Читать книгу Explorer ENTHYMESIS - Matthias Falke - Страница 3
ОглавлениеDas Schlangennest
Ich hatte das Abdockmanöver von Hand durchgeführt, denn ich genoss es immer noch, in jugendlicher Begeisterung die ENTHYMESIS eigenhändig vom Mutterschiff abzukoppeln, das träge im Orbit trieb und dessen 18 km langer Titan-Korpus von Sonden und Reparatur-Robotern umschwärmt wurde, und dann langsam herumzuschwenken, bis Lu-Au, der blaue Planet, in den kristallinen Frontscheiben erschien. In schwerem Ultramarin lag er vor dem Samtbeschlag des Weltraums, im kalten Licht einer fernen Sonne – die Entfernung entsprach diejenigen vom Uranus zur Erdsonne –, deren Aufgang eben das polare Hochplateau in ädrigem Lapislazuli funkeln ließ. Der Planet, dem diese Expedition gewidmet war – weil auf ihm enorme Buntmetallvorräte vermutet wurden –, hatte mehrfachen Erdumfang. Da er aber fast ganz aus leichten Silikaten bestand, seine spezifische Dichte also viel geringer war, würde die Gravitation die unseres Heimatplaneten nur geringfügig übersteigen. In der kompletten Ausrüstung und mit dem Equipment auf den Schultern würden wir uns fühlen wie daheim bei einem Waldspaziergang.
Ich tauschte die üblichen Floskeln mit der Brücke, über die wir gerade hinwegrollten, und brachte uns dann auf eine ballistische Flugbahn, die uns seitlich unter der MARQUIS DE LAPLACE hindurchtauchen ließ und uns in neunzig Minuten auf die Oberfläche bringen würde. Dann übergab ich an die automatische Steuerung und entspannte mich beim Anblick des azurblauen Panoramas.
Bald füllte die blau schimmernde Wüste das gesamte Gesichtsfeld aus, und man konnte einzelne Gebirgszüge unterscheiden, obwohl wir noch mehrere tausend Kilometer hoch waren und kaum die äußere Atmosphäre berührten. Mächtige Nordlichter stroboskopten über dem Pol, der gerade hinter den Horizont gekippt war, und ließen die Heftigkeit der magnetischen Störungen der Ionosphäre erahnen, die eine direkte Landung jenseits der Polarkreise unmöglich machte. Wir gingen auf einhundertsechzig Kilometer hinunter und schwebten mit reduzierter Geschwindigkeit nordwärts, über eine geröllbesäte Fläche porösen Gesteins, das, von schroffen Schluchten und grandiosen Faltengebirgen durchzogen, in unermesslicher Erstreckung dalag. Alles in ein intensives Blau getaucht.
»Wie das tibetische Hochland«, murmelte ich vor mich hin, »das jemand mit Unmengen Enzian vollgepinselt hat.«
»Du Träumer«, kam es von drüben, »kannst du dich niemals von deinen terrestrischen Assoziationen lösen?«
»Wenn ich wie du auf Luna III geboren wäre, würde’s mir auch leichter fallen. Warst du überhaupt mal – daheim?«
»Ein paar Monate zur Schulung in St. Petersburg.«
»Russland?«
»Nee, Florida. Fand ich ziemlich nichtssagend. Die eigentliche Ausbildung habe ich auf dem Mars gemacht. Schönes Camp am Mt. Olympus. Und die Abschlussexamina, wie du vielleicht weißt, auf der Akademie der Union in Pensacola. Aber such uns lieber mal ne vernünftige Landestelle.«
»Schon gebucht. Bei 80° Nord, 28° Ost reicht ein Canyon ziemlich weit hoch, da können wir bis dicht unter’s Plateau rangehen.« Dann hakte ich doch nochmal nach. »Woran erinnert’s dich denn hier?«
»Pluto. Die Trainingsstrecke zwischen Pluto II und III ging über die Große Depression. Da sah’s so ähnlich aus. Nur noch dunkler.«
In diesem Augenblick flogen wir unter einigen Gebirgsmassiven dahin. Auch das ist einer der Momente, die niemals ihre Faszination verlieren. Wenn ein neuer Himmelskörper, der erst als Scheibe, später als Kugel vor einem im Raum gehangen hat, sich plötzlich als dreidimensionale Landschaft um einen zusammenschließt, wenn aus dem mathematischen Punkt der Positionshologramme konkrete Wirklichkeit wird. Ich zog die Steuerbrille über, mit der ich durch den Blick, den ich auf einen möglichen Landeplatz konzentriere und der kernspintomographisch abgelesen wird, die ENTHYMESIS ausrichten kann.
Wir strebten durch eine Schlucht aus grünlichem Bauxit auf den Abhang des polaren Plateaus zu, als ich auf einer seitlichen Talsenke eine breite Terrasse entdeckte, die ich auf dem virtuellen Schirm fixierte. Gleichzeitig spürte ich, wie das Schiff leise herumkrängte.
»Fahrgestell ausfahren!«, befahl ich. »Abdämpfen auf 0,1g!«
Eine Minute lang verharrten wir einhundert Meter hoch über dem flachen Oxidboden, während die Röntgen-Scanner das Gelände auf unterirdische Hohlräume abtasteten. Dann setzten wir auf.
Es dauerte ein paar Stunden, bis wir alle Einzelheiten mit der MARQUIS DE LAPLACE abgecheckt hatten und die Instrumente der ENTHYMESIS die nähere Umgebung auf alle möglichen und unmöglichen, physikalischen und chemischen Phänomene durchleuchtet hatten – biologische waren nicht zu erwarten. Dann aktivierten wir das automatische Logbuch und stiegen aus. Dass ich der erste Mensch war, der Lu-Au betrat, beeindruckte mich nicht sonderlich. Tausende von Explorationsrobotern hatten in den vergangenen zehn Wochen seine endlosen Wüsten durchwühlt, Millionen von Bodenproben analysiert und die Datenspeicher der MARQUIS DE LAPLACE mit Milliarden Terabyte an Information gefüllt. Ich verzichtete daher auf die üblichen albern-tiefsinnigen Sprüche und marschierte nach einem kurzen Blick auf das Navigationsarmband gleich in nördlicher Richtung los.
Wir trugen jeder 50 kg Ausrüstung, aber dank der Gravitationsdämpfer in den Rucksäcken ging es sich ganz angenehm. Vage Erinnerungen an terrestrische Expeditionen stiegen in mir auf, an den Mt. Vinson etwa, den ich nach dem Examen bestiegen hatte und wo wir ähnlich vermummt gewesen waren. Über flache Geröllhänge stiegen wir seitlich an, hoch über dem Talboden, dessen Sohle hier drei Kilometer tief eingeschnitten war. Aufgrund des dreidimensionalen Kartenbildes, das ich in meinen Helm projizieren konnte, wich ich nach zwei Stunden in ein Seitental aus, das nach Nordosten abzweigte und in einem Winkel von 30° von der Hauptschlucht abzweigte, die sich allmählich verengte und bald ungangbar sein würde. Der Canyon nahm einen immer stärkeren Fjord-Charakter an, die Wände wurden senkrecht, der Boden war trogförmig ausgehobelt. Ich nahm direkte Verbindung mit dem Mutterschiff auf, ließ mich in die Exo-Geologische Abteilung durchstellen und sie online auf meine Helmkamera gehen.
»Wenn das kein Zeichen von Vergletscherung ist, weiß ich nicht, was das Wort bedeutet. Bei der Beschaffenheit der hiesigen Mineralien und der ungefähren Geschwindigkeit der Erosion würde ich folgende Hypothese aufstellen. Vom Pol bis auf 80° Grad hinunter eine Kappe aus Eis und gefrorenem Kohlendioxid (eventuell Helium und Methan – wie sind hier die Wintertemperaturen?). Mindestens drei Kilometer mächtig, und am Rand in Talgletscher von zwei Kilometern Dicke und gut einhundert km Länge abfließend. Das ganze verschwindet vor zehntausend Jahren. Habt ihr das im Protokoll?«
»Logisch«, kam es aus dem Helm, »wie auch nicht? Wird eh alles mitgeplottet, was ihr da unten treibt. Und wo ist das ganze Zeug hin?«
»Jetzt bin ich keine sechs Stunden hier und soll schon letztgültige Erklärungen abgeben! Weiß ich doch nicht. Verdunstet vielleicht ...«
»Eine Polkappe, deren Aufbau hunderttausend Jahre gedauert und die mindestens zehn Millionen Jahre bestanden haben muss, verdampft in zehntausend milden Lenzen?«
»Keine Ahnung. Vielleicht hängt’s mit dem Asteroiden, diesem zerstäubten Planeten zusammen. Wie viel Sonnenstrahlung absorbiert der nochmal?«
»Zwei, drei Prozent – aber wenn, würde das ja für eine Abkühlung des Klimas sprechen ... Warte mal, Dr. Rogers hat noch was!«
Es knisterte in der Kommunikation, dann hörte ich die Stimme des 70jährigen Chef-Planetologen: »Wir haben Indizien für eine erhöhte Sonnenaktivität seit mehreren tausend Jahren. Unter Umständen ist der zerstörte Zwillingsplanet in den Hauptstern gestürzt und hat da irgendwas in den Fusionsprozessen verändert. Unsere Solaris-Drohnen prüfen das gerade, aber eventuell könnte das die Absorption mehr als kompensiert haben. Ich lasse den Computer gerade mal ein Modell entwerfen, wir können dann ...«
In einem dissonanten Kreischen, das von der Automatik sofort heruntergeregelt wurde, mir aber trotzdem eine Gänsehaut über den Rücken jagte, brach die Verbindung zusammen. Selbst das lokale System schien zu kämpfen, wie ich aus Jennifers verzerrtem Schrei schloss, der seltsam entfernt klang.
»Sieh doch! Nein, dort!«
Denn ich hatte mich instinktiv nach ihr umgedreht, wo ich aber nichts sah, außer ihrer chromglänzenden Gestalt mit dem schweren Tornister und den Sauerstoff-Batterien, die sich glitzernd von den opaken Felswänden abhoben, von denen das polare Blaugrün gewichen war und die ...
Da registrierte ich das verspiegelte Visier ihres Helmes, das in natriumglühenden Flammen stand.
»Hinter dir!«, keuchte es an meinen rechten Ohr. Gleichzeitig sprang über meinem linken Auge die grüne Leuchtdiode an, die Stresssymptome signalisiert. (Als ob man das nicht selber merkte – was sich diese Ingenieure immer so einfallen lassen!)
Ich warf mich herum und starrte auf die Horizontlinie, die sich einige Kilometer vor uns als tiefschwarze Silhouette von dem abhob, was eben noch der in ewiger Dämmerung liegende Himmel gewesen war. Jetzt brannte das ganze Firmament in rubinroten und malachitgrünen Schleiern, die einander ölig durchwallten und aus denen sich pulsende magentafarbene Explosionen lösten. Wie eine gigantische Brandung liefen kupfrige Wellen, die von einem Horizont zum anderen reichten, über uns hinweg. Vorhänge von Glut und Funken schäumten in allen Farben des Spektrums und schienen auf uns herabzuprasseln – für eine Mikrosekunde dachte ich an einen Vulkanausbruch und fühlte mich an den Kilauea versetzt –, aber es war nichts Stoffliches, und ehe ich noch rational reagieren konnte, hörte ich: »Ein Nordlicht.« Es war meine eigene Stimme.
»Digitales Relais aktivieren«, befahl ich der Funk-Automatik, und nach einigen Sekunden hörte ich, umgeleitet über die großen Antennen der ENTHYMESIS, wenn auch immer noch sehr schwach, wieder die MARQUIS DE LAPLACE.
»Seht ihr das?«, fragte ich scheinheilig im Ton eines Lotteriegewinners, der grinsend mit dem Scheck herumwedelt. »Wisst ihr jetzt, warum man die Polargebiete nicht überfliegen sollte?«
»Bingo«, keuchte Dr. Rogers. »Wir waren für einen Moment ein bisschen erschrocken und dachten schon, ihr wärt irgendwo eingebrochen oder so. Ist mir in fünfzig Jahren nicht vorgekommen, dass die Direktverbindung ausfällt. Aber dann kamen die Bilder von den Außenkameras. Kein schlechtes Feuerwerk. War jemand von euch mal in Kiruna?«
Logisch, wollte ich gerade sagen, während ich noch begeistert in das Schauspiel hinaufstaunte, aber da war schon Jennifers rauchiger Mezzo-Sopran in der Leitung.
