Читать книгу Der Actinidische Götze - Matthias Falke - Страница 2

Musan

Оглавление

Das langgestreckte Becken des Febasees verlor sich in der grauvioletten Dämmerung. Das Südufer war flach, von Bungalows und den Ladenzeilen der kleinen Händler gesäumt. Winzige Inseln, die Pagoden und Tempel trugen, waren in die keilförmige Verbreiterung des Sees eingelassen, dessen Nordseite tief in das aufsteigende Gebirge eingeschnitten war. Hintereinandergestaffelte, steil aufragende Felswände, die sich in Abstufungen von Lavendel und Anthrazit verschatteten, gaben ihr das Gepräge eines nordischen Fjordes, und diese Kulisse wirkte bis zur idyllischen Südseite herunter, deren subtropischer Charme dadurch etwas Bedrohtes hatte. Das Gebirge selbst war unsichtbar, verschleiert von den abendlichen Wolken und dem Dunst, der über der tief eingeschnittenen Ebene lastete. Die Bougainvilleen auf der Veranda bildeten das Passepartout, durch das der Blick auf das verhangene Panorama hinausging. Die braunen Hügel und Vorgebirge verschwanden in ziehenden Nebelstreifen. Ab und an rollte das zerstückelte Echo eines mahlenden Donners über die Landschaft. Irgendwo dort hinten, viele Tagesmärsche entfernt, ging das allabendliche Unwetter nieder.

Der nahe Raumhafen hatte den Flugbetrieb schon lange eingestellt. Wegen der prekären Lage in der kilometertief eingesenkten Talschaft und der heiklen Windsysteme, die sich durch die riesigen Schluchten zwängten, konnte er nur an wenigen Stunden des Tages, meist am frühen Morgen, genutzt werden. Dann musste der gesamte interplanetarische Verkehr dieser Welt abgewickelt werden, denn der Tower von Feba City war der einzige auf diesem Planeten, und das trogförmige Febatal mit dem gleichnamigen See bot die einzige ebene Fläche in den verzweigten und zerklüfteten Gebirgszügen von Musan.

Selbst hier, an der Lake Side des Südufers, war das Klima rau. Mir fröstelte, als ich die paar Schritte über den sorgsam gepflegten Pala-Rasen bis zum Wasser hinunterging, um dort das letzte auberginenfarbene Scheiden des Tageslichts zu sehen und eine leichte Qat-Zigarette zu rauchen. Morgen früh würden auch wir diese Welt wieder verlassen, auf der wir drei Standardwochen zugebracht hatten und deren herber Charme mich noch gefangen hielt. Der blauleuchtende Rauch kräuselte sich in der windstillen Luft. Es war kühl und vollkommen ruhig. Ich hörte das Knistern der Glut, die sich langsam durch die getrockneten Qatblätter fraß. Zugleich spürte ich die Entspannung, die sich bis zu einer leichten Benommenheit vertiefte. Ein friedfertiges Glück erfasste mich wie eine Woge in einem seichten Meer, hob mich ein wenig an und bewirkte einen schwachen Schwindel. Erneut donnerte es hinter der Gebirgskette, die jetzt nachtschwarz und verwölkt waren. Von irgendwo war der Klang eines Erhus zu hören, des traditionellen Instruments der Musaner, dessen klagender Gesang sich wie eine zärtliche Berührung über meine träumerische Stimmung legte. Der letzte Abend. Die Schwermut, die darin liegt, dass das Glück zwar möglich, aber nicht von Dauer ist, umspülte mich wie eine traurige Musik, die nicht nur mit dem Gehör, sondern mit dem ganzen Körper wahrgenommen wird. Ich wollte nur dasitzen, die Augen schließen und mich meinen Erinnerungen überlassen, den Erinnerungen an diese Wochen des Aufenthaltes auf Musan, der noch nicht vorüber, aber doch schon mit dunkelglänzender Nostalgie umkleidet war. Nostalgie gegenüber der Gegenwart, die daraus entspringt, dass man sie nicht festhalten kann. Das ist das schlimmste: dass man zusehen muss, wie einem die Momente der Erfüllung wieder entzogen werden, wie sie einem zwischen den Fingern zerrieseln, sich auflösen wie der Rauch einer Zigarette in der Dämmerung und mitgerissen werden vom Wasser der Vergänglichkeit, das dort am reißendsten ist, wo es zu stehen scheint.

Ein leises, anschmiegsames Geräusch weckte mich. Ich wandte mich um. Jennifer kam über die Terrasse des Bungalows und durch die Wiese herunter. Sie trug nur ein durchscheinendes Negligé. Barfuss tänzelte sie durch das kurzgeschnittene Pala-Gras, das in diesem Klima sicher viel Pflege benötigte. Ihr Prana-Bindu-Training, das sie in den letzten Wochen aufgefrischt hatte, erlaubte es ihr, sich so gut wie unbekleidet durch den kühlen Abend zu bewegen, dennoch war ihr anzusehen, dass sie sich auf dieses Training besinnen musste, um den Aufenthalt im Freien auszuhalten. Verglichen mit den Höhenlagen von Loma Ntang herrschte hier die Idylle glückseliger Inseln, aber wirklich genießen konnte man es nach Sonnenuntergang nicht mehr. Sie hängte sich an meine Schulter, und wir sahen eine Weile gemeinsam über den See, an dessen Ufer jetzt die ersten Lichter aufflammten. Dann gingen wir wieder hinein, wobei sie mich sanft, aber doch drängend hinter sich herzog. Wir schlossen die Terrassentür, deren Polarisation sich sofort vertiefte. Der Bitumenkamin verbreitete eine angenehme Wärme. Jennifer knabberte an meinen Lippen, wobei sie etwas vor sich hinbrummte, was wie ein Tadel klang. Ich hatte während dieses Aufenthaltes die Qatraucherei wieder angefangen, aber auch das würde mit dem heutigen Tage enden. Dann schob sie mich von sich weg, bis sie eine Armeslänge Abstand hatte. Indem sie einen unsichtbaren Sensor berührte, verdunstete der hauchfeine Stoff von ihrer Haut. Nur noch ein mattweißer Nebelschleier umspielte ihre wohlgeformten Glieder.

Natürlich hatte sie es sich nicht nehmen lassen, das Shuttle selbst zu steuern. Grelles Licht stand durch die Sichtquarzscheiben herein, obwohl diese die Polarisation selbsttätig auf 50% vertieft hatten. Es war eine Welt der Extreme, auf der wir zur Landung ansetzten. Tagsüber glühende Hitze, Nachts brennender Frost. Brodelnde Basarstädte, religiöse Zentren, deren Ruf weit über ihren Heimatplaneten hinausdrang, und dazwischen endlose Gebiete der Einöde. Lebensfeindliche Hochgebirge, reißende Wildwasser, riesige Gletscher, und darin verloren die winzigen grünen Nadelstiche der künstlich bewässerten Felder, die sich auf Felsterrassen mitten in der steinigen Wildnis krallten und nur die wenigen Einwohner der kleinen Dörfer ernähren konnten. Der ganze Planet hatte nur einige zehntausend Bewohner, die in weit verstreuten Siedlungen lebten, in den Klosterburgen oder als Nomaden. Es gab keine Ozeane, keine Wälder, keine Ebenen. Ein einziges zusammenhängendes Gebirge bedeckte die Kruste des Planeten. Selbst aus den Eiskappen der Polgebiete brachen die spitzen Zacken steiler Berggipfel. Gewaltige Ströme aus schuttbedecktem Eis füllten die Täler. Aus der Luft sah es aus, als wälzten sich riesige graue Würmer durch einen scharfkantigen Untergrund. Nicht unbedingt ein Ambiente, um den honey moon dort zu verbringen. Und doch waren es unsere Flitterwochen. Am Tag zuvor hatten wir in der Offiziersmesse der MARQUIS DE LAPLACE geheiratet. Dr. Rogers, der Chef der Planetarischen Abteilung, hatte uns getraut. Commodore Wiszewsky, der Kommandant unseres Mutterschiffes, hatte eine pathetische Ansprache gehalten, an deren Ende ihm Rogers zugerufen hatte, es sei nun an der Zeit, dass auch er, Wiszewsky, sein Konkubinat mit seiner Freundin Svetlana legitimiere. Lambert, Reynolds, Kurtz und die anderen Kameraden von der Wissenschaftlichen Crew hatten uns gratuliert. Natürlich hatten wir einen ausgegeben, und es war ziemlich spät geworden. Am frühen Morgen bestiegen wir im kleinen Drohnendeck der MARQUIS DE LAPLACE, die gerade auf einer Parkbahn gewartet wurde, ein leichtes Shuttle. Jennifer brachte uns in weniger als einer Stunde in den Orbit des zerklüfteten Gebirgsplaneten Musan. Dass wir den einmonatigen Aufenthalt des Mutterschiffs in diesem System zu einem Besuch dieser entlegenen Welt nutzten, hätte wie eine Verlegenheitslösung anmuten können, wenn es nicht Jennifers ausdrücklicher Wunsch gewesen wäre. Denn in diesem Monat fand das Gu Tsechu-Fest in der großen Gompa von Loma Ntang statt, wo Jennifer sie vor zwanzig Jahren, im Anschluss an ihr Examen auf der Akademie, das Prana-Bindu-Training absolviert hatte. Während ich, wie alle Piloten der Union, im Zuge meiner Ausbildung nur die einfache Form des Prana-Yogas erlernt hatte, hatte sie sich mehrere Monate lang in die wesentlich schwierigere Prana-Bindu-Trance einweisen lassen. Höhepunkt und Abschluss ihrer Initiation war das Gu Tsechu-Fest gewesen, an dem sie nun wieder teilnehmen wollte, denn dieses mehrtägige Ritual fand nur alle zehn Standardjahre statt.

Als sich die Schleuse öffnete, wirbelte heißer Staub herein, der in der gleißenden Morgensonne zu brennen schien, so dass er uns Atem und Sicht zu nehmen drohte. Zum Glück hatte Jennifer mich vorgewarnt, und ich hatte mir ein dünnes Seidentuch vor das Gesicht gebunden. Wir traten auf das Rollfeld hinaus, wo zum blendenden Licht und dem erstickenden Staub noch ein ohrenbetäubender Lärm hinzu kam, denn an diesem frühen Morgen fanden zahllose Starts und Landungen auf dem Raumhafen von Feba City statt. Leichte und mittelschwere Gleiter brachten Pilger von den entfernten Tälern des Planeten, Shuttles und schwere Drohnen näherten sich vom Orbit her und setzten auf der schmalen und längst überfüllten Betonpiste auf, um tausende weiterer Reisender auszuspucken. Das Gu Tsechu-Fest entfaltete seine Anziehungskraft weit über Musan hinaus. Aus allen Teilen der Galaxis kamen die Gläubigen, um den zehntägigen beschwerlichen Aufstieg zum Kloster auf sich zu nehmen. Nicht allein die Seltenheit des Festes war für dieses Interesse verantwortlich, sondern auch die ganz besondere Heiligkeit seines Höhepunktes, der feierlichen Enthüllung des Actinidischen Götzen, des heiligen Grals der Prana-Bindu-Jünger.

