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Opak

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»Okay, was ist es?«

»Wir wissen nicht sehr viel darüber.«

»Ich vermute, das ist der Grund, weshalb wir es uns ansehen sollen; also: Was ist es? Ein Asteroid?«

»Eigentlich wissen wir – überhaupt nichts …«

»Ihr geht doch davon aus, dass es existiert.«

»Es scheint da etwas zu sein.«

»Das bloße Dasein ist zweifelhaft?«

»Wir haben Daten, nach denen es sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit bewegt …«

»Oha! Bewegen tut es sich auch noch.«

»… und Ihr Befehl lautet, aus unmittelbarer Nähe die Beobachtungen durchzuführen, die aufgrund der Beschaffenheit des Objektes von hier aus oder aus dem Erdorbit nicht möglich sind.«

»Da ist dann wohl nichts zu machen.«

»Herzlichen Dank für Ihre konstruktive Mitarbeit, Carlssen.«

»Wie heißt es?«

»Es hat eine Routinenummer, die Sie dem Marschbefehl, der auf Ihr Logbuch überspielt wird, entnehmen können; intern nennen wir es: ›Opak‹.«

Als wir unseren Marschbefehl erhielten, den Oberst Tyrone uns im Auftrag der Zentralen Überwachungsstation auf Luna III übermittelte, befand sich die Leibniz in einem stationären Uranusorbit innerhalb der Umlaufbahn von Miranda. Das Schiff war erst wenige Wochen zuvor von Sirius II, dem entferntesten bemannten Außenposten jener Zeit, zurückgekehrt und wurde nach der interstellaren Reise überholt. Eigentlich hatten wir uns ein paar Tage Erholung verdient und freuten uns darauf, den während der Expedition gesammelten Sonderurlaub abzufeiern. Jedenfalls hofften wir, die Sache in einigen Wochen hinter uns zu bringen. Silesio, wie immer bemüht, die Not zur Tugend umzudefinieren, versuchte, uns das Unternehmen dadurch schmackhaft zu machen, dass er uns einredete, es würde bestimmt noch ein paar Sonderprämien an Freizeit geben und dann vielleicht für einen Abstecher zu den Vergnügungskuppeln von Luna reichen.

Es war 6:30 Uhr Bordzeit, als die Dorset von der Leibniz – in deren Großem Drohnendeck sie auf Werft gelegen hatte – abkoppelte und sich einige hundert Kilometer auf den nächtlichen Planeten zurückfallen ließ. Von der Schwerkraft des blauschwarzen Gasriesen dem Sonnenaufgang entgegengeschleudert, der in arktischer Lautlosigkeit vor den Panoramafenstern gefror, gaben wir viereinhalb Minuten vollen Schub aus dem Photonentriebwerk und beschleunigten mit Richtung auf das innere Sonnensystem. In einem weiteren Swing-by an Oberon erhöhten wir unsere Reisegeschwindigkeit auf knapp 1 ‰ c. Uranus sank in violette Unsichtbarkeit zurück und der Funkverkehr mit der Leibniz wurde abgehackter und gleichgültiger.

»Ich würde euch gerne mehr erzählen. Ich kann euch jedoch versichern, dass keine interne Informationssperre vorliegt, aber unser Wissen ist gegenwärtig außerordentlich gering. Ich bekomme stündliche Updates, die die vorliegenden Daten zu bestätigen scheinen. Substanziell breiter wird unsere Informationsbasis allerdings nicht.«

»Vollführ kein Geschwätz, sondern sag uns, was Sache ist und warum wir hier rumhängen, während die anderen wochenlang blau machen und im Mutterschiff unter der Höhensonne liegen?«

»Das ist kein Geschwätz, Gus, sondern eine Einleitung.«

Theresa erntete einen beleidigten Blick Evchen Groenewolds, die ihre blauen Augen schmatzend von Gus ablöste. Die Erste Offizierin zog das rechte Knie an, stützte ihr schönes Kinn darauf und sah wieder nach vorne.

»Mach weiter, Darling!«

»Vielen Dank. Das Objekt, das unsere Freunde, die Witzbolde von der Planetarischen, ›Das Opak‹ getauft haben, damit wir uns alle etwas darunter vorstellen können, wurde vor einigen Wochen gesichtet. Es befand sich damals auf Höhe der Saturnbahn. ›Gesichtet‹ ist natürlich nicht ganz richtig, wie der Name auszudrücken bemüht ist.«

»Opak heißt: nicht leuchtend.« Silesio kam einer erneuten Heftigkeit Gus’ gelassen zuvor. »Es scheint sich um ein lichtschwaches Objekt zu handeln, das weder eigene Helligkeit emittiert noch externe Strahlung reflektiert.«

»Genau genommen ist es nicht nur lichtschwach, sondern tatsächlich unsichtbar. Es ist bislang nicht gelungen, eine Aufnahme im optischen oder einem anderen Spektrum herzustellen. Auch einer zufällig vorbeifliegenden Drohne war es nicht möglich, das Opak zu fotografieren oder sonstige Informationen über seine Beschaffenheit zu gewinnen. Das war der Anlass, uns – mitten aus dem wohlverdienten Urlaub heraus, Gus, du hast recht, aber ich bin sicher, dass dir jeder Tag doppelt vergütet wird – zu aktivieren.«

»Und woher wissen wir dann überhaupt, dass es da ist?«

Der Bordingenieur spürte Groenewolds himmelnde Augen auf sich.

»Es verdeckt manchmal das Licht einzelner Sterne, vor denen es vorbeizieht. Das ist auch der Grund, weshalb es so spät geortet wurde. Für gewöhnlich werden Kometen oder Asteroiden weit jenseits der Neptunbahn erfasst. Nur die extrem ungünstigen Eigenschaften dieses Objekts ermöglichtem ihm, so weit unerkannt in unser System einzudringen.«

»Warum manchmal?« Silesio hatte den Bart in die Faust gestützt und sah den Commander aus hängenden Augen an. »Warum verdeckt es die Sterne nur manchmal?«

»Nach den ersten Einzelbeobachtungen wurde versucht, die singulären Daten miteinander zu verknüpfen und in einer Theorie zu vereinigen, das heißt, ein Objekt zu definieren, das für sämtliche Durchgänge verantwortlich sein könnte. Dies ist nicht gelungen. Die Vorhersagen, sowohl was die Größe, also das Feld der Abdeckungen, als auch was die Geschwindigkeit, also die Bewegung der Abdeckungen betrifft, ließen sich nur partiell verifizieren. Man entwarf Hilfshypothesen und ging zeitweise von mehreren Objekten aus, doch führte auch das nicht zu befriedigenden Ergebnissen, die die Vorhersagen und Messungen miteinander in Einklang hätten bringen können. Erst als man die einzelnen Daten statistisch miteinander verrechnete und ein virtuelles Durchschnittsobjekt auf einer hypothetischen Durchschnittsbahn erstellte, stimmte es. Einigermaßen.«

»Das heißt?« Gus reagierte lustlos auf Evchens stachelnde Miene.

Silesio nahm einen Zug an seinem Zigarillo und versuchte es an Stelle Carlssens, der erschöpft zu seiner Ersten Offizierin hinüberblinzelte.

»Wir haben es mit einem Objekt zu tun, das nicht der klassischen Physik nach Newton zuzuschreiben ist, sondern nur in einem quantentheoretischen Rahmen beschrieben werden kann. Wie wir die Elektronenwolke eines beliebigen Atoms nicht stationär, sondern nur als statistische Verteilung erfassen können oder wie ein Photon, das einen paradoxen Doppelcharakter als Welle und Teilchen besitzt, so scheint auch das Opak keinen gegebenen Aufenthaltsort zu haben, sondern nur über eine gewisse Wahrscheinlichkeit zu verfügen, wann es sich wo befinden wird.«

Er hatte sich direkt an Gus gewandt, dessen binärer Technikerverstand mit seinem grobklotzigen Entweder-oder ihn langweilte; jetzt richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen Commander.

»Wurde die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass es sich um ein Artefakt handelt?«

Carlssen, der einen Schluck von Theresas Kaffee genommen hatte, erhob sich von der Tischkante.

»Das ist eine von mehreren Möglichkeiten, wenn auch eine eher unwahrscheinliche. Jedenfalls unterliegt unser Auftrag den strengsten Sicherheitsvorschriften und der höchsten Geheimhaltungsstufe.«

Ein tiefblaues Schweigen des Commanders unterstrich den letzten Satz.

»Wenn keine Fragen mehr sind, komme ich zum äußeren Ablauf der Expedition.«

Gus warf sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die bulligen Arme vor der Brust, blieb aber stumm. Groenewold wandte sich enttäuscht ab.

»Wir befinden uns mittlerweile einige Millionen Kilometer innerhalb der Uranusbahn und haben unsere vorläufige Reisegeschwindigkeit erreicht. In sechs Wochen werden wir Saturn passieren und durch den Swing-by noch leicht, auf dann 1,13 ‰ c beschleunigen. Falls das Opak seine bisherige Richtung beibehält, die etwa der eines mittleren Kometen entspricht, werden wir es in neun bis zehn Wochen in Höhe der Jupiterbahn einholen und zu vermessen und zu beobachten beginnen. Ich schlage daher vor, wir legen uns einige Wochen aufs Ohr. Natürlich bleibt es jedem überlassen, wach zu bleiben und sich die Zeit selbst zu vertreiben. Ich weise allerdings darauf hin, dass die Dorset ein kleines Schiff ist, das nicht für derartige Reisen konstruiert wurde. Der Alterungskoeffizient wird, wenn jemand die ganze Zeit wach bleiben sollte, 0,95 betragen; im Tiefschlaf beträgt er aufgrund der reduzierten Körpertätigkeit 0,88. Also? Gus geht freiwillig, da brauche ich nicht zu fragen. Groenewold? Schläft. Theresa? Dich bräuchte ich zumindest für den Saturn-Swing-by. Wir werden bis dicht über die äußeren Ringe eindringen, das überlasse ich ungern komplett der Automatik. Außerdem solltest du das mal gesehen haben. Überleg dir also, ob du dich zwischendrin wecken lässt oder ob du dich erst nach dem Manöver für die restlichen fünf Wochen hinlegst.«

Silesio bekundete, er wolle die Zeit für seine Abhandlung über die Kontingenzproblematik nutzen. Daraufhin löste Carlssen die informelle Sitzung auf und verschwand ins Cockpit.

»Ein bisschen wie das Nirwana.« Silesio schob seinen Springer vor und kassierte einen von Carlssens Bauern.

»Wenn du so weitermachst, spielst du mich ins Nirwana.« Der Commander versuchte eine Verzweiflungstat, indem er seinen Läufer quer über das Feld nach vorne schoss, wurde aber von einem versteckten Turm seines Chefprogrammierers abgefangen.

»Das Nirwana ist ein Zustand, der nicht positiv definiert werden kann, sondern nur negativ.« Silesio verfolgte amüsiert ein Verlegenheitsmanöver Carlssens und setzte dann seine im Abseits geparkte Dame um ein Feld vor: Schach! »Man kann nicht sagen, was es ist, nur, was es nicht ist.«

Der Commander legte interessiert seinen König auf den schwarzen Bauch.

»So ähnlich scheint auch das Opak beschaffen.«

Der Systemtheoretiker und promovierte Philosoph sammelte die Figuren ein und bot mit schwammigen Blicken eine Revanche an; Carlssen lehnte dankend ab.

»Wir können es nicht sehen, wir können es nicht berechnen; lediglich indem wir abgrenzen, wo es überall nicht ist, können wir Hypothesen über einzelne äußere Eigenschaften aufstellen.«

Carlssen inhalierte den ersten Zug der Qat-Zigarette, die er hinterher gerne rauchte. Er erhob sich unbehaglich und ging zu den Panoramascheiben der Messe. Ein lichtstarker, hellblauer Stern erfüllte den Ausschnitt mit smaragdenem Leuchten. Saturn, der sich in den nächsten Tagen von einem Punkt zu einer umgürteten Sichel verwandeln würde.

»Lass uns warten, bis wir da sind. Bei der letzten Extratour dieser Art, als wir den Kometen Golden Dust 75/3 observierten, waren die Schirme auch leer. Wir mussten bis auf zehn Kilometer rangehen, ehe wir was sahen. Ein rußiger, deformierter Schneeball von lächerlichen Ausmaßen. Fast hätten wir deswegen das Embarquement der Leibniz verpasst.«

Silesio hatte das Schachspiel zusammengesteckt und in seinem Spind verstaut. Er trat neben den Kommandanten, der das Sternenmeer jenseits der gewölbten Scheiben anschwieg. Schräg hinter Saturn glomm ein rostroter Fleck, der unschwer als Jupiter zu erkennen war. Die Planeten standen nicht in Konjunktion, aber dicht genug beieinander, dass der Swing-by-Effekt den Umweg wettmachte.

»Die letzten Updates waren so weit …«

»Im Rahmen dessen, was wir seit drei Wochen gewohnt sind.«

Carlssen sprach durch Tentakel schiefrigen Rauchs.