»Könnt ihr eure Altherren-Gespräche vielleicht verschieben, auf nächste Woche am Bitumen-Kamin?! Ist das jetzt gefährlich für uns, oder können wir weitergehen?«
Wir hatten das große Kuppelzelt aufgestellt, unterhalb der Plateaukante, die uns diese Nacht noch vor den nördlichen Stürmen schützen sollte. Es war eine vollautomatische Station, die sich in wenigen Minuten selbst mit atembarer und klimatisierter Atmosphäre füllte, Mahlzeiten emulierte und alle äußeren Kommunikationen steuerte. Ich hatte noch die Verankerungen und die Nachführung der Parabolantennen überprüft und mich dann durch die Luftschleuse hineingezwängt. Es dauerte eine Weile, bis ich mich aus dem Anzug gequält hatte, und als ich mir dann das sensorielle Unterzeug zurechtzog, fiel mein Blick auf Jennifer, die am anderen Ende der zimmergroßen Kuppel, die von hellblauem Halogen-Licht erfüllt war, vor dem Mineralien-Sonar stand. Sie war nackt. Es war schwer zu sagen, wie alt sie war. Als wir uns kennengelernt hatten, war sie 27 gewesen, nur ein paar Jahre jünger als ich selbst. Unsere wechselvolle Beziehung zog sich inzwischen über mehrere Jahrzehnte hin. Einmal hatten wir uns zwölf Jahre nicht gesehen, in denen sie aber nur zwei, ich dagegen fünf Jahre gealtert war, weil wir sie auf interstellaren Flügen verbracht hatten. Nach Erdzeit waren wir beide über hundert. Erlebt hatte sie etwa vierzig »Jahre«, ich fünfzig. Aber sie hatte den Körper einer Dreißigjährigen. Mit schluckender Verzweiflung weidete ich mich am Anblick ihrer Rückseite.
Ein Glück, dachte ich in wilder Erregung, dass man uns schon vor drei Generationen die Schweißdrüsen weggezüchtet und auch sonst einiges an Allzumenschlich-Ekligem der verlängerten Evolution der kybernetischen Genetik hat anheimfallen lassen. Kaum auszudenken, eine solche mehrtägige Exkursion ohne hygienischen Systeme durchzuführen. Die bloße Vorstellung, wie irgendwelche prähistorische Polarforscher und Abenteurer des 19. oder 20. Jahrhunderts einander die Schweißfüße unter die Nase hielten ... und sich vor allem gegenseitig auf den Wecker gingen, denn man hatte ja weniger die anatomische als vor allem die physiologische und hormonelle Grundausstattung ein bisschen – nun – frisiert. Etwa das Adrenalin entschärft und auf einen reinen Botenstoff reduziert. Ein Neandertaler wäre bei dem Kommunikationsausfall vorhin womöglich durchgedreht! Also insgesamt war es schon von Vorteil, zumindest auf solchen Unternehmungen. eine Kanüle Testosteron konnte man ja immer in der Jackentasche ...
»Was guckst du denn so?«, holte sie mich in die Realität zurück und reckte mir ihren Pin-Up-Busen entgegen, den sie einem Stardesigner zu verdanken hatte. »Du brauchst dir gar keine Hoffnung machen, auch wenn mir natürlich klar ist, weshalb du mich zu dieser Unternehmung mitgenommen hast! Auf die Polhöhe spekuliert, wo totale Funkstille herrscht und nicht mal die digitalen Laser unbeschadet durch die Magnetstürme kommen! Lauschige Einsamkeit am Ende der Welt, was?«
»Hab ich irgendwas gesagt?«, gab ich naiv zurück. »Och Jennifer, es ist doch jetzt schon drei Jahre her – nach Sternzeit fast zehn. Kannst du mir niemals verzeihen, was ich damals auf Centauri IV getan habe? Ich hab doch alles längst gestanden und bereut.«
»Kümmer dich lieber ums Abendessen!«
Und sie beugte sich noch fies über den Magnesit-Scanner, dass ich tatsächlich die Kontrolle über meine Augen zu verlieren drohte.
»Ich will ja nur, dass wir dieses Gezänk einmal beilegen. Mehr wage ich einstweilen gar nicht zu hoffen. Natürlich habe ich dich deshalb mit für die Exkursion eingetragen – die uns nebenbei bemerkt in die Geschichte der interstellaren Expeditionen eingehen lassen wird –, damit wir einmal Ruhe für uns haben. Ab morgen sind wir drei, vier Tage auf uns gestellt und von denen da oben abgeschnitten. Und im übrigen hast du ja damit angefangen« – und ich ließ einen genuss- und vorwurfsvollen Blick über ihre märchenhafte Figur gleiten. »Was musst du so rumlaufen? Bin auch nur’n Mann aus Fleisch und Blut!«
»Das ist gerade die Strafe«, gab sie kühl zurück und wandte sich wieder ihren Instrumenten zu. Ich kümmerte mich einstweilen um das dehydrierte Chop Suey.
Nach dem Imbiss, den wir einander gegenüber sitzend auf dem Boden (die Möblierung war tatsächlich etwas primitiv) in kühlem Schweigen verzehrt hatten, warf ich vorsichtshalber doch einen Hormon-Dämpfer ein – zu animalisch tigerte mein wunder Blick immer wieder zwischen ihrer Hüfte und ihren wohlgeformten Fußgelenken hin und her (und das auch nur, weil ich mich nicht traute, weiter hoch zu gucken). Irgendwann schien sie ein Einsehen zu haben, oder sie bekam doch Bedenken angesichts meines blöden Stierens, und sie warf sich wenigstens das dünne sensorielle Unterzeug über, den man sonst unter dem Raumanzug trägt.
Also Schlussbesprechung. Ich projizierte ein dreidimensionales Hologramm in die Mitte der Kuppel, auf dem ich unseren Weg erläuterte. Noch knapp zehn Breitengrade, also bei der starken Abflachung der Polkappe über 3000 km. Das war natürlich in reinem Fußmarsch nicht zu leisten, aber wir konnten die Gravitationsexpander der Tornister als Antrieb benutzen. Wenn die Stürme und magnetischen Störungen nicht allzu sehr von den Kalkulationen abwichen, konnten wir in zwei Tagen am Pol sein.
»Und dann?«, fragte sie. »Könnte ich wenigstens ansatzweise erfahren, was wir dann da zu tun haben?«
Ich wollte fragen, was sie mir denn für diese Information zu bieten habe, ließ es aber – um mich selber nicht nervös zu machen – vorerst sein.
»Ist natürlich alles Top Secret, und außer dem Leiter der Exkursion braucht niemand was zu wissen. Aber als good-will-Geste kann ich dir soviel verraten. Wir gehen nicht zum geographischen, sondern zum magnetischen Pol, der etwas unterhalb, bei 88° Nord und ca. 25° Ost, vermutet wird. Genaue Messungen waren noch nicht möglich, wie auch alle Versuche, dort Sonden abzusetzen, gescheitert sind. Sie sind abgestürzt, oder wir haben den Kontakt verloren ...«
»Vielen Dank! Und wir spazieren da jetzt zu Fuß hin, ohne Verbindung zur MARQUIS DE LAPLACE, ohne zu wissen, was uns erwartet ...«
»Wenn wir das so genau wüssten, bräuchten wir ja nicht hin, dann hätten wir einen Droiden abgesetzt und fertig.«
»Ohne schweres Gerät, ohne Bewaffnung ...«
»Letztere brauchen wir schon überhaupt nicht, denn mit organischen Prozessen ist hier in keiner Weise zu rechnen ...«
»Wenn wir das so genau wüssten, bräuchten wir ja nicht hin«, äffte sie mich nach.
Aber ich sah schon die Neugier und Unternehmungslust in ihren Augen und wusste in diesem Moment. Ich hab’ sie wieder. Nach der Rückkehr von dieser Expedition würde ich meinen Sohn, den ich vor der letzten Reise in einem Anflug von Sentimentalität mit einer Gebärdroidin gezeugt hatte, im Altersheim auf Spitzbergen besuchen – ein palmenumstandenes Idyll – und ihm Jennifer als meine Frau vorstellen. Sie würde ihn adoptieren. Wir würden uns ein schönes Häuschen auf Nowaja Semlja kaufen ...
»Na jedenfalls. Einzelheiten vor Ort. Das einzige, um was es geht, ist Strahlung und magnetische Dissoziation. Deshalb haben wir auch nur optische Halbleiter dabei, du wirst in unserem gesamten Equipment keinen elektrischen Leiter finden. Wir werden ein paar Feldmessungen vornehmen und versuchen, auf Teufel komm raus eine Verbindung nach oben herzustellen, und dann pilgern wir zurück zur ENTHYMESIS, die uns heim zu Mami bringt.«
Das hatte jetzt doch noch sein müssen. Sie sprang auch sofort darauf an.
»Jetzt gib mal nicht so an. Ich habe auf Europa drei Jahre lang Bohrungen geleitet, wo uns die geotektonischen Gezeiten-Pressungen die Titankerne wie Wachskerzen verbogen haben. Meinst du, dein blauer Schotter hier nötigt mir Respekt ab? Wie lange schlafen wir?«
»Wie gehabt.«
Da wir gerade Nordsommer hatten, also Mitternachtssonne herrschte, waren wir von den Tageszeiten Lu-Aus (eine Rotation dauerte über 38 Stunden) unabhängig. Ich hatte also den Arbeitsrhythmus, der auf interstellaren Flügen üblich ist – zwanzig Stunden Dienst und dann fünf Stunden Ruhezeit –, auch für diese Unternehmung übernommen. Es hatte in der Mitte des letzten Jahrhunderts Versuche gegeben, der Menschheit das Schlafbedürfnis ganz abzugewöhnen. Die genetischen Eingriffe wären aber zu massiv und die psychosozialen Folgen unkalkulierbar gewesen, so dass man sich darauf beschränkte, die Schlafzeit auf ein Fünftel des Erdentages – der seit dem spektakulären Fehlstart der Erebus II auf 25 Stunden zugenommen hatte – zu beschränken und diesen Takt auch auf allen Schiffen beizubehalten.
Da die Automatik verständig genug war, unserer Unterhaltung zu folgen – und diskret genug, alle privaten Gespräche sofort herauszufiltern –, waren weitere Kommandos überflüssig, und wir zogen uns in die Schwebe-Kojen zurück. Die Halogenbögen wurden heruntergedimmt, und die Außenmembranen polarisierten das Restlicht, so dass es fast ganz dunkel wurde. Nur ein besonders heftig aufflackerndes Nordlicht warf bisweilen einen kupfrigen Reflex über unser Schweigen. Obwohl ich den Sensor an der linken Schläfe, der die vegetativen Funktionen überwachte, aktiviert hatte, lag ich noch lange da und lauschte auf Jennifers ruhige Atemzüge. Dann versank ich in Träume, die einem Hieronymus Bosch zur Ehre gereicht hätten. Pornographische Absurditäten, die einander immer noch überboten und die Grenzen dessen, was bei Bewusstsein als geschmackvoll gegolten hätte, längst hinter sich gelassen hatten. Fleischige Extravaganzen, die sich in einem quälenden Hunger immer noch weiter forcierten.
Als ich erwachte, hatte ich furchtbaren Durst, und meine Augen brannten. Ich musste im Schlaf meine Baumwollhülle aufgerissen haben, denn ich lag halbnackt inmitten meines zerwühlten Unterzeugs. Jennifer stand neben mir. Sie streichelte mir beruhigend mit der Linken über Bauch und Brust, während sie mich weiter stimulierte, dann schob sie sich über mich. Die Koje schwebte einen halben Meter frei über dem Boden, so dass sie die Beine rechts und links herunterhängen lassen und sich mit den Fußspitzen abfedern konnte. Wir liebten uns schweigend, während meine unersättlichen Hände die Schwellung ihrer Schenkel nachzeichnete. Sie hatte den Kopf zurückgelegt. Das rotblonde Haar fiel weich über die herrliche Brust herab. Wir wiegten uns dem Höhepunkt entgegen, als ein entsetzlicher Schrei die liebliche Anakreontik zerriss ...
Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass ich selbst es war, der dieses furchtbare Geheul ausstieß. Jennifer stand in voller Montur an der Schleuse. Die Wecksirene schrillte, die Halogen-Leuchten waren auf grellste Intensität geschaltet. Es war entsetzlich.
»Ich geh schon mal los«, sagte sie eben noch, dann verstaute sie den Dutt, den sie mit einem Netz aus Kunstseide zusammenband, unter dem Helm. Ich hörte ihre Stimme jetzt über die Lautsprecher der Automatik.
»Will gar nicht wissen, was du geträumt hast, aber ich würde mir mal einen neuen Hormondämpfer besorgen. Ich warte am Plateau, damit du mir zeigen kannst, wo’s langgeht!«
Dann war sie draußen.
»Scheiß auf’s Frühstück«, trieb ich mich selber an und warf mir eine dieser ekelhaften Energie-Pillen ein. Was hätte ich nicht für eine Schwall Wasser ins Gesicht gegeben! Ich fuhr in die Klamotten, befahl herrisch »Zusammenpacken!«, und turnte noch durch die Schleuse, als sich hinter mir schon die Kuppel zusammenfaltete. Ich gab einen mürrischen Lagebericht ab – ich hoffte, das Automatische Logbuch würde die Formulierungen ein bisschen glätten, ehe es die Nachricht an die MARQUIS DE LAPLACE überspielte –, und warf mir dann das Camp, das sich unterdessen zu einem 70-Pfund-Tornister vernietet hatte, über die Schultern. Auch wenn die 112 Jahre, die seit meiner Geburt auf der Erde vergangen waren, nicht 1 zu 1 in Betracht kamen, fühlte ich mich an Tagen wie diesem sehr alt.
