaum hatte diese Idee genügend Käufer angezogen, beherzigte Amazon das Diktum der Billigketten, nach dem der Gewinn beim Einkauf gemacht wird, um mit dem Verkaufspreis die Konkurrenz zu ruinieren. Mit zunehmender Marktmacht wurden den Verlagen immer dreistere Konditionen abgenötigt. Zu fragwürdiger Berühmtheit kam dabei das Gazellenprojekt, für das Bezos seine Mitarbeiter anwies, kleine Verlage zu jagen wie ein Gepard eine kranke Gazelle. Drohungen, die Auslieferung bestimmter Titel zu verzögern oder sogar den Online-Handel mit dem gesamten Programm auszusetzen, wurden hier erfolgreich erprobt, da solche Verlage naturgemäß größere Schwierigkeiten haben, ihre Werke in den Buchhandlungen zu platzieren. Mit dem Rückenwind dieser Erfahrungen erpresste Amazon dann auch die großen Häuser. Zudem sparte das rasch wachsende Unternehmen an Lohn und Mindeststandards bei den eigenen Beschäftigten und übte Druck auf die Versanddienstleister aus. Mit denkwürdiger Besessenheit entwickelte eine Taskforce Steuerfluchtmodelle, die in einer Pro-forma-Übersiedlung des Unternehmenssitzes nach Luxemburg mündeten, wodurch laut vorsichtigen Schätzungen jährlich anderthalb Milliarden Dollar am Fiskus vorbeimanövriert wurden.
Im Zuge der noch effektiveren Ausbeutung der Ware Buch waren Amazon natürlich auch die Urheberrechte ein Dorn im Auge. Vor allem die in mehreren europäischen Staaten geltende Buchpreisbindung verhindert derzeit noch, dass Amazon in diesen Fragen nach Gutdünken verfährt und gedruckte Texte mit Küchenrollen und Einwegflaschen auf eine Stufe stellt. Am liebsten würde das Unternehmen Bücher zur Ramschware deklarieren, an der niemand mehr verdient – außer natürlich Amazon selbst. In den USA bekamen Verlage, die vom Online-Händler einen Mindestpreis forderten, bereits die Härte des entfesselten Marktes in Form von Gerichtsurteilen zu spüren. Einen weiteren Angriff auf das Kulturgut Buch führte Amazon, als es die Funktion Kindle Direct Publishing zur Verfügung stellte, über die jeder ein Buch veröffentlichen kann. Wirklich jeder. In weniger als fünf Minuten. Die bislang von Verlagen geleistete thematische Kuratierung entfällt dabei ebenso wie die Betreuung durch ein Lektorat. So führte die marktbeherrschende Stellung von Amazon einerseits zur Profanisierung des Buches und andererseits zu einer neuen Form von Zensur. Sie findet nun bei dem mittlerweile zum digitalen Allesverramscher gewandelten ehemaligen Online-Buchhändler nicht aus politischen, sondern aus unternehmenspolitischen Gründen statt. Jeder Anbieter, der sich nicht an die von Amazon diktierten Spielregeln hält, hat mit Sanktionen zu rechnen. Der Schrecken der verminderten Sichtbarkeit und damit der eklatanten Umsatzeinbuße zwingt jeden Verlag in die Knie, wenn er von einem Händler an die Wand gemalt wird, über dessen virtuellen Tresen unterdessen gut ein Fünftel aller Bücher gehen.
Die im Ergebnis effizient gerittene Attacke auf das Buch ist deshalb so bezeichnend, weil es sich dabei um eine neoliberale Deregulierung des zentralen Wahrheitsmediums der westlichen Welt handelt. Denn der Buchdruck setzte Mitte des 15. Jahrhunderts einen völlig neuen Erkenntnisstandard und zugleich eine fundamentale Umstrukturierung des Weltwissens in Gang. Durch Gutenbergs Erfindung trat an die Stelle des Einzelexemplars der Handschrift die gedruckte Vielzahl der Auflage. Während ein Schreiber im mittelalterlichen Skriptorium etwa drei Jahre benötigte, um eine Bibel vollständig abzuschreiben, druckte Gutenberg dank seiner Erfindung der beweglichen Lettern von 1451 bis 1454 180 identische Exemplare. Die Disruption durch den Buchdruck erzeugte das Diktat gleichförmiger typografischer Einheiten in Standardgröße, die Standardseiten bilden, die sich ihrerseits zu Standardkapiteln ordnen und in Standardbüchern zusammengefasst sind. Der Begründer der Medientheorie, Herbert Marshall McLuhan, vermittelte eingängig, dass dieses typografische Prinzip über die Inhalte ins Auge und Hirn der Leser eindringt. Nicht von ungefähr beginnt der Mensch, seine Welt so wahrzunehmen und zu gestalten, wie es ihm das Medium des Buchdrucks vormacht: Alles wird in kleinste Einheiten zerlegt, wird klassifiziert, analysiert, mit Zahlen versehen, mit Indizes, mit Standardüberschriften und Titeln. Die menschliche Wirklichkeit wird immer mehr zum Buch, weil die mediale Erfolgstechnologie den Menschen die Welt nach dem Schema des Buchstabens geradezu zerstückeln lässt und ihm in Form des Buches demonstriert, wie sie wieder zusammengesetzt werden kann. Wahrnehmung geschieht im Gutenberg-Zeitalter nach Maßgabe der Zerlegung und Neukomposition der Welt nach dem typografischen Prinzip.