»Man hat die Toleranzwerte erhöhen müssen und die Statistik von einem 5- auf einen 10-Tages-Koeffizienten umgestellt. Es bewegt sich sehr sprunghaft und scheint bisweilen eine gewisse Wegstrecke zurückzuschnellen. Inzwischen gibt es Parameter über die Abweichungen, die über die errechneten Abweichungen hinaus zu erwarten sind. Sie gelten natürlich nur näherungsweise. Auch die Spurbreite, wenn du so willst, ist variabel. Manchmal taucht es um mehrere Bogengrad seitlich versetzt auf. Die Einzeldaten ergeben ein ziemlich wildes Hakenschlagen.«

»Man könnte es auch als Oszillieren bezeichnen.«

»Es hat keinen Sinn, sich um Begriffe zu streiten …«

»Solange wir noch nicht begriffen haben, was es ist. Wolltest du das sagen?«

»So ungefähr. Die statistische Kurve jedenfalls, die den jeweiligen Kohärenzpunkt deines Oszilloskops seit dessen Entdeckung verfolgt …«

»Verläuft erstaunlich eben; gewiss.«

»Ganz genau! Wenn es den gegenwärtigen Kurs beibehält, wird es auf der Höhe der Jupiterbahn die Ekliptik schneiden und unter dem Asteroidengürtel hindurchtauchen. Zwischen Mars- und Erdbahn wird es herumkommen und die Ekliptik wieder durchstoßen.«

»Interessierst du dich für Börsenkurse?«

»Nein, weshalb?«

»Der aktuelle Parketthandel zittert elektrisch hin und her; aber die Durchschnittsnotierung der letzten 200 Tage beschreibt eine elegante asymptotische Bewegung, die selbst den totalen Crash sanft abfängt und als unbedeutenden Ausrutscher in den weichen Armen ihres mütterlichen Verständnisses zerdrückt.«

»Du meinst …«

»Wir können die Phänomene nicht von unseren Zugangsmethoden trennen. Wenn wir etwas mit mathematischen Funktionen beschreiben, können wir nichts anderes herausbekommen als Zahlennebel und statistische Ziffernwolken.«

»Wenn das Phänomen nun aber ein Nichtphänomen ist?«

»Eben ein Opak.«

Silesio verzog die schütteren Tränensäcke zu einem vielsagenden Feixen. In diesem Augenblick betrat Theresa die Messe. Sie kniff die entzündeten Augen zusammen und ließ sich in einen der gravimetrischen Drehsessel fallen. Carlssen bestellte ihr den abendlichen Cognac aus der Automatik, während Silesio sie mit möglichstem Charme darauf hinwies, dass es eine Sünde sei, ein so hübsches Gesicht durch derartige Überanstrengung zu entstellen.

»Noch eine Woche.« Die Erste Offizierin lauschte dem Abgang des Entspannungsdrinks nach. »Dann kann ich auch Alpha- und Beta-Shuttles fliegen. Aber das sag ich euch: Zehn Stunden täglich an den Simulatoren sind ein echter odd job.« Sie fuhr die Lehne in die Waagerechte zurück und schloss die geröteten Lider. »Aber es ist die einzige vernünftige Möglichkeit, die Zeit zu nutzen. Ich verstehe die beiden nicht, die rumnölen, ihrem Urlaub nachtrauern und nicht kapieren, dass das hier genauso gut sinnvolle Zeit sein kann.«

»Sie wollen die Zeit eben nicht nutzen, sondern lieber vertrödeln, sprich: totschlagen. Kennt jemand Joseph Brodsky? Russischer Autor des 20. Jahrhunderts. In seinem Theaterstück ›Marmor‹ geben zwei lebenslänglich Inhaftierte aufgrund einer Wette die Freiheit, die sie hätten erlangen können, für ein Röhrchen Schlaftabletten wieder her.«

»Sehr philosophisch.« Allmählich wich die Anstrengung von Theresas Zügen; nur ab und zu lief noch ein Zucken über ihr Gesicht oder verebbte eine reflexhafte Kontraktion in ihren Unterarmen. »Apropos, wo wart ihr gerade?«

»Ach, wir hatten einen Kursus in buddhistischer Logik, Wissenschaftstheorie und phänomenologischer Skepsis.«

»Also nichts Besonderes. Darling, hast du dir für heute Abend schon etwas überlegt?«

»Du hast abgenommen.«

»Diese virtuellen Kurse sind ein ziemlicher Stress.« Theresa strich ihre kupferfarbene Mähne nach vorne über die Stirn und drehte ihren verspannten Nacken heraus. Unter dem Druck von Carlssens Händen begann sie, wohlig zu grinsen. »Das Gehirn ist der größte Energieverbraucher. Was du in zwei, drei Stunden derartiger Konzentration verbrennst, könntest du mit reinem Muskeltraining am ganzen Tag nicht einholen.«

»Trotzdem solltest du dich nicht so verausgaben. Es ist höchst löblich, dass du die Flugphase nutzt und nicht wie Gus und Groenewold zwei Monate pennen gehst.«

»Noch ein paar Tage. Wenn ich das gesamte virtuelle Programm durchhabe, brauche ich nur ein paar Flugstunden unter Echtbedingungen, sowie wir wieder auf der Leibniz sind, dann habe ich den Schein für sämtliche Shuttles und Drohnen. Hast du Angst, dass ich dir deinen Rang als Commander der Dorset streitig mache?«

»Gewiss nicht. Es gibt genug andere Explorer, die sie dir unterstellen können. Und ich wäre der Letzte, der ein eigenes Kommando für dich nicht unterstützte. Aber für den Saturn-Swing-by hätte ich gerne eine ausgeschlafene Erste Offizierin. Du solltest spätestens zwei Tage vorher dein Training beenden oder unterbrechen, damit wir die Kontaktphase vorbereiten und die Vorfeldkorrekturen vornehmen können.«

»Aye, aye, Sir!«

»Das ist ein Befehl.«

Carlssen hatte die linke Hand auf Theresas Rückgrat gestützt und zog nun heftig an ihrem linken Arm, den sie rückwärts herumkugelte. Mehrmaliges lautes Knacken war aus dem Schulterbereich der Pilotin zu vernehmen, begleitet von wollüstigem Winseln. Nach der Beendigung der Massage drehte sie sich zwischen seinen Schenkeln um und zog ihn zu sich herab. Während er eine Spur silbriger Küsse von ihrer Brust zu ihrem entspannten Schlüsselbein legte, grübelte Carlssen darüber nach, wie sie es fertiggebracht hatte, die Automatik so zu programmieren, dass sie im richtigen Augenblick das Licht herunterdimmte. Und tatsächlich: Hinterher ging es leise wieder an, nahm aber nur bis zu einem schwach summenden Blau zu, das sich kühl über ihre salzige Erschöpfung legte.

»Worüber habt ihr gesprochen?«

»Über das Opak. Silesio hält unsere wissenschaftlichen Methoden nicht für angemessen. Wie wir an das Objekt herangehen sollen, hat er aber auch nicht verraten.«

»Er ist und bleibt ein skeptischer Fantast.«

»Eine kritische Intelligenz, die sich einige Vorbehalte gegenüber der offiziellen Selbstherrlichkeit erlaubt, kann nicht schaden. Dabei weiß er das Schlimmste gar nicht.«

»Das topsecret ist und nur den Commander was angeht. Aus purem Mitteilungsbedürfnis wirst du es mir trotzdem sagen und dich dann vor dem Militärgericht darauf rausreden, ich hätte dich verführt.«

»Als meine Stellvertreterin und Erste Offizierin darf ich dich ins Vertrauen ziehen, wann immer ich das für richtig halte.«

»Dann zieh mal los.«

»Die Geheimhaltung wurde durchbrochen. Vermutlich haben ein paar Hobbyastronomen das Objekt entdeckt oder irgendwelche Hacker haben unseren Funkverkehr geknackt. Jedenfalls wurden ein paar Leute von der Presse hellhörig. Die Anfragen, die an die Zentrale Überwachungsstelle auf Luna III ergingen, wurden auf stümperhafte Weise so betont harmlos abgefertigt, dass die Leute erst recht Verdacht schöpften. Als dann herauskam, dass ein Explorer der Dorset-Klasse unterwegs ist, war das Geschrei groß. Die offiziellen Kommuniqués, die abwiegeln wollten und verlautbarten, man wisse noch nicht genau, um was es sich bei dem Objekt handle, lösten eine weltweite Panik aus. Ich möchte nur mal wissen, wer da in der Öffentlichkeitsabteilung sitzt. Das nachgeschobene Harmlostun nach dem Motto, es sei die routinemäßige Untersuchung eines neu entdeckten Kometenkerns, vermochte niemanden mehr zu überzeugen. Jedenfalls stehen wir unter einem gewissen Erwartungs- und Erfolgsdruck. Alles, was wir herausfinden, wird von der Public-Relations-Stelle auf Luna – nun, sagen wir – aufbereitet werden; darüber hinaus legt man Wert darauf, dass wir möglichst bald etwas Verwendbares herausbekommen.«

Sechs Wochen nach dem Abkoppeln von der Leibniz gerieten wir ins Schwerefeld des Saturn. Der silberblaue Ringplanet füllte die Panoramascheiben am Bug der Dorset aus und wir genossen stundenlang den Anblick, den die weit gereisten alten Hasen Silesio und Carlssen als den schönsten unseres Sonnensystems bezeichneten. Da die Position des Opak weiterhin nur näherungsweise zu bestimmen war und sich seine Bahn entsprechend nur äußerst vage vorausberechnen ließ, wurden einige Kurskorrekturen nötig, die die Erste Offizierin unter der Aufsicht des Kommandanten manuell, innerhalb der vorgegebenen Entscheidungsfenster der Automatik durchführte. Die neu entworfene Kurve führte in einer weiten Hyperbel durch das Saturnsystem und nutzte eine zufällige Konstellation der Monde Titan und Hyperion zu einer dreifachen gekrümmten Flugbahn, die den Swing-by-Effekt noch verstärkte. Nachdem wir mit über einer Million Kilometer pro Stunde die beiden erzgrauen Trabanten passiert und dabei auf über 1,1 ‰ c beschleunigt hatten, steuerte Theresa das Schiff auf eine tangentiale Bahn, die die Ringe des mächtigen Planeten in ihren äußersten fadendünnen Ausläufern berührte. Commander Carlssen hatte alle Schotten schließen lassen und das Vorwarnsystem der Automatik auf höchste Sensibilität geschaltet. Die Schlafkammer, in der Gus und Evchen seit vier Wochen in künstlicher Bewusstlosigkeit lagen, wurde auf maximale Abschirmung gebracht und hydraulisch gegen die Vibrationen abgefedert. Die drei wachen Besatzungsmitglieder saßen angeschnallt im Cockpit, die Pneumatik der Sessel glich 98 % der Erschütterungen aus. Dennoch musste die Besatzung der Dorset heftige Schläge hinnehmen, als der Explorer von den Gezeitenkräften des Planeten erfasst und deformiert wurde. Das Titanskelett des Explorers heulte und schrie, als Theresa das Schiff »hart am Wind« steuerte, es schräg zu den Gravitationslinien Saturns stellte, die sie auf einer messerscharfen Tangente durchkreuzte. Bei einer Geschwindigkeit von eins Komma zwei Millionen Kilometer pro Stunde stöhnten die Spanten der Dorset jedes Mal auf, wenn die Offizierin eine der Korrekturdüsen betätigte, um die Flugbahn um Bruchteile einer Bogensekunde herumzudrücken. Doch selbst im ungelenkten Geradeausflug wand sich das hundertsechzig Meter lange Schiff im Widerstreit der wirkenden Kräfte, die es erbarmungslos an seinem Schwerpunkt packten und mit der Wut eines Diskuswerfers in den leeren Raum hinausschleuderten.

Zum Zeitpunkt der größten Annäherung an das Ringsystem war es totenstill im Cockpit. Hatten sich die Piloten zuvor gegenseitig auf einige besonders fantastische Perspektiven innerhalb der gewaltigen Staubbahnen aufmerksam gemacht oder einander auf die Anzeigen der Automatik hingewiesen, so knirschte nun nur noch angespannteste Konzentration, während die Scanner des vorderen Gerätefeldes mehrere Millionen Staubpartikel und Felsbrocken pro Sekunde erfassten, ihre relative Bewegung errechneten und auf gefährliche Annäherungen abtasteten. Zweimal musste Theresa, die mit leicht geöffnetem Mund und zitternden Schweißperlen auf der Stirn die Anzeigen überwachte, die Dichte des Vorbeifluges zurücknehmen und den Tangentialpunkt um mehrere tausend Kilometer nach außen verlegen. Einmal überlagerte die Automatik ihre Kommandos und in der aufblitzenden Gasfontäne einer vorderen Steuerdüse erkannten sie gerade noch einen faustgroßen Geröllbrocken, der als hingewischter Strich vorbeizuckte, ein versprengter Einzelgänger, der auf irregulärer Bahn durch die Peripherie der gleißenden Ringe zog. Eine Kollision hätte das Schiff zu Fetzen zermahlen. Doch auch der Automatik war es nicht möglich, allen Partikeln auszuweichen. Mehrmals schlugen winzige Staubteilchen von weniger als einem Milligramm Masse auf der äußeren Hülle der Dorset auf, wo sie verglühten und strontiumfarbene Kondensationsstreifen erzeugten. Jedes Mal hallte ein gischtendes Echo durch das dahinpeitschende Schiff.

Eine Stunde nach der Durchquerung des Tangentialpunktes sank das Risiko einer Kollision auf unter 1 %. Theresa ging auf Stand-by, übergab an die Automatik und sank mit fleischigen Blicken auf ihrem Sessel zusammen. Japetus drehte sich in großer Entfernung vorüber. Die Heckmonitore zeigten das Bild des davonschwindenden Saturns, ein fahles Lackblau irisierte auf den Ringen, die schon wieder wie kompakte Flächen aussahen.

Carlssen beugte sich über die Koje und küsste Theresa auf die bläulichen Lippen.

»Sehr gute Arbeit.« Er flüsterte zärtlich in das braunrote Nest ihres Haars.

»Ich werde dafür sorgen, dass du ein eigenes Kommando erhältst. Wie wäre es mit der Herschel?«

Theresa hob noch einmal den Arm aus der Koje, zog ihn zu sich herab und presste die Stirn an seine. Ihr Blick war schon ohne Bewusstsein.

»Gute Nacht.«

Carlssen schloss die Luke aus geädertem Fiberglas und wartete, bis die Erste Offizierin eingeschlafen war. Er prüfte die Instrumente. Der Puls wurde auf zwanzig Schläge, die Atmung auf fünf Züge pro Minute heruntergefahren. Die Körpertemperatur sank auf siebenundzwanzig Grad. Nach einer halben Stunde hatte sich die Muskulatur völlig entspannt, wurde aber elektronisch massiert, um Rückbildungen zu vermeiden. Die Gehirnströme verebbten zu traumlosem Tiefschlaf. Er vergewisserte sich, dass das richtige Weckdatum programmiert war, dann verließ er das Schlafdeck, das automatisch verriegelt wurde.

Auf der Brücke saß Silesio an seinem seitlichen Pult, das er für theoretische Arbeiten zu benutzen pflegte. Commander Carlssen trat hinter den Chefideologen und sah ihm über die Schulter zu, wie er ein Kapitel seines Textes über die Kontingenz redigierte, während er auf einem zweiten Monitor den Umbruch des Inhaltsverzeichnisses vornahm und auf einem dritten Zitate aus der Bordbibliothek nachschlug.