Obwohl meine Trödelei nur wenige Minuten gedauert hatte, war Jennifer schon weit voraus. Sie hatte die Schwerkraftdämpfer ihres Anzugs auf höchste Stufe gestellt und schnellte in elastischen Sprüngen von jeweils zehn bis zwölf Metern über die Schotterhänge voran. Ich tat es ihr nach und versuchte den Rhythmus wiederzufinden, den ich bei dieser Fortbewegungsweise schon einmal ... Wo war das gewesen? Auf irgendeinem Uranus-Mond – überhaupt überfielen mich ständig Stimmungen und Erinnerungen, die mich in die Zeit zurückversetzten, die ich in der Umlaufbahn unseres siebten Planeten verbracht hatte. Das Licht, die Abgeschiedenheit, die Aura dunkelblauer Geheimnisse.
Die Kunst bestand darin, nicht wie ein Känguruh herumzuhüpfen, weil das auf längere Zeit viel mehr anstrengte, sondern in der Motorik eines normalen Dauerlaufs lediglich die Schrittweite zu erhöhen. Oben auf dem Plateau, wenn die Stürme unser Jogging nicht allzusehr beeinträchtigten, jagten wir später in Sätzen von fünfzig bis hundert Metern dahin.
»Mach langsam«, rief ich zu der Davoneilenden hinauf, »pass auf, dass du nicht ...«
Aber da war es schon geschehen. Sie hatte die Sprünge zu hoch genommen und war – was wollte sie mir beweisen? – in einem mächtigen Satz über den scharfgezackten Rand des Hochplateaus hinweggesegelt. Dort hatte sie der eisige Polarsturm erfasst, der von dem Kältehoch über dem Plateau heruntergepresst wurde und hier mit der Gewalt eines Wasserfalls über die Abbruchkante fegte. Einen Schritt unterhalb herrschte Windstille, allenfalls ein feiner Sog, doch im nächsten Augenblick ergriff einen der Jet-Stream. In den war sie nun nassforsch und gewichtslos hineingesprungen und wurde sofort etliche hundert Meter in die Luft und über mich hinweggerissen. Sie schrie nicht, aber ich hörte ihr explosionsartiges Keuchen in meinem Helm, als sie von der Wucht des Anpralls getroffen wurde.
»Die Dämpfer runterregeln, aber langsam!«, rief ich in die Automatik, denn ihr Anzug samt Gepäck wog weit über einen Zentner, so dass sie wie ein Stein heruntergefallen wäre, hätte sich die Dämpfung ganz ausgeschaltet.
»Ich hab das im Griff«, hörte ich, als sie in einem vielfachen salto mortale über mich hinwegraste. Dann aktivierte sie die Stabilisatoren. Ich sah, wie sie die Füße wieder nach unten bekam und langsam aus der Strömung heraussank. Bis sie auf dem Boden aufsetzte, war sie fast bis zu der Stelle, wo wir übernachtet hatten, abgetrieben worden. Ich wartete, bis sie wieder heraufgestapft kam und verkniff mir jede Häme. Dann setzten wir, mit hochgedrehten Trägheitskoeffizienten, den Anstieg fort.
Wir näherten uns – »gewitzigt«, würde es in alten Reiseberichten heißen – der Passhöhe. Zehn Schritte unterhalb blieb ich stehen, drehte die Stabilisatoren hoch, die Dämpfer runter, bis ich mit einem Gewicht von zwei Zentnern auf dem Boden stand, und aktivierte die Pneumatik, die in den Anzug eingezogen war und die Muskulatur unterstützte. Dann schob ich mich Meter um Meter heran. Ich spürte den Jet-Stream am Helm, und wäre dieser nicht von einem virtuellen Gyroskop stabilisiert worden, hätte es mir den Schädel heruntergerissen. So registrierte ich lediglich, dass mir ein enormer Orkan entgegenstand, der messerscharf den bodennahen, völlig ruhigen Luftschichten auflag. Ich ging weiter, und der Sturm erfasste meinen Oberkörper, meine Hüften, meine Beine – und meine Psyche, denn wilde Bilderfetzen wurden mit heraufgewirbelt. Das Kali Gandaki blitzte auf, wo ein ähnlicher, aber trockenheißer Wind getobt hatte, und plötzlich stand ich in der Glocknerscharte, am Übergang vom Klein- zum Groß-Glockner, und tastete mich millimeterweise über die fußbreite Kante, während rechts die Palavicini-Rinne eine Meile tief auf die Pasterze hinunterbrach und der Höhensturm an meiner Daunenjacke zerrte und das Seil in weitem Bogen nach Osten hinausbauschte ...
Mit einem Blick über die Schulter vergewisserte ich mich, dass Jennifer noch schräg hinter mir war, dann tat ich, mich instinktiv nach vorne stemmend, den letzten Schritt und stand auf dem polaren Hochplateau Lu-Aus. Ihre Hand war an meinem rechten Arm, und ich hörte ihre Stimme in der Automatik, unerwartet zärtlich.
»Phan-ta-stisch!«
Vor uns lag, unter dem violetten Licht einer fahlen Sonne, eine geröllbedeckte, blauschimmernde Hochebene von unermesslicher Ausdehnung. Grünliche und anthrazitfarbene Felsbrocken übersäten erstaunlich gleichmäßig den flachen Grund, der vor uns leicht abfiel, um dann, ohne weitere Gliederung des Geländes, bis zum Horizont zu reichen, der weiter und weniger gekrümmt war als auf der Erde und der ein Gebiet von tausenden Quadratkilometern umschloss. Der Blick verlor sich in einer Gesteinswüste von den Dimensionen eines Kontinents, allenfalls vergleichbar der Aussicht von einem Himalayagipfel in die Weiten Tibets hinaus. Das gesamte Plateau umfasste mehrere Millionen Quadratkilometer schweigendes, totes Land, von Ammoniak-Stürmen gepeitscht, immer 152 Erdjahre – so lange dauerte ein halber Umlauf von Lu-Au – im Permanganat-Glanz der fernen Sonne opalisierend, 152 Jahre im Frost kosmischer Finsternis, in der sich Reif aus Helium und Stickstoff bildete.
Das war einmal der Traum meiner Jugend gewesen, so eine unendliche Landschaft, in die man wochen- und monatelang hineingehen konnte, ein Leben lang nur wandern ...
Jetzt empfand ich vor allem Skepsis, was die Durchführbarkeit unserer Expedition anging. Jennifer hatte sich von meiner Seite gelöst – erst jetzt wurde mir bewusst, dass sie für einen Moment meine Hand gehalten hatte – und ging mit schweren Schritten los.
»Der Wind lässt nach«, hörte ich sie sagen. »Er hat nur unmittelbar an der Kante diese Kraft. Ich wette, in drei bis fünf Kilometern Entfernung bemerkt man ihn nicht mehr.«
»Will’s hoffen, sonst haben wir von vornherein keine Chance«, gab ich zurück und stakste langsam hinter ihr her. Anfangs war es etwas gewöhnungsbedürftig. Das sensorielle Gewebe des Anzugs erfasste Nerven-Impulse und Muskel-Aktivität und passte sich letzterer hautnah an. Die Pneumatik in den Beinmanschetten verlieh jedem Schritt die dreifache Kraft, so dass wir auch in voller Montur und bei reeller Schwerkraft normal gehen konnten. Aber eben nicht mehr. Ich trottete also los wie ein Trekkingtourist, der seinen ersten Fünftausender macht und jedes Gramm seiner Ausrüstung verflucht. Der Jet-Stream ließ aber tatsächlich bald nach, so dass ich sukzessive die Dämpfer hochfahren und die Schrittlänge steigern konnte. Jennifer war mit langgestreckten Sätzen schon wieder weit voraus.
»Warum haben wir keinen Scooter mitgenommen?«
Hatte sie das gefragt, oder hatte ich mir den Vorwurf nur eingebildet? Auch in Zeiten genetisch-psychischen Designs ist Über-Ich nicht kleinzukriegen und stellt ständig gerade das in den Raum, was man am wenigsten rechtfertigen kann.
»Weil es keine gibt, die ohne elektrische Halbleiter auskommen, und wenn dir die Kiste dann in ‘nem Magnet-Wirbel verreckt, stehst du erst recht dumm da.«
Hatte ich laut gesprochen oder nur innerlich monologisiert? Wie lange waren wir schon unterwegs? Welche Strecke hatten wir zurückgelegt? Ich bemerkte, wie Nervosität und Angst, das Gefühl des Ausgesetztseins sich in mir breit machten. Drehte ich allmählich durch? Ich verlangsamte meine Sprünge und sah mich um. 360°, soweit die Windrose reichte, nichts als flaches, aquamarinblau schimmerndes Geröll, topfeben. Irgendwo schräg hinten stand die Sonne, nicht viel heller als der Mond von der Erde aus, und die Scheibe war viel kleiner. Ein Stern der Größe I, aber nicht eigentlich ein Tag-Gestirn. Der Himmel, der in düsterem Kobaltblau, im Norden ins Violette spielend, dröhnte, war fast völlig klar. Nach vorne sah man ein paar Sterne. Die Konstellationen unterschieden sich nicht allzusehr von denen daheim. Die Milchstraße, so gut wie unverändert, zog sich als silbrige Brandung von feinem Perlmuttglanz flach über dem Horizont dahin.
Wo war Jennifer? Eine Orientierung aus eigener Kraft war kaum möglich. Ich schielte auf das Navigationsarmband und drehte mich wieder so, dass ich die Sonne im Rücken, meinen faden Schatten etwa auf 11 Uhr vor mir hatte. So musste ich sie sehen.
»Jennifer?«
Sie war offline gegangen. Vermutlich hatte sie mein Atmen in den Kopfhörern gestört. Ich bin eben nicht mehr der Jüngste! Es war völlig still im Helm. Bloß die Automatik, die alle fünf Sekunden die Verbindung prüfte, blinkte grün über meinem rechten Auge ... Sie tat es nicht! Hatte sie ...? Ich versuchte mir krampfhaft ins Bewusstsein zu rufen, ob und wie lange die Diode etwas angezeigt hatte. In diesem Moment sprang die rote Leuchtdiode an, die signalisiert, dass die lokale Leitung zusammengebrochen ist.
»Jennifer!«, rief ich sinnloserweise in die tote Automatik.
»Passive Verbindung offline«, nörgelte es an meinem rechten Ohr.
»Weiß ich«, schnauzte ich zurück. Verdammter Mist, und das nach so einer beschissenen Nacht!
»Verbindung wiederherstellen«, befahl ich, »Scan über alle Frequenzen. Wie sieht’s mit der ENTHYMESIS aus?« Aber auch da erfuhr ich nur, was ich schon wusste.
»Keine Verbindung zur ENTHYMESIS und via Relais zum Mutterschiff seit 82° 47’.« Das war der Übergang auf’s Hochplateau gewesen. Seither waren wir von allem abgeschnitten.
»Jennifer!«, schrie ich, und »Spar dir deine Kommentare!«, raunzte ich die Automatik an, die mich wieder über die Unsinnigkeit einer Ansprache bei toter Leitung informieren wollte. Irgendwo ging ein grünes Lämpchen an, aber es war das auf der linken Seite. Stress!
»Jetzt sei nicht gleich beleidigt«, ermahnte ich die virtuelle Intelligenz meines Raumhelmes. »Sieh lieber zu, dass wir online gehen! Was mach ich zum Stress-Abbau?«
»Reduktion des Nebennieren-Adrenalins durch körperliche Aktivität.«
Ich lief also langsam wieder los, in nördlicher Richtung wie zuvor. Das rote Licht flackerte und oszillierte, derweil die Automatik die Frequenzen rauf- und runterscannte.
»Schwaches Positions-Signal auf 98,4 Mhz«, kam es nach endlosen Sekunden, und obwohl ich nur noch zehn Prozent der Drüsenzellen eines Menschen des 20. Jahrhunderts hatte, war ich am ganzen Körper klatschnass geschwitzt.
»Leitungsaufbau auf 98,4«, befahl ich, »online gehen!«
Nach quälenden Augenblicken des Wartens, in denen die Anzeige trillerte und bebte und ich zum erstenmal seit der Piloten-Prüfung vor 74 Jahren meinen eigenen Pulsschlag hören konnte, sprang es vor mir auf grün um.
»Lokale Verbindung online. Schwaches Signal auf 98,4 Mhz. Position 352°. Richtstrahl aus einem Kilometer voraus und drei Meter Tiefe ...«
»Jennifer!«, brüllte ich und hörte das Summen, mit dem die Übersteuerung heruntergeregelt wurde. »Wo bist du?«
»Ich bin okay«, sang es aus meinem Helm, und mir taten die Backen weh, so sehr verzog sich mein Gesicht zu einer unwillkürlich grinsenden Grimasse.
»Bin bloß eingebrochen. Mach langsam und dreh deine Dämpfer hoch. Wir sind zu schwer. Der Untergrund ist porös und stellenweise hohl. So ‘ne Art Karst-Landschaft. Seismisch extrem instabil, wenn ich auch noch keine genauen Werte hab. Ich hab versucht, mich rauszukatapultieren, und bin beim Abstoßen nochmal ein Stockwerk runtergerasselt.«
Aber da war ich schon nahe genug heran, um es selbst zu sehen. Das Gelände fiel leicht ab und bildete eine Mulde von einigen Kilometern Durchmesser, die selbst wieder von Trichtern und schwarzschattigen Dolinen genarbt war. Aus einem solchen Einsturzkrater, einige hundert Schritt vor mir, kam eben eine silbergraue menschliche Gestalt herausgekrochen, die mir matt zuwinkte.