Auch der Buchdruck lehrt es: Was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen. Es genügt, des Lesens kundig zu sein, um sich in die gedruckten Worte zu vertiefen. Mitgeführt wird dabei das Wissen vom anderen, der dasselbe liest. An allen Orten, wo ein Buch der gleichen Auflage auftaucht, verkündet es den identischen Inhalt. Die mündliche Überlieferung büßt an Wert ein, sobald das Buch völlig neue Maßstäbe setzt. So verliert die Idee der Wahrheit unter dem typografischen Diktat ihren metaphysischen Nimbus und reorganisiert sich als faktengebundene Realität. Das naturwissenschaftliche Zeitalter beginnt mit einer Definition von Wahrheit, deren Wesen die Reproduzierbarkeit ist. So wie die Druckmatrize immer denselben Text ausgibt, gilt ein Experiment als Kern der neuen Wissenschaften nur dann als wahr, wenn es unabhängig von Ort, Zeit und Protagonisten exakt dasselbe Ergebnis (re)produziert.
Sucht man nach historischen Belegen für diese These, wird man schnell fündig. Bereits im ersten Jahrhundert nach Gutenberg beginnt das Projekt der Mathematisierung der Natur. Die fallenden Steine bekommen Indizes, die Kanonenkugeln fliegen durch den Buchstabenraum der gleichmäßigen Einheiten, und den Abläufen in der Natur werden Überschriften wie die des Fallgesetzes angeheftet. Der Buchdruck spannt eine völlig neue Wahrnehmungsfolie auf, vor deren Grundlage sich die westliche Welt in den Stand gesetzt sieht, Erfahrungen zu homogenisieren und zu rationalisieren. Die Idee der uneingeschränkten Macht über die Naturkräfte kann als Resultat dieses Prozesses gelesen werden. Dass sie sich letztlich als Hybris erweisen soll, steht auf einem anderen Blatt.
Die neue, naturwissenschaftlich geprägte Logik verfährt nach typografischer Vorlage: Wer A sagt, muss auch B sagen. Wer Naturwissenschaft und Technik will, muss sich auf und mit immer mehr Naturwissenschaft und Technik einrichten. Es gibt kein Zurück mehr, sobald die präzise Wiederholbarkeit der Zeichen der menschlichen Wahrnehmung der Welt den Takt schlägt. Nach Gutenberg bleibt keine Zeit mehr für Kontemplation: Jetzt wird die Welt vermessen, in immer kleinerem Maßstab. Maß aller Dinge ist in der beginnenden Neuzeit nicht mehr der Mensch, sondern die Typografie, die auch noch die entscheidende Technologie vorgibt, mit der die Resultate des großen Vermessungs- und Homogenisierungsvorgangs in Wohlstand verwandelt werden: das Fließband. Hier taucht das erste Werkzeug in der Geschichte auf, das dem Menschen nicht (nur) mehr dient, sondern das bedient werden will und so den forschen Takt der typografischen Einheiten in die Körper einsenkt.
Natürlich ist der erste Bestseller auf dem Markt der gedruckten Bücher die Bibel, aber bald schon wird auch der Stand der Technik auf Papier gebannt. Gutenbergs Erfindung kommt rechtzeitig in Italien an, um die kühnen Entwürfe der Renaissanceingenieure zwischen Buchdeckeln zu ordnen. Seit 1465 gibt es Druckereien in Rom, Venedig, Padua, Modena und Florenz. Die zwölfbändige Abhandlung De re militari des italienischen Schriftstellers Roberto Valturio ist das erste Sachbuch auf dem Markt. Ein Beleg dafür, wie eng die Erfolgsgeschichten von Buchdruck, Naturwissenschaft und Technik bereits von Anfang an verknüpft waren. Der technologisch-militärische Komplex hat die Botschaft des typografischen Mediums sofort verstanden.