»Schon eine neue Arbeitshypothese?«

Er setzte sich auf Theresas Tastaturfeld, das von der Steuerung abgekoppelt war und auf Eingaben nicht reagierte. Die Dorset flog jetzt vollautomatisch. Die Scanner tasteten den Raum auf mögliche Objekte ab und im Fall einer drohenden Kollision würde der Autopilot die nötigen Ausweichmanöver veranlassen. Erst wenn diese zu irreversiblen Kursänderungen führen sollten, würde die Mannschaft aus dem Tiefschlaf geweckt. Das Logbuch wickelte den Funkverkehr mit der Leibniz, die inzwischen fast eine Lichtstunde entfernt war, und mit der Zentrale auf Luna ab, zu der die Signale mehr als zwei Stunden unterwegs waren.

»Ich habe noch eine Erklärung abgefasst; willst du sie durchsehen, bevor ich sie an die Propagandaabteilung überspiele?«

Silesio schloss seine Dateien. Zwei Monitore erloschen, auf dem dritten erschien die Pressemitteilung, die auf intelligente Art in schlichten Worten, die auf den durchschnittlichen Zeitungsleser berechnet waren, die bisherigen Beobachtungen unter optimistischen Prämissen zusammenfasste und die Mission der Dorset erläuterte. Das Opak wurde lediglich als extrem lichtschwaches Objekt angesprochen, die Kapriolen seiner oszillierenden Bahn wurden verschwiegen. Die Möglichkeit, dass es sich um ein Artefakt handeln könnte, wurde hingegen gar nicht erst angesprochen, um der schwelenden UFO-Panik jegliche Nahrung für hysterische Spekulationen zu entziehen. Carlssen sah das trockene Schriftstück durch und tippte dann sein Passwort unter die Sendegenehmigung. Eine Millisekunde später waren die paar Kilobyte verschlüsselt und übermittelt.

»Und du willst wirklich wach bleiben?«

Er hatte sich wieder erhoben und sah aus der Frontscheibe. Jupiter, dem sie sich jeden Tag um dreißig Millionen Kilometer näherten, war nach wie vor ein rostroter Punkt.

»Ich wüsste nicht, wo ich bessere Arbeitsbedingungen hätte. Vier Wochen lang völlig ungestört, zudem noch die gesamten elektronischen Kapazitäten der Dorset zu meiner alleinigen Verfügung. Außerdem sind die Übertragungswerte allmählich so, dass sich der Zugriff auf die terrestrischen Bibliotheken wieder zu lohnen anfängt.« Er ließ beiläufig ein Verzeichnis über den Schirm scrollen, das die philosophischen Enzyklopädien anzeigte, die gerade für ihn von den zentralen Speichern auf Luna III geladen wurden.

»Ich habe das einmal gemacht.« Carlssen wandte den Blick nicht von dem stoffleeren Panorama, dem sein Schiff lautlos entgegenstürzte. »Auf der Leibniz bin ich nach der Startphase noch wach geblieben. Ich habe gelesen und Musik gehört, Briefe nach Hause geschrieben, von denen ich wusste, dass sie erst nach Jahren beantwortet werden würden; ich bin durch die kilometerlangen menschenleeren Gänge gewandert und habe zugesehen, wie die automatischen Schirme die Wände mit den Reflexen ihrer selbstgenügsamen Protokolle bewarfen. Irgendwann war ich so ausgehöhlt von Einsamkeit und Verlassenheit, dass ich es nicht mehr aushielt. Da hab ich mich lieber in die Koje gepackt.«

»Die Einsamkeit ist eine große Macht.« Silesio bestätigte den Bootbefehl für ein begriffsgeschichtliches Kompendium, das daraufhin in einen seiner persönlichen Kataloge kopiert wurde. Dann schaltet er den Monitor ab. »Vor allem hier draußen, wo es wenig sinnliche Anhaltspunkte gibt. Der menschliche Geist erträgt das nicht lange. Dabei bewegen wir uns innerhalb eines exakten Koordinatennetzes. Wir wissen genau, wohin wir fliegen. Ich frage mich ja immer noch, wie Magellan die hunderttägige Pazifikdurchquerung, bei der er ins völlige Nichts hinaussegelte, überstanden hat, ohne wahnsinnig zu werden.«

»Der Christ hat immer noch seinen Gott, der hinter ihm steht.« Carlssen wischte ein gestisches »Oder so ähnlich« mit der Linken über die flüstergrünen Anzeigen.

»Nietzsche, gewiss.«

Carlssen fragte sich, warum Silesio sich die ganzen Bibliografien und Lexika herunterspulte, da er doch selbst ein wandelndes Nachschlagewerk war.

»Als junger Mann war ich viel in den Bergen unterwegs, und das vorzusgweise allein. Die Zentralalpen oder der Hohe Kaukasus waren dabei die pathetische Kulisse meiner Grübeleien und ich berauschte mich an meiner zarathustrischen Einsamkeit. In den Semesterferien und zu Beginn meiner Laufbahn als Systemprogrammierer in der Abteilung für Künstliche Intelligenz bei Corporated Challenges machte ich mich frei, sowie es irgend ging, und fuhr in die Berge, um mir die Gedanken von der Seele zu laufen und hunderte und tausende von Stunden meines elektronischen Diktafons zu besprechen. Ich habe bis heute, obwohl das nach Erdzeit über achtzig Jahre her ist, nicht alle Aufzeichnungen transkribiert, geschweige alle Ideen und Projekte ausgeführt. Als ich Abteilungsleiter für KI wurde, war es damit so ziemlich vorbei, und wenn mir mal ein halber Sonntagnachmittag zur Verfügung stand und ich einen Spaziergang rund um das Firmengelände machte, träumte ich davon, wie Cervantes eingesperrt zu werden und jahrelang nur meinen literarischen und philosophischen Visionen leben zu können. Jetzt bin ich nach relativer Lebenszeit fast siebzig und ich gedenke, jede Möglichkeit, die sich bietet, zu erfassen und in otium cum dignitate zu verbringen.«

»Ich brauche also kein schlechtes Gewissen haben, wenn ich mich für drei Wochen aufs Ohr lege? Wenn du es möchtest, kann ich dir aber auch Gesellschaft leisten.«

»Ich weiß, dass es unhöflich ist, aber nichts ist mir im Leben zu entbehren leichter gefallen als Gesellschaft. Auch wenn es so – erträgliche ist wie Ihre, Commander Carlssen.«

»Dann übergebe ich Ihnen hiermit das Kommando über den Explorer Dorset.«

»Gute Nacht! ›Träumen Sie schön‹, kann man ja nicht sagen, so bleiern wie man in den Tiefschlafkojen liegt.«

»In der Erprobungsphase haben eine Reihe von Testpersonen schwere psychische Schäden davongetragen, als sie mehrere Monate am Stück träumten, ohne dazwischen zu Bewusstsein zu kommen. Unsere neuronale Struktur ist darauf nicht vorbereitet. Sie waren völlig orientierungslos und brauchten langwierige Rehabilitationsverfahren, um wieder zu sich zu kommen. Ein Testschläfer, der über ein Jahr in der Box gelegen hatte, war unheilbar und zeigte an Autismus erinnernde Symptome. Daher das viele Blei.«

»Dann also: Guten Tiefschlaf.«

Silesio blendete den Monitor aus, auf dem er den Einschlafvorgang des Commanders verfolgt hatte. Die sensorielle Koje arbeitete einwandfrei und er übergab die Kontrolle der lebenserhaltenden Systeme an die Automatik. Er meldete sich ab und ließ alle Routinen unterhalb Priorität I unterdrücken. Er würde nur gestört werden, wenn ein Besatzungsmitglied in Lebensgefahr wäre, wenn ein Objekt sich auf Kollisionkurs näherte oder wenn eine Nachricht des Status topsecret übermittelt würde.

Er aktivierte seine aktuelle Datei, die mit der Freisprech-Software verknüpft war, und stand langsam auf. Immer noch formulierte er am liebsten, indem er die Hände hinter dem Rücken verschränkte und langsam auf und ab ging. Er hatte die Sessel der schlafenden Crewmitglieder versenken und das Licht im Cockpit herunterdimmen lassen. Aus der blau tickenden Dunkelheit heraus sah er durch die Frontscheibe. Obwohl sich das Schiff mit einer Geschwindigkeit bewegte, die unvorstellbar war, wenn man sie in Relation zu einem festen körperlichen Objekt setzte, war der Sternenhintergrund des Panoramafensters vollkommen unveränderlich. Es würde noch Wochen dauern, bis Jupiter aus einem unentschlossenen Punkt zu einem Klecks herangewachsen war. Er versuchte in einer meditativen Anstrengung, sich die Dimensionen des leeren Raumes, den sie innerhalb des Sonnensystems durchmaßen, vorzustellen. Er entwarf Skizzen und Planzeichnungen mit den Bahnen der äußeren Planeten und projizierte vor seinem geistigen Auge die elegante Parabel hinein, die die Dorset zwischen der siebten und der fünften der weit gespannten Ellipsen beschrieb. Dann sah er wieder hinaus in den festgezurrten Sternenhimmel. Er stellte interne Rechenvergleiche über ihre Geschwindigkeit an – zwanzig Minuten von der Erde zum Mond; vier Tage von der Erde zur Sonne –, um sich die ungeheure Ausdehnung begreiflich zu machen, die unser System außerhalb der Marsbahn annimmt. Aber es blieb eine zum Scheitern verurteilte, verzweifelte Denkanstrengung. Er konnte die Einzeldistanzen berechnen und Relationen herstellen, aber eine innere Vorstellung, ein seelisches Bild, das er als Begriffenhaben hätte bezeichnen können, gelang ihm nicht in sich zu erzeugen. Natürlich gab es da auf rein intellektuelle Art nichts zu »verstehen« – schon als Schüler hatte er maßstabsgetreue Diagramme der Planetenbahnen gezeichnet und sich über die enormen Abstände gewundert, die von Jupiter an auftraten. Aber der Versuch, diese Räume leibhaftig in sich zu erzeugen, schlug immer wieder fehl und glitt an der Maßlosigkeit der kosmischen Dimensionen ab. In diesem Augenblick erschien ihm traumhaft und unwirklich, dass er sich sogar außerhalb des Sonnensystems befunden und mehrere der näher gelegenen Sterne besucht hatte. Ein Bild aus seiner Jugend fiel ihm ein. Er saß an der Ostküste Kauais, dem nordwestlichsten Ableger des Hawaiianischen Archipels, und sah auf die abendliche Dünung des Pazifik hinaus. Er hatte sich ein paar Wochen zuvor verlobt, Cynthia aber bei dieser schon länger geplanten Reise nicht mitnehmen können. Nun sah er über die harmlosen Wellen, die in der Dämmerung den Ton gerösteter Krabben angenommen hatten, zum Horizont hinaus, wo sich einige Gewitterwolken dem nachtblauen Himmel entgegenballten. Und plötzlich begriff er, dass seine Geliebte in Mitteleuropa gar nicht hinter diesem lachsrot schimmernden Perlmutthorizont auf ihn wartete, sondern unter ihm, auf der anderen Seite des Erdballes, den er auf der zehnstündigen Reise in einem konventionellen Linienjet zur Hälfte umrundet hatte. Auch damals war die intellektuelle Einsicht logisch und unanfechtbar. Aber dennoch war es ihm auch damals nicht möglich, wirklich zu begreifen, dass er auf der einen Seite einer Kugel saß und Cynthia auf der anderen, zwölftausend Kilometer tief unter seinen Füßen, die in der pazifischen Brandung plätscherten.

Aber das war es nicht, was er hatte denken wollen. Silesio riss sich vom starren Nachthimmel los und sah zu der Konsole hinüber, wo ein grünes Signal die Aufnahmebereitschaft des virtuellen Diktafons anzeigte. Er schritt einmal die Längsachse des schweigenden Cockpits ab, räusperte sich kurz und begann, mit klarer Stimme und pointierter Artikulation zu formulieren.

»Versuch über die Phänomenologie des Opak. Kapitel eins, Absatz eins. Begriffsbestimmung. Phainomenon heißt: das Sich-Zeigende. Das Wesen des Phänomens ist, dass es sich zeigt oder dass es erscheint; freier übersetzt lässt sich Phänomen als Erscheinung auffassen. Das Opak ist nach unserem vorläufigen Kenntnisstand ein Objekt, das keine Erscheinungsseite hat, das sich nicht zeigt. Es ist also ein Nichtphänomen. Ob es ein Antiphänomen ist, das heißt, ob es sich nicht nur nicht zeigt, sondern sich sogar verbirgt, hat die nähere Erforschung freizulegen.«

Silesio half Carlssen, den Deckel der Koje zu öffnen, und reichte ihm eine Tasse Kaffee. Der Commander setzte sich auf und vollführte einige Grimassen, um die maskenhafte Gesichtsmuskulatur zu kontrollieren. Oft genug hatten sich frisch geweckte Besatzungsmitglieder die heißen Getränke über den sensoriellen Schlafanzug gekippt, wenn wohlmeinende Kollegen sie mit einem dampfenden Plastikbecher begrüßten. Carlssen schlürfte vorsichtig an seinem Lieblingsgetränk und riss sich mit der freien Hand die Elektroden von Brust und Schläfen. Der Anzeige unterhalb des Gesichtsfeldes, das jetzt halb aufgeklappt war, entnahm er, dass er termingerecht geweckt worden und dass sein dreiwöchiger Schlaf ohne Zwischenfälle verlaufen war. Da er auch in Silesios Miene nichts las außer gelassener Routine und ironischer Sympathie, ließ er sich wortlos von ihm assistieren, als er sich in der Koje aufsetzte. Er machte ein paar gymnastische Bewegungen, zog den sensoriellen Anzug aus, den er in die Klappe des Wäscheschachtes warf, und entfernte sich dann zur Dusche. Eine halbe Stunde später erschien er auf der Brücke. Er sah die Protokolle durch. Der Flug verlief ungestört. Das Opak verfolgte mit gleichmütigen Ausfällen seine Bahn, die im 5-Tages-Durchschnitt fast eben war; der 20-Tages-Durchschnitt hätte ebenso gut die Kurve eines x-beliebigen Kometen sein können, der sich auf seinem schweiflosen Sturz aus der Oort’schen Wolke Richtung Sonne befindet. Die politische Entwicklung war gleichermaßen langweilig. Die anfänglichen Hysterien hatten sich gelegt, nachdem sich Woche um Woche nichts Neues ereignete.