»Bleib, wo du bist«, hörte ich sie. »Es ist besser, glaube ich, wenn wir das umgehen. Hat die Konsistenz eines trockenen Schwammes. Auf einen Kubikmeter Fels kommen drei aus dunkelblauer Luft. Außerdem habe ich seismische Irregulari ...«
Plötzlich rannte sie, schlug einen Haken um einen lichtlosen Trichter, der an einen vulkanischen Nebenschlot erinnerte, und kam dann in gestrecktem Lauf auf mich zu. Staub stieg um sie auf. Mehrfach brach sie bis zu den Knien ein. Ich konnte über die Kopfhörer verfolgen, wie sie die Dämpfung regulierte und mit ihrer Automatik kämpfte, um sich gleichzeitig so leicht und so schnell wie möglich zu machen. Sie hatte ihr Gewicht fast ganz heruntergefahren und wollte sich eben abstoßen, um sich zu mir an den Rand der Kaldera – um etwas derartiges musste es sich handeln – heraufzukatapultieren. Aber der sandige Untergrund bot keinen Widerstand, sondern sackte unter ihren Füßen weg. Mineralische Fontänen stiegen auf, auch aus den Nachbarkratern erhoben sich Säulen von glitzerndem Staub. Dampf schien aufzuzischen. War es ein Geyser-Feld?
Jetzt schrie sie meinen Namen. Sie war bis zur Hüfte in einer Art Treibsand eingesunken, aus dem sie sich schwerfällig herauswühlte, aber da war ich schon unterwegs. Ich hatte mich flach abgestoßen und die Dämpfer auf volle Leistung gestellt, so dass ich schwerelos auf sie zuschwebte. Nur über die Trägheitssteuerung ließ ich mich ausgestreckt neben ihr nieder. Salven von feinkörnigem Gestein prasselten auf uns herunter, und ich konnte jetzt auch spüren, wie die Erde leise vibrierte. Ich erreichte ihren linken Arm, und indem ich ihre Automatik an meine ankoppelte und ihre Stabilisatoren ausschaltete, riss ich sie heraus und schleuderte sie über mich hinweg. Dann rappelte ich mich hoch und grätschte auf allen vieren zum festen Grund zurück. In diesem Augenblick geschah es.
»Unbekannte Aktivität«, hupte es in meinem Helm. »Achtung. unbekannte Aktivität! Phänomen unbekannt, Herkunft unbekannt.«
Wir lagen halb übereinander – ihr lang ausgestrecktes rechtes Bein ging über meine Brust hinweg. ohne die dämlichen Anzüge wäre es ganz appetitlich gewesen – am Rande des Kraters und robbten rückwärts auf dem Hosenboden davon, klammheimlich, schien es.
»Oh Mann!«, sagte sie. »Was ist das?!«
Eine der Dolinen, unweit der Stelle, an der sie zuerst eingebrochen war, fing an zu zittern. Risse zogen sich durch das Geröll und strahlten in die Umgebung ab. Der ganze Untergrund verwandelte sich in kochenden, bebenden Staub. Man wartete darauf, dass Chladny’sche Figuren entstanden. Irgendetwas rumorte unter der Oberfläche. Dann wölbte sich der Kies auf. Anstelle des Trichters bildete sich ein rasch wachsender Hügel aus tanzenden Fels-Splittern, der sich immer höher auftürmte, und auch in anderen Kratern vollzog sich, mit geringer zeitlicher Verzögerung, als schließe man sich allmählich dem Beispiel jenes ersten an, das gleiche Schauspiel. Der ganze Grund der Caldera brodelte.
»Seismische Aktivität. Richterskala SECHS. Herkunft unbekannt!«
Plötzlich zerbarst die Kuppe des ersten Gesteinshügels, der längst weit über unser Niveau hinausragte, und ein blauweißes, wurmförmiges, engerlinhaftes Wesen schob sich aus dem Kragen von Schutt und Geröll und reckte seinen stumpfen, an eine Blindschleiche erinnernden Schädel senkrecht in den staunenden Himmel.
»Unbekanntes Objekt!«, schrillte es wieder. »Konsistenz unbekannt!«
Auch aus den anderen Löchern, die mich plötzlich fatal an Schlangenlöcher erinnerten, kamen gleichgeartete, im fahlen Rosablau von Nabelschnüren glänzende Wülste heraus, die ebenfalls gerade nach oben stiegen, während Staub und Schotter von den glatten Flanken rieselten. Ja, ihre Leiber waren glatt, sie schienen feucht zu sein, fast schleimig. Nicht von Wasser versteht sich, das wäre längst gefroren, eher von ... ?
»Ich hab Angst«, kratzte es an meinem Ohr. »Was ist das?«
Doch als ich nach ihrem Arm fassen wollte, griff ich ins Leere. Ohne die Dinger da vor mir – das größte, das zweihundert Schritt vor uns »ausschlüpfte«, hatte inzwischen eine Höhe von gut fünfzig Schritt erreicht, und ein Ende schien nicht abzusehen – ohne das also länger als unbedingt nötig aus den Augen zu lassen, sah ich mich nach ihr um. Sie war weit hinter mir und ging langsam rückwärts. In ihrem Visier spiegelte sich ein weißliches Wesen, das jeden Dinosaurier an Größe übertraf und das seine Front ganz langsam herunter neigte, sich wie neugierig nach vorne beugte. Davor stand ein kleiner glitzernder Astronaut. Das war ich!
»Lauf!«, kreischte es an meinem Ohr. »Es kommt auf uns zu!«
In diesem Augenblick geriet ich in Panik. Kalter Schweiß brach mir aus, und vor meinen Augen rauschte das Blut.
»Weg! Weg! Weg!«, schrie jemand.
»Achtung Stress-Situation«, monierte die Automatik. »Adrenalin-Werte kritisch.«
»Sag mir lieber, wie’s da hinten aussieht. und was das ist!«, heulte ich ins Mikro und strampelte wie besessen. Denn ich war noch schwerelos und hatte mich unwillkürlich mehrere Meter hoch in die Luft gestoßen, wo ich jetzt zappelnd herumruderte.
»Stabilisieren! Dämpfung weg! Jennifer, was macht es jetzt?«
Ich krachte mit meinem ganzen Gewicht auf den Boden, von der eigenen Schwere gefesselt. Diese Computer sind doch zu dämlich.
»Es kriecht jetzt flach und kommt direkt auf dich zu!«
Das war Jennifer, aber warum klang sie so dünn? Hatte meine Automatik einen Knacks gekriegt? Ich versuchte aufzustehen, aber bei über drei Zentnern Masse und 1,6g war es praktisch ausgeschlossen, mich zu bewegen.
»Halloo!«, brüllte ich in meine Automatik. »Dämpfung – und Lagebericht! Sofort!«
Ich wälzte mich mühselig herum und sah nach hinten. In diesem Augenblick schob es seine »Schnauze« – von der anderthalbfachen Größe der ENTHYMESIS – träge über den Kraterrand und kroch glitschig und langsam auf mich zu. Man konnte nichts Genaueres erkennen, weder Augen oder Nüstern, noch sonst irgendwelche äußeren Konturen.
»Schockbedingter Ausfall im primären System«, meldete sich meine Elektronik. »Sekundärer Boot und Total-Check. Abgeschlossen in – sechzehn Sekunden, fünfzehn ...«
»Steh auf«, schrie jemand. Dann krachte es wieder, und die Dioden flackerten.
Plötzlich war ich ganz ruhig. Ich konnte definitiv nichts machen. Ich lag da, halb auf die Seite gestützt. Der Tornister lag bleiern unter mir, als wäre er am Boden festgenietet. Und so sah ich das seltsame Wesen an, das da gleichmäßig und gesichtslos heranglitt. Es hatte die fünfzig Schritt zwischen mir und dem Kraterrand so gut wie überwunden, und noch immer waren keine Sinnesorgane, keine Extremitäten, nicht einmal Schuppen oder eine muskuläre Bewegung auszumachen. Zehn, zwanzig Meter neben ihm tauchte ein zweites auf, das die andesitische Krone des Kraterrandes durchbrach und sich parallel heranschob. Das erste war auf meiner Höhe. Es wühlte sich durch den Schotter und wölbte eine regelrechte Bugwelle auf. Ein fünf Meter hoher Wulst, der, ohne Notiz von mir zu nehmen, ganz dicht an mir vorüberschob. Der Geröllwall, den es aufwarf, berührte meine Stiefel und verschüttete mein linkes Bein, aber es änderte seine Richtung nicht. Blind und unorganisch, wie ein ...
»Sekundär-Boot abgeschlossen. Lokales System online. Dämpfung auf 50% aktiviert.«
»Jetzt steh endlich auf, Mensch!«
Auch meine Süße war wieder da.
Ich erhob mich langsam, das Monstrum nicht aus den Augen lassend, und zog mich zurück. Ich starrte auf den mauerglatten Leib, der an mir vorüberglitt. Sowie ich stand, konnte ich auch wieder in den Krater hineinsehen, der inzwischen von mehreren hundert dieser »Schlangen« bevölkert war, die sich umeinander wanden und den ganzen Kessel mit ihren weißen Schlingungen erfüllten. Sie hatten – außer der »Spitze«, mit der sie den Boden durchstoßen hatten – weder einen Anfang noch ein Ende, weder Kopf noch Schwanz, doch einige waren – zerbrochen! Und plötzlich wusste ich Bescheid!
»Lagebericht! Wie ist die Konsistenz der unbekannten Objekte? Scannen auf Lufteinschlüsse und spezifische Dichte!«
»Was soll das?«, fragte Jennifer, hörbar an ihrer eigenen Unentschlossenheit leidend.
Aber als wolle es meine Hypothese selbst bestätigen, hatte das erste Wesen, das schon rund dreißig Meter an mir vorbeigekrochen war, mit einem Mal die Schnauze in den Grund gebohrt, wo es anscheinend feststeckte. Der nachdrängende Leib hob sich an und wölbte sich unter ungeheurer Spannung zu einem Bogen von zehn Metern Höhe an. Ich vergrößerte den Sicherheitsabstand. Dann barst der eingekrümmte Hals, und mannshohe Fetzen und Bruchstücke flogen davon. Der hintere Teil senkte sich langsam wieder auf den Boden und setzte seinen Weg fort. An die Stelle der runden Schnauze war ein splittriger Stumpf getreten, der unbeeindruckt an dem alten Kopfstück vorüberkroch. Dieses lag zu mehreren mächtigen Scherben zertrümmert da, von kristallischen Sprüngen durchädert. Tot. Es war Eis, lauter Eis.
»Konsistenzprüfung abgeschlossen. Es handelt sich um gefrorenes Ammoniak. Einschlüsse von anderen Stickstoffverbindungen, Helium und Methan. Hohe Viskosität. Elastizität etwa von – Fiberglas. Temperatur rund 100 Kelvin ...«
»Danke,das reicht. Ich weiß jetzt Bescheid.«
»Was ist das?«
Jennifer war wieder an meiner Seite. Ich ging an das größte Bruchstück heran, das erratisch im Boden steckte.