Ich duckte mich unter den dröhnend auslaufenden Turbinen unseres Shuttles hindurch und sah, indem ich mich wieder aufrichtete, nach Norden hinaus. Die Hauptkette des Ilaya-Gebirges zog sich quer über den Horizont, eine blaue Mauer aus Granit und Gletschereis, die in gerader Flucht zwischen sechs und acht Kilometer über der Sohle des Febatales anstieg. An den höchsten Gipfeln hingen lange Schneefahnen, die sich auf der windabgewandten Seite zu weißen Schleppen und Rüschen kräuselten. Man konnte ahnen, was für gewaltige Stürme dort oben herrschten. Während des Landeanfluges waren wir entsprechend durchgerüttelt worden, und ich hatte verstanden, weshalb der Flugverkehr nur in den verhältnismäßig ruhigen Morgenstunden gestattet wurde. Diese Höhenstürme und die Wirbel, die sie im Lee der Gipfel verursachten, würden nun kontinuierlich an Stärke zunehmen, je höher die Sonne stieg, und sich erst im Laufe der Nacht wieder langsam legen, um bei Sonnenaufgang den Zeitpunkt der geringsten Aktivität zu erreichen. Noch eine, maximal zwei Stunden, dann wäre selbst ein Schiff von der Größe eines Enthymesis-Explorers, das von einem Gigawatt-Feldgenerator abgeschirmt wurde, in den Turbulenzen dieser Jets nicht mehr sicher. Ganz abgesehen davon, dass ein solches Schiff mit Abmessungen von über 300 Metern auf dem Flugfeld von Feba City mit seinem orientalischen Chaos niemals hätte aufsetzen können. Aus dem Orbit war die Ilaya-Kette eine von zahllosen gratigen Strukturen gewesen, die wie ein felsiges Skelett den Bau des Planeten durchzogen. Jetzt ragte sie hoch in den tiefblauen, von Licht dröhnenden Himmel auf, dass man den Kopf in den Nacken legen musste, um zu den höchsten Gipfeln hinaufzusehen. So, durchzuckte es mich, war nun auch Jennifer von den Millionen von Frauen, die es in den Organisationen der Union gab und denen ich hätte theoretisch begegnen können, als einzige übrig geblieben, um unübersehbar in mein Leben zu treten und ihm Kontur zu geben.

»Beeindruckt?«, fragte sie, die, unhörbar im Lärm des Raumhafens, neben mich getreten war.

»Durchaus.« Das musste ich zugeben. In jüngeren Jahren hatte ich mich selbst als Bergsteiger versucht, auf der Erde und auf anderen Welten. Aber angesichts dieser Massive, die hoch in die dünne Atmosphäre von Musan aufragten, fast bis in die Stratosphäre dieses Planeten, musste ich mir eingestehen, dass sie keinerlei sportlichen Ehrgeiz in mir wachriefen, sondern nur tiefe Ehrfurcht. Und in diesen unzugänglichen Regionen lebten nun die Mönche des Prana-Bindu-Ordens in ihren Klosterburgen. Die Luft dieser Welt war dünn, trocken und sauerstoffarm. Selbst in Feba, im größten und am tiefsten eingeschnittenen Tal, entsprach sie einer Höhe von über 3000 m auf der Erde. Loma Ntang, die Klosterstadt am oberen Ende des Kaligan-Tales, lag in einer Höhe, die einer irdischen Seehöhe von über 6000 m entsprochen hätte. Auch das war, über die technische Unmöglichkeit, den Ort direkt anzufliegen, hinaus, ein Grund, weshalb man sich ihm in einem zehntägigen Fußmarsch nähern musste. Der Organismus brauchte Zeit, um sich zu akklimatisieren. Würde man dort oben unvorbereitet aus der Druckkapsel des Shuttles steigen, so wäre man nach einigen Minuten ohnmächtig. Nach einigen Stunden mit großer Wahrscheinlichkeit tot. Und nicht zuletzt galt es auch, den Geist auf die Begegnung mit dem Heiligen vorzubereiten und langsam in diese Welt der Extreme, die auch spirituelle Kräfte beherbergte, einzudringen.

Jennifer hatte die Schleuse wieder verriegelt. Sie machte sich am Gepäckfach im Heck des Shuttles zu schaffen. Von Süden, aus der Richtung des Towers, dessen großer Kopf auf den schlanken Stelzen schwankend in der Lichtflut stand, näherte sich ein viersitziger Gleiter. Er kam in irrwitziger Fahrt auf uns zugeschossen. Unmittelbar, bevor er am Fahrwerk unseres Shuttles zerschellt wäre, drosselte der Pilot den Generator und sprang aus dem Gefährt, das einen ziemlich wartungsbedürftigen Eindruck machte. Die Polster der offenen gravimetrischen Sitze waren zerschlissen. An der Karosserie blätterte der Lack ab. Die Turbine des Feldgenerators war stark korrodiert. Der Fahrer war ein kleinwüchsiger Musaner in einer beigefarbenen, völlig ausgebleichten Monteursuniform. Sein Turban verhüllte den größten Teil seines Gesichts, was in Anbetracht des allgegenwärtigen Staubes sehr vernünftig wirkte. Er wurde von einem Jungen begleitet, der einen zerfetzten Phantasieanzug trug und nochmals um einen guten Kopf kleiner war. Die beiden kamen auf uns zu, wobei sie ihre Gesichter soweit enthüllten, dass wir ihr strahlendes Lachen sehen konnten, und begrüßten uns überschwänglich.

»Ich bin Pem Ba«, stellte der Ältere sich vor, »und das ist mein Sohn Ming. Ich hoffe, Sie hatten eine gute Reise, und heiße Sie herzlich auf Musan willkommen.«

Er legte die Handflächen aneinander und berührte mit den Fingerspitzen die Stirn.

»Lang lebe der Lama von Loma Ntang«, rief er aus. »Alles Glück für Sie im Jahr des Gu Tsechu!«

Diese Mischung von Offenherzigkeit und Frömmigkeit war überwältigend. Selbst ein Eisklotz hätte sich ihr nicht entziehen können. Hinzu kam die Lichtflut an diesem kühlen Morgen und die euphorisierende Wirkung der dünnen Luft. Wir erwiderten die Begrüßung. Der kleine Ming half uns, das Gepäck auf den Gleiter umzuladen. Aber wir hatten ohnehin nur zwei Rucksäcke dabei, da wir in den kommenden drei Wochen auf uns selbst gestellt sein wollten. Um unabhängig von den schwerfälligen Trägerkarawanen und den korrupten Führern, die Ereignisse wie das bevorstehende besonders ausnutzten, sein zu können, wollten wir allein reisen und unser gesamtes Gepäck selbst tragen. Mit Hilfe der Ausrüstungskammer der Enthymesis stellte das auch kein größeres Problem dar. Wir hatten ultraleichte Zelte, Schlafsäcke, gravimetrische Matten, Kleidung und selbsterhitzende Mahlzeiten dabei, um über Monate hinweg autark zu sein, so dass wir uns selbst auf einem vollkommen unbesiedelten Planeten hätten aufhalten können. Nachdem wir den Gleiter bestiegen hatten, rasten wir, im Kraftfeld des Generators einen Meter über der staubigen Piste schwebend, auf den Tower zu. Da wir als Offiziere der Union Diplomatenstatus genossen, schleuste Pem Ba uns an den Abfertigungshallen vorbei, wo tausende von Pilgern geduldig auf ihre Einreise warteten.

Der Anstand gebot es, Ram Bir Singh, dem Gouverneur von Musan, der in einem pompösen Palast im Zentrum von Feba City residierte, einen kurzen Besuch abzustatten. Der greise Patriarch begrüßte uns mit der gleichen Offenheit und Würde wie sein einfacher Untertan. Er nahm sich eine Viertelstunde Zeit, um mit uns zu plaudern, und zeigte sich erstaunlich informiert, was die Vorgänge der interstellaren Politik betraf. Anschließend eskortierten Pem Ba und Ming uns durch das lärmende und stinkende Gewühl der Innenstadt. Sie führten uns zu einem Restaurant, das sich auf dem Dach eines zehnstöckigen Gebäudes befand. Dort saß man unter freiem Himmel. Lediglich ein schwaches Generatorfeld sorgte dafür, dass der böige kalte Wind, der allgegenwärtige Staub und die aufdringlichen Aastauben, die hier aufgrund der nahen Opferplätze besonders zahlreich waren, abgehalten wurden. Der Blick ging über die ganze Stadt. Im Osten lag das Flugfeld des Raumhafens, der seinen Betrieb inzwischen für diesen Tag eingestellt hatte. Im Westen ahnte man das glitzernde Becken des Febasees, dessen Ufer von kleinen Bungalowsiedlungen und Buden gesäumt waren. Im Süden umschlossen mittelhohe Berge den Talkessel, während der gesamte nördliche Horizont von der Mauer des Ilaya verriegelt wurde.

»Ein herrlicher Ort«, sagte ich und hob mein Glas mit Raq-Schnaps.

»Das haben Sie sehr gut ausgesucht«, stimmte Jennifer zu und prostete unseren beiden Begleitern zu, die bis über beide Ohren strahlten.

»Mögen Sie dem Pranavana näherkommen«, gab Pem Ba zurück, nachdem wir unsere Gläser geleert hatten.

»Das hoffe ich«, nickte Jennifer.

Vorsichtshalber hatten wir den beiden nicht erzählt, dass wir auf Hochzeitsreise hier waren, denn am Gu Tsechu-Fest durfte man nur in vollkommen keuscher Weise teilnehmen. Andererseits machten die beiden lebenslustigen Musaner aber auch nicht den Eindruck, als ob sie in solchen Fragen besonders dogmatisch veranlagt wären.

Mit großem Appetit machten wir uns über die Speisen her, die nun in zahllosen winzigen Schüsselchen aufgefahren wurden. Das meiste war exquisit gewürzt, manches so scharf, dass es einem den Schlund versengte, anderes von völlig unidentifizierbarer Konsistenz. Wir tafelten unter dem tiefblauen frostklaren Himmel, bis die Mittagsbewölkung die Berggipfel zu verschleiern begann. Nach der Mahlzeit bot Pem Ba mir eine der leichten Qat-Zigaretten an, wie sie alle Männer auf Musan zu rauchen pflegten, und als er sah, wie ich den Geschmack und die entspannende Wirkung des Qats genoss, rief er einen der Kellner heran und bat ihn, mir ein Päckchen davon zu besorgen. Er bestand sogar darauf, mir die Zigaretten zu schenken, und es wäre eine grobe Unhöflichkeit gewesen, eine solche Aufmerksamkeit abzulehnen. Dann brachten Pem Ba und sein Sohn uns bis ans Nordufer des Febasees, wo sich das langgestreckte Kaligan-Tal öffnete und alle befahrbaren Straßen endeten. Ab hier ging es nur noch zu Fuß weiter. Wir verabschiedeten uns von den beiden und schulterten unsere Rucksäcke. Und noch am selben Nachmittag begannen wir mit dem Aufstieg zur Großen Gompa von Loma Ntang.