»Die Menschheit ist zu kurzatmig, um sich über etwas länger als vierzehn Tage aufzuregen.« Silesio strich sich den weißgrauen Bart, den er während der Zeit seines Alleinseins nicht gestutzt zu haben schien. Auch sonst wirkte er zwar etwas verwahrlost, aber ausgeruht und erfrischt. Die müden Augen hatten den bubenhaften Glanz wieder, der für gewöhnlich nur sporadisch aufflackerte. Tatsächlich sah er aus, als hätte er eine Bergfreizeit absolviert und sich an der blauen Höhenluft ertüchtigt. Auch seinen Zynismus schien er gehörig aufgetankt zu haben. »Man kann nur hoffen, dass der Weltuntergang erst ein paar Tage im Voraus angekündigt werden wird. Wenn die Leute ein Jahr Zeit haben, sich auf das Jüngste Gericht vorzubereiten, haben sie es wieder vergessen, bis es da ist.«

Carlssen verkniff den Mund zu einer spöttischen Bemerkung, sagte aber nichts. Er spürte, dass sein Blick starr und seine Sprechorgane ungelenk waren. Er war wohl doch noch nicht richtig wach.

»Und unser Objekt?« Er ließ die Lagemeldungen der letzten zweiundzwanzig Tage über den Schirm rollen.

»Bleibt berechenbar unberechenbar. Man hat zwei Sonden dran vorbeigeschossen.« Silesio wartete, bis der Commander die entsprechenden Protokolle auf seinem Schirm hatte. »Aber sie haben nichts herausgefunden. Totale Fehlanzeige. Eine ist in weniger als hundert Kilometern vorbeigeflitzt, aber sie hat nichts feststellen können.«

»Das gibt’s doch gar nicht.« Carlssen beugte sich tiefer über seinen Monitor und verlangsamte den Datenstrom.

»Da muss irgendwas zu sehen sein. Wie groß ist es denn?«

»No comment! Die Position, die es nach den Berechnungen von Luna im Augenblick des Vorbeifluges hätte haben müssen – und die es laut nachträglichen Erfassungen auch tatsächlich gehabt hat –, war völlig leer. Interplanetarisches Vakuum. Ringsum unverstellter Sternenhintergrund.«

»Aber die geostationären Teleskope hatten es geortet.«

»Einige meldeten eine teilweise Verdeckung des entsprechenden Himmelsquadranten.«

»Einige?«

»Alle hatten es noch nie im gemeinsamen Fadenkreuz.«

»Also war es gleichzeitig da und nicht da.«

»Was nach unserer klassischen Logik nicht möglich ist. Zumindest nicht für Objekte, die wesentlich größer sind als Elementarteilchen.«

»Und Gestalt, Gravitation, Drehachse, Radarbild …«

»Nichts.«

»Wann sind wir da?«

»Zehn oder elf Tage. Wir haben eine neue Kursberechnung, nach der wir beim Jupiter-Swing-by deutlich abbremsen und auf eine parallele Flugbahn zu dem Opak einschwenken. Eine Woche nach unserem Einschwenken werden wir uns auf hunderttausend Kilometer genähert haben und auf gleicher Höhe bleiben.«

»Bei einer synchronen Geschwindigkeit von dreißig Kilometer pro Sekunde.«

Bis wir das Rendezvous mit Jupiter einleiteten, waren alle Besatzungsmitglieder geweckt. Theresa hatte vier Wochen geschlafen und brauchte eine Stunde, bis sie frisch geduscht im Cockpit erschien. Silesios dialektischen Sarkasmus, dass die Frauen deshalb länger im Bad brauchten, weil sie sich nicht rasieren mussten, überhörte sie. Gus und Groenewold, die über zwei Monate »ruhiggestellt« (Carlssen) gewesen waren, benötigten einen halben Tag, bis sie ihre Positionen auf der Brücke einnehmen konnten. Während Evchen sich erkundigte, wie sich das Opak verhalte, trug Gus demonstratives Desinteresse zur Schau und mäkelte am Dienstplan herum, der nur bis zum Eintreffen auf der Höhe des seltsamen Objektes reichte.

»Nicht einmal ein ungefähres Ablaufdiagramm. Darf ich fragen, wann wir mit dem Ding fertig sind und wo es anschließend hingeht?«

Er erhielt keine Antwort und kratzte mit beiden Fäusten auf seinem Monitor herum.

»Sowie wir diesen Scheißasteroiden abgeknipst haben, leg ich mich wieder in die Falle, dass das klar ist. Und soll keiner auf die Idee kommen, mich zu wecken, ehe wir beim Mutterschiff oder auf Luna III andocken.«

»Unser gegenwärtiger Marschbefehl lautet auf Kontaktaufnahme und Observierung des fraglichen Objekts. Weitere Einsatzpläne werden nach erfolgreichem Abschluss dieser Mission bekannt gegeben. Alle Korrekturdaten für den Vorbeiflug verabschiedet?«

Commander Carlssen sah nicht von seiner Konsole auf, die eine dreidimensional gekrümmte Flugbahn anzeigte, quer durch das Jupitersystem hindurch. Die Erste Offizierin bestätige den Abschluss der Berechnungen. Die Dorset umrundete unseren fünften Planeten in deutlich größerer Entfernung als Saturn, sodass der Swing-by wesentlich unspektakulärer ausfiel. Dennoch füllte der rote Gasriese den gesamten Steuerbordhorizont aus, als wir uns von seinem Gravitationsfeld einfangen und abbremsen ließen und unter seinen schaumigen Wirbeln hindurchtauchten. Die Turbulenzen des Roten Flecks quirlten vorüber, dann versanken wir in der glosenden Nacht des Jupiterschattens. Theresa ließ das Schiff seitlich wegknicken. Das schwarzrote Panorama krängte herum und kippte schief über uns hinweg, als wir aus der Ebene der Ekliptik abdrifteten und schräg nach unten in die Bahn des Opak einfädelten. Es dauerte eine Weile, bis sich die inneren Koordinaten umgestellt hatten und wir uns damit abfanden, dass Jupiter nicht mehr oben links, sondern hinten rechts stand und dass »oben« gleichzeitig »unten« geworden war.

Groenewold äußerte ein ungutes Gefühl über diesen Flug aus der Ekliptik hinaus; sie mutmaßte sogar, es handle sich um ein heimtückisches Manöver des Objektes, das uns aus dem Sonnensystem hinauslocken und uns die Möglichkeit entziehen wolle, durch Ansteuern eines Planeten energiearm zu navigieren. Der Commander nahm dazu nicht Stellung. Er hatte die Brücke sofort nach Abschluss des Swing-by-Manövers verlassen. Theresa übergab an die Automatik und tröstete die Zweite Offizierin.

»Die Bahn ist wesentlich sicherer als die herkömmlichen Routen, weil sie den Asteroidengürtel vermeidet und außerdem nur um drei Bogengrad gegen die Ekliptik verkippt, sodass wir spätestens nach dem Sonnendurchgang ohne Treibstoffverlust auf die Erdbahn einschwenken können. Vielleicht ist das Opak sogar ein recht intelligentes Objekt; zumindest benutzt es eine ökonomische und risikoarme Passage durch unser inneres System.«

»Ich warne davor, als Handlung aufzufassen, was bisher reines Geschehen ist und keinerlei Bewusstsein hat erkennen lassen.« Silesio hatte sich ebenfalls erhoben und seinen Sessel wegschwenken lassen. Er biss sich an einem Zigarillo fest und verschraubte die Arme hinter dem Rücken. »Das Ding, und selbst diese Bezeichnung ist wohlwollend, hat seit seiner Erfassung keine Bahnkorrekturen oder sonstige kybernetische Aktionen durchgeführt. Zumindest in der Großzügigkeit des statistischen Mittels verhält es sich wie ein ungesteuertes Teilchen, am ehesten vielleicht wie ein Elektron auf seinem Weg durch einen widerstandsarmen Leiter.«

»Aber wozu muss es seine Bahn ändern, wenn diese von Anfang an sinnvoll und intelligent eingerichtet war.«

»Es hat im Augenblick nicht mehr Intelligenz und Sinn verraten als ein Komet, der stumpfsinnig die Sonne umrundet und irgendwann verglüht.«

»Aber warum muss es seine Intelligenz verraten?«

»Es muss gar nichts.« Silesio sah Gus nach, der sich mit angeekeltem Gesichtsausdruck in Richtung Messe begeben hatte. »Es würde mir lediglich leichterfallen, es als Subjekt einer Handlung anzuerkennen, wenn es in irgendeiner Form Handlung im Sinne von zielgerichtetem Verhalten vollführen würde.«

»Du bist ein Thomas und Häretiker, guter Silesio. Warum wollt ihr immer noch, dass das Sinnhafte suspendiert wird, um sich euch als Sinnhaftigkeit zu offenbaren. Warum muss Gott, der die Naturgesetze geschaffen hat, die Naturgesetze aufheben und Wunder vollbringen, um euch von seiner Existenz zu überzeugen. Warum soll der Schöpfer seine Schöpfung durchkreuzen, um sich seinen Geschöpfen zu erkennen zu geben?«

Groenewold atmete tief durch und verknäuelte ihre Hände auf dem Armaturenbrett, dessen geschäftige Anzeigen zwischen ihren Fingern tickerten.

»Was ich sagen will: Wenn wir hier kurzatmig herumkreuzen, obwohl wir keine AE am Stück ohne Korrekturmanöver zustande bringen, so rechnen wir uns das als technische Meisterleistung an; warum soll eine überlege Entität nicht störungsfrei und ohne Hakenschlagen durch unser mickriges System kommen, indem es sich seine Bahn eben schon vorher zurechtgelegt hat?«

»Der Schöpfer muss seine Schöpfung nur aufheben und Wunder vollbringen, wenn er sich mir offenbaren will. Denn ich muss sehen, dass er über seine Schöpfung souverän ist.« Silesio war auf seiner Wanderung durch das Cockpit stehen geblieben und sah unverwandt die Sterne jenseits der Scheiben an, die in ihrem obsidianschwarzen Futteral aus leerem Raum nicht flimmerten. »Aber ich glaube nicht, dass wir das Opak in Kategorien von handelnd oder nichthandelnd, wollend oder nichtwollend erfassen können. Es ist nach all dem, was ich aus den Protokollen entnommen habe, während ihr bewusstlos auf dem Schlafdeck lagt, etwas radikal anderes, das unsere geistigen Ordnungsgefüge übersteigt.«

»Glaubst du, dass es uns derartig überlegen ist?« Evchen hatte einen frostigen Belag auf der Stimme.

»Aber nicht überlegen in einem technischen oder intellektuellen Sinn; einfach nur: anders.«

Die folgende Woche verging in gereizter Langeweile und überdrüssiger Routine. Die Crew stand in beständigem Funkverkehr mit den Beobachtungsstationen auf Luna, die uns die aktuelle »Position« – wenn man es so hätte nennen können – des Opak übermittelten. Die Bugscanner und das Vorwarnradar tasteten den Raum ab und durchleuchteten die von der Onlineautomatik permanent aktualisierten Quadranten, aber sämtliche Ergebnisse blieben negativ.

Langsam und geradezu quälend schob die Dorset sich, ferngesteuert von der Basis auf Luna, an das Objekt heran, das in seinem Oszillieren nach wie vor riesige Sprünge und Verschiebungen von hunderttausenden von Kilometern aufwies. Carlssen und Theresa lösten sich alle sechs Stunden auf der Brücke ab, obwohl es wenig zu tun gab, da die Dorset vom Autopiloten beharrlich an die virtuelle Durchschnittsbahn des Opak, die man dazu aus einem Sieben-Tage-Mittel errechnete, herangeführt wurde. Groenewold überwachte die Datenströme, die mit den externen Stationen ausgetauscht wurden, während Gus sämtliche Frühwarngeräte und vor allem das DeepField-Radar endlosen Prozeduren und Selbsttests unterzog, um instrumentenverschuldete Fehler so gut wie möglich ausschließen zu können. Dennoch blieben unsere Schirme leer und nicht nur Groenewold verfiel allmählich in Ratlosigkeit.

Am achten Tag nach dem Jupiter-Swing-by hatten sie sich auf hunderttausend Kilometer genähert. Commander Carlssen übernahm das Schiff in manueller Steuerung und löste Alarmstufe 1 aus. Alle Schotten blieben geschlossen, sämtliche Besatzungsmitglieder mussten auch außerhalb der Dienstzeiten in Bereitschaft bleiben. Die diensthabende Crew durfte die Brücke nicht verlassen. Gus protestierte halbherzig gegen das Alkoholverbot, weil er gewohnt war, sich nach seiner Zwölfstundenschicht mit ein paar Bierchen in seine Kabine zurückzuziehen. Für den Beginn der ersten Schicht, die Carlssen am nächsten Tag übernehmen würde, war das Rendezvous angesetzt.

»Was ist, wenn es einen seiner unkontrollierten Sprünge vollführt und uns dabei anrempelt?«

»Die durchschnittliche Oszillation liegt bei unter zehntausend Kilometern; bei einem Abstand von hunderttausend haben wir ein Kollisionsrisiko von weniger als einem halben Prozent, das ich vertreten zu können glaube. Außerdem handelt es sich um kein körperliches Objekt, das uns irgendwie ›berühren‹ könnte.«

Evchen sah nicht beruhigt aus.