»Ein verwandtes Phänomen gibt’s bei uns auch. Etwa wenn feuchter Waldboden über Nacht gefriert, beim ersten Herbstfrost vielleicht. Dann wird das Eis, durch die Kapillarwirkung der Poren, herausgedrückt und bildet Fäden und schnürige Gespinste, die ohne weiteres armlang werden können.«
»Aber das funktioniert nur aufgrund der Anomalie des Wassers, das sich beim Gefrieren ausdehnt ...«
»Das ist richtig. Ich vermute, dass hier thermische Prozesse dazukommen. Irgendetwas muss den Druck erzeugen, der das Eis nach oben durch die Trichter presst.«
»Oder das Eis bildet sich erst in dem Moment. Unterirdisch funktioniert’s wie ein Geysir, und erst, wenn es mit der Atmosphäre in Berührung kommt, wird das Ammoniak abgeschreckt und schockgefroren. Das wär mir übrigens beinahe auch ...«
»Es muss ein selbstverstärkender Vorgang sein, der durch einen minimalen Auslöser angestoßen wird und sich dann selbsttätig fortsetzt.«
»Hm, damals in Florida hatten wir so’n Hobby. Immer nach Dienstschluss haben wir uns jeder ein Bier aus der Cafeteria geholt. aus dem Kühlschrank natürlich, wo es auf fast 0°C runterkühlt war. Wenn wir das dann am Strand aufknackten und es zu schäumen anfing, kühlte es sich durch den Druckverlust noch ein bisschen weiter ab, und das reichte gerade aus, um es gefrieren zu lassen. Klar, dann kam es als wulstiges Eis oben rausgequollen! Warum fällt mir das erst jetzt ein?«
»Also es gibt unterirdische Reservoirs an flüssigem Ammoniak, das unter hohem Druck steht, aber keinen Kontakt zur Atmosphäre hat. Wird dieser Kontakt hergestellt, weil jemand unbefugt auf dem Krater rumlatscht – also wenn das Ammoniak dann aufschäumt –, treibt es sich selber durch die Gänge und Poren des Gesteins nach oben und erstarrt gleichzeitig zu fünf bis acht Meter mächtigen und dreihundert Schritt langen ‚Schlangen’.«
»Und ich wäre fast gestorben vor Angst! Du hättest das sehen müssen, wie das Ding hinter dir über den Rand kam, riesengroß, und du dich nicht von der Stelle rühren konntest. Liebe Güte!«
»Naja, dass wir ein bisschen in Deckung gegangen sind, war schon nicht verkehrt. Ich möchte trotz allem nicht unter sowas liegen. Ob anorganisch oder nicht ...« –
Zu gerne hätte ich etwas zurückgelassen, eine Sonde, einen Droiden, wenigstens eine automatische Kamera, aber wir hatten nichts dabei, außer unserer eigenen Ausrüstung, die wir dringend benötigten – und umso dringender, je weiter wir jetzt vorstießen. Es blieb uns nichts übrig als weiterzumarschieren. Die Position der Erscheinung, die Bilder der Helmkameras, die Daten der Scanner und leider wohl auch die Protokolle unserer kurzfristigen Hysterie waren allesamt im lokalen Logbuch abgelegt – ich hoffte zumindest, dass der crashbedingte vorübergehende Ausfall meines Systems keinen allzugroßen Schaden angerichtet hatte. Wir wanderten weiter, wobei wir jetzt dichter beieinander blieben. Das war nicht nur eine Vorsichtsmaßnahme gegen vorzeitiges Verschüttgehen, sondern vor allem auch in der lokalen Kommunikation begründet, die immer labiler wurde. Mit jedem Grad, fast jeder Bogenminute, die wir nach Norden kamen, nahmen die atmosphärischen Störungen zu. Bald konnten wir uns nur noch verständigen, wenn wir auf mindestens dreißig Fuß aneinander herangingen, und wir hatten immer mehrere Frequenzen synchron geschaltet, weil fast laufend irgendeine ausfiel.
Das »Schlangen-Nest« übrigens – wie wir es ironisch tauften – hatte seine Aktivität eingestellt, noch während wir an seinem Rand vorübergingen. Die Temperatur- und Druck-Unterschiede zwischen der Unterwelt und der Atmosphäre hatten sich ausgeglichen. Der Scanner registrierte 157 Einzelstränge, und wir nahmen ein hochauflösendes Hologramm in den Recorder. Die Wülste und Bruchstücke lagen in leichigem Weiß übereinander und zerbröckelten so rasch, wie sie entstanden waren. Sublimation -. das Eis verdunstet ohne flüssiges Zwischenstadium.
Die Nordlichter nahmen an Häufigkeit und Intensität beständig zu, und sie waren auch nicht mehr auf den Himmel beschränkt, sondern schienen sich trichterförmig nach unten hin fortzusetzen. Dort war der Magnetische Pol, dessen Feld enorme Strahlungen freisetzte und dem wir uns an diesem Tag noch bis auf wenige hundert Kilometer näherten.
Wir waren seit achtzehn Stunden unterwegs, wie damals am Chimborazo, als ich halten ließ. Die Ebene war immer noch – oder wieder – völlig ereignislos. Der Wind war trotz der Stabilisatoren spürbar, aber er würde unserer Kuppel nichts anhaben können. Wir stellten das Zelt auf. Wieder ging Jennifer zuerst hinein, während ich aus antiquierten Pfadfinder-Instinkten noch einen Rundgang machte, die Verankerungen prüfte, das virtuelle Gyroskop durchcheckte. Dann sah ich über die Ebene. Es war ausgeschlossen, dass hier irgendjemand über Nacht vorbeikommen würde, abgesehen davon, dass es keine Nacht gab, sondern nur die ewige Dämmerung des polaren Sommers. Aber gerade das schien mir noch viel unheimlicher. Wären Wölfe oder Eisbären zu befürchten gewesen, dann hätte man es wenigstens mit etwas zu tun. Was uns hier umgab, war schlimmer, es war das eisige, dunkelblaue, schweigende Nichts. Wir befanden uns in einer Abgeschiedenheit, die in dieser Form noch kaum vorgekommen war. Die Abenteurer und Entdecker vor Marconis Erfindung – danach gab es existenzielle Einsamkeit nicht mehr – waren immerhin noch auf der Erde gewesen, und die Eroberer anderer Welten hatten praktisch immer Funkkontakt gehabt. Dass wir uns auf einem anderen Planeten und noch dazu in extrem hohen Breiten befanden, ohne Außenkontakt, über Tage hinweg, inmitten einer unermesslichen Wüste ...
Ich sah mich wieder, wie ich heute mittag durch die Luft gestrampelt und gleich darauf auf den Boden gekracht war, und der bloße »Was-wäre-wenn-Gedanke« – ein gebrochener Knöchel, ein Riss im Raumanzug, ein Ausfall der Automatik – ließ mich frösteln. Ich ging hinein.
Jennifer saß auf ihrer Koje. Sie hatte das Unterzeug freundlicherweise angelassen. Gerade betrachtete sie nachdenklich ihren linken großen Zeh. Sie hatte es fertiggebracht, sich Blasen zu laufen. Wie das in den sensoriellen Anzügen möglich ist, war mit zwar unerklärlich, aber es war nun nichts zu machen. Ich behandelte sie mit Dermital-Spray, verödete die größten Löcher – zu was so ein Hochenergie-Scanner nicht alles gut ist! –, und massierte dann lange ihre geschundenen Füße, deren mediterranes Braun sich aufs Allererotischste vom Baumwoll-Weiß unserer Anzüge abhob. Nach Abendessen und Lagebesprechung gingen wir gleich ins Bett, und immerhin hatte sie ihre Koje heute direkt neben meiner geparkt. Das sah ja schon fast nach Versöhnung aus. Zu was gemeinsame Abenteuer nicht immer gut sind! Wir lagen noch eine Weile im polarisierten Licht und plauderten nach dem Motto:
»Du ...«
»Mmm ...?«
»Wie du mich da heute rausgeholt hast ...«
»Mhm? ...«
»Das war sehr – souverän. Danke!«
Und dann fragte ich sie, ob sie Angst gehabt hätte, und sie meinte. »Klar!, aber viel größeren Schiss habe ich gehabt, als du an der Kante standest und das Ding hinter dir über den Kraterrand kam und seinen Dreißig-Metert-Hals langsam runterbeugte. Also, das hättest du echt sehen müssen!« Und dann fragte sie mich, ob ich denn keine Angst gehabt hätte. Naja, ich tastete mich mal langsam vor, aber als ich in der Luft rumgerudert hatte, war die Übertragung wohl schon ziemlich im Eimer gewesen, und sie hatte jedenfalls nicht gehört, wie ich geschrien hatte. Ich beschränkte mich also auf allgemeine Andeutungen, so nach dem Motto:
»Hab’ ich dir mal erzählt, wie ich auf Merkur war und mein Anzug gerissen ist, und draußen herrschten 270°C – und gleichzeitig natürlich extremer Unterdruck?«
»Und?«
»Das war schlimmer!«
Dann lagen wir wieder da und lauschten auf das feine Singen des virtuellen Kreisel-Kompasses, der die Deformationen, die der Sturm unserer schönen Jurte beibringen wollte, ausglich und abfederte.
»Du ...«
»Mmm?«
»Wie alt willst du werden?«
Denn das konnte man sich ja weitgehend aussuchen. Natürlich nicht auf den Tag genau. kaum das Jahr. Nur so grob eben, wie es der genetischen Disposition unterlag, ob man nun achtzig, neunzig – das war etwa die Regel – oder meinetwegen hundertzehn werden wollte. Es gab auch kühne Einzelkämpfer – oft sogenannte »Selbstversuche« im Regierungsauftrag –, die hatten sich auf »unsterblich« programmieren lassen. Die Ältesten von ihnen – mal überschlagen, so lange gab’s die Möglichkeit noch gar nicht – mussten jetzt rund dreihundert Lenze auf dem Buckel haben. Die meisten hatten aber bald die Schnauze voll – so nach hundertfünfzig Jahren wurde es anscheinend langweilig –, und ließen sich dann ganz gelassen wegspritzen. Natürlich lag es vor allem an den Eltern, wie die einen designt hatten. Postnatale Eingriffe waren schwierig. Und sie wurden um so schwieriger, je später sie durchgeführt wurden. Äußere Einflüsse kamen komplizierend dazu. Etwa bei uns Nordlandfahrern. Es gab immer noch keine genauen Untersuchungen darüber, wie Erd- und Raumjahre – die bei mir schon um mehr als Faktor 2 auseinanderklafften – gegeneinander zu verrechnen seien.
»Ich habe mich auf hundert Erdumläufe eintragen lassen, das ist ‘ne runde Sache und auch nicht übertrieben bescheiden. Schließlich ist man ja wer. Davon habe ich jetzt satt die Hälfte rum. Nach diesem Trip hier wird mein Zähler auf 54 stehen. Warum fragst du?«
Aber von drüben kam nur noch ein genießerisches Grunzen, und ich hörte, wie sie sich auf ihrer Koje herumwarf. Hatte sie sich erkundigen wollen, ob ich noch in Frage kam? Wie war wohl ihr genauer Kontostand? Dann wurde es ruhig. In dieser Nacht schlief ich sehr gut.
Wir waren am Pol. Seine Position bestimmte Jennifer auf 88° 17’ Nördlicher Breite und 27° 25-30’ Östlicher Länge. Eine genauere Eingrenzung schien nicht möglich, wie es sich überhaupt um kein punktförmiges Datum handelte. Vielmehr schien ein breitgestreutes Bündel von Strahlungen und Feldkräften hier die äußere Lithosphäre zu durchstoßen. Die Abschirmungen unserer Anzüge liefen auf höchster Energie. In einem konventionellen Raumanzug hätte ein Mensch zu leuchten angefangen, und auch so sprühte uns Elmsfeuer von Fingerspitzen und Antennen. Die Lokale Kommunikation arbeitete auf allen Frequenzen gleichzeitig. Trotzdem konnten wir uns nur in unmittelbarer Nähe miteinander verständigen. Wir mussten uns gewissermaßen durch die Helme hindurch in die Ohren schreien. Ein ständiges Summen und Knistern störte die Automatik und ließ sich nicht überdämpfen.
»Was machen wir hier?«, gellte sie durch den Krach. »Dagegen waren ja die Außenarbeiten auf Pluto noch gemütlich! Was ist das für ein gottverlassener Ort?! Will nicht wissen, was wir hier an Bequerel einfahren ...«
»Pass auf«, ging ich routiniert dazwischen. »Gib mir deinen Tornister!«
Sie schmiss mir ihren Rucksack vor die Füße, der, sowie er den Boden berührte, von einer Korona hellblauer Funken umflossen wurde. Der Sturm, der satte Orkanstärke haben musste, zerrte an den Trägern und Außenscannern, die nicht der Stabilisation unterlagen. Eben brannte eine zinnoberrote Wolke über uns ab, deren glosendes Licht wie Schrapnellfeuer zwischen uns herumflackerte. Vor meiner Stirn sprang eine dieser roten Dioden an.
»Exponentielle Energie-Ausbrüche. unmodulierte Schauer ionisierter Strahlung. Abschirmung auf 105%!«
»Das ist hier ‘ne gigantische Mikrowelle«, kommentierte sie schon wieder. »Wir werden lebendig gegrillt!«
Aber ich war jetzt ganz ruhig. Ich dachte an Blizzards und Monsun-Stürme, die ich so mitgemacht hatte, an das Biwak am Mt. McKinley, an die Notlandung auf Japetus und so weiter. Die Automatik hatte die volle Kontrolle über mein vegetatives System und regelte meinen Puls auf 55 herunter. Sämtliche Botenstoffe wurden unterdrückt. Ich war kalt wie ein Droid. Aus Jennifers Equipment – »Das wollte ich eh’ noch fragen: was ich da eigentlich seit drei Tagen so rumschleppe!?« – nahm ich ein handlanges Gerät. Auf einem kleinen ausfahrbaren Dreibein stellte ich es in das farblose Geröll, das gerade unter heftiger ultravioletter Strahlung phosphoreszierte, und richtete es aus, so gut es eben ging. Der nächste der etwa 300 stationären Satelliten, die wir in den vergangenen Wochen über den Orbit von Lu-Au verteilt hatten, musste bei 75°N / 30°O stehen. Den peilte ich jetzt auf’s Geratewohl an.
»Sagt mir der Herr Expeditionsleiter jetzt bitte, bitte, was das ist?«
»Ein Röntgen-Maser. Der stärkste, den es gibt. Wenn wir damit keine Relais-Verbindung kriegen, können wir gleich einpacken und nach Hause gehen. Und noch was: Ich würde nicht durch den Richtstrahl laufen. Der verdampft dich zu Positronen-Suppe, so schnell kannst du gar nicht gucken!«
Ich setzte das Maschinchen in Betrieb, und da die lokale Kommunikation selbst auf die paar Schritt zu kämpfen hatte, holte ich ein gutes altes Glasfaser-Kabel aus der Tasche – es war mir ja fast peinlich –, und stöpselte den Sender direkt in meine Automatik ein.