Das Tal von Kaligan knickte in rechtem Winkel vom Becken des Febasees ab. Im Gegensatz zum Febatal, das dem Gebirge parallel verlaufend vorgelagert und breit genug war, um einer Stadt und einem Raumhafen Platz zu bieten, war die Schlucht von Kaligan tief und senkrecht eingeschnitten. Sie durchschnitt die Ilaya-Kette dort, wo sie am höchsten war, so dass die beiden Hauptgipfel des Gebirgszuges einander dicht gegenüberlagen, getrennt durch den viele Kilometer tiefen, an seiner Sohle nur wenige hundert Meter breiten Canyon von Kaligan. Sowie die Sonne morgens über die östlichen Randberge stieg, begannen starke thermische Winde durch diesen natürlichen Windkanal zu heulen, die sich im Tagesverlauf zur Wut eines kontinuierlichen und berechenbaren Orkans steigerten, der so stark war, dass er jede Flugbewegung in der schmalen Schlucht unmöglich machte und das Aufkommen jeglicher Vegetation verhinderte. Während des Aufstiegs hatte man diese Winde im Rücken. Sie schoben einen nach Loma Ntang hinauf, aber da sie so kräftig waren, dass sie einen umzuwerfen drohten, waren sie selbst in dieser Richtung eher hinderlich als angenehm. Im Abstieg kamen sie dem erschöpften Pilger entgegen, der sich mit dem Körper in sie hineinstemmen und gegen sie ankämpfen musste. In dieser Richtung stellte jeder Schritt ein Stück Arbeit dar. Jede Etappe war ein mühevoller Sieg, der den Elementen abgerungen werden musste. Die meisten Pilger achteten daher darauf, den Rückweg von der Klosterfestung bei Nacht zurückzulegen, wenn die thermischen Orkane weitgehend eingeschlafen waren, und sie ruhten tagsüber im Windschatten niedriger Mauern, die überall an den Rastplätzen aus groben Felsblöcken aufgeschichtet waren. Manche Pilger betrachteten es aber auch als Buße, den Aufstieg zur Großen Gompa bei Nacht zu absolvieren, um die Unterstützung durch den Rückenwind nicht beanspruchen zu können, und sie wanderten tagsüber talauswärts, dem tobenden, staubigen und sengend heißen Wind entgegen, der ihnen das Fleisch von den Wangen schmirgelte, um nach dem Segen, der ihnen im Kloster erteilt worden war, nicht überheblich zu werden, sondern eine demutsvolle Haltung zu bewahren. Die Frömmsten von ihnen wiederum maßen den zehntägigen Weg mit ihrem Körper aus, wobei sie sich flach auf den Bauch warfen, die Stirn in den glühenden, vom Sturm aufgewühlten Sand pressten, und dann soweit nach vorne krochen, bis ihre Füße in der Kuhle zu stehen kamen, woraufhin sie die Niederwerfung wiederholten. Manche nahmen nichts zu sich, während sie dieses Ritual vollzogen, und manche verweigerten sich jede Nachtruhe und noch die geringste Pause. Sie langten, später als jene, die sich täglich einen kleinen Schlaf gegönnt hatten, ausgemergelt und taumelnd, mit Blicken die nichts Menschliches mehr hatten, bei der Großen Gompa von Loma Ntang an, stürzten in der Großen Opferhalle nieder und blieben liegen wie tot. Nach einiger Zeit kamen Mönche des Klosters, hoben sie auf, brachten sie in das Hospiz, das dem Kloster angegliedert war, und päppelten sie wieder auf, um sie kräftig genug für den Rückweg zu machen. Manche blieben auch unterwegs liegen. Man ließ sie dort, wo sie in kurzer Zeit an Erschöpfung und Auszehrung starben. Sie riefen nicht um Hilfe, und es war verboten, ihnen Hilfe aufzudrängen. Wenn man sich ihrer annahm, verstieß man sogar gegen eines der stärksten Tabus, die es im Glauben des Prana-Bindu-Ordens gab, denn, während der Pilgerfahrt zum Gu Tsechu-Fest zu sterben, beförderte die Seele des Gläubigen unmittelbar ins Pranavana. Von der offiziellen Lehre war es zwar verboten, einen solchen Tod zu provozieren, da das Pranavana sich dem entzieht, der es erzwingen will, dennoch gab es Pilger, die die Reise ausgezehrt und von wochenlangem Fasten erschöpft antraten. Ihre Gerippe lagen dann schon bei der zweiten oder dritten Etappe am Wegesrand.

Ich war anfangs recht skeptisch gewesen, als Jennifer mir von diesem Klosterfest erzählte, das das Ziel unserer Hochzeitsreise sein sollte. Eingepfercht unter Zehntausenden religiöser Fanatiker - so hatte ich mir meine Flitterwochen nicht gerade vorgestellt. Aber sie beruhigte mich und wies auf die Weite der menschenleeren Landschaften von Musan hin, in denen wir ungestört sein würden. Tatsächlich waren wir, kaum dass wir jenseits des Nordufers des Febasees in das Kaligan-Tal eingetaucht waren, die einsamsten Wesen auf der Welt. Die vielen tausend Pilger, die wir am Raumhafen gesehen hatten und die doch alle den gleichen Weg gingen, verloren und zerstreuten sich in der riesigen Schlucht. Außerdem kannte Jennifer, die hier während ihrer Ausbildung viele Monate zugebracht hatte, zahlreiche Seitentäler, parallel verlaufende Canyons und abgelegene Pfade, die es uns erlaubten, der Masse der Reisenden auszuweichen. Da wir außerdem völlig autark waren, was Proviant und Übernachtung anging, berührten wir den Strom der Pilger nur, wenn wir es darauf anlegten. Dann tauchten wir für eine Stunde in die Menschenmenge ein, die sich als schwarzer Bandwurm die Talsohle hinaufwand. Meist sahen wir sie aber nur aus der Ferne, von einem in schwindelnder Höhe verlaufenden Felsensteig aus etwa, den Jennifer mich entlangführte. Dann kroch die schwarze Ameisenstraße in der Tiefe unter uns dahin. An den Nächtigungsorten wuchsen allabendlich ganze Zeltstädte aus dem Kiesbett am Grund der Schlucht, in den Windschatten grober Steinwälle geduckt. Wir schlugen unser Lager weiter oben auf, auf einem Vorsprung, der wie ein Adlerhorst über einer Felswand hing, oder auf einem Pass, der zwei Seitentäler miteinander verband. Die Zeltkuppel, die wir mit uns trugen, baute sich selbst in wenigen Augenblicken auf und verankerte sich im Untergrund. Wir traten ein und verriegelten die Schleuse. So hatten wir schon auf über einem Dutzend unbewohnter Welten gelebt, von denen einige nicht einmal eine Atmosphäre aufgewiesen hatten. Wir kümmerten uns um unsere Ausrüstung, die in der Hitze, dem Staub und den scharfen Winden nicht wenig litt. Dann nahmen wir eine der selbsterhitzenden Mahlzeiten zu uns, die aus der Kombüse der MARQUIS DE LAPLACE stammte und die wir seit vielen Jahren von unseren Flügen auf der Enthymesis gewohnt waren. Anschließend zogen wir uns aus und liebten uns auf der gravimetrischen Matratze. Hinterher plauderten wir, oder wir lasen noch eine Stunde im hellblauen Licht der selbstleuchtenden Kuppel. Jennifer hatte mir eine Einführung in die Prana-Bindu-Trance gegeben, die mich aber nicht zu fesseln vermochte. Meist zog ich es vor, mir den staubigen Anzug wieder überzuwerfen, mich durch die Schleuse zu drücken und im Freien noch eine Qat-Zigarette zu rauchen, während ich zusah, wie das scheidende Licht die Berge in allen Schattierungen von Purpur aufglühen ließ. Aus dem Tal leuchtete der Widerschein der offenen Feuer herauf, die die Pilger aus dem getrockneten Dung ihrer Tragtiere entzündeten. Und wenn der Wind nach Sonnenuntergang allmählich zur Ruhe kam, waren die leise klagenden Melodien der Erhus zu hören, mit denen die Musaner ihre traurigen und einsamen Lieder begleiteten. Dieser Ablauf war jeden Tag wieder derselbe, und es hätte immer so weitergehen können.

Am vierten Tag passierten wir das Tor des Todes, jene Stelle, an der das Kaligan-Tal den Hauptkamm der Ilaya-Kette durchschneidet. Hier mussten auch wir auf die Talsohle hinab, die an der schmalsten Stelle nur noch zwanzig Meter breit war. Lotrecht stiegen zu beiden Seiten die kilometerhohen Felswände in den Himmel, der weit oben als schmaler blauer Strich sichtbar war. Der heiße staubgesättigte Wind donnerte durch die Schlucht und schliff ihre Seitenwände ab, die kein Künstler glatter hätte polieren können. Ab und zu lösten sich Felsbrocken aus der Wand und stürzten herunter. Sie wurden vom Sturm davongetragen und zu Pulver zerrieben, ehe sie unten aufgeschlagen waren. In Decken, Tücher und Turbane gehüllt, so dass wir von den gewöhnlichen Pilgern nicht mehr zu unterscheiden waren, schleppten wir uns durch diesen Engpass. Der Wind drückte und schob mit unwiderstehlicher Kraft von hinten, aber ihm nachzugeben hätte die Gefahr des Strauchelns mit sich gebracht. Und wenn man die Hand oder das Gesicht nur einen Sekundenbruchteil ungeschützt ließ, schälte der Sturm einem die Haut von den Knochen. Ich hatte der Versuchung nachgegeben und die Abschirmung meines generatorgestützten Anzugs aktiviert. Das stabilisierte mich in den Böen und verhinderte, dass der staubfeine Sand auch noch in die letzte meiner Poren und Körperöffnungen eindrang. Jennifer tadelte mich deswegen. Sie legte Wert darauf, den Aufstieg ohne solche Hilfsmittel zu absolvieren. Ich konnte nur entgegnen, dass ich kein Angehöriger dieser Religion sei. Im übrigen war ich eigentlich zu meinem Vergnügen hier. Mir taten vor allem die Pilger leid, die sich, oft nur notdürftig in Lumpen gehüllt, einer den Windschatten des anderen suchend, Schritt für Schritt durch dieses Fegefeuer quälten. Ich wusste, dass sie mein Mitleid nicht wollten. Manchmal erhaschte ich einen Blick aus dem Sehschlitz eines Turbans und sah das inbrünstige Leuchten, das die Augen dieser Gläubigen erfüllte. Je mörderischer die Widerstände, die es zu überwinden galt, umso herrlicher würde die Gnade sein, der sie oben teilhaftig wurden. Es gab aber auch Zwischenfälle, die mir das Blut in den Adern erstarren ließ und die dieses Streben nach Erleuchtung eher wieder in ein zwiespältiges Licht tauchten. Eine Familie zog neben uns durch die Engstelle. Die Frauen vor den Männern, um von ihrem Schutz zu profitieren. Alle zusammen im Windschatten einiger Tragtiere, deren Flanken mit groben Decken verhüllt und mit der Ausrüstung für die mehrwöchige Reise bepackt waren. Eines der kleinwüchsigen Kamele, wie sie die Nomaden auf Musan noch häufig halten, ging durch. Der Anlass war nicht erkennbar. Vielleicht hatte der Wind es von rückwärts gegen den vor ihm gehenden Menschen geschoben. Diese Tiere sind, bei all ihrer Zähigkeit und Widerstandskraft, für ihre große Sensibilität bekannt. Einmal darauf abgerichtet, ihren Besitzern keinen Schaden zuzufügen, würden sie eher in einen Abgrund hinunterspringen, als einen Menschen hinunterzustoßen oder ihn auch nur zu touchieren. Das Tier bäumte sich auf. Einige der Packlasten fielen herunter. Dazwischen auch ein Kind, das in ein Bündel von Decken verschnürt, auf dem Tragtier festgebunden gewesen war. Noch im Fallen wurden ihm, als es der vollen Wucht des Orkans ausgesetzt war, die Kleider vom Leib gefetzt. In Sekunden riss der Sturm ihm die Haut und das Fleisch von den Knochen, schmirgelte das letzte Blut von ihnen ab und riss sie mit sich fort, wobei sie in der Luft zu immer kleineren Spänen zerrieben wurden. Es gelang dem Karawanenführer, das Tier wieder zu bändigen. Die losen Packlasten hatte ebenfalls der Sturm davongeführt. Die Gruppe setzte ihren Weg fort, ohne ein Zeichen des Bedauerns erkennen zu lassen. Jeder Aufenthalt an dieser Stelle hätte weitere Gefahren bedeutet. Allenfalls die Mutter des Kleinen schien leise vor sich hinzuwimmern, aber auch diese Laute wurden vom Brüllen des Orkans überschrien. Mir graute vor dem Rückweg.