»Selbstverständlich habe ich die Abschirmung aktiviert. Das Schiff bleibt auf gefechtsmäßiger Alarmstufe.«

Die Dorset bewegte sich synchron mit dem Opak, das an einem bestimmten Punkt auf neunzig Grad – drei Uhr, nannten das die Offiziere – fixiert war und das inzwischen mit dem bloßen Auge zu sehen hätte sein müssen, wenn es sich um einen Asteroiden gehandelt hätte. Da unsere Schirme, auch die der empfindlichsten Geräte, die selbst ein Staubkorn in dem bewussten Quadranten erkannt hätten, leer blieben, breitete sich eine gewisse Ratlosigkeit aus. Gus behauptete, wir wären dem aufwendigsten Aprilscherz in der Geschichte der interplanetarischen Raumfahrt aufgesessen. Commander Carlssen besprach sich mit Groenewold, die als Kopilotin seinen Schichten zugeordnet war. Die Daten, die Luna überspielte, besagten, dass das Objekt sich auf ihrer Höhe in einem durchschnittlichen Abstand von 97 500 Kilometern befand. Es waren dazu über zwanzig terrestrische und geostationäre Teleskope der verschiedensten Wellenbereiche zusammengeschaltet, wobei nur Messungen bearbeitet wurden, die von mindestens drei unabhängigen Beobachtungen bestätigt wurden. Schließlich rief Carlssen den Bordingenieur auf die Brücke und unterrichtete sich über die Funktionsweise der Instrumente. Das Opak wurde mit Breitbandscannern gesucht, die mehrere tausend Kubikkilometer Raumes durchleuchteten. Der Commander trug Gus auf, die Detektoren zu fokussieren und gezielt ein punktförmiges Datum, das er aus dem aktuellen Fünf-Tage-Durchschnitt errechnete, anzuvisieren. Es dauerte eine Stunde, bis Gus die Sensoren neu programmiert hatte. Theresa, deren Nachmittagsschicht gleich beginnen würde, meldete sich auf der Brücke, als Carlssen wieder an der Konsole Platz nahm, um assistiert von Groenewold die neuen Einstellungen zu testen. In diesem Augenblick flammten mehrere Anzeigen auf den Monitoren auf und die Automatik schrillte los. Gus kam aus dem Instrumentenraum auf die Brücke gestürzt. Ein Hintergrundstern auf 88° 15$'$ war für eine Millisekunde verdeckt worden!

Carlssen übergab das Kommando an Theresa, während Groenewold von Silesio abgelöst wurde. Dennoch blieb die gesamte Besatzung der Dorset, einschließlich Gus, auf der Brücke. Die hochauflösenden Scanner wurden nachgeführt und entsprechend den ermittelten Daten korrigiert. Sowie die entsprechende Position am Backbordhorizont noch schärfer beobachtet wurde, ergaben sich etliche Abdeckungen, aus denen sich das Vorhandensein und die Bewegung eines nicht leuchtenden Objektes ableiten ließen.

»Wir haben es.« Carlssens Stimme war ohne Triumph. Er hatte seinen Sessel herumgeschwenkt und sah über Silesios Schulter auf dessen Monitor. Der Chefprogrammierer hatte ein fluktuierendes Diagramm erstellt, das die Beobachtungsdaten, die von Luna III hereinkamen, mit den eigenen Messungen der Dorset synchronisierte. Es verstrich eine Viertelstunde, in der mehrmals das Hupen der Automatik ertönte, das eine weitere Sternabdeckung verkündete, bis die von der Erde einlaufenden Übertragungen aktualisiert waren und mit den Feststellungen vor Ort abgeglichen werden konnten. Es gelang jedoch nicht, die beiden Positionen in Einklang zu bringen.

»Es ist da und ist doch nicht da.« Theresa kniff unwillkürlich die Augen zusammen und starrte zum Backbordfenster hinaus, obwohl dort natürlich nichts zu erkennen war.

»Es ist jeweils an einem anderen Ort, je nachdem, von wem und von wo aus es beobachtet wird.« Silesio tippte auf seinem Sensorfeld herum. Eine dreidimensionale Grafik zeigte zwei Linien, eine gerade verlaufende und eine heftig undulierende.

»Wir müssen eine Fallunterscheidung vornehmen: Es gibt ein Alpha-Opak, das von den Computern auf Luna ermittelt wird, und zudem ein Beta-Opak, das von der Dorset aus erfasst werden kann. Dass es sich um zwei verschiedene Objekte handelt, kann meiner Auffassung nach dadurch ausgeschlossen werden, dass es keine Überschneidungen zwischen den beiden Varianten gibt. Wir haben keine Schnittmenge von Alpha- und Beta-Opak. Erst wenn wir eine mehrtägige Beobachtungszeit für das zweite, das Dorset-Opak, zur Verfügung haben, können wir sagen, ob eine statistische Identität oder zumindest Varianz vorliegt. Im Augenblick haben wir es mit zwei virtuellen Objekten zu tun, von denen nur eines, das Beta-Opak, für uns von signifikanter Relevanz ist.«

»Das wir aber auch nur ex negativo …«

»Aber da ist überhaupt nichts!«

Gus schien es nichts auszumachen, dass er seinem Commander das Wort abgeschnitten hatte. Er war aufgestanden und tigerte aufgebracht im Cockpit hin und her.

»Ich habe keine positiven Daten dafür, dass sich an der Position, über die wir hier reden, irgendetwas befindet. Ich habe kein Radarecho und selbst in den stärksten Scannern keine Erfassung. Alles, was mindestens zehn Atomdurchmesser groß ist – und wenn es Sterne der Lichtstärke II überdeckt, muss es deutlich größer sein –, muss auf meinem Schirm erscheinen. Aber da ist nichts!«

Commander Carlssen verschwand im Stabszimmer und hielt eine Konferenz mit den schichthabenden Offizieren auf Luna ab, die sich wegen der Zeitverzögerung über mehr als zwei Stunden hinzog. Die Nachricht von der vermeintlichen Entdeckung und Fixierung des Objektes durch die Dorset war von zivilen Stellen auf der Erde aufgefangen und dechiffriert worden und hatte in kürzester Zeit für weltweite Aufmerksamkeit gesorgt. Die Panik flammte neu auf, zumal das rätselhafte Opak sich auf befremdliche Weise der Erde zu nähern schien. Die Gesprächspartner, die alle Viertelstunde wieder auf Carlssens Monitor erschienen, wirkten nervös und gestresst; ihre Überlegungen schienen von hektischen Aktivitäten im Hintergrund, mit heißer Nadel gestrickten Presseerklärungen, wie Carlssen vermutete, bestimmt.

Mit einem Anflug maskenhafter Entschlossenheit betrat der Commander die Brücke.

»Wir gehen dichter ran.« Er sah auf die Uhr. Theresas Schicht dauerte noch knapp drei Stunden.

»Kommandierende Offizierin, sind Sie bereit für ein manuelles Manöver von Priorität Rot?«

»Haben die das gesagt, dass wir dem Dings noch näher auf die Pelle rücken sollen?« Evchen sah von ihrem Schwenksessel auf, den sie neben den von Gus gefahren hatte. »Ich komme mir allmählich vor wie bei ’nem Himmelfahrtskommando.«

»Ich kann frei entscheiden.« Carlssen hatte die Augen fest in die Miene seines Bordingenieurs gebohrt.

»Man ist auf Luna an rascher Präzisierung unserer Daten interessiert und hat mir nahegelegt, alles zu tun, was zu einer baldigen Klärung der Situation beitragen kann.«

»Warum jagen wir nicht erst ein paar Sonden rüber?« Gus war durch den harschen Ton, dem gar keine Äußerung seinerseits vorausgegangen war, provoziert. »Das Drohnendeck liegt voller ausgebufftem Spielzeug. Und solange ich Roboter da rüberschicken kann, brauche ich doch nicht selber den Arsch riskieren.«

»Ich hätte gar nicht gedacht, dass du so feige bist!« Theresa lächelte vom Hauptbedienplatz aus zwischen Groenewold und Gus hin und her. Dann wandte sie sich an Carlssen und erklärte sich bereit, die erforderlichen Manöver durchzuführen.

Wir hatten noch leicht gedreht und einige kleinere Kurskorrekturen vorgenommen, bis das Opak beziehungsweise seine Beta-Variante, wie Silesio es nannte, auf einer exakten Dreiuhrposition lag. Dann zündete Theresa für zwanzig Sekunden die Steuerbordraketen, sodass die Dorset bei Kleiner Fahrt direkten Kurs auf das unsichtbare Objekt nahm. Kilometer um Kilometer schoben wir uns heran. Die Warnsignale der Automatik waren deaktiviert worden; in regelmäßigen Abständen leuchteten aber die optischen Anzeigen auf, die neuerliche Sternverdeckungen mitteilten. Das Opak schien sich auf einer beschleunigungslosen linearen Bahn zu befinden, die völlig einer berechenbaren ballistischen Kurve glich. Es näherte sich mit etwa 100 000 km/h dem Asteroidengürtel, unter dem es in gemessenem Abstand hindurchgleiten würde. Carlssen und Groenewold übernahmen das Kommando für die Abendschicht und führten die Annäherung weiter.

»Träumst du von deiner Kleinen?« Theresa betrat die Messe und ließ sich einen Kaffee aus dem Küchenmodul geben. In wenigen Minuten würde ihre zweite Schichte beginnen.

»Wen meinst du?« Gus sah ausdruckslos vor sich hin. Seine Hände spielten mit einem Werkzeug.

»Groenewold.«

»Ach die.«

»Erzähl mir nicht, dass du sie nicht magst.«

»Sie ist ziemlich – anstrengend. Außerdem steh ich nicht auf Kindfrauen.«

»Aber du schläfst mit ihr.«

»So gewaltig ist das Überangebot an Frauen nicht, auf diesem gottverdammten Explorer.«

»Sie ist nicht dein Typ?«

»Wir machen meistens das Licht aus.«

»Und wen stellst du dir dann vor?«

»Was soll das?!«

»Nur so.« Theresa ließ sich in einen Sessel sinken und fuhr die Lehne bis zum Anschlag zurück. Sie schloss die Augen.

»Nun, wenn du es wissen willst: Jemand wie du wäre schon eher nach meinem Geschmack.«

»Oh, darf ich das unter Komplimente buchen?«

»Von mir aus. Aber du vö… Du bist mit dem Commander zusammen, nicht? Das ist freilich ein anderes Kaliber. Offizier und so.«

»Und du meinst, das würde die Wahl einer Frau beeinflussen?«

»Zumindest scheint es nichts zu schaden.«

»Du bist so naiv.«

»Oh danke, manchmal wünsche ich, ich wäre sogar richtig dumm.«

»Es lebt sich leichter, vermutlich. Was der Commander dir voraushat, Gus, ist seine Neugier. Er bekleidet einen militärischen Rang, aber er ist wissenschaftlicher Offizier. Und er will wissen, was das da draußen ist. Wie ich auch. Dir ist es …«

»Scheißegal. Genau. Ich mache hier meinen Job, so gut es geht. Und glaub nicht, dass ich da nicht auch meinen Stolz und meinen Ehrgeiz habe. Der Teufel soll mich holen, wenn eine Maschine auf diesem Hurenschiff nicht fehlerfrei funktioniert. Aber alles Weitere, euer bescheuertes Objekt und erst recht der Alte mit seiner Metaphysik, kann mir gestohlen bleiben.«

»Es interessiert dich tatsächlich nicht, nicht wahr? Du liegst nachts nicht wach und fragst dich, was es sein und woher es stammen könnte.«

»Ich frage mich, wann wir hier wegkommen.«

»Du bist langweilig.«

»Und du bist unausstehlich, obwohl du ’ne geile Figur hast.«

»Das war’s dann wohl. Gute Nacht.«

»Wie dicht sind wir dran?« Theresa kam auf die Brücke, um die Nachtschicht anzutreten.

»Schwer zu sagen. Wenn wir die Bahn des Alpha-Phänomens zugrunde legen, sind wir jetzt auf etwa 10 000 km Distanz. Unser Beta-Objekt, von dem wir noch zu wenig Daten haben, um sie zu einer kohärenten Flugbahn zusammenzufügen – bis jetzt haben wir 32 punktuelle Einzelereignisse –, lässt sich nicht exakt genug bestimmen. Von unserer Position aus können wir keine Triangulation vornehmen, und solange wir kein Radarecho und keinen optischen Kontakt haben, ist der dritte räumliche Vektor reine Spekulation. Immerhin steht es auf drei Uhr wie festgenagelt. Ich schlage vor, du orientierst dich vorläufig weiter an Objekt Alpha und gehst bis zum Frühstück auf 1000 km.«

Die Nacht verging geräuschlos. Wir lagen in unseren Kojen und fanden in der ängstlichen Überspanntheit, die wir uns vergeblich auszuschwitzen bemühten, keinen Schlaf. Bisweilen durchfauchte eine zärtliche Erschütterung die Dorset, wenn Theresa, die mit Silesio die erste, von Mitternacht bis sechs Uhr morgens dauernde Schicht fuhr, für einige Sekunden die Steuerdüsen zündete, die das Schiff auf seinem schüchternen Annäherungskurs dem irrationalen Phänomen entgegendrängten. Erst wenige Minuten bevor ihn seine innere Uhr gemeinsam mit den Bojen der Automatik aus der Bettruhe erlösen würde, nickte Commander Carlssen in kurze Zeitlosigkeit von wolkiger Schwereempfindung. Er träumte von einer kalten Hand, in der er eine unbestimmte Zahl blauer Steinchen hielt, deren vierzig bei der Division durch zwei neun ergaben, während die neun, ihrerseits dividiert, dreihundert sein konnten. Dann erschrak er, taumelte mit klebenden Lidern in die Nasszelle und bespritzte ein pelziges Gesicht mit Wasser. Die Brücke war bevölkert von fremdländischen Automaten.

»Wie sieht es aus? Wie weit sind wir?« Carlssens Stimme war knotig, seine Augen waren von Abwesenheit beschwert, als er seinen Platz einnahm und die zählebigen Routinen des Schichtwechsels durchführte.

»Die stationäre Distanz in Relation zum Objekt Alpha beträgt 978 km. Acht weitere Ereignisse bei der Überwachung des Beta-Opak. Bereit zur Übergabe.«

»Ich habe einige mathematische Spielereien unternommen.« Silesio klang eher beiläufig als müde; er wartete, bis Carlssen eine Geste des Interesses hatte erkennen lassen, ehe er seine Ergebnisse vortrug.