»Peilen!«, befahl ich dann und beobachtete, wie der Maser ein dünnes Strahlenbündel von einer Bogen-Sekunde Streuung in die Ionosphäre schickte. Ein kupfersulfatfarbenes Leuchten zeichnete das Linienspiel des an sich unsichtbaren Röntgenstrahls nach. Die Atmosphäre knisterte. Ein Kokon elektrischer Entladungen spann sich um den Maser herum. Wir gingen vorsichtshalber ein paar Schritte zurück. Das Kabel war ja lang genug.
»Und wenn du die Verbindung hast, quatschen wir mit Dr. Rogers über’s Wetter ...«
»Dann installieren wir einen Richtstrahl und bringen eine Sonde runter.«
»Aha!«
Es dauerte mehrere Minuten, bis der Kontakt zu einem stationären Satelliten aufgebaut war. Aber war ja schon fraglich gewesen, ob das überhaupt funktionieren konnte. Der Röntgen-Beamer justierte sich automatisch nach und fokussierte dann seinen Suchstrahl auf Hochenergie-Übertragung, die punktgenau auf das Auge des Satelliten, 40 000 Kilometer über uns, ausgerichtet war. Eine Sekunde später hatte ich die Geologische im Kopfhörer. Ich machte Meldung.
»Planetarische Exkursion I. Wir melden uns vom Magnetischen Nordpol von Lu-Au. Die exakte Position sowie das lokale Logbuch der letzten 75 Stunden müssten mittlerweile überspielt sein.«
»Haben alles im Kasten. 2750 Exo-Byte. Wie ist das Wetter da unten?«
»Ich fass es nicht!«
»Ganz nett. Wenn Sie online auf unsere Automatik gehen, können Sie sehen, dass unsere Abschirmung auf 107% läuft. Also richtig gemütlich. Ist die Sonde ausgekoppelt?«
»Liegt im Torpedo-Schacht. Wir hatten erst in fünf bis zehn Stunden mit euch gerechnet. Aber ich gebe sie jetzt sofort frei.«
»Wäre mir ganz recht. Weiß nicht, wie gesund das hier auf die Dauer ist, und wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«
»Eh klar. Das Baby geht in dieser Sekunde raus. Moment – jetzt!«
Vor mir im Helm erschien eines dieser dämlichen virtuellen Hologramme, von denen einem so schwindlig wird. Ich sah über eine der Außenkameras der MARQUIS DE LAPLACE das Große Drohnen-Deck, von dem auch Sonden, Explorationsroboter und der andere Kram gestartet wurde. Unter einer magnesiumfarbenen Stichflamme hob eine Fünfzehn-Tonnen-Lambda-Sonde ab und schwenkte – die Kamera fuhr brav mit – in Richtung auf Lu-Aus nördliche Hemisphäre ein, ganz so wie wir selbst vor gut drei Tagen. Ich unterdrückte die Einspielung.
»Danke, hätt’s auch so geglaubt.«
»Klar. Ich wollte nur noch mal die Übertragung testen. Scheint ja trotz allem ganz gut zu funktionieren.«
»Will ich meinen. Wie lange dauert das jetzt?«
»In 37 Minuten ist sie bei euch.«
»OK, dann melden wir uns wieder. Bis dahin over and out!«
Siebenunddreißig Minuten. Da wäre doch gerade Zeit genug für ...
»Oh, ich weiß genau, was du jetzt denkst!«
»Hab ich irgendwas gesagt?«
Aber leugnen war zwecklos. Wir kannten uns einfach schon zu lange.
»Ich glaub’, du tickst nicht richtig. An einem der strahlungsreichsten Orte außerhalb der Heliopause und er denkt nur an’s ... Aber pass auf. Ich würde tatsächlich ganz gern die Beine hochlegen. Wenn du dich zusammenreißt, können wir für eine Stunde das Iglu aufbauen. Du darfst mir sogar die Waden massieren. Irgendwie hat mich die ganze Lauferei ...«
Ich hatte schon den Tornister runter und. »Aufbauen!«, gerufen. Wir gingen mehrere hundert Meter vom Richtstrahl weg. Das sollte reichen. Die gesamte Steuerung lief über das Kabel, das ich mir jetzt aus dem Helm zog und außen in die Automatik unserer Kuppel steckte. Jennifer war schon wieder drin. Ich sah kurz nach oben, wo sich über dem südlichen Horizont eine silbrige Sternschnuppe näherte und in eleganter Sinuskurve auf uns zusteuerte. Dann ging auch ich hinein.
Sie sah böse aus. Ihre Beine waren bis zu den Knien hinauf voller dunkelbrauner Flecken. Irgendwo musste ihr sensorieller Anzug gestern, als sie eingebrochen war, einiges abgekriegt haben. Normalerweise war es ausgeschlossen, dass man auch nur die kleinsten Druckstellen bekam. Aber warum meldete das die Selbstregulierung ihrer Automatik nicht?
»Hast du Schmerzen?«
»Eher im Gegenteil. Ist alles ziemlich taub.«
Ich nahm ihren Anzug, der neben der Schleuse hing, und ließ ihn mit meinem eigenen online gehen, den ich noch anhatte.
»Protokoll der Selbstregulierung für die letzten 50 Stunden! Sämtliche Teilausfälle und Meldungen. Wurden Berichte unterdrückt?«
Da kam auch schon eine Übertragung aus der Medizinischen. Dr. Frankel, wie immer erst höflich »anklopfend«, ehe er auf dem Monitor des Mineralien-Scanners erschien.
»Darf man reinkommen? Ich sehe, ihr habt es euch ein bisschen gemütlich gemacht. Habt’s auch verdient. Ich darf euch im Rahmen der gesamten Abteilung gratulieren. Das war eine enorme Leistung! Allerdings – und das macht uns ein wenig Sorgen – scheint es nicht ohne Blessuren abgegangen zu sein. Vor allem wissen wir nicht, ob euch das selber schon klar ist. Euer Protokoll hat einige Auffälligkeiten. Wir haben euer lokales Logbuch grade mal gegengecheckt, und da sind uns ein paar kleinere Ausfälle angezeigt worden. Jennifer, versuch dich genau zu erinnern. Wie lange warst du in dem ‚Schlangennest’?«
Sie reckte sich von ihrer Koje, auf der sie sich ausgestreckt hatte, ein wenig hoch. Es dauerte eine Weile, bis sie sich besonnen hatte.
»Mein Gott – ein paar Sekunden. Alles in allem vielleicht ein, zwei Minuten. Ich bin eingesackt, so bis zu den Knien, und wie ich mich dann abstoßen und rausspringen wollte, hat’s nochmal nachgegeben, und ich bin etwa fünf Meter tief in den Hohlraum gefallen. Aber das müsste doch alles auf der Helmkamera ...«
»Eben nicht. Wir haben, wie auch bei dir, Frank, wenig später, mehrere kleine Ausfälle registriert. Die Automatik muss kurz zusammengebrochen sein. Vor allem ist aber das innere Protokoll nicht ganz synchron mit den äußeren Daten – Kamera, Scanner usw. – und mit dem Logbuch der CPU. Als Frank dich dann rausgeholt hat, ist er mit deiner Unit online gegangen. Kurz darauf hat seine eigene einen Warmstart machen müssen. In der Aufregung habt ihr anscheinend auch einige Meldungen unterdrückt. Uns fehlen mehrere Gigabyte im sensoriellen Bereich, insgesamt fast fünf Minuten. Ist es möglich, dass du in der Höhle eine Weile bewusstlos warst?«
»Ich – keine Ahnung. Ich war schon ein bisschen weggetreten, hatte erst keine Orientierung. Es dauerte ziemlich lange, bis der Helmscheinwerfer anging, das weiß ich noch. Ich dachte: Hoffentlich hat meine Triggerung nichts abgekriegt. Aber wie lange das ging ...?«
»Und so lange bist du gelegen? Hast du nichts gespürt?«
»Pfffh ... – ich war verschüttet, da kam ja zentnerweise Schutt mit runter. Und ich steckte anfangs ziemlich fest da drin. So etwa – bis hier ...«
Sie zog ihre weiße Baumwoll-Leggins hoch, bis über ihre schönen Knie, und markierte mit der flachen Hand die Linie, bis zu der die dunklen Flecken gingen.
»Also langer Rede kurzer Sinn«, schaltete ich mich ein. »Ihr sensorielles Gewebe ist im Eimer, und wir haben’s nicht gemerkt. Was ist das, was sie da hat. Erfrierungen oder Druckstellen? Sie sagt, sie hat kein Gefühl! Aber sie wird damit noch drei Tage laufen müssen ...«
In diesem Augenblick wurde unsere Aufmerksamkeit von der Sonde eingenommen, die gegenüber zur Landung ansetzte. Ich hörte noch Dr. Frankels »Wir rechnen das mal durch und melden uns dann, sowie ihr den Booster unten habt ...«, dann wurde das Getöse der abbremsenden Rakete schon bestialisch laut. Sie kam langsam die letzten fünfhundert Meter herunter. minutiös dirigiert vom Leitstrahl des Röntgen-Masers. Allerdings schien die Steuerung ganz schön zu kämpfen zu haben. Immer wieder zischten seitliche Explosionen auf, die von irgendwelchen Korrekturdüsen herrührten – und überhaupt gefiel mir der Rückstoß des Hauptantriebes nicht ...
»Rogers«, brüllte ich in die Automatik. »Planetarische, bitte kommen! Dr. Rogers, was ist das für ein Antrieb?«
Es dauerte qualvolle Sekunden, bis die Leitung stand. Der Maser wurde von der Sonde abgelenkt, und die Kommunikation musste über deren Relais laufen, das viel schwächer war. Außerdem wurden die Turbulenzen da draußen immer heftiger.
»Exponentielle Energie-Ausbrüche«, meckerten jetzt auch schon unsere elektronischen Penaten. »Achtung hochionisierte Energie. Lokale Abschirmung bei 207%. Wiederhole: lokale Abschirmung bei 207% ...«
Jennifer richtete sich wie in Trance auf und rollte ganz langsam ihre Hosenbeine hinunter. Die Male auf ihren Waden schienen im rubinroten Licht, das, manchmal in hektisches Grün umschlagend, durch die Polarisation brach, anzuschwellen und eitrig zu glühen.
»Dr. Rogers.« Ich bemühte mich, deutlich zu sprechen und nicht unnötig zu übersteuern. »Kommen, Dr. Rogers. Ist das eine Sonde mit Ionen-Antrieb?«
Kurz hatte ich eine flackrige Verbindung, die allerdings ständig von dunkelblauen Detonationen durchrauscht wurde.
»Aye-Aye Sir. – - – Ionen-Sonde – - – HeliumIII-Triebwerk – - – Photonen – - keine mehr ...« –
Dann war er wieder weg, und eine schwere Erschütterung brannte über uns ab.
»Automatik!«, befahl ich. »Polarisation öffnen! Jennifer. Zieh dich an!«
Langsam und wie widerstrebend wurde die Außenhülle unserer Kuppel durchsichtig, und ich sah, keine zweihundertfünfzig Meter schräg über uns, Fontänen von kupfrigen Explosionsdämpfen speiend, aus denen dichte Garben quecksilberner Funken regneten, die Sonde, die seitlich ausgebrochen war und sich eben majestätisch überschlug. Das Haupttriebwerk schien sämtliche Gaserscheinungen der Ionosphäre zu bündeln und in einem gleißenden Feuerstrahl direkt auf uns abzubrennen. Eine erneute Detonation zerriss das wütende Brüllen. Im gleichen Augenblick sackte der Boden unter uns weg, und das Geröll des Untergrundes trat scharfkantig durch die Titan-Folie.
»Abschirmung bei 237%. Belastungsgrenze«, röhrte es rot über Jennifer, die sich in ihren Anzug zappelte.
»Achtung. Zusammenbruch des Lokalen Systems. Externe Evakuierung in fünf Sekunden, vier ...«
Die Außenmembran war rußig angelaufen. Ich konnte erkennen, wie die Sonde in einem platinweißen Feuerball zerbarst, der gleich darauf von einem rostroten Rauchpilz eingeschluckt wurde. Der Boden bebte. Der Lärm war sowieso ohrenbetäubend. Ich packte Jennifer bei der Gurgel und rastete ihren Helm ein.
»Schnapp dir von den Geräten, was du tragen kannst. Zumindest den Scanner!«
Die Welt um uns herum war ein einziges Wühlen violetter Flammen. An der Kuppel zeigten sich brandige Blasen. Die Schleuse war längst zu schleimigem Getropfe verschmort.
»Anzüge auf volle Hermetik. Abschirmung maximale Leistung!«
»Zusammenbruch des Lokalen Systems. Externe Evakuierung ...« –
Dann zerschälte sich das wabige Dach über uns, dessen Mikrometer-Folie sofort von weißlichem Züngeln verascht wurde. Jennifer stand da wie ein Schulmädchen, die beiden großen Scanner wie einen Ranzen unter den Arm geklemmt.