Nach endlosen Stunden, die mir wie Wochen vorkamen, verbreiterte sich die Schlucht allmählich. Die Landschaft weitete sich. Der Wind ging auf das frühere Maß zurück; Er war zwar immer noch so stark, dass er einen aufrecht Stehenden umwerfen konnte, stellte aber keine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben mehr dar. Das Gebirge trat auseinander, und wir standen im Fußpunkt eines gewaltigen Amphitheaters. Zu allen Seiten stiegen Hochtäler und Bergkämme in den Himmel. Weit voraus, tausende Meter über uns und in der klaren Luft trügerisch nah, sahen wir die Große Gompa von Loma Ntang: ein purpurroter Würfel, umgeben von strahlend weißen Nebengebäuden, hockte das Kloster wie eine uneinnehmbare Festung auf der Spitze eines ebenmäßigen Bergkegels. Noch viele, viele Stunden Weges waren es bis dorthin, und doch schien das Ziel schon zum Greifen nah. In seiner schlichten und kraftvollen Architektur glich die Klosterburg einem Kristall, der sich im Zentrum des Gebirges ausgebildet hatte. Es war eine vollkommene Verkörperung der Idee der Erleuchtung, ein Kunstwerk, das das Pranavana symbolisierte. Wir gingen weiter, vom warmen Wind geschoben, auf diese herrliche Kristallisation spiritueller Reinheit zu. Die Landschaft wurde noch lebensfeindlicher und majestätischer. Sie war großartiger als alles, was ich auf Dutzenden von Welten jemals gesehen hatte. Die letzten Reste der Vegetation waren jetzt verschwunden, da keine Feuchtigkeit vom Becken des Febasees mehr bis hier herauf drang. Die Dornakazien, die sich weiter unten noch in den Windschatten eines Felsblockes gekrallt hatten, oder der schüttere Anflug von Rasen, der auf den geschützteren Nordhängen einen dünnen Flor gebildet hatte - hier gab es nichts mehr dergleichen. Es fanden sich auch keine Siedlungen mehr, kein Bewässerungsfeldbau, keine Weiden. Selbst die Gletscher waren auf dieser Seite des Gebirges anders. Keine mächtigen Eisströme füllten mehr die Hochtäler, sondern nur die höchsten Gipfel trugen schmale, blauschimmernde Eiskappen, die auch keine Bäche mehr speisten, sondern unmittelbar in der gleißenden Luft und der metallischen Sonne verdunsteten. Große Gazellenadler, die beladene Tragtiere davonschleppen konnten und bisweilen auch Menschen attackierten, kreisten im wolkenlosen, von Staubschlieren gezeichneten Himmel.

Tsen Resiq legte die Handflächen zusammen, berührte mit den Fingerspitzen erst die eigene Stirn, dann Jennifers Haaransatz, ehe er sie an den Schultern nahm und sie zu einer angedeuteten Umarmung an sich zog.

»Ich bin sehr froh«, sagte er, »dass Sie wieder einmal den Weg nach Loma Ntang gefunden haben.«

Er begrüßte mich mit der gleichen Geste und fügte hinzu:

»Sie war in all den Jahren eine meiner gelehrigsten Schülerinnen. Ich habe es sehr bedauert, dass sie das Kloster verließ, um sich der weltlichen Wissenschaft zuzuwenden, wenn ich auch nicht zur Partei jener gehöre, die die empirische Forschung von vorneherein verdammen.«

Sein Gesicht mit den zahllosen goldbraunen Runzeln sah aus wie eine der uralten Sutren, die er tagtäglich zu rezitieren pflegte. Weisheit und Güte leuchteten aus seinen schwarzen Augen. Ich überlegte, wie alt er sein mochte. Es hieß, dass die Geistlichen dieser Welt mehrere hundert Standardjahre alt werden konnten, und als Lama der Großen Gompa von Loma Ntang war er das geistige Oberhaupt des Prana-Bindu-Ordens. Seine Haut schien wie Pergament zu knistern, als er ein Lächeln auf seine asiatisch wirkende Miene mit den breiten Backenknochen zauberte.

»Im wissenschaftlichen Stab der Union«, sagte ich, »ist Jennifer mindestens genauso gut aufgehoben wie in Ihrem Kloster, auch wenn ich nicht an ihren spirituellen Fähigkeiten zweifle.«

Ich zwinkerte ihr zu.

»Außerdem hätte sie, wenn sie den ‚Weg der Weißen Wolken’« - so hieß das Pranavana wörtlich übersetzt - »eingeschlagen hätte, niemals meine Frau werden können.«

Großmeister Tsen stutzte einen Moment. Dann griff er Jennifers Hände und drückte sie, während ihm aufrichtige Freude in die Augen trat.

»Ist das wahr?!«, rief er mit zarter Fistelstimme.

»Seit genau zehn Tagen«, antwortete sie fröhlich. »Strenggenommen ist das hier unsere Hochzeitsreise.«

»Was heißt ‚strenggenommen’?«, warf ich ein, aber sie brachte mich mit einem winzigen Stirnrunzeln zum Schweigen.

Dennoch waren mein Ausfall und ihre Reaktion dem Lama nicht verborgen geblieben. Indem er das Lächeln beibehielt, ihre Hände jedoch wieder freigab, erkundigte er sich:

»Ich darf doch hoffen, dass Sie die Wallfahrt zu den Heiligtümern von Loma Ntang dennoch keusch angetreten und vollzogen haben.«

»Ich habe«, erwiderte sie ernst, »die Pilgerreise genutzt, mich mit allen mir zur Verfügung stehenden Kräften auf das Mysterium von Gu Tsechu vorzubereiten.«

Das musste er gelten lassen. Als Mann der Religion wusste er, dass man nicht in alle Dinge bis zur letzten Deutlichkeit eindringen kann und soll. Ich beschloss trotzdem, Jennifer in Zukunft das Wort und den Vortritt zu lassen, solange wir als persönliche Gäste des Lamas in Loma Ntang waren. Nicht, weil mir daran gelegen wäre, den Alten hinters Licht zu führen oder ein Lügengebäude vor ihm zu errichten, sondern im Gegenteil, weil ich von seiner absoluten Integrität überzeugt war und ihn nicht durch meine Gegenwart, die für ihn die eines Unreinen sein musste, in weitere Konflikte stürzen wollte. Ich wusste, dass Jennifer ihn, ohne darin einen Widerspruch zu ihrer naturwissenschaftlichen Ausbildung zu sehen, als einen Heiligen ansah, und obwohl ich außerstande war, diesen Glauben im wörtlichen Sinne zu teilen, respektierte ich die Verehrung, die sie ihrem alten Trance-Meister entgegenbrachte, wie auch die Persönlichkeit des Lamas selbst.

Das Kloster, eine Bergfestung, in der über eintausend Mönche residierten, befand sich im Belagerungszustand. Jedes Zimmer, jeder Raum, jeder Gang der Burg und der angrenzenden Gebäude war von Pilgern belegt. Eine einzige zusammenhängende Zeltstadt umgab die Große Gompa und zog sich nach allen Seiten die Hänge des pyramidenförmigen Berges hinunter, auf dessen Spitze das Heiligtum errichtet war. Die zuletztgekommenen Pilger mussten am Fuß des Berges, mehrere Wegstunden unterhalb des Klosters, campieren. Sie würden sich morgen, am Tag des Gu Tsechu-Festes, schon kurz nach Mitternacht aufmachen müssen, um rechtzeitig zum Beginn des großen Ereignisses einzutreffen.

Nach der kurzen, kaum viertelstündigen Audienz musste Tsen Resiq uns entlassen. In dichter Folge musste er die Nuntiaten und Würdenträger der anderen Klöster empfangen, die alle den beschwerlichen Weg heraufgekommen waren. Er versprach uns jedoch, sich nach dem Fest noch einmal eine Stunde Zeit für uns zu nehmen. Wir verabschiedeten uns, wobei Jennifer sich vor ihm niederwarf und ihm die Hand küsste, während ich es bei einem knappen Diener bewenden ließ. Danach führte sie mich durch die weitläufige und verwinkelte, in ihrem Inneren völlig labyrinthische Anlage. Das Zentrum der Klosterstadt war der Ehrenhof, ein riesiges Atrium, in dem bei anderen Festen die tausend hier ansässigen Mönche ihre ausschweifenden Maskenspiele aufführten. Morgen würden hier zehntausende Pilger zusammengepfercht der Enthüllung des Actinidischen Götzen entgegenfiebern, vom gepflasterten Karree des Hofes aus, von den ringsum ansteigenden Tribünen, Logen und Balkonen und selbst von den Dächern der angrenzenden Gebäude. Die Nordseite des Ehrenhofes wurde von der Halle des Großen Opfers eingenommen, zu der eine breite Freitreppe hinaufführte. Wir stiegen zum Portal der Opferhalle, das mit schwarzen Tüchern verkleidet war, und zogen die Schuhe aus. Ich ging in Strümpfen hinein, denn die Halle war ungeheizt, schattig, und der Boden war ganzjährig gefroren. Jennifer betrat den dunklen, in seinen Abmessungen kaum abzuschätzenden Raum trotzdem barfuss. Die Stirnseite der Halle wurde von der 108-armigen Kolossalstatue des Ava Kiteshvar eingenommen, des obersten Bodhisattvas des Prana-Bindu-Ordens, als dessen 14. Inkarnation Tsen Resiq selbst galt. Während Jennifer vor der Statue niederkniete und in einer kurzen Meditation verweilte, ging ich geräuschlos abseits und sah aus einem der wenigen winzigen Fenster, die in die Seitenwände der riesigen Halle eingelassen waren. Durch die von Sand verkratzten und vom Staub getrübten Scheiben sah ich über die Landschaft hinaus, deren Grelle und Weite im Kontrast zu der finsteren Opferhalle kaum fassbar war. Die große Kette des Ilaya lag jetzt im Süden, weit entfernt und doch zum Greifen nahe in der dünnen wolkenlosen Luft. Wir sahen die Nordseite des Gebirges, die nur gering vergletschert war und daher noch kälter, nackter und abweisender wirkte. Ich begriff, dass ein langer Aufenthalt an diesem Ort, zumal wenn sich der Rummel der Pilger wieder gelegt haben würde, den Geist läutern und reinigen würde, bis seine Substanz in schlackenloser Klarheit zutage treten würde. Dann stand man unmittelbar dem reinen Sein gegenüber.