»Wir haben inzwischen genug punktuelle Daten des Beta-Objektes, die es erlauben, eine vorsichtige Bahndiagnose zu erstellen. Ich habe dies in den vergangenen Stunden durchrechnen lassen. Das Beta-Phänomen, das wir seit anderthalb Tagen von der Dorset aus beobachten, bewegt sich ohne jegliche Eskapaden auf einer ballistischen Flugbahn, die derjenigen entspricht, die die Überwachungseinheiten, die von Luna III gebündelt werden, seit mehreren Monaten kontrollieren und stündlich aktualisieren. Weitgehend, Commander; denn zum einen verfügen wir noch nicht über genügend Material zu einer befriedigenden Darstellung des Beta-Opak, zum anderen haben sich einige unleugbare Abweichungen ergeben, an denen Alpha- und Beta-Objekt zu gleichen Zeitpunkten an definitiv unterschiedlichen Positionen geortet wurden und wo auch in sämtlichen Langzeitbeobachtungen beide Kurven nicht über eine asymptotische Annäherung hinaus ineinander übergeführt werden konnten.«

Carlssen schob die Erste Offizierin zur Seite, die ihn auf die Stirn geküsst und mit besorgten Fingern sein Haar zerteilt hatte.

»Weiter!« Er versuchte, sich Aufnahmefähigkeit zu befehlen.

»Außerdem habe ich die Bahn des Alpha-Objektes einigen stochastischen Prozeduren unterzogen. Es gibt in den Undulationen, die dieses Opak seit seiner Entdeckung beschreibt, keine erkennbaren Regelmäßigkeiten, die mit unseren Vorstellungen von Mathematik herauszufinden wären. Weder der Verdacht, die Aberrationen könnten als Modulationen einer Trägerwelle aufzufassen sein, noch die entlegenen Spekulationen lunarischer Nachtschwärmer, die nach Primzahlen und anderen nicht regelmäßigen Ordnungsprinzipien suchten, ließen sich verifizieren oder auch nur erhärten. Schließlich habe ich den Gegenbeweis angetreten und gegen zwei Uhr heute Morgen die Hypothese aufgestellt, es handle sich um ein frei randomisierendes Verhalten. Ich habe mehrere Millionen virtueller Zufallsgeneratoren kreieren und ihre Ergebnisse mit der Bahn des Alpha-Phänomens vergleichen lassen. Auch hier kam ich zu keiner Übereinstimmung.«

»Es ist weder berechenbar noch unberechenbar.«

»Sagen wir lieber: Es ist nicht regelmäßig und nicht vollkommen regellos. Ich erhielt bestimmte sehr vage Muster. Wenn wir die Flugrichtung und die Ebene der Ekliptik als Koordinaten zugrunde legen, so scheinen die Oszillationen, die es seitlich zur Bewegungsrichtung ausführt, geringfügig häufiger und schwächer, die Ausweichungen, die es senkrecht zur Planetenebene beschreibt, etwas seltener und heftiger zu sein. Bei wohlwollender Interpretation der Daten, denn es unduliert ja nicht nur in zwei durch Polarisation voneinander trennbaren Richtungen, sondern verlässt seine Bahnachse nach allen 360° einer orthogonal zur Flugrichtung stehenden Windrose. Außerdem ist die Vorwärtsbewegung von Sprüngen und Verwerfungen charakterisiert, die sich in keinem System mit den seitlichen Oszillationen koordinieren lassen.«

»Ist gut. Haben wir eine Prognose über eine mögliche Identifikation von Alpha- und Beta-Phänomen?«

»Nein.«

»Wir haben es also mit zwei distinkten Objekten zu tun.«

»Ich hielte es für voreilig, das so zu formulieren. Uns liegt ein Beschreibungszusammenhang vor, der sich je nach Beobachtungssituation unterschiedlich darstellt. Man kann es sich vielleicht metaphorisch vergegenwärtigen. Beobachter A befindet sich in einer nächtlichen Großstadt der gemäßigten Breiten, während Beobachter B sich in den Mittagsstunden in einer menschenleeren Wendekreiswüste aufhält. Es bedürfte eines gewissen Abstraktionsvermögens, um zu der Überzeugung zu gelangen, dass sich beide auf demselben Planeten bewegen. Oder wenn wir als Alpha-Phänomen einen blühenden Apfelbaum ansetzen und als Beta-Korrelat eine einzelne herbstliche Frucht. Der Phänomencharakter ist inkohärent und doch handelt es sich um das gleiche Wesen von durchgehaltener Identität. Blüte und Apfel nehmen an der gleichen Raum-Stelle unterschiedliche zeitliche Positionen ein. Wir hier haben es mit einem Phänomen zu tun, das innerhalb derselben Zeit-Stelle unterschiedliche räumliche Positionen einnimmt – noch dazu in Abhängigkeit vom Beobachter.«

Wir verharrten in gleichmäßigem Abstand zu dem sonderbaren Objekt, das seinen augenlosen Flug unter der Trümmerwüste des Asteroidengürtels entlang fortsetzte. Groenewold, die mit Verspätung ihre Vormittagsschicht an der Seite Commander Carlssens antrat, äußerte hartnäckiges Unwohlsein und meinte, es verursachte ihr krampfhafte Angstempfindungen, dass wir so dicht an das herumwackelnde Objekt heransteuerten. Sie sprach sich sogar dafür aus, das Ding auf seiner unsichtbaren Bahn davonflackern zu lassen. Silesio übergab die Stelle des Kopiloten und versuchte zu erläutern, dass nur das Alpha-Opak »herumwackele«, das für uns aber nicht existent sei; unser Opak verhalte sich dagegen vollkommen linear. Nachdem er sie nicht überzeugt hatte, folgte er Theresa, die sich lakonisch verabschiedet hatte, in den Wohntrakt, um sich bis zur Nachmittagsschicht auszuruhen.

Als Gus auf die Brücke kam, um seine zwölfstündige Schicht aufzunehmen, die um acht Uhr begann, erhielt er vom Commander den Auftrag, drei Drohnen der mittelschweren Lambda-Klasse zum Aussetzen fertig zu machen. Mit mürrischem Triumph in den Augen entfernte sich der Bordingenieur zum Drohnendeck. Drei Stunden später klinkte die Dorset drei Beobachtungsdrohnen aus, die von der Automatik um das Schiff herumgeführt wurden und dann selbsttätig die konventionellen Wasserstofftriebwerke zündeten. Die drei magnesiumfarbenen Strahlenbündel verschmolzen mit der Indifferenz des Sternenhimmels. Auf wortkargen Monitoren kontrollierte Carlssen, wie sich die Observationsroboter dem Opak entgegenschnellten. Auf einem seitlichen Schirm war das Bild eines der optischen Teleskope zu sehen, das auf die Dreiuhrposition des Beta-Phänomens fokussiert war. In Abständen, die dem menschlichen Zeitempfinden regelmäßig vorkommen konnten, setzte einer der Sterne, die als Einziges auf der unveränderlichen Einstellung zu sehen waren, für einen Wimpernschlag aus und glomm danach wieder unschuldig auf. Ein künstlicher Lichtkreis rahmte den Wiedergeborenen ein, ließ die astronomische Kennung darunter aufblinken und ratterte die Bahndaten des Opak, die sich aus diesem Ereignis ergaben, an den unteren Bildschirmrand. Drei solcher Messungen fielen in kurzen Abständen an, während die Drohnen sich dem Verursacher der reflexhaften Verdunkelungen entgegenschleuderten. Die Ergebnisse wurden den davonziehenden Automaten übermittelt; aber da sie exakt im Erwartungshorizont der früheren Berechnungen lagen, waren keine Korrekturen nötig. Schließlich bogen sich die drei Zielgeraden auseinander. Die erste Drohne knickte sonnenwärts ein und positionierte sich vor dem Opak, dem sie in hundert Kilometern Abstand vorausflog. Die zweite nahm einen stationären Punkt in gleicher Entfernung über dem Objekt ein, während die dritte in gemessener Distanz über es hinwegsetzte und – von der Dorset aus gesehen – genau dahinter abbremste und seine parallele Bahn stabilisierte. Diese dritte Drohne war die wichtigste, gleichzeitig die am unsichersten zu programmierende. In der Draufsicht von unserem Schiff aus lagen ja nur die x- und y-Koordinaten fest; – die allerdings im mathematischen Sprachgebrauch, wie er von Luna III vorgegeben war, die x- und z-Koordinaten waren. Der dritte Vektor, der die räumliche Entfernung zwischen Opak und Dorset angab, beruhte, was das Beta-Objekt betraf, auf reiner Spekulation, da Messungen in dieser Dimension nicht möglich waren. Carlssen hatte also die y-Koordinate des Alpha-Phänomens übernommen; Gus aber angewiesen, für die dritte Sonde einen Sicherheitsabstand von 500 km einzugeben.

Als die Drohnen ihre Bestimmungsorte erreicht hatten, wurden die Haupttriebwerke und die Schalbleche abgesprengt. Sie verschollen im raumlosen Hall der Unendlichkeit. Die Instrumentenköpfe setzten je drei Sensorenfelder frei, die sich mithilfe autarker Steuerdüsen um jeweils einige Kilometer voneinander entfernten. Jede Einheit verfügte so über drei unabhängige Fixpunkte, von denen aus das Objekt exakt verortet werden konnte. Die drei Module der Lambda III, die in 500 km Abstand jenseits des Opak Position bezogen hatten, konnten im Wechselspiel mit den Instrumenten der Dorset besonders hochauflösende Scannings vornehmen. Nachdem alle neun Satelliten ihre Selbsttestroutinen durchgeführt und den Datenverkehr mit unserer Automatik aufgenommen hatten, geriet das unsichtbare Phänomen in ein dichtes Kreuzfeuer sämtlicher Wellenbereiche. Die mutmaßliche Position des Objektes wurde von Radar der unterschiedlichsten Frequenzen bestrichen und mit energiearmen optischen Lasern abgetastet. Alle paar Sekunden meldete einer der Automaten ein Verdeckungsereignis, und sowie die fehlende y-Koordinate ermittelt war, die mit dem entsprechenden Wert des Alpha-Phänomens innerhalb der geltenden Toleranzen übereinstimmte, wurde auch die Einheit, die Lambda III freigesetzt hatte, auf den geringeren Abstand der anderen Module herangeführt.

Theresa und Silesio erschienen zur dritten Schicht. Der Chefprogrammierer sah skeptisch die Ziffernkolonnen durch, die über die Monitore hasteten, und erkundigte sich nach den Ergebnissen; er sah nicht aus, als ob er in den letzten drei Tagen geschlafen hätte. Commander Carlssen erläuterte, es sei zu früh für vorzeigbare Spektakel, da die Datengrundlage noch zu dünn für konkrete Auswertungen war. Er hatte die Automatik angewiesen, sämtliche Messungen sofort in den Hauptspeicher aufzunehmen und sie dort zunächst zu akkumulieren. Die Nachmittagsschicht verlief dementsprechend ereignislos und auch die Abendschicht, zu der sich Carlssen und Groenewold wieder auf der Brücke einfanden, blieb ruhig. Der Commander diagnostizierte einen allgemeinen nervösen Erschöpfungszustand der Crew und ordnete an, Abend- und Nachtschicht um jeweils eine Stunde zu verkürzen, wodurch die Brücke von 23 Uhr bis 1 Uhr unbesetzt blieb. Um 0:05 Uhr aktivierte die Automatik die Alarmanlage.

»Was ist das?« Theresa kam halb nackt und traumverloren auf die Brücke getorkelt, nur eine Decke umgeschlungen, die sie jetzt unter den Achseln festzuklemmen versuchte.

»Eine Sekunde.«

Die Erste Offizierin wies die Automatik an, das Geschrill abzustellen und ihr lieber einen Kaffee aus der Röhre zu lassen. Sie betrachtete Silesio, der schon länger hier zu sein schien und unaufgeregt an den Anzeigen herumtippte.

»Was soll das?« Der Commander war durch den Umweg über seine Kabine aufgehalten worden. Er hatte die Uniformhose an und knüpfte gerade sein Hemd zu.

»Es ist verschwunden.« Die Feststellung des Chefprogrammierers fiel in gläsernes Schweigen, die Sirene verstummte betroffen. Carlssen trat neben Silesio und betrachtete verständnislos die codierten Anzeigen, während er sich bemühte, das borstige Hemd in die Hose zu bekommen.

»Geh, zieh dir was an!«

Theresa umkrampfte die Kaffeetasse und schlurfte lautlos in den Gang hinaus.

»Wir hatten seit Aktivierung der Drohnenmodule eine durchschnittliche Ereignisfolge von unter fünfzehn Sekunden. Die letzte Verdeckung registrierte Lambda II/3 kurz vor Mitternacht, genau um 23:58:13 Uhr. Nach einer halben Minute begann sich die Automatik am Kopf zu kratzen. Nach einer Minute unterschritt die Beobachtungslücke jede mathematisch zu vertretende Wahrscheinlichkeit. Jeweils das erste Modul einer Einheit wurde einer Selbsttestroutine unterzogen, die fünf Minuten dauert und in allen drei Fällen positiv verlief. Die Zweiermodule führten selbsttätig Nachführungsbewegungen aus, die die Beobachtungsperspektiven so veränderten, dass das Objekt, wenn es sich noch auf der zuletzt gemeldeten Position befunden hätte, einen Hintergrundstern hätte verdecken müssen. Die jeweils dritten Module blieben auf Position und führten die Beobachtung weiter. Als alle die Maßnahmen zu keinem Ergebnis führten, ließ die Automatik unsere Wecker losgehen …«

»Leute, ich hab Schiss! Lasst uns hier abhauen.« Evchen war in eine Art Morgenmantel gehüllt halb hinter Gus, der sich eben noch die Jacke überwarf, auf die Brücke gekommen und hatte Silesios Erläuterungen mitgehört. Jetzt begann sie zu weinen.