So schlägt der Buchdruck den Takt für die Zerlegung der Dinge, auf dass sich zeige, was die Welt im Innersten zusammenhält. Gutenbergs Erfindung fungiert geradezu als ein Mutationsfaktor in der Evolution des menschlichen Geistes, die der Kulturphilosoph Jean Gebser in mehreren Etappen ablaufen sieht. Demnach waren unsere Urahnen zuerst vom magischen Bewusstsein beseelt. Es entstand gemeinsam mit dem Faustkeil als erstem Werkzeug vor etwa 1,7 Millionen Jahren und begleitete die Distanzierung der Gattung Homo von der Natur. Die nächste Stufe, das mythische Bewusstsein, entwickelte sich, als die Menschen vor etwa 12 000 Jahren sesshaft wurden und den Ackerbau für sich entdeckten. In der mythischen Welt ging es um die Entwicklung des Zeitbewusstseins und die Gewinnung der Innenwelt als Erlebnisraum. Diese Form nun wird mit der Erfindung des Buchdrucks vom rationalen Bewusstsein abgelöst, und das selbstbewusste Ich entsteht als Subjekt, das sich seiner Außenwelt – messend und zerlegend – gegenüberstellt. Verbunden damit ist die Idee der Objektivität. Die Welt wird berechnet und geordnet, von den Planetensystemen über die Meere und Länder bis hin zum Gehirn, das bald schon als Organ des Bewusstseins – oder mit den trefflichen Worten des Physiologen du Bois-Reymond – als »Bureau der Seele« konzipiert wird. Der Umbruch zeigt sich im Abendland gut im Kampf zwischen der christlichen Kirche, die ihren Aufstieg noch dem mythischen Bewusstsein verdankt, und der Naturwissenschaft als Ikone des Rationalen. Galilei wird Opfer dieser Zeitenwende. Als Protagonist des Neuen, der die Natur Gesetzen zu unterwerfen lehrt, gerät er in die Hände des Alten und kann seine Haut vor der Inquisitionsbehörde nur retten, indem er seine wissenschaftlichen Erkenntnisse widerruft.
Auch die rationale Bewusstseinsstufe der Menschheit wird abgelöst. Nach Gebser entsteht seit Mitte des 20. Jahrhunderts – er selbst starb 1973 – das integrale Bewusstsein. Es soll sich durch die Integration aller bisherigen Stufen auszeichnen. Die das Bewusstsein strukturierende Zeitwahrnehmung zeigt eingängig, inwiefern dem heutigen Menschen alle in der Evolution des Bewusstseins praktizierten Wahrnehmungsmodi zu Gebot stehen: So kann man in verschiedenen Arten des Flows ganz im Augenblick sein, wie unsere vom magischen Bewusstsein erfüllten Urahnen, oder nur von Event zu Event denken wie die Ackerbauern, die im mythischen Bewusstseinszustand auf die zyklische Rhythmik setzten. Mit der Uhr am Handgelenk und dem Kalender auf dem Tisch wird es möglich, ganz in den Modus des rationalen Bewusstseins zu zappen. Das integrale Bewusstsein schließlich wird sich all dieser verschiedenen Arten der Zeitlichkeit inne und kann sie abwechselnd oder sogar parallel praktizieren. Frei nach dem Insiderwitz: »Was kommt nach Techno? – Hm … Was? – Na, Dienstag!«
Im Flow des als magisch wahrgenommenen Rave läuft zumindest am Horizont das rationale Zeitbewusstsein in Form des Wochentags mit, an dem man wieder aus der Clubin die Alltagsrealität wechselt, während bei der wochentäglichen Fron mit Blick auf den nächsten Event die im mythischen Bewusstsein geformte Zyklik präsent ist.
Das Internet, als unser aktuelles Leitmedium, lädt zu solch integraler Rhythmisierung ein und wirkt als ein ebenso markanter Evolutionsfaktor für das menschliche Bewusstsein wie seinerzeit der Buchdruck. Nun wird die Serialität der Buchstaben und Seiten aufgelöst durch die Parallelität des Hyperlinks. Noch bevor B auf A folgen kann, ist die Einladung zum Weiterklicken im unendlichen Möglichkeitsraum bereits angenommen. Die algorithmische Vernunft beerbt die typografische. So gesehen, exekutiert Amazon durch seinen Angriff auf das Buch letztlich den Medienwandel, indem der milliardenschwere Online-Dealer die willkürliche Manipulation des zentralen Wahrheitsmediums des Abendlandes als Ware vorführt und das Buch zur Jedermannssache profanisiert, zu deren Herstellung man – abgesehen vom Verkauf selbst – keinerlei professionellen Hintergrund mehr benötigt. Folgerichtig demontiert die schöne, neue Kindle-Welt auch die auratische Präsenz des Buches als geistige Wertsache. Die heimische Bibliothek wird ersetzt durch den E-Book-Reader, der locker 30 000 Bücher einstapeln kann, ohne das Gewicht von 200 Gramm zu überschreiten, und der im Seitenfach jeder Umhängetasche Platz findet, wo früher vielleicht das Notizbuch steckte.