Obwohl ein Zimmer des Gästetraktes für uns reserviert war, zogen wir es vor, auch diese Nacht in unserem Zelt zu verbringen. Den Raum überließen wir einer ärmlichen Pilgerfamilie, die mit ihrer vielköpfigen Kinderschar, zwei Tragtieren und einem Mundvorrat von lebenden Ila-Gänsen in die wenigen Quadratmeter Einzug hielt. Auf der Nordseite des Gebäudes, wo der Berg steil in die Tiefe stürzt und sich daher nur wenige Pilger niedergelassen hatten, fanden wir noch genügend Platz, um unsere Kuppel aufzuschlagen. Jennifer hatte sich die Ermahnung des Lamas so weit zu Herzen genommen, dass sie erklärte, sie würde zumindest in den zwei oder drei Tagen, die wir hier oben zubringen würden, auf keinen Fall mit mir schlafen. Stattdessen nahm sie nach dem Abendessen Meditationshaltung ein und versenkte sich in eine gut einstündige Trance, während der sie nicht die leiseste Bewegung erkennen ließ und sogar ihre Atmung unter die Schwelle der Wahrnehmbarkeit reduziert hatte. Ich hatte vor dieser Reise nicht gewusst, dass sie ihre Sympathie für diese Religion so ernst nahm. Meines Wissens bezeichnete sie sich nicht als Gläubige im strengen Sinn, und sie hatte die Zugehörigkeit zum Prana-Bindu-Orden nicht in ihre Papiere eintragen lassen. Ich war also davon ausgegangen, dass die Ausbildung, die sie im Anschluss an die Akademie hier absolviert hatte, und das regelmäßige Training, das sie seither durchführte, vor allem der Steigerung der Konzentration, der Körperbeherrschung, der Reaktionsschnelligkeit und all der anderen Fähigkeiten diente, die für sie als Explorer-Pilotin unverzichtbar waren. Jetzt sah ich, dass doch mehr dahinter steckte, und freute mich, nach zehn Tagen Ehe, der eine zwanzigjährige Verlobungszeit vorausgegangen war, noch neue Seiten an ihr kennen zu lernen.

Als sie sich aus der Trance gelöst hatte, gab sie mir eine Einführung in das Wesen des Gu Tsechu-Festes, die mir selbständig anzueignen ich in den vergangenen Tagen versäumt hatte.

»Im Mittelpunkt steht der Actinidische Götze«, begann sie.

»Das weiß ich bereits«, gab ich vorlaut zurück.

Sie reagierte nicht einmal auf diesen Einwurf, aber die tiefe Gesammeltheit ihrer Miene verkündete überdeutlich, dass sie in dieser Sache keinen Spaß verstand.

»Der Götze«, fuhr sie fort, wobei ihr Blick durch mich hindurchging und auf unbestimmte Fernen gerichtet war, als sehe sie von der obersten Stufe der Freitreppe der Großen Halle des Opfers über den Freihof und die niedrigeren Gebäude der Südseite bis zur tiefen Kerbe der Kaliganschlucht und der Ilaya-Kette hinaus. »Der Götze ist der heiligste Gegenstand des Universums. Genau genommen gehört er nur zum Teil diesem Universum an. Teilweise gehört er schon der anderen Welt. Wie ein Schlüssel, oder besser gesagt ein Schlüsselloch verbindet er dieses Universum mit dem anderen, den physischen Kosmos mit dem metaphysischen. Er ist ein zugleich empirischer und transzendentaler Gegenstand. Wer ihn erblickt, der sieht unmittelbar die Rückseite des Seins, die andere Welt, in die er im Pranavana eingehen wird.«

Sie schwieg. Ihre Augen suchten den Horizont nach erhabenen Geschehnissen ab.

»Mhm«, machte ich im aufrichtigen Versuch, ihr zu folgen. »Der Götze symbolisiert also ...«

»Er symbolisiert gar nichts«, sagte sie. Ihre Stimme kam von weither, wie der Spruch eines Orakels aus Rauch, Duft und Dämmerung.

»Der Götze verkörpert ...«, versuchte ich hilflos.

»Er ist«, beharrte sie. »Versuch einmal katholisch zu denken. Die Hostie ist der Leib des Herrn.«

»Ich bin Protestant«, entgegnete ich schon etwas trotziger. »Wenn auch nur auf dem Papier.«

Sollte sie es mir eben erklären. Ich hörte ihr ja zu. Aber stattdessen hüllte sie sich in Mysterien.

Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. In einem Sekundenbruchteil fokussierte mich ihr Blick. Ihr Blick wurde klar. Ihre Stimme war wieder präzise und militärisch, wie ich das von der besten Pilotin der Union gewohnt war, als sie sagte:

»Der Actinidische Götze besteht aus einem Material, das im übrigen Universum nicht vorkommt.«

»Ein Transuran?«, riet ich.

Etwas wie Mitleid glitt über ihre Miene. Geringschätzung? Ich wünschte, sie würde wieder die Trance aufsuchen und wohlklingende Sutren rezitieren, dann brauchte ich, was sie sagte, wenigstens nicht für bare Münze nehmen.

»Du denkst immer noch physikalisch«, erwiderte sie. »Aber ich glaube nicht, dass es sich um eine - Substanz handelt, die sich im Periodensystem unterbringen ließe, auch nicht an seinem äußersten Rand.«

Ich atmete tief durch und gab mir keine Mühe, die Skepsis von meiner Stirne zu verbannen.

»Liebste Jenny«, sagte ich. »Ich schätze dich, ganz unabhängig von unserer persönlichen Beziehung, als eine der besten Wissenschaftsoffizierinnen der Union. Deinen unbestechlichen logischen Verstand habe ich immer bewundert. Aber du scheinst entschlossen, den fachlichen Respekt, den du dir in über zwanzig Jahren erworben hast, in Minutenschnelle zunichte zu machen.«

Sie ging darauf gar nicht ein.

»Im übrigen«, führte sie den vorigen Gedanken weiter, »wird man niemals die Chance bekommen, das Material wissenschaftlich zu untersuchen. Der Götze wird niemals zu einer solchen Entweihung herausgegeben werden. Tsen Resiq und sein Orden, bis hinunter zum kleinsten Mönch, würden ihn mit ihrem Leben verteidigen und sich lieber bis zum letzten Mann abschlachten lassen, als zuzusehen, wie ein Unreiner den Götzen in die Hand nimmt oder ihn auch nur zur Unzeit und ohne die vorgeschriebenen Riten enthüllt.«

Ich schwieg. Es gibt so viele Dinge, die man auf sich beruhen lassen muss, in der Wissenschaft ebenso wie, so dämmerte es mir jetzt, in einer guten Ehe. Eine beiläufige Handbewegung, die ich in die Stille unseres Zeltes schrieb, sollte lediglich besagen, dass ich nicht vorhatte, mit dem Instrumentarium der positiven Wissenschaft in diese Mysterien einzudringen, und dass ich es akzeptierte, dass es Bereiche gab, die der logischen Erkenntnis verschlossen blieben.

»Das ist auch gut so«, kommentierte Jennifer meinen gestisch ausgedrückten Rückzug. Und indem sie ihr süßestes Lächeln hervorzauberte, tief aus der Trickkiste weiblicher Verführungskunst, die mindestens ebensoviele Mysterien bereithält wie alle anderen Religionen zusammen, sagte sie noch: »Ich nehme die Wissenschaft sehr ernst. Aber ich weiß, dass auch sie ihre Grenzen hat.«

Dutzende Becken schlugen synchron zusammen und erzeugten einen blechern hallenden Ton. Trommeln wurden in Schwingung versetzt und zu rollenden Rhythmen aufgepeitscht, die keinem erkennbaren Metrum folgten, denen aber dennoch eine sehr präzise Struktur zugrundelag. Dann setzten die mehrere Meter langen Tempelposaunen ein, deren goldene Rohre von jeweils drei Novizen gestützt wurden, und ließen die Luft im großen Freihof vibrieren. Näselnde Schalmeien fielen ein und schleuderten spitzige, ekstatische Aufschreie zwischen den Donner der Trommeln und die zwerchfellerschütternden Töne der Posaunen. Diese Darbietungen, unterbrochen von Maskentänzen, Rezitationen und Ansprachen in einem mir unverständlichen Idiom, dauerten schon mehrere Stunden. Alles, was ich sah und hörte, selbst die Gerüche der Opferfeuer, der Rauchgaben und Blumenwunder, die Berührungen unserer Nachbarn, die sich plötzlich und unvorhersehbar erhoben und wieder niederwarfen, dass die einfachen Holzbänke ächzten, bis hin zum Geschmack der kleinen Mahlzeiten, die zwischendurch herumgereicht wurden, war mir vollkommen fremd und undurchsichtig. Wir waren vor Sonnenaufgang aufgestanden. Während ich ein improvisiertes Frühstück aus Trockenei und selbsterhitzendem Kaffee zu mir genommen hatte, hatte Jennifer noch einmal meditiert und dann erklärt, dass sie heute bis zum Beginn der Feier fasten werde. In der eisigen Hochgebirgsnacht, als noch die Sterne und der Zwillingsplanet Sin Pur als schmale Sichel am Himmel standen, hatten wir unsere Plätze auf einer der Tribünen eingenommen. Der Hof hatte sich rasch bis auf den letzten Platz gefüllt. Der Atem der vielen tausend Menschen vereinigte sich und stieg als silbriger Dampf über den Köpfen auf. Die Kälte war anfangs kaum zu ertragen. Mit dem ersten Lichtstrahl hatten die Mönche und Lamas die Freitreppe betreten und unter der Leitung Tsen Resiqs mit der Zeremonie begonnen. Eine zeitlang saßen wir genau an der Grenze von Sonne und Schatten, als der weißstrahlende Zentralstern des Systems in quälender Langsamkeit höher stieg. In der dünnen, feuchtigkeitslosen Hochgebirgsluft war die Schattenlinie zugleich ein schwer vorstellbarer Temperatursprung. Die Sonne brannte, da die Atmosphäre ihr keinen Widerstand mehr bot, während die Luft im Schatten nicht den geringsten Teil der Wärme bezog. Eine Stunde lang wurde mein rechter Arm geröstet, während der linke vor Kälte taub und gefühllos war. Dann war die Sonne endlich so weit gestiegen und nach Süden herumgezogen, dass sie uns gleichmäßig erwärmte. Wir wurden jetzt zwar fast gebraten, aber man wusste doch, worauf man sich einzustellen hatte. Ich verstand jetzt auch das Wesen der Prana-Bindu-Trance. Sie war nicht nur die Frucht eines jahrtausendelangen Aufenthaltes an Orten wie diesem, ihre Beherrschung war umgekehrt die unabdingbare Voraussetzung, um ein Leben unter diesen Umständen überhaupt aushalten zu können.