»Es will uns etwas sagen. Es hat mitgekriegt, dass wir es abhören, und entzieht sich der Überwachung. Bestimmt will es uns mitteilen, dass wir verschwinden sollen.«

»Bis jetzt ist es erst einmal selbst verschwunden.«

»Vielleicht taucht es ganz dicht wieder auf und rempelt uns aus der Bahn. Oder es ist schon hier drin!«

»Commander.« Gus klang unerwartet moderat. »Ich will nicht den Eindruck erwecken, dass ich mich von Evchens Hysterie anstecken ließe. Aber ich denke, dass wir es mit einem rational nicht erklärbaren und unkalkulierbaren Phänomen zu tun haben und dass die Risiken, denen Sie uns aussetzen, nicht mehr unter Kontrolle sind. Warum überlassen wir die Observierung nicht den automatischen Modulen und verpissen uns? Oder gehen wenigstens auf einen höheren Sicherheitsabstand?«

Groenewold wischte sich das Gesicht am Ärmel ihres Bademantels ab. »Das ist doch kein Zufall! Seit Tagen überwachen wir es rund um die Uhr, und kaum ist die Brücke unbesetzt, verflüchtigt sich das Ding. Sogar exakt in der Hälfte der unbemannten Zeit.«

»Die Brücke war nicht unbesetzt, ich war um halb zwölf wieder hier.« Silesio strengte sich an, wie ein onkelhaftes Fass von Geduld zu wirken. »Und es ist nach meinem Dafürhalten wohl doch Zufall.«

»Zwei von 24 Stunden überlassen wir das Schiff der Automatik, und genau da passiert was. Das ist eine Wahrscheinlichkeit von 1 zu 12.«

»Die Wahrscheinlichkeit beträgt für jede Seite des Würfels immer nur ein Sechstel und doch kommt der Würfel immer auf einer Seite zu liegen. Jedes Ergebnis, das eintritt, hat die Vorhersagenwahrscheinlichkeit gegen sich. Auch ein Zwölftel ist, denke ich, ein Wert, der noch nicht zu Interpretationen Anlass gibt. Da ist es wieder!«

Die Anzeigen flackerten heftig auf; das traumrote Blinklicht, das während der ganzen unguten Konferenz über ihren Köpfen rotiert hatte, erlosch klaglos.

»Über eine Viertelstunde.« Silesio gab einige Befehle ein. Theresa meldete sich vom Kommunikationspult: »Es kommen gerade interessante Meldungen von Luna III rein: Ihr Objekt hat die längste Ruhephase seit Beginn der Beobachtungen absolviert. Ich geb euch die Daten mal rüber.«

»Das ist unfassbar.« Der Chefprogrammierer wandelte die Ergebnisse der terrestrischen Stationen in grafische Darstellungen um. Die weit ausschwingende Kurve des Alpha-Phänomens vollführte einen eckigen Sprung und verharrte dann minutenlang unbeweglich, ehe es auf die alte Kurve zurückschnellte und die pendelnden Umkreisungen seiner virtuellen Bahn wieder aufnahm.

»Die Position, die das Alpha-Opak so sonderbar starr behauptet hat, ist exakt diejenige, von der unser Beta-Objekt genauso lange verschwunden war. Wenn ich die beiden Kurven übereinanderblende, erhalte ich eine Deckungslücke, die den statistischen Erwartungshorizonten nicht mehr widerspricht.«

»Warum haben wir es dann nicht gesehen?«

»Weil das Alpha-Phänomen für uns nicht existiert.«

»Und wo war unser Objekt so lange?«

»Es übernahm – vielleicht – die Exaltationen seines Alpha-Korrelats. Unsichtbar für unsere Instrumente, die auf die fixe Beta-Position fokussiert sind.«

»Gus, halt mich fest.«

»Aber das kann doch gar nicht sein.«

»Sie kommunizieren miteinander.«

»Sagen wir: Sie stehen in Wechselwirkung.«

»Bestimmt hecken sie etwas Fürchterliches aus!«

»Das beweist, dass es sich um eine Entität handelt, die über mehrere Aggregatzustände verfügt.«

»Darling, kommst du wieder ins Bett? Uns bleibt noch eine halbe Stunde.«

»Kommt nicht infrage. Besatzung der Dorset: Der Schichtplan ist hiermit außer Kraft. Die gesamte Crew, das gilt auch für dich, Theresa, in zehn Minuten zum Dienstantritt auf die Brücke. Wir gehen längsseits.«

Eine Viertelstunde später war die Mannschaft, mit flüchtigen Scheiteln und mit Schuhen an den Füßen, zum Briefing versammelt. Commander Carlssen verkündete seinen Entschluss, sich dem Opak so weit zu nähern, dass eine unmittelbare Kontaktierung möglich werden würde. Eine halbherzige Abstimmung ergab ein 3:2-Votum für das Manöver. Theresa leitet das Rendezvous ein. Als die Entfernungsanzeige ihre immergleichen Ziffern herunterzuschnurren begann und der Timer die wenigen Stunden bis zum Touchdown, den sich niemand vorstellen konnte, abrollte, erläuterte Silesio die bisherigen Erkenntnisse, die er in einsamer Nacht den binären Datenmassen entnommen hatte. Sie hörten ihm zu, dessen mathematischen Ausführungen sie besser folgen konnten als den logischen und erkenntniskritischen Einlassungen.

»Wir haben bisher nichts als eine leere Position, eine abstrakte Koordinate aus drei räumlichen und einem Bewegungsvektor. Das Objekt befindet sich exakt dort, wird alle paar Sekunden verifiziert und hat sich außer der viertelstündigen Eskapade vorhin noch keinen Ausrutscher geleistet.«

»Aber wenn es nur ein geometrischer Punkt ist, hat es keine Ausdehnung.« Theresa sah von ihrem Pult auf und zottelte an ihren strähnigen Haaren.

»In der Tat besitzen wir keinerlei Informationen über Abmessung, Gestalt oder Volumen.«

»Dann kann es kein Licht absorbieren und keine Sterne verdecken.«

»Das ist selbstverständlich richtig.«

»Ergo …«

»Also widerspricht sich jedes Messergebnis, das uns die Position des Objekts anhand eines Verdeckungsereignisses meldet, selbst dadurch, dass es an dieser Position kein Objekt gibt, das für eine Verdeckung herangezogen werden könnte.«

»Und ihr glaubt, das wird anders, wenn wir noch dichter herangehen?«

»Wie wäre es denn, wenn wir eine Sonde mitten durch die Koordinate X hindurchschießen? Dann werden wir ja sehen, ob da etwas ist.«

»Ich wundere mich immer wieder, Gus, wie eine Position der Furcht zu Aktionen von derart aggressiver und provokanter Brisanz umkippt.« Carlssen wirkte ungeduldig und zugleich ernsthaft empört. Er schloss die Augen, umfasste die Stirn mit der rechten Hand und presste die ädrigen Schläfen zwischen den Fingern. »Erst sollen wir abhauen und dann am besten das Ding in die Luft sprengen. Wir können ja den Kilowattlaser drauf abbrennen.«

»Von mir aus.« Gus warf sich feist herum. »Ich gehe da jedenfalls nicht raus und mach mit dieser Luftblase ohne Blase und ohne Luft Shakehands.«

»Gar keine so schlechte Definition.« Silesio erzeugte ein Bündel von Krähenfüßen um seine grauen Augen. »Was bleibt von einer Seifenblase, wenn wir die seifige Blase und die Luft, die sie umspannt, wegnehmen? Vielleicht nichts. Vielleicht aber auch ein abstrakter Sinneseindruck, ein Phänomen wie das ölige Schillern, das von der Haut hervorgerufen, aber nicht mit ihr identisch ist. Vielleicht eine Empfindung oder eine Erinnerung. Wo ist die Seifenblase, die du vor 50 Jahren über eine Wiese hast wehen lassen? Sie existiert nicht mehr und doch siehst du sie vor dir. Wenn wir die Metapher wieder umdrehen, haben wir das Opak: Es existiert, obwohl wir es nicht sehen und nicht einmal eine bildhafte Vorstellung von ihm haben. Nur eine mathematische Umschreibung und eine Definition als ausdehnungslosen Punkt. Wie erklären wir uns das?«

»Das ist es!«

»Wie groß ist es?«

»Ich kann nichts sehen.«

»Ich habe es immer gewusst.«

»Silesio, was macht die Telemetrie?«

»Immer langsam.« Der Chefprogrammierer blieb in seine Anzeigen verkrochen. »Wir haben eine sehr schwache Abtastung im ultravioletten Bereich – Moment: Ich schaffe es nicht, eine dreidimensionale Darstellung zu generieren. Das ist ein verdammt unsichtbares Ding.«

»Sag halt, was du hast.«

»Nun: Die größte bisher feststellbare Ausdehnung beträgt etwa 367 Meter. Es ist nicht scharf umrissen, sondern scheint sich logarithmisch in den leeren Raum zu verlieren.«

»Die Längsachse beträgt also …«

»Von einer Achse kann man nicht sprechen, da es keine körperliche Gestalt aufweist.«

»Aber du sagtest doch …«

»Das ist die maximale Ausdehnung seines Bereichs. Vielleicht stellen wir uns eher ein Phänomen von Feldcharakter vor.«

»Meinetwegen. Breite, Tiefe, Symmetrien.«

»Es nimmt ein gewisses Quantum Raum ein. Eine Volumenbestimmung war allerdings nicht möglich. In der Richtung der geringsten Erstreckung scheint es gegenwärtig ungefähr einhundert Meter zu messen.«

»Wieso gegenwärtig?«

»Es fluktuiert natürlich.«

»Natürlich. Was auch sonst? Wir wissen also nicht, wie groß es ist und wie es geformt ist, aber wir wissen, dass es Größe und Gestalt verändert.«

»So in etwa.«

»Wo ist es jetzt?« Groenewold stand mitten auf der Brücke. Ihre Frage schien an Gus gerichtet, der aus dem großen Backbordfenster den leeren Raum anstarrte. »Wie weit ist es noch weg?«

»Bezogen auf den Ortungspunkt befinden wir uns in genau einem Kilometer Distanz.« Theresa saß aufrecht vor den Monitoren voller irrationaler Daten. »Bezogen auf die wie immer geartete Oberfläche also hundert Meter weniger. Das ist alles sehr rätselhaft und es macht das Navigieren nicht einfacher. Commander, was hältst du davon, wenn wir noch näher rangehen?«

»Es ist deine Entscheidung, aber ich glaube gutheißen zu können, dass wir uns auf 500 m ranschleichen. Silesio?«

»Im Augenblick habe ich eine maximale Ausdehnung von 298 m und eine minimale Erstreckung von 126 m. Ich glaube, ich kann eine Distanzverringerung vertreten.«

Die Erste Offizierin, die aktuell diensthabende Schichtführerin war, brachte uns dichter heran. Die Daten blieben im Rahmen dessen, was die Lambdamodule seit den frühen Morgenstunden meldeten. Das Objekt schien eine maximale Größe von 400 m nicht zu überschreiten. Manchmal zog es sich auf weniger als 100 m zusammen. Es pulsierte, wobei es nicht mehr überraschte, dass die Abfolge dieser Aufblähungen und Kontraktionen – ganz abgesehen davon, dass sie trotz allem keine räumliche Gestalt, geschweige denn irgendwelche Aussagen über Oberflächenbeschaffenheit, spezifische Dichte oder gar materielle Zusammensetzung ermitteln konnten – keinerlei rhythmischem Grundmuster gehorchte. Theresa navigierte mit erbitterter Entschlossenheit und schob die Dorset schließlich so weit vorwärts, dass sie das Opak im Maximalstadium fast hätten berühren können. Wäre es ein feststoffliches Objekt gewesen, sie hätten den Andockstutzen ausfahren können. So hätte der Landungssteg freilich ins wabernde Nichts hineingeführt. Theresa programmierte die Automatik, das Schiff im Fall einer Alarmsituation selbsttätig auf mehrere Kilometer Distanz zurückzunehmen, ließ die Brückenbeleuchtung auf Rotlicht gehen und erhob sich. Sie nahm Carlssens Arm und bedeutete den anderen, ebenfalls aufzustehen. Sie folgten ihr ans große Panoramafenster auf der Backbordseite, wo sich Gus schon mit verächtlichem Schweigen hinter seinen Oberarmen aufgebaut hatte. Und dann sahen sie es.

Anfangs erkannten sie nichts außer der öden Pracht des Sternenhimmels. Einige Bilder der Ekliptik, die winterlichen Sternzeichen von Löwe und Zwillingen, die vor der ebenmäßigen Flut des kosmischen Funkelns fast verschwanden. Ein einzelnes, weit entferntes Licht flackerte und flimmerte. Wie immer, wenn man einmal auf eine Erscheinung aufmerksam geworden ist, entdeckten sie jetzt auch an anderen Sternen ein leises Flirren und Opaleszieren. Der Himmel lag wie in einer klaren Frostnacht in der Tiefe eines irdischen Februars vor uns. Und plötzlich begriffen sie: Das war das Opak. Das Sternenlicht blinkte und szintillierte wie auf der Erde, auf dem Grund einer strudelnden Atmosphäre. Nicht klar und unbewegt und gleißend, wie der Raum für gewöhnlich jenseits tumultuarischer Luftschichten wirkt, sondern glitzernd und schillernd, von öliger Bewegung durchströmt, die einzelne Sterne um Nuancen verblassen, andere wie Glanzlichter aufleuchten ließ, so war ihr Blick. Der sonst so harte, festgefrorene Hintergrund wirkte, als scheine er gebrochen und von viskosen Wellungen durchflutet aus einer Flüssigkeit heraus, die seinen Glanz mit einem undulierenden Film von wächserner Konsistenz umspülte. Erhitzte Luftschichten, die über dem Dunst einer stofflichen Wüste flimmern, zerbrodeln so die Glut der Landschaften, die taumelnd hinter ihnen liegen. Seidene Nebel, die über bambusbestandenen Anhöhen heruntergleiten, verfremden taoistische Szenerien zu traumhaften und fantastischen Exotismen.

»Das ist es.« Silesio wandte den Blick nicht von dem sonderbaren Phänomen. Der greisenhafte Glanz seiner wässrigen Augen machte ihn plötzlich sehr alt.

»Es sieht aus wie eine Blase aufgeheizter Luft, die, von irgendeiner Oberflächenspannung zusammengehalten, durch den leeren Raum trudelt.« Carlssen hatte unwillkürlich den Arm um Theresa gelegt, die schmächtig neben ihm stand.

»Es ist nicht materiell.« Der Chefprogrammierer schnäuzte sich umständlich die Nase. »Wenn es auch nur ein einziges Stickstoffatom enthalten würde, hätten wir es längst analysiert.«

»Und wegen dieses Geblubbers kurven wir seit drei Monaten in der Finsternis herum!« Gus wischte eine Bewegung Groenewolds mit griesgrämigen Ellenbogen weg.