»Stabilisatoren!«, schrie ich noch, dann warf es uns auf den Boden, der sich kochend wand.
Jennifer hockte auf ihrem Tornister, den sie irgendwie herausgebracht hatte und in dem die beiden Scanner und ein paar kleinere Geräte steckten, alles was wir vor der Explosion hatten retten können. Im Radius von fünfhundert Schritt war der Boden zu glasigem Obsidian zerschmolzen, mittendrin ein kreisrunder Fleck, der mich an das Zeltlager erinnerte – Ich war acht oder neun, und wir waren irgendwo in den Rockies, als unser Dreimann-Kuppelzelt Feuer gefangen hatte ... – Ich stocherte in den zusammengebackenen Aufbauten und Elementen herum, aber es war vollkommen ausgeschlossen, etwas davon auszubauen, geschweige denn zum Funktionieren zu bringen. Das Kabel, das schräg über den rauchenden Trichter lief und an dem die nackte Glasfaser herausgebrannt war, glühte noch und leitete mich zu der Stelle, an der der Maser gestanden hatte. Dort drehte sich ein zerfetztes Ende, von giftigen Dämpfen umwabert. Ich kehrte zu Jennifer zurück, die schweigend auf ihrer Aluminium-Kiste thronte. Das silbrige Weiß ihres Anzugs war von schwarzen, öligen Schlieren verschmiert. Immer noch konnte ich mir nicht vorstellen, wie wir die Explosion überlebt hatten.
»Wie fühlst du dich?«
»Prächtig ...«
»Im Ernst ...«
»Ich glaube, es ist besser, wenn wir nicht so viel darüber nachdenken.«
»Lass uns die Situation realistisch einschätzen!«
»Weißt du, was ich mir wünsche?«
»Mhm?«
»Mal wieder auf’s Klo zu gehen. Also, so richtig ...«
»Da wirsts du dich noch ’n paar Tage gedulden müssen ...« Bei derartigen Exkursionen wurde die Ausscheidung auf Null reduziert. Die Ernährung war ballaststofffrei, und die Verdauung wurde durch das sensorielle System entsprechend lahmgelegt – sofern es funktionierte.
Wir hatten unsere Anzüge durchgecheckt. Jennifers Beinmanschetten waren unterhalb der Knie ramponiert. Kälte-Isolierung und Haut-Beatmung waren defekt. Schlimmer aber war, dass unsere Schwerkraft-Dämpfer einiges abgekriegt hatten. Sie reichten aus, die höhere Gravitation auf Lu-Au auszugleichen. Wir konnten also ganz normal gehen, mehr nicht.
»Also auf!«, versuchte ich, Ferienstimmung zu verbreiten. »Gehen wir nach Hause. Auch ein Weg von tausend Kilometern beginnt mit dem ersten Schritt. Falls du weißt, von wem das ist.«
»Wir haben nicht tausend Kilometer, sondern über dreitausend. Außerdem kann ich für die Richtung nicht mehr garantieren.«
»Wir sind am Nordpol! Alle Wege führen nach Süden. Es reicht, wenn wir bis auf den 80. Breitengrad runterkommen. Dann sollen sie uns gefälligst rausholen. Und auf Rogers’ Erklärung bin ich jetzt schon gespannt.«
An diesem Tag schafften wir fünfzehn Kilometer, am nächsten fünfzig. Wir gönnten uns einen erhöhten Blutzucker und ein bisschen Adrenalin, so dass wir mit zwei Stunden Schlaf auskamen, den wir flach nebeneinanderliegend im aquamarinfarbenen Schotter absolvierten. Der Traubenzucker, der uns kontinuierlich ins Bauchfell injiziert wurde, und die Energie unserer Systeme reichten noch für Wochen, wenn nicht Monate. Und so latschten wir vor uns hin, durch dunkelblaues, manchmal grünliches Geröll, topfeben, unter einer fahlen Sonne, die in 38 Stunden einmal um uns herummarschierte.
»Bei meiner Notlandung auf Japetus hat es vierzig Tage gedauert, bis sie uns rausgeholt haben.«
»Da haben wir bei unserem momentanen Tempo grade mal die Hälfte ...«
Am nächsten Tag legten wir 45 Kilometer zurück. Naja, und so langsam fingen wir an zu rechnen. Am vierten Tag kamen wir an das Schlangenloch. d.h. es musste ein anderes sein. Allerdings wurde unsere Positionsbestimmung immer schwieriger. Mein Navigationsarmband hatte so ziemlich den Geist aufgegeben, und ich versuchte mich an den Gestirnen zu orientieren. Die Sonne ließ sich ja schön anpeilen, wenn wir auch aufpassen mussten, dass wir nicht einfach auf sie zutrotteten, dann wären wir in grandiosen Kreisen herumgetappt. Die Sterne waren zu schwach, als dass man ihnen hätte präzise Informationen abgewinnen können. Ich hatte auch von Horizonthöhe und Ekliptik keine Ahnung. Wie auch immer, selbst bei einer Toleranz von hundertfünfzig Kilometern konnte es nicht unser Schlangennest sein. Es verhielt sich auch ganz anders. Als wir uns dem Krater näherten, der fünfzehn Kilometer im Durchmesser hatte, entsprach die Aktivität derjenigen, die unser Loch beim Höhepunkt des Ausbruches gehabt hatte. Es konnte also auch ohne äußeren Auslöser losgehen! Vor allem aber ließ die Intensität nicht nach, sondern sie nahm immer noch zu. Auch hier quollen die ersten Eiswülste bereits über den Rand. Im Inneren der Caldera konnte man die einzelnen Stränge gar nicht mehr unterscheiden. Eine massive Gletscherkuppel wölbte sich dort auf und ergoss sich unter metallischem Kreischen – wir mussten die Außenmikrophone runterregeln – in die Ebene. Das waren nun tatsächlich Gletscher-Ströme und -Zungen, die über das flache Geröll hinausleckten und es zu Moränen und Trogtälern umwühlten. Ein gigantischer Eisbruch, der sich konzentrisch ausbreitete wie eine schwärende Wunde. Wir mussten allmählich aufpassen, dass wir nicht vom Weg abgebracht wurden, denn das Phänomen lag südwestlich vor uns. Wir joggten also tangential los!
Wir kamen bis auf einige Schritte heran. Die äußere Front war ein fünfzehn Meter hoher Wall, der den Schotter aufwarf und dahinter als massive Stirn von bläulichem Eis, von den eigenen Spannungen ständig zerrissen und wieder neu aufgetürmt, unaufhaltsam vorwärts rückte. Drei bis fünf Meter in der Minute. Wir liefen noch ein Stück über den Tangential-Punkt hinaus, bis wir uns trauten, stehen zu bleiben, ohne im nächsten Augenblick überrollt zu werden, da brüllte mir Jennifer, die einige Minuten voraus war – mir taten allmählich ganz schön die Knochen weh! –, in den Helm .
»Oh Mann, sieh mal da! Mehr nach Westen!«
Ich blieb kurz stehen und spähte schräg-rechts nach vorne. Und musste doch schlucken. Dort – es fiel uns immer noch schwer, die Entfernungen zu schätzen, aber es mussten gut dreißig Kilometer sein – war ein weiterer Eis-Ausbruch im Gange, der noch heftiger als der hinter uns schien. Die Gletscher-Front, die über die Ebene galoppierte, schien regelrecht zu gischten und zu stauben, mit solcher Wut preschte sie vorwärts. Sie würde uns – nachdem wir gerade einen Schlenker nach Westen gemacht hatten – ziemlich nach Osten abdrängen. – sofern wir überhaupt noch vorbeikamen, denn im Augenblick schob sie sich quer über unseren Weg.
»Frank!«
Was war denn jetzt schon wieder?
»Hinter dir!«
Aber ich sah schon selbst. Schräg hinter uns, in Westnordwest etwa, war ein drittes dieser Dinger ausgebrochen. Das war eine regelrechte Pest hier! Und seine Stirnmoräne prallte eben, keine achthundert Meter hinter uns, mit der ersten zusammen, der wir gerade ausgewichen waren. Die beiden Eis- und Geröll-Fronten verkeilten sich ineinander und bäumten sich auf, um dann, wie eine Brandungswoge, die sich reißend überschlägt, nach Süden hin umzukippen und mit verdoppelter Wucht und erderschütternder Gewalt auf uns loszutoben. Ich nahm die Beine in die Hand und rannte, wie ich seit dem Abschluß-Sportfest an der Akademie vor 78 Jahren nicht mehr gerannt war. Stechende Schmerzen zuckten durch mein rechtes Knie, und die Automatik faselte etwas von.
»Ausfall im Sensoriellen Bereich. Defekte Isolierung im rechten Knie und Unterschenkel.«
»Jennifer!«, schrie ich. »Wir haben keine Chance!«
Ich hörte sie japsen, sie rang nach Luft und Ideen – dabei war sie viele Jahrzehnte jünger als ich!
»Wir müssen oben drauf ...«
»Auf’s Eis?«
»Auf’s Eis! Hier unten werden wir platt gemacht.«
»Ich glaube, du spinnst!«
»Vertrau’ einem alten Bergsteiger. Ich bin in Alaska auf Gletschern rumgestiefelt, dagegen sind diese Dinger ein Scheiß !«
Aber wir hatten gar keine Zeit mehr für große Diskussionen. Hinter uns brodelte gischtgrünes Chaos heran. Ich winkte Jennifer weiter nach links, wo wir den Hauptstoß an uns vorüberrauschen ließen. Die südwestliche Front näherte sich vergleichsweise gemächlich.
»Dämpfer volle Leistung!«, befahl ich.
»Maximale Dämpfung 52% ...«
»In Ordnung. Und Stabilisatoren weg!«
Ich nahm Jennifer bei der Hand, wir sprangen auf das rieselnde Geröll der Stirnmoräne, in deren grundlosem Kies wir uns bis zur Krone hinaufwühlten. Direkt vor uns brach eine Eisscholle von sechs Metern Höhe ab, zerbarst zu scharfkantigen Splittern und wurde sofort untergepflügt. Dahinter tauchte eine poröse Rampe von blasigem, längst zermahlenem, fast schneeigem Gekoller auf. Es musste uns einfach tragen! Wir setzten hinüber und strauchelten den vibrierenden Hang hinauf. Es war, als liefen wir einem monströsen Untier direkt in den Rachen hinein. Dann waren wir auf der tanzenden und schlingernden Hochfläche, fünfzehn, zwanzig Meter über der Ebene. Eine weißgraue Landschaft von zerscherbtem Eis, bis zum Horizont, überall korkten mächtige Trümmer auf, die wie balzende Wale über die Fluten aus gefrorenem Ammoniak hinausbrachen und donnernd wieder eingeschluckt wurden. Spalten rissen auf, die im nächsten Moment zusammengesaugt und wie krachende Kiefer wieder geschlossen wurden. Es war ein Inferno aus verflüssigtem Kristall.
»Oh, mein Gott!«, hörte ich Jennifer.
»Wir dürfen nicht stehen bleiben«, rief ich ihr zu. »Versuch weiter hinaufzukommen. Da muss es ruhiger sein.«
Irgendwie gelang es uns, eine Insel, eine bewegungslose Fläche zu erreichen, auf der wir uns vorsichtig niederließen. Nur bisweilen spürte man noch eine leichte Dünung, ein elastisches Krängen, wenn ferne Erschütterungen durch das plastische, gleichermaßen spröde und viskose Eis hindurchliefen. Wir drehten die Stabilisatoren hoch und verstärkten die Abschirmung. Wenn wir nicht in einen Schrund hineinfielen, konnte uns vorerst nichts passieren.
Stehen bleiben und pumpen.
»Ich kann nicht mehr«, hörte ich ihren Atem an meinem Ohr. Ganz nah. Fast meinte ich, ihre Lippen zu spüren. Wie gerne hätte ich sie jetzt ... Ihr Keuchen klang komisch ... Weinte sie? Das fehlte gerade, dass jetzt einer von uns die Nerven verlor. Ich beschloss, gar nicht darauf einzugehen, denn ich fühlte, wie ich allmählich auch etwas labil wurde. Klammheimlich betätigte ich den kleinen Schalter am Halsansatz, der die hormonelle Abkühlung regelt. Verdammt aber auch! Das war eine verfahrene Situation, wie sie bis jetzt höchstens einmal ...
»In so ‘nem Schlamassel war ich bisher nur am Japetus. Da sind wir in unzugängliches Gelände abgestürzt, wo die Rettungsdrohnen nicht landen konnten. Am Schluß haben wir einen, dessen Anzug im Eimer war, sogar ...«
Warum kam ich da erst jetzt drauf? Dass aber auch die Automatik einen in solchen Fällen keinen Vorschlag machen konnte! Selbst die raffiniertesten Systeme virtueller Intelligenz waren und blieben rein reaktiv. Einfälle und »Ideen« musste man selber haben- oder man konnte krepieren. Seit vier Tagen quälten wir uns hier durch die Öde. Mir taten die Knochen weh, schlimmer als nach meiner ersten Westalpen-Tour, und wie Jennifers Beine aussahen, wollte ich gar nicht wissen. Aber auf den Gedanken kam ich erst jetzt!