Jennifer war die ganze Zeit nicht ansprechbar. Anfangs hatte ich mit ihr zu flüstern versucht und sie gebeten, mir die Funktion der einzelnen Teile der Zeremonie zu erläutern, der ich doch wenigstens offen und unvoreingenommen begegnen wolle, aber sie hatte mürrisch und unwillig reagiert, von einem bestimmten Zeitpunkt an überhaupt nicht mehr. Ich musste es also dabei bewenden lassen, die schmetternde Geräuschkulisse, die als Musik wahrzunehmen mir nicht gelingen wollte, über mich ergehen zu lassen, die Tänze zu betrachten, deren Symbolik mir verschlossen blieb, und den Rezitationen zu lauschen, von deren Inhalt ich vermutlich selbst dann nichts begriffen hätte, wenn ich der Sprache teilhaftig gewesen wäre, in der sie vorgetragen wurden. Irgendwann, es war, wie ich dem Sonnenstand entnahm, bereits Nachmittag, schien sich das Spektakel seinem Höhepunkt zu nähern. Die Lieder wurden feierlicher, das teilte sich sogar mir mit. Die Tänze gravitätischer, die Explosionen der Instrumente wurden noch gewichtiger. Sie bekamen etwas von der Unwiderleglichkeit eines Naturgeschehens.

»Jetzt«, zischte Jennifer.

Das war seit etlichen Stunden das erste Wort, das sie an mich richtete. Das erste Zeichen dafür, dass ihr meine Anwesenheit noch bewusst war.

Vier Mönche traten vor. An den großen halbmondförmigen Mützen aus gelben Samt erkannte ich, dass es, nach Tsen Resiq selbst, die höchsten Würdenträger des gesamten Ordens waren. Sie trugen eine Schatulle aus schwarzem Holz. Unwillkürlich war ich enttäuscht. Ich hatte mit der Enthüllung eines viel pompöseren Gegenstandes gerechnet, und auch, als ich mir sagte, dass die äußeren Abmessungen ja nichts über die spirituelle Bedeutung eines solche Fetisches besagten, konnte ich ein Gefühl der Ernüchterung nicht gänzlich unterdrücken. Die Schatulle wurde auf ein Podest gestellt, das mit gelbem Samt verkleidet war. Ihre Beschläge leuchteten golden, als die Sonne jetzt gleißende Reflexe aus ihnen schlug, während das Schwarz des Holzes vollkommen glanzlos blieb. Die vier Mönche traten zurück. Tsen Resiq schritt würdevoll zur Front der Schatulle. Ein mächtiger Beckenschlag ließ die Menge zusammenfahren, die schon den Atem angehalten hatte. Dann herrschte vollkommene Stille. Von der ganzen vieltausendköpfigen Menge war kein Laut zu vernehmen, kein Lachen, kein Husten, kein Räuspern. Selbst die Kinder, von denen zuvor einige geweint hatten, waren instinktiv verstummt. Der Lama murmelte einige Verse, und obwohl er über hundert Meter von uns entfernt stand, konnten wir jedes Wort vernehmen. Er legte die Handflächen ineinander, schloss die Augen, berührte mit den Fingerspitzen die Stirn und legte dann beide Hände flach auf die Schatulle. Plötzlich, aus einem Moment der Sammlung aufzuckend, öffnete er mit einer raschen Bewegung die beiden Flügel der Schatulle, griff hinein und nahm einen Gegenstand heraus, den er mit beiden Händen hoch in den Himmel stieß.

Ein Raunen ging durch die Menge, etwas wie ein chorisches Atmen. Die Zehntausend waren nur noch ein einziges Wesen, über dem der Rhythmus des Lebens flutete, verebbte, neu anschwoll und sich brach wie die Dünung eines abendlichen Ozeans. In einer feierlichen unio mystica hoben und senkten sich die Brüste der zahllosen Pilger, während ihre Blicke in einem Punkt zusammenschmolzen, dem Actinidischen Götzen, den Tsen Resiq der Gemeinde und dem Himmel präsentierte. In diesem Augenblick veränderte sich das Licht. Es wurde fahl. Obwohl es nicht eigentlich dunkel wurde, verloren die Gegenstände mit einemmal alle Farbe. Das Raunen und Stöhnen der Menge gewann an Kraft und Intensität. Etwas wie ein Schlagschatten legte sich über die Szene, das Echo eines gewaltigen schwarzen Tuches, das dem Licht allen Glanz und alle Resonanz nahm. Hatte sich eine Wolke vor die Sonne geschoben? In den sechs Tagen, die wir seit der Durchquerung des Tors des Todes auf der Nordseite der Ilaya-Kette zubrachten, hatten wir nicht den Anflug einer Wolke am Himmel gesehen. Und plötzlich wusste ich, was geschehen war. Es wäre sogar vorhersehbar gewesen. Innerlich verfluchte ich mich selbst dafür, dass ich mich so nachlässig auf das Ereignis vorbereitet hatte, und ich nahm mir vor, Jennifer, sowie sie wieder ansprechbar geworden sein würde, dafür zur Rede zu stellen, dass sie mich nicht vorgewarnt hatte. Das Atmen der Menge wurde ruhiger, langwelliger und zugleich schwerer. Es war das tiefe Atmen einer Frau, die im warmen Wasser eines Gebärbeckens sitzt und zwischen den Wehen Luft schöpft, weil sie weiß, dass jetzt gleich der Schädel ihres Neugeborenen hervortreten muss. Die Szenerie war wie eingefroren. Niemand bewegte sich. Tsen Resiq war, mit dem Kultobjekt auf den emporgereckten Händen, zu einer Statue erstarrt, zu einem lebenden Postament, das allein der Präsentation des Allerheiligsten diente. Das helle unwirkliche Grau, das über allem lag, vertiefte den Eindruck eines aus aller Zeit und Realität herausgefallenen Augenblicks, einer ewigen Sekunde, die aus dem Fluss der Vergänglichkeit herausgelöst, abgeschnitten und sich selbst überlassen war. Ich bereute, dass ich den optischen Feldstecher nicht mitgenommen hatte, der sich wie eine Brille auf der Nase tragen ließ, aber Jennifer hatte es untersagt. So musste ich versuchen, mir den Götzen mit bloßen Augen einzuprägen, aber ich erkannte nur, dass es sich um eine Statuette handelte, die aus rotem und schwarzem Stein geschnitten und kostbar vergoldet zu sein schien und von der zwei handflächengroße Gebilde wie Flügel abstrahlten. Der Stillstand der Zeit dauerte zwei, vielleicht drei Minuten. Dann riss der Lama den Götzen herunter und ließ ihn mit einer blitzschnellen Bewegung in der Schatulle verschwinden, die im selben Augenblick von den vier hohen Mönchen hinausgetragen wurde. Das Licht nahm wieder seine alte Grelle an. Die Menge stöhnte in einem letzten gemeinschaftlichen Schrei auf und fiel dann wieder zum gewohnten Stimmengewirr auseinander. Einige Kleinkinder begannen zu heulen, eine Frau lachte. Erstaunlich rasch zerstreute sich die Masse. Die Mönche packten ihre Instrumente ein und verschwanden in verschiedene Richtungen. Nach wenigen Minuten war der große Freihof so gut wie ausgestorben. Ich saß als einer der letzten noch an meinem Platz, benommen und ergriffen wie offenbar kaum einer der Gläubigen. Auch Jennifer war schon aufgestanden. Sie strich mir durch das Haar und tätschelte meine Wange, eher kameradschaftlich als zärtlich.

»Es ist vorbei«, sagte sie. »Du warst Zeuge eines mystischen Ereignisses.«

»Es freut mich, mein Kind, dass sie nach all den Jahren den Weg nach Loma Ntang gefunden haben, um wieder am Mysterium von Gu Tsechu teilzunehmen.«

Tsen Resiq berührte Jennifers Stirn in der Geste des Prana-Segens.

»Das gilt auch für Sie, Commander«, fuhr er fort. »Ich weiß, Sie sind ein Mann der Wissenschaft. Aber der Anblick des Actinidischen Götzen wird auch für Sie nicht ohne Wirkung bleiben.«

Ich nickte zum Zeichen meiner Zustimmung. Das war sogar ernst gemeint. Die rätselhafte Zeremonie hatte mich durchaus beeindruckt und sogar aufgewühlt. Ich neigte mich vor und gestattete dem alten Lama, auch meine Stirn mit den Fingerspitzen zu berühren.

Dann nahm er unsere Hände, legte sie ineinander und schrieb mit Zeige- und Mittelfinger seiner Rechten eine schleifenförmige Bewegung darüber, die bei oberflächlicher Betrachtung auch ein Kreuz hätte sein können. Alle Religionen sind eins, begriff ich, wenn nicht auf dogmatischer Ebene, so doch in der Ehrfurcht vor dem Sein.

Ich sah wieder den Götzen vor mir, wie Tsen Resiq ihn in den klaren, aber fahlen Mittagshimmel gehoben hatte. Der Kultgegenstand hatte umso intensiver aufgeleuchtet, je mehr die gesamte Umgebung grau und matt geworden war, als habe er alle Farbe des Universums in sich aufgesogen, um sie nach einem Innehalten unbestimmter Zeitdauer wieder in den Kosmos hinauszuschleudern, der daraufhin prächtiger und prangender erstrahlte als zuvor.

Der Alte gab unsere Hände frei. Er legte die Linke auf Jennifers Schulter, die Rechte auf meinen Oberarm, so dass wir ein Dreieck bildeten. Wir verharrten einige Sekunden in dieser Aura der Nähe und Aufgehobenheit. Dann trat der 14. Avatar Ava Kiteshvars einen Schritt zurück und musterte uns verschmitzt. Alle Feierlichkeit wich von seinem hundertjährigen Runengesicht, als er uns fröhlich zuzwinkerte.

»Kommen Sie beide so bald wie möglich wieder. Warten Sie keine zehn oder zwanzig Jahre ab, und kommen Sie nicht, wenn eines der großen Klosterfeste meine Aufmerksamkeit beansprucht. Dann haben wir Zeit, uns ausführlich und ungezwungen zu unterhalten.«

»Das werden wir tun, Ehrwürdiger Lama«, sagte Jennifer.