»Können wir nicht irgendetwas auf der anderen Seite in Stellung bringen? Eine Plane oder verspiegelte Folie oder so was? Dann würde es sich deutlicher abheben.« Theresa sah aus, als wäre sie schon damals am liebsten gleich ausgestiegen und an dem Ding herumgeklettert.

»Sein Wesen ist Undeutlichkeit und buchstäblich Un-Fassbarkeit.« Silesio war immer noch bewegt und steigerte sich in eine geradezu religiöse Ergriffenheit hinein. »Man kann es nicht auf Begriffe bringen.«

»Aber wir sind hier, um es zu erforschen.« Es war das erste Mal, dass der Commander seinem Chefideologen so klirrend widersprach. Er ignorierte den achtungsvollen Seitenblick, den Gus ihm über Evchen hinweg zuwarf, und ordnete die anschließenden Maßnahmen an.

In den folgenden Tagen wurden unzählige Prozeduren und Routinen vorgenommen. Das Opak wurde mit energiearmen Rubinlasern abgetastet und mit Funksignalen bestrichen. In pausenlosem Schichtbetrieb wurde das gesamte zur Verfügung stehende Repertoire der Dorset, immerhin einem speziell für derartige Erkundungen ausgerüsteten Explorer, zum Einsatz gebracht. Ein Schwarm kleiner Sonden wurde freigesetzt, die das Objekt umkreisten und mit hochsensiblen Instrumenten auf Schwerefelder oder Wechselwirkungen untersuchten. Drohnen brachten Spiegel auf der anderen Seite in Position, sodass die Batterie der Backbordscanner das Phänomen gegen einen fixen Hintergrund ins Kreuzfeuer nehmen konnte. Der mehrere hundert Meter lange Greifarm unseres Schiffes wurde mit dem feinsten Detektorenkopf versehen und ausgefahren. Zuerst schien es, als weiche das Opak zurück, was immerhin eine erkennbare Handlung oder Reaktion bedeutet hätte. Aber dann stellte sich heraus, dass es eine kontingente Fluktuation gewesen war, denn später dehnte es sich wieder aus und umschloss den Messgreifer, der fünfzig Meter tief in den Bereich des sacht pulsenden Objektes eingedrungen war, ohne Ergebnisse zu liefern, die sich auch nur um Nuancen von der Durchleuchtung des normalen interplanetarischen Vakuums unterschieden hätten.

Eine ratlose Stumpfheit griff in der Crew um sich, die umso schlimmer war, als sich die ursprüngliche Skepsis gelegt zu haben schien und auch kurzfristig einem aufatmenden Aktionismus gewichen war, nachdem sie das rätselhafte Ding sogar mit eigenen Augen gesehen hatten. Als die unleugbaren Experimente nichts anderes herausbrachten, als dass da nichts, das nackte unerforschliche Nichts, neben uns herschwebte, fiel die Euphorie in Depression zusammen. Unnötig zu sagen, dass Gus für den sofortigen Abbruch der Expedition plädierte und dass auch Groenewold, zusätzlich frustriert, weil der Bordingenieur zu der Gewohnheit übergegangen war, sich in den dienstfreien Zeiten in seiner Kabine einzuschließen, nur noch widerwillig zu den Schichten erschien und sämtliche Manöver unter wortlosem Protest ausführte.

Silesio füllte hunderte von Terabytes in seine privaten Dateien mit scholastischen Reflexionen über das Wesen des Un-Dings und die Phänomenologie des Nichtphänomens, zeigte für den wissenschaftlichen Fortgang der Mission aber immer weniger Interesse. Irgendwo in seinem weißhaarigen Hinterkopf schien er seinen Frieden mit dem unerklärlichen Objekt gemacht zu haben, und sei es auch nur dadurch, dass er ihm die Unerklärbarkeit als nicht weiter hinterfragbare Wesenheit definitorisch unterschob.

Commander Carlssen verbiss sich in kommentarlose Pflichterfüllung, die den Gedanken an ein Scheitern der Exploration gar nicht erst aufkommen ließ und sich jegliche Spekulationen versagte, solange das Instrumentarium der Dorset noch nicht bis zum letzten Fernaufklärer ausgeschöpft war. Und selbst Theresa hatte ihre alerte Unbekümmertheit eingebüßt. Die zerstreute Beflissenheit, in der sie allen dienstlichen Anforderungen nachkam, ließ einen Untergrund von Haltlosigkeit und tief sitzender Irritation erkennen. Sie vermied alle privaten Kontakte und Gespräche und entzog sich selbst dem Commander, der seinerseits keine Sehnsucht nach ihrer Gegenwart bekundete; oft sah man sie allein, mit angezogenen Beinen auf einem der Schwenksessel der Messe hocken und über eng umschlungene Knie hinweg das ungreifbare Mysterium anbrüten, das jenseits der Panoramafenster unbeeindruckt seine Bahn entlangschwieg.

Am vierten Tag nach dem Andocken, wie das Längsseitsgehen im Jargon der Crew genannt wurde, berief Commander Carlssen die Mannschaft zu einer Konferenz in die Messe. Der sofortige Heimflug, wie er von Groenewold und Gus ungefragt vorgeschlagen wurde, stand von vornherein nicht zur Diskussion, zumal die für Öffentlichkeitsarbeit zuständigen Stellen auf Luna III sich allmählich nicht mehr mit präzise formulierten Vagheiten und spektakulären Bildern von davonfauchenden Robotdrohnen abspeisen ließen, die inhaltlich genauso wenig besagten. Dennoch war das wissenschaftliche Repertoire des Explorers weitgehend ausgeschöpft, ohne dass auch nur ein einzelnes Byte verwendbarer Information hätte gewonnen werden können. Das Opak modifizierte zum Beispiel das sichtbare Licht der Hintergrundsterne, das hatten sie selbst mit bloßen Augen gesehen; aber es war bei aller Spitzfindigkeit der instrumentellen Anordnungen nicht herauszubekommen gewesen, wie oder wodurch die Lichtstrahlen beeinflusst wurden, geschweige denn wovon. Die einzige Halbherzigkeit, die der Commander seiner Crew vorschlagen konnte, war daher, abzuwarten und die laufenden Observationen über längere Zeiträume zu verfolgen, um vielleicht doch noch den Ansatz einer Antwort zu erhaschen. Gus verkündete, sich umgehend aufs Schlafdeck zu verfügen, wenn diese Drohung wahr gemacht werden sollte. Groenewold begann, schüchtern vor sich hin zu schniefen. Silesio erhob sich mit der Würde eines Nestors und erklärte weitschweifig, er könne noch Monate damit verbringen, einer philosophischen Theorie des Opak nachzusinnen, wie er überhaupt zu der Auffassung gelangt sei, eine meditativ-kontemplative Herangehensweise sei dem Phänomen angemessener als eine positivistische. Freilich gab er zu, dass er nur aus persönlicher Langmut heraus argumentieren könne, womit organisatorisch wenig anzufangen war. Schweigen kondensierte unter dem bläulichen Halogenlicht.

»Ich gehe raus.« Theresa setzte ihr lapidarstes Gesicht auf und zog die Handschuhe an.

»Ich würde es dir verbieten, wenn ich damit rechnen würde, dass irgendetwas passiert. Da ich davon ausgehe, dass überhaupt nichts geschieht, weise ich dich auf die völlige Sinnlosigkeit eines derartigen Unterfangens hin.« Commander Carlssen war nach der mehrstündigen Verhandlung mit den lunarischen Bürokraten zu erschöpft, um seinen Protest weiter auszuführen. »Mach wenigstens eine gute Figur, damit wir den Heinis auf Luna III ein paar schöne Bilder faxen können.«

»Hab ich schon jemals keine gute Figur gemacht?« Die Erste Offizierin verstaute ihr Haar in einem flüchtigen Knoten und nahm den Helm aus der Halterung.

»Wie willst du es machen?« Gus assistierte ihr, als sie das verspiegelte Visier verschraubte, und überprüfte die Selbsttests des Atemgerätes, das rasselnd zu arbeiten begann.

»Ich nehme eine von den EVAs und gehe bis auf ein paar Meter ran.« Man hörte ihre Stimme jetzt über die Lautsprecher der Automatik. »Dann steig ich aus und lass mich vom kleinen Greifarm rübersetzen.«

»Behalt auf alle Fälle die Nabelschnur an.« Der Bordingenieur zeigte ihr noch einmal den Stutzen an der Hüfte, wo sie sich in die externe Versorgung einklinken konnte.

»Und dann?«

»Dann werde ich Kontakt aufnehmen.«

»Bestell auch schöne Grüße.« Carlssen verließ die Schleuse des Drohnendecks, um von der Brücke aus ihren Spaziergang zu überwachen.

»Pass auf dich auf.« Gus half ihr beim Besteigen des kleinen Einmannshuttles und wartete, bis die Luke eingerastet war.

»Solch zärtliche Anwandlungen aus deinem Munde?« Sie klang jetzt weiter entfernt, als spreche sie durch ein langes dunkles Rohr. Gus sah durch das Bullauge zu, wie sie die Armaturen der EVA prüfte.

»Wir sind trotzdem ein Team.« Er aktivierte den Schwenkarm, der das halbautomatische Fahrzeug in den Schacht hinüberhievte. »Alles klar zum Ausklinken?«

»Roger. Schieß mich raus!«

Gus stand hinter dem Kontrollfeld, bis das Schleusenschott geschlossen war. Dann berührte er die grüne Schaltfläche auf der Hauptkonsole. Silbriger Rauch platzte auf, als die Düsen das Shuttle in den Raum hinausstießen. Er übergab an die Selbststeuerung und verfolgte, wie Theresa das Triebwerk zündete. Sie rollte über die Dorset hinweg und nahm Kurs auf das selbstgenügsame Flimmern des Opak.

»Okay, ich bin jetzt wohl direkt dran. Silesio, wie bewegt es sich zurzeit?«

»Es hat eine Phase stärkerer Aktivität hinter sich und scheint sich gerade zu beruhigen. Gegenwärtig ganz langsame Kontraktion von weniger als einem Meter pro Minute. Du bist jetzt etwa fünf Meter von der Außenhülle entfernt.« Der Chefprogrammierer ließ die Automatik online mit dem Shuttle gehen, das auf einer Nachführbewegung auf konstantem Abstand zu dem unsichtbaren Objekt gehalten wurde. »Du kannst jetzt aussteigen.«

»Mach keinen Blödsinn da draußen.« Carlssen hatte sich hinter Silesios Sessel aufgebaut und verfolgte, abwechselnd auf den Schirmen und an den Panoramascheiben, Theresas Manöver.

»Ich entsichere die Luke, aktiviere die externe Versorgung via Nabelschnur.« Theresa kommentierte jede ihrer behutsamen Aktionen. »Jetzt bin ich draußen; könnt ihr mich sehen?«

Auf den Videomonitoren, deren Bilder ungeschnitten nach Luna III überspielt wurden, sah man die silberweiße und ungewohnt pummelige Gestalt, wie sie maskenhaft in die Kameras winkte. Mit bloßem Auge wirkte das winzige Menschlein, das auf dem Rücken der bewegungslosen EVA entlangkrabbelte, unendlich verloren vor dem Hintergrund des schwarzen Sternenhimmels.

»Ich bin am Kran und klinke den Sicherungskarabiner ein. Alle Systeme arbeiten einwandfrei. Jetzt fahre ich den Arm aus. Ein Meter, zwei …«

Die beiden Männer auf der Brücke sahen zu, wie Theresa von der armdicken Gitterkonstruktion emporgehoben und dem nackten Nichts entgegengefahren wurde.

»Fünf Meter. Dann bin ich jetzt also direkt dran.«

»Was siehst du?« Groenewold, die sich auf dem Sanitätsdeck einen Tranquilizer besorgt hatte, kam ins Cockpit zurück und setzte sich auf den seitlichen Platz der Kommandobrücke.

»Eigentlich – natürlich – gar nichts.«

»Was hattest du erwartet?« Carlssens Geduldsfaden schien sich dem Ende zu nähern, gleich würde er sein Kind vom Spielen zurück ins Haus rufen.

»Wie bei einem ganz normalen Weltraumspaziergang.«

»Versuch, durch es hindurchzusehen.« Silesio hatte die stoische Gelassenheit der letzten Tage abgelegt. »Siehst du das gleiche Flimmern wie von hier aus?« Der Chefprogrammierer klang, als wäre er am liebsten selbst dort draußen.

»Ich … ich weiß nicht.« Die wacklige Gestalt auf den Monitoren drehte sich herum und bot eine melancholische Rückenansicht à la Caspar David Friedrich. Man stellte sich unwillkürlich vor, dass sie die Augen mit der flachen Hand beschattete und den Horizont einer dampfenden Prärie absuchte.

»Ich … Das ist … Oh …«

»Was ist los?«

»Ich sehe etwas.«

»Was ist es?«

»Mein Gott!«

»Theresa, bist du in Ordnung?«

»Wie?«

»Theresa!«

»Ich bin … Es geht mir gut.«

»Was hast du gesehen?«

»Ich sehe es immer noch. Es ist … Ich kann es unmöglich beschreiben.«

»Versuch es!«

»Oh … Es ist so …«

»Hast du keine Handkamera dabei?« Silesio betätigte den Zoom der Außensensoren, aber da war nichts. Nur die spiegelnde Figur der einsamen Astronautin, die verliebt vor sich in den leeren Raum hinausgestikulierte.

»Ich sehe etwas und sehe doch nichts. Ich habe … Eindrücke und kann sie nicht in Worte fassen. Es ist … wie ein Traum … oder wie die Erinnerung an einen Traum. Alles ist plastisch und konkret – und doch kann ich es nicht beschreiben. Ich sehe … Strukturen. Ich bin an seiner Oberfläche. Es sind … Mein Gott! Alles, was ich sage, sind Metaphern und schlechte Umschreibungen. Narben, Noppen, Kassetten. Es ist untergliedert. Schwarz natürlich und völlig … ja: opak. Dunkel und konturlos und meistens sieht man die Sterne hindurch. Aber doch wie Schuppen eines Fisches oder Panzerungen eines Reptils vielleicht