»Automatik!« Ich mochte diese direkte Ansprache nicht, die fast ein Umratfragen war, aber es ging nun einmal nicht anders. »Lagebericht Abschirmung und Dämpfung! Energiereserven!«
»Abschirmung bei 100%. Dämpfung 49%. Energiereserven für 500 Stunden.«
»Ist es möglich, ein zweites System zu synchronisieren und virtuelle Abschirmung und Dämpfung zu simulieren?«
»Moment ...«
Aha! Immerhin kam nicht sofort die Absage. Auch irgendwie tröstlich, dass selbst ein Automatik-Anzug der III. Generation erst mal überlegen musste.
»Was hast du vor?«, erwachte sie neben mir aus ihrer Lethargie, aber ich konnte jetzt nicht gentleman-like sein.
»Jennylein, was wiegst du denn eigentlich?«
»Bitte?«
»Komm schon! Keine Zeit für Eitelkeiten.«
»Na ich, so-wie-ich-bin, vielleicht 55 kg. Aber mit dem ganzen Kladderadatsch ... Warum fragst du?«
»Synchronisierte Dämpfung möglich bei vollständiger Energie-Transmission des Sekundären Systems. Virtuelle Dämpfung 87%. Mögliche additive Abschirm-Masse 67 kg.«
»OK«, sagte ich zu Jennifer. »Schmeiß alles weg! Jetzt geht’s um jedes Kilopond. Hol die Scanner raus. Automatik. Primären Speicher komprimieren. Lagebericht verfügbare Kapazität!«
Es summte eine Weile, bis die Daten, die wir auf diesem Trip gesammelt hatten, gepackt waren. Alles, was wir vom Pol aus überspielt hatten, ließ ich löschen.
»Freie Kapazität. 12.357 Tera-Byte. Virtueller Speicher 50.428 ...«
»In Ordnung! Jennifer, überspiel alles, was wir in den Scannern haben, auf meine Automatik.«
Das dauerte ein paar Sekunden. Dann ließ sie ihre Lieblingsinstrumente auf das schattige Eis fallen. Ich kramte in ihrem Tornister rum, aber da war auch nichts Überlebensnotwendiges mehr drin, und warf ihn weg. Ich ließ meine Automatik mit der ihren synchron gehen und alle Funktionen für sie simulieren. Wir durften uns jetzt nicht mehr auseinanderbewegen,, mussten sozusagen Körperkontakt wahren.
»Dreh dich um!«
»Was machst du?«
»Frag nicht soviel!«
Aber da hatte ich schon ihr Rückenfach geöffnet. Ich zog den KERN heraus, das Herzstück ihrer Automatik. Das Ding wog zehn Kilo, hier also 16. Ich schmiss es in einen grünlichen Riss, der sich neben uns aufgetan hatte und in dem es zischend verschwand. Die ganze Zeit hielt ich sie am Arm. Wir durften jetzt keinen Fehler mehr machen. Aber als ich sie um mich herumziehen wollte, sträubte sie sich. Sie kam mit dem Helm ganz dicht vor meinen und befahl: »Visier-Polarisation synchronisieren!«
Dann sah ich zum ersten Mal seit vier Tagen, seit sie sich, in der Kuppel auf der Koje liegend, langsam aufgerichtet und mich staunend und fassungslos angestarrt hatte, ihre Augen. Sie waren verschattet und entzündet. Das herrliche Braun war stumpf und von roten Furchen umlagert. Aber es war ihr Blick, der Blick, den sie mir vor vielen Jahren, in unserer ersten Nacht geschenkt hatte, dunkel und verheißungsvoll. Und ich hörte ihre raue, ein wenig belegte, warme und tröstende Altstimme an meinem Ohr, als flüstere sie direkt an meiner grauen Schläfe.
»Wenn wir hier jemals wieder rausgekommen, wenn du mich hier rausbringst, dann, versprich mir, dass wir – zusammenbleiben ...«
Na, wenn das kein Grund war, sich ein bisschen in’s Zeug zu legen! Ich versprach ihr alles, was sie wollte, und noch einiges mehr. Ich glaube, in diesem Augenblick hätte ich sogar eingewilligt, mit dem Bergsteigen aufzuhören. Dann nahm ich sie Huckepack, wartete eine Weile, bis die Automatik die Feineinstellung unserer Systeme austariert hatte, und trabte langsam los. Anfangs ging es sogar ganz gut. Ich hatte mich auf einen größeren Gewaltakt eingestellt. Aber wir konnten jetzt praktisch keine Pause mehr machen. Wir hatten alles auf diese eine Karte gesetzt. Irgendwann befahl ich der Automatik, Jennifer einschlafen zu lassen. Über die Pneumatik ihres Anzugs war sie auf meinem Rücken festgeschnallt. Und dann lief ich schweigend vor mich hin. Stunde um Stunde. Ich verschwendete keinen Gedanken daran, dass immer noch rund 2900 km vor uns lagen, denn ich kam kaum schneller als in gewöhnlichem Jogging-Tempo vorwärts. Immer wieder tauchten Eisbarrieren auf, Gletscherbrüche und Spaltensysteme, über die ich mich schweißtriefend – da konnte man zehnmal kommandieren, die Transpiration zu unterdrücken – hinwegtastete. Gut, dass sie an meiner Schulter schlief wie ein kleines Kind und nicht sah, an welchen Abgründen ich entlanglavierte, ohne Seil, ohne Steigeisen und Pickel, und mich nur mit den dünnen Spikes der Explorationsstiefel an den Schollen aus erstarrtem Ammoniak festkrallte. Das sensorielle Gewebe an beiden Knien war durchgescheuert – auch ein Fall für die Garantie, aber das half jetzt wenig –, meine Hüftgelenke schienen völlig ausgeleiert, und meine Arme, die ich um Jennifers Schenkel verschränkt hielt, zur Gefühllosigkeit verkrampft, obwohl die Pneumatik den größeren Teil der Kräfte abfing. Allmählich, so nach zwanzig bis fünfundzwanzig Stunden – an Schlaf war jetzt natürlich nicht mehr zu denken –, merkte ich, wie ich in Trance verfiel. Ich trickste eine Weile mit der Automatik herum, ließ mir Adrenalin und Zucker reinjagen, was die Kanülen hergaben, und mich mit Musik beschallen. Das brachte den Kreislauf wieder etwas in Schwung. Die geistige Ermattung ließ sich nicht wegleugnen.
Und plötzlich waren wir am Eisrand. Wir waren unter dem 85. Breitengrad. Ich hatte eine Eiskappe von mehreren tausend Quadratkilometern durchquert, die innerhalb der letzten dreißig Stunden aus den einzelnen Schlangen-Löchern hervorgequollen war wie Schweiß, der aus Millionen von Poren bricht. Längst hatte ich auch das Gefühl für die Bewegung dieser Vergletscherung verloren, es schien aber, dass ich nicht unerheblich von der Eisdrift profitiert hatte, denn während ich oben nach Süden marschierte, hatte der Ammoniak-Panzer sich selbst um mindestens hundertsechzig Kilometer in dieser Richtung vorgeschoben. Inzwischen schien die Bewegung aber weitgehend zur Ruhe gekommen, denn als ich jetzt von einer siebzig Fuß hohen Klippe wieder auf die blaugrüne Geröllwüste Lu-Aus hinuntersah, konnte ich erkennen, dass sich die Moränenfront allenfalls noch mit Schritt-Tempo vorwärts schob. Ich rastete kurz und ließ Jennifer aufwachen. Wir saßen wie auf den Zinnen einer Burg, einem fahrbaren Wehrturm, der langsam über die Wüste ratterte. Ein paar Meter konnte man ja noch mitnehmen!
»Das Schlimmste haben wir hinter uns.« Warum flüsterte ich? Aber auch sie dämpfte die Stimme und hauchte frühlingshaft in die lokale Kommunikation: »Ich hätte nicht gedacht, dass wir das noch schaffen. Jetzt schlaf’ ich noch ein bisschen. Du machst das schon!«
Na gut, und obwohl mein Körper nur noch aus Schmerzen und mein Blut nur noch aus synthetischen Blockern bestand, kletterte ich eben über die Gletscherfront hinunter, betrat mit dem ermutigenden Gefühl, dass der Felsboden besseren Widerstand bot, die Gesteinsebene aus körnigem Aquamarin, peilte noch einmal kurz in der Landschaft herum – es war so gut wie ausgeschlossen, dass wir direkt auf die ENTHYMESIS treffen würden, aber bis zum Polarkreis waren es noch lumpige 800 Kilometer – und lief dann eben wieder los. Ich erinnerte mich an die langen Märsche in Tibet und wie ich von den dortigen Trägern und Pilgern die Gewohnheit übernommen hatte, monotone Mantras vor mich hinzumurmeln. Aus der Automatik ließ ich mir meditative Musik mit Klangschalen und Tempelglocken vorspielen, dann versenkte ich mich ganz in den Rhythmus meiner flachen Schritte – mit jedem legte ich jetzt immerhin 25 bis 30 Meter zurück, und die Gravitation ließ auch zum Rand der Polhöhe ein wenig nach – und sang mich dann in schlurfende Geistesabwesenheit. Om mani padme hum, Om mani padme hum ... –
Ich hatte alles Zeit- und Raumgefühl verloren und wusste nicht mehr, ob seit dem Eisrand zwei oder zwanzig Stunden vergangen waren. Die Automatik passte auf, dass ich ungefähr die Richtung hielt und nicht stur in die Sonne hineinrannte, die schweigend vor mir vorüberzog. Ab und zu leuchtete ein rotes oder blaues Signal auf, dann musste ich mich darauf konzentrieren, dass die Sonne jetzt auf 30° stand, auf 60°, auf 90° ... Manchmal schwankte der Boden, und aus den Schatten der größeren Felsbrocken schienen sich Gestalten zu lösen und auf mich zuzuspringen. Jennifer wachte auf und unterhielt sich mit mir, aber ihr Flüstern brachte mich aus dem Rhythmus, und indem sie mich aus meiner trotzigen Einsamkeit störte, wurde mir die unendliche Verzweiflung bewusst, in der ich mich dahinquälte. Irgendwann spürte ich, wie mir die Tränen in die ewige Bartlosigkeit hinunterliefen, und ich bat sie, wieder zu schweigen. Aus den Nordlichtern lösten sich bunte Funken und tanzten vor mir auf der taumelnden Ebene. Vorhänge und Schleier aus Purpur und Brokat schlossen sich mir an und begleiteten mich für eine kurze Strecke, dann schoben sich opake Barrieren dazwischen, die mir ein Bein stellen und mir den Sand unter den Füßen wegziehen wollten. Ich strauchelte über sie hinweg und schnauzte die Automatik an. Aber als ich den silberschlanken Scooter sah, der am Pistenrand hielt und aus dem zwei weiße, komisch aussehende Gnome herauspurzelten, fiel ich nicht mehr auf meine Halluzinationen herein, sondern trottete unbeeindruckt weiter. Sie mussten noch einmal einsteigen und uns hinterherfahren, und erst als sie mich in einem längeren Gespräch über die Automatik von ihrer Existenz überzeugt hatten, brachte ich die Kraft auf, stehenzubleiben.
»Und ihr habt immer noch keine Ahnung, welche Prozesse das Zeug an die Oberfläche pressen?«
»Offen gestanden nein. Vermutlich geotektonische Vorgänge, aber wir haben noch kein Modell, das in sich schlüssig wäre.«
»Was dann auch immer noch nichts beweisen würde. Immerhin müssen es Milliarden Kubikkilometer an Ammoniak sein ...«
»Naja, bis jetzt etwa 2,4 Milliarden. Aber die Mächtigkeit nimmt immer noch zu, das Volumen wächst erstaunlich konstant. Übrigens- warum habt ihr eigentlich die optische Kommunikation ausgeschaltet? Was macht ihr denn da. Ich dachte, auf so einem großen Schiff gibt es keine Geheimnisse?«
»Och. Manchmal will man eben trotzdem allein sein«, nuschelte ich noch und ließ die Automatik offline gehen. Jennifer drehte sich herum und schenkte uns nach. Das gedämpfte Licht, das sich in den Kelchen brach, zauberte Sterne und Milchstraßen auf ihren samtigen Bauch. Zwischen ihren jugendlichen Brüsten pulste ein dunkelrotes Nordlicht.
»Fand ich übrigens sehr – verwegen, dass wir den Sonderurlaub sofort genommen haben. Normalerweise wartet man, bis die Expedition abgeschlossen ist. Nicht, dass ich was dagegen hätte ...«
»Normalerweise schickt man auch keine Ionen-Raketen in strahlungsreiche Gebiete. Rogers konnte gar nicht ablehnen, als ich eingereicht habe. Sind auch nur lumpige fünf Tage ...«
»Bis jetzt fand ich’s ganz angenehm.«
»Allerdings«, fügte ich der Vollständigkeit halber noch hinzu. Ich ließ die Hand über ihr rechtes Bein gleiten, das lang ausgestreckt über meiner Brust lag. Sie hob das Knie leicht an, und ich küsste ihren schmalen, fleckenlosen Spann. Dann beugte ich mich herum und versenkte die durstigen Lippen zwischen ihren geöffneten Schenkeln.