Ich murmelte ebenfalls eine Floskel der Zustimmung. Stille breitete sich im Empfangsraum aus, wo Tsen Resiq zwischen dunklen Holztäfelungen und farbenfrohen Seidenampeln Audienz gab. Ich bemerkte, dass sein Blick zu den Mönchen wanderte, die im Eingangsbereich der Halle darauf warteten, die nächsten Gäste vorzulassen, denn auch an diesem Tag gaben sich die Würdenträger die Klinke in die Hand, um sich vom Oberhaupt des Prana-Bindu-Ordens zu verabschieden. Indem ich seinem Blick folgte, fiel mir der schwarze Schrein auf, der an der Längsseite des Saales auf einem Podest aus gelber Seide stand. Es war die Schatulle des Actinidischen Götzen, die man noch nicht wieder an ihren Aufbewahrungsort zurückgebracht hatte, wo sie die nächsten zehn Jahre überdauern würde.

»Er bleibt noch ein paar Tage hier«, sagte Tsen, dem die Bewegung meiner Augen aufgefallen war. »Die Gäste, die kommen, um sich zu verabschieden, nehmen auch seinen Segen mit auf die Heimreise. Und er gibt mir Kraft durch seine Anwesenheit, selbst wenn er verhüllt ist.«

Wir mussten gehen. Ich spürte, wie die Zeit schmerzhaft wurde, selbst für den alten Mönch in seiner unermesslichen Geduld und Weisheit, aber Jennifer machte keine Anstalten, den Empfangsraum zu verlassen. Wie stand sie da.

»Noch ein Wort, Großer Vater der Gläubigen«, bat sie jetzt

Dieser Beiname Tsen Resiqs war mir bis jetzt nicht geläufig gewesen. Ich begriff aber sofort, dass es sich um eine sehr selten benutzte Bezeichnung handelte, die nur in besonderen Ausnahmefällen zur Anwendung kam.

Die sternförmigen Fältchen in den Augenwinkeln des Alten waren wie weggewischt. Seine Miene wurde im Augenblick abwartend und ernst. Ich begriff, dass die Ansprache, die Jennifer gewählt hatte, bereits ein Anliegen signalisierte, das alles andere als alltäglich war. Dabei hatte ich keine Ahnung, worauf sie hinauswollte. Selbstverständlich hatte sie mich im Vorfeld mit keinem Wort eingeweiht.

»Der Götze«, flüsterte sie mit einem Seitenblick zu den Mönchen, die neben der Eingangspforte Wache standen. »Ich habe ihn nur ein einziges Mal gesehen, vor zwanzig Jahren, und dann wieder bei der gestrigen Enthüllung.«

Der Alte war jetzt hellwach. Ich konnte sehen, wie er sich abmühte, die Fassung zu bewahren und die Runzeln des Misstrauens, die über seine zerfurchte Stirne zuckten, zurückzudrängen.

»Er schien mir«, sagte Jennifer mit einer Stimme, die bis an die unterste Grenze der Hörbarkeit gesenkt war, »er schien mir verändert.«

»Was sagst du da, mein Kind?«, fragte Tsen, dem es nicht gelang, alle Anzeichen der Beunruhigung aus seinen Worten zu verbannen.

Ich ahnte, was für eine Bedeutung dieser Gegenstand in der Wertschätzung dieses Ordens haben musste, wenn allein ihn im Tonfall des Verdachtes anzusprechen, eine solche Erschütterung bewirkte.

»Er schien mir«, Jennifer suchte nach dem rechten Ausdruck, »so getrübt. Irgendwie glanzlos.«

Mir wäre beinahe herausgerutscht, dass ich den Götzen über alle Maßen strahlend und farbenprächtig wahrgenommen hatte, und dass der Eindruck des Fahlen von der Sonnenfinsternis herrührte. Aber das Gu Tsechu-Fest würde immer auf ein solches Ereignis gelegt werden.

Wie beiläufig hatte sie sich in Bewegung gesetzt, um zu dem schwarzen Schrein hinüberzugehen. Keine zehn Schritte trennten uns von dem goldbeschlagenen Kasten auf seinem Postament aus gelber Seide.

Die vier Mönche, die die Tür bewachten, standen stramm. Zwei von ihnen präsentierten die silbergeschmückten Hellebarden, deren Spitzen bedrohlich aufleuchteten. Tsen gab ihnen ein Zeichen ihre Position beizubehalten. Dann beeilte er sich, Jennifer zu überholen und sich zwischen ihr und dem Schrein aufzubauen.

»Was haben Sie vor, mein Kind?«, fragte er schnarrend. »Ihnen ist klar, dass der Götze nicht vor dem nächsten turnusgemäßen Anlass wieder enthüllt werden wird.«

Er stand jetzt unmittelbar vor dem Kultgegenstand und stieß mit dem Rücken an den mit gelber Seide verkleideten Unterbau. Aus zusammengekniffenen Augen funkelte er Jennifer herausfordernd an.

»Keine Macht des bekannten Universums wird das Behältnis des Actinidischen Götzen vor dem kommenden Gu Tsechu-Fest öffnen«, zischte er. »Es sei denn, über meine Leiche.«

Jennifer begriff, dass sie sich zu weit vorgewagt hatte. Sie trat wieder einen Schritt zurück und hob begütigend die Hände.

»Das weiß ich, Ehrwürdiger Lama«, sagte sie und legte ihren ganzen Charme in ein gewinnendes Lächeln.

Tsen hatte abwehrend die Hände vorgestreckt. Jetzt ließ er sie langsam sinken, nicht ohne ein leises Schulterzucken anzudeuten. Anhaltendes Misstrauen und Irritation kämpften in ihm. Da er einen Kopf kleiner war als Jennifer, konnte sie über ihn hinweg den Schrein mustern. Ich sah, wie ihr konzentrierter Blick die Schatulle scannte, und es war jetzt auch wieder der gefasste, scharfe und präzise Blick der Wissenschaftlerin, den sie auf den schwarzen Gegenstand heftete, nicht der verschwommene Brei, den sie während der gestrigen Zeremonie anstelle des Gesichts getragen hatte.

»Zum Beispiel die Beschläge ...«, dachte sie laut nach. »Findet Ihr nicht, dass sie ein wenig angelaufen wirken?«

Tsen hielt sie mit der rechten Hand auf eifersüchtiger Distanz, während er sich behutsam umwandte und die goldenen Beschläge des Schreins zu betrachten vorgab.

»Sie wurden vor dem Fest poliert«, stieß er hervor.

Ein unwilliger Ruck ging durch ihn. Ich erwartete unwillkürlich, dass er wie ein trotziges Kind aufstampfen würde, als er quengelnd ausrief:

»Liebste Jennifer, ich verstehe wirklich nicht, worauf Sie ...«

»Umso merkwürdiger«, fiel sie ihm ins Wort, »dass sie schon wieder schwarz und trübe sind!«

Wir erstarrten. In einem unbedachten Moment ließ ich mich von Neugierde hinreißen und ging jetzt meinerseits näher an den schwarzen Schrein heran. Die beiden Mönche, die mit übermannshohen Hellebarden bewaffnet waren, marschierten quer durch den Raum auf uns zu. Ihre Gesichter waren steinerne Abbilder der Entschlossenheit, Kriegerfratzen, wie sie bei den Maskentänzen Verwendung fanden. Sie ließen jedenfalls keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie nicht zögern würden, uns und sogar den Lama in der Luft zu zerfetzen, wenn wir Anstalten machen sollten, den Götzen aus dem Behältnis zu nehmen.

Jennifer hob die Hände und verschränkte sie dann demonstrativ hinter dem Rücken.

»Vertrauen Sie mir«, sagte sie. Dabei wandte sie sich ausschließlich an den alten Lama und würdigte die beiden Männer, die nun unmittelbar neben ihr standen, keines Blickes.

Ich sah, dass Tsen am ganzen Körper zitterte und dass ihm der Schweiß auf die Stirne trat. Bei einem Großmeister des Prana Bindu hatte diese Beobachtung eine alarmierende Aussagekraft. Jennifer hatte sich sehr weit vorgewagt. Sie rührte hier an ein Tabu, bei dem alle Argumente und alles Zureden gegenstandslos wurden. Aber was beabsichtigte sie überhaupt?

»Großer Vater«, wiederholte sie. »Ich garantiere Euch, dass ich den Götzen nicht anrühren und den Schrein nicht öffnen werde. Aber erlaubt mir, von den Beschlägen eine Probe zu nehmen.«

Alle vier Mönche stießen ein dumpfes Murmeln aus, das nicht freundschaftlich klang. Tsen Resiq atmete hörbar durch. Ich wusste ja, auf was es hinauslaufen würde, aber auch er schien Jennifer gut genug zu kennen, obwohl er sie nur einige Monate lang unterrichtet hatte und obwohl das zwanzig Jahre zurücklag, um zu wissen, dass er sie anders nicht loswerden würde, als indem er ihr nachgab.

»Liebe Jennifer«, sagte er. »Dieser Schrein birgt das Heiligste, das unsere Religion besitzt. Und bei allem Respekt vor Ihrer Wissenschaft hätte ich kein gutes Gefühl, wenn Sie mit Ihrem Instrumentarium auch nur an die äußere Hülle dieses Objektes der Verehrung herangehen würden. Proben nehmen, analysieren, auswerten ... - Sie sind tief genug in unseren Glauben eingedrungen, um zu wissen, dass schon ein solcher Gedanke, eine solche Absicht diesen Ort entweiht. Es wäre, als würden sie mich bei lebendigem Leib sezieren, mein schlagendes Herz in der Hand halten und mit ungeschütztem Blick betrachten.«

Jennifer lächelte und schwieg.

Der Alte breitete die Arme aus und trat einen Schritt nach vorne, um uns weiter von der Schatulle wegzudrängen.

»Die Beschläge sind schwarz«, sagte Jennifer leise, als spreche sie mit sich selbst. »Der ganze Schrein ...«

»Er besteht aus Obsidianholz«, fiel Tsen ihr ins Wort. »Dem härtesten und dunkelsten Holz von Musan. Es verschluckt alles Licht. Keine Politur kann es zu eitlem Glanz verleiten.«

»Aber seht es Euch doch an«, insistierte Jennifer. »Die Fugen, die Ecken und Kanten.«

Tsen dachte gar nicht daran, sich den Schrein näher zu besehen. Er hätte ihr dazu den Rücken kehren müssen. Stattdessen versuchte er uns weiter abzudrängen.

Plötzlich wand sich Jennifer an ihm vorbei, schnellte vor und baute sich vor dem schwarzen Kasten auf.

»Seht doch«, sagte sie, während sie mit dem Zeigefinger der rechten Hand prüfend über eine Kante und einen Eckbeschlag der Schatulle fuhr. »Hier! Und diese Nieten.«

Die Mönche stürmten vor, die Hellebarden im Anschlag. Tsen konnte sie nur zurückhalten, indem er seinerseits herumwirbelte und Jennifers Hand wegschlug.

Als habe sie sich zu einer unbesonnenen Handlung hinreißen lassen, kehrte sie an meine Seite zurück.

»Entschuldigen Sie mich«, säuselte sie und setzte ihr unschuldigstes Lächeln auf. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.« Und mit fröhlicher Miene fügte sie in meine Richtung hinzu: »Ich glaube, es ist besser, wenn wir jetzt gehen.«

Die beiden Mönche zogen sich langsam und knurrend zurück. Tsen blickte uns starr an. Wir gingen Seite an Seite einige Schritte rückwärts, deuteten eine Verbeugung an und wandten uns dann zur Tür.

»Sie haben recht«, sagte Jennifer zu Tsen. »Glauben und Wissen sind zwei getrennte Welten. Man soll die Sphären nicht mischen.«

»Leben Sie wohl, mein Kind«, erwiderte Tsen Resiq kalt. Erst als er sah, dass wir uns tatsächlich zu gehen anschickten, wurde seine Miene wieder weicher. »Sie beide«, sagte er noch. »Und kommen Sie einmal wieder.«

Die Mönche zerhackten uns mit blutunterlaufenen Blicken, als sie auseinandertraten und uns die Tür öffneten.

»Was sollte denn das?«, fragte ich atemlos, als wir durch das Labyrinth aus Gängen, Treppen und Höfen zu unserem Zelt eilten.

»Das wirst du schon noch sehen«, sagte sie fröhlich.

Wir duckten uns unter zwei schweren Vorhängen durch, die anstelle einer Tür ein wuchtiges Portal verschlossen, und liefen über den menschenleeren Freihof, der sich dahinter anschloss.

»Anfangs hatte ich wirklich nur einen leisen Verdacht«, plauderte sie, während wir durch verwinkelte Gänge weiterhasteten. »Vor allem die Beschläge der kleinen Tür, durch die der Götze entnommen wird.«

Sie verstummte, als uns eine Gruppe von Mönchen entgegenkam. Wir erwiderten ihren Gruß und ihr freundliches, aber unpersönliches Lächeln und warteten, bis wir eine Ecke zwischen sie und uns gebracht hatten.

»Richtig neugierig wurde ich«, fuhr Jennifer fort, »als ich sah, wie nervös er wurde.«

Ohne ihren Lauf zu verlangsamen, sah sie mich von der Seite an. Sie strahlte, als habe sie mir soeben eine revolutionäre Entdeckung mitgeteilt.

»Der Mann ist Großmeister und oberster Lama des Prana-Bindu-Ordens«, sagte sie. »Er könnte sich mit einem glühenden Dolch die Eingeweide zerschneiden und dich dabei ansehen, ohne eine Miene zu verziehen, Frank.«

»Das ist mir auch aufgefallen«, keuchte ich. »Der Götze ist eben sein wichtigstes Heiligtum. Das hast du mir doch selbst erklärt.«

Sie schüttelte nur den Kopf und bog in den Seitenflügel ab, der uns zu unserem Zelt bringen würde.

»Da war noch etwas anderes.«

Durch eine einfache Tür aus nacktem Holz verließen wir das Gebäude und traten ins Freie. Wir befanden uns auf der Rückseite des Klosterkomplexes, unweit unseres Lagerplatzes. Die Fläche zwischen den Mauern der Großen Gompa und der Steilwand, die im Norden hinunterstürzte, war wieder so gut wie leer. Die meisten Pilger hatten schon gestern Nachmittag, unmittelbar nach Abschluss der Zeremonie, den Rückweg angetreten. Die übrigen waren heute morgen aufgebrochen. Nur die Abgesandten anderer Klöster, die sich, wie wir, von Tsen Resiq persönlich verabschiedeten, waren noch da. Sie wohnten aber im Hauptgebäude. Wir schlenderten durch den Staub und Schmutz des aufgelassenen Lagers zu unserem Zelt, das einsam am äußersten Punkt der Klippe stand und im Wind knallte. Wo der Blick an den Gipfelfelsen der Bergpyramide vorbei in die Tiefe ging, sahen wir die Karawane der heimkehrenden Pilger, die sich dort unten als schwarzer Wurm der Talsohle des Kaligan entgegenwälzte. Sie alle mussten wieder durch das Tor des Todes, diesmal dem Sturm entgegen.

Die Umgebung des Klosters sah wie ein Schlachtfeld aus. Menschliche Exkremente und tierischer Dung hoben sich vom nackten Felsgrund ab. Die schwarzen Narben der offenen Feuer waren in regelmäßigen Abständen in die Landschaft gesprenkelt. Skelette von toten Tragtieren, die hier oben den Strapazen erlegen waren, ragten aus dem Geröll auf, und die Überreste von Wollhühnern, Ilagänsen und anderem lebenden Proviant bildeten blutige Klumpen. Auch zerfetzte Zelte und zurückgelassene Ausrüstungsgegenstände flatterten am Boden. Es würde noch eine Weile dauern, bis die Sonne, die Trockenheit und der unbarmherzige Wind die Einöde außerhalb der Klostermauern in ihrer ursprünglichen Reinheit wiederhergestellt hatten.

Wir hatten beschlossen, noch eine Nacht hier zu verbringen, auch wenn uns das Innere der Gompa nach dem Ende des Festes und unserer offiziellen Verabschiedung durch Tsen Resiq verschlossen bleiben würde. Ohnehin würden wir das Ende der Karawane bald eingeholt haben, wo sich die Alten, Kranken, Familien mit Kindern und Leute, deren Tragtiere verendet waren, unter unglaublicher Mühsal wieder in ihre Heimatdörfer zurückschleppten.

»Jedenfalls haben wir jetzt alles, was wir brauchen«, sagte Jennifer, als wir ins Zelt gekrochen waren und den Eingang versiegelt hatten.

Aus dem Tornister holte sie einen Spatel und einen kleinen Elastinzylinder hervor, wie man sie benutzt, um auf wissenschaftlichen Missionen Bodenproben zu nehmen. Ich bemerkte jetzt erst, dass sie den rechten Zeigefinger im Inneren der Hand geborgen hatte. Jetzt streckte sie ihn aus und schabte den Belag ab, der wie schwarzer pudriger Ruß aussah. Sie klopfte das Pulver in den Zylinder und verschloss ihn sorgfältig.

»Irgendetwas stimmt da nicht«, kicherte sie und strahlte mich fröhlich an.

Am nächsten Morgen brachen wir das Zelt ab, schulterten die Rucksäcke und begannen mit dem Rückmarsch. Der Weg war nicht zu verfehlen. Tote Lasttiere, zurückgelassenes Gepäck, tote und sterbende Menschen säumten die unbefestigte Piste. Immer wieder kamen wir an Menschen vorbei, die von den ihren aufgegeben worden waren. Sie lagen im Staub und warteten auf das Ende. Keiner flehte um Hilfe oder nahm uns überhaupt zur Kenntnis, und Jennifer zog mich, der ich ihnen wenigstens etwas zu trinken geben wollte, unbarmherzig weiter.

»Was ist das für ein Wahnsinn?!«, fluchte ich, als wir in zügigem Tempo weitermarschierten, direkt auf den tiefsten Einschnitt der Kaliganschlucht zu. »Wie viele kommen um von denen, die diese Reise antreten, jeder Zehnte, jeder Fünfte?«

Jennifer ging unbeeindruckt weiter, am Körper einer alten Frau vorbei, mit deren schwarzer Kapuze der Wind spielte.

»Sie haben das Pranavana gesehen«, brummte sie unwirsch. »Die Ewigkeit. Der Actinidische Götze ist das Pranavana. Jetzt kann ihnen nichts mehr etwas anhaben. Selbst der Tod ist nur noch eine Erlösung für sie.«

»Es ist ein Wahnsinn«, rief ich dem Wind entgegen, der mit jedem Schritt, den wir nach Süden kamen, stärker wurde und der uns Sand und glühenden Staub entgegenschleuderte.

Bald waren wir auf das Ende der Karawane aufgelaufen. Es glich einem Exodus, einem Bild von alttestamentarischer Wucht und Grausamkeit. Männer, die verzweifelt auf ihre Tiere einschlugen und sie dem peitschenden Sturm entgegenprügelten. Greise, die am Wegesrand sitzen blieben, um auf den Tod zu warten. Ehemänner, die ihre schwangeren Frauen zu schieben und zu tragen versuchten und sie schließlich liegen lassen mussten. Ich hätte einem Mann helfen können, dessen Karren bis über die Radnabe im Sand stecken geblieben war, oder ich hätte das Kind tragen können, das von seiner Mutter auf einer flimmernden Düne abgesetzt wurde, weil sie es nicht mehr schleppen konnte. Sie wollte bei ihm bleiben, um gemeinsam mit ihm zu sterben, aber ihr Mann zog sie weiter. Und so ging es nun tausenden. Wir hasteten daran vorüber, blind und erstickt von dem tobenden Wind, der uns entgegenstand, und benommen von der Uferlosigkeit des Leidens, das wie ein unfassbares Panorama menschlichen Elends an uns vorüberzog. Auf diesem Teil des Weges marschierten wir, so rasch wir konnten, und gönnten uns nur die nötigsten Pausen, so dass wir die fünftägige Strecke des Aufstieges in weniger als der Hälfte der Zeit hinter uns brachten. Am Abend des zweiten Tages rasteten wir oberhalb des Einstiegs zum Tor des Todes. Ein dunkles Heulen, Grollen und Sausen drang aus dem Felsenmaul. Das Monster fletschte die Zähne und brüllte um Nahrung. Kilometerhoch über uns glühten die Zinnen der Ilaya-Kette im Abendrot auf, dann senkte sich die blauschwarze Nacht über das Gebirge. Wir warteten weiter ab, bis der Orkan, der uns aus dem Engpass entgegenschrie, sich ein wenig legte und die brennenden Felswände sich etwas abgekühlt hatten. Dann stiegen wir in die Schlucht ein. Wir achteten nicht mehr auf die Pilger, die sich hier erschöpft und verzweifelt vorwärtskämpften, sondern marschierten so schnell wie möglich, um den tiefsten Teil des Kaligan bis Sonnenaufgang passiert zu haben. Eine Stunde vor Tagesanbruch, als der Wind an den breiteren Stellen der Talsohle fast eingeschlafen war, schleppten wir uns durch das Tor des Todes, wo die senkrecht aufsteigenden Felswände fast aneinander stießen und der Sturm immer noch so stark war, dass wir uns Schritt für Schritt vorwärts zwingen mussten. Als der Himmel über uns aufflammte und die Bergspitzen lotrecht über uns wie frisches Blut erglänzten, hatten wir den Durchgang hinter uns gebracht. Wir wichen sofort in die Flanke eines Seitentales aus, wo wir den Tag verbrachten, und setzten dann am Abend den Rückmarsch fort. Vier Tage später kamen wir in Feba an, wo wir zwei Nächte in einem Bungalow am See verbrachten, um uns zu regenerieren. Hier gestattete Jennifer mir auch wieder das Beilager. Pem Ba und sein Sohn brachten uns schließlich mit ihrem roststarrenden Gleiter zum Raumhafen.

Der Actinidische Götze

Подняться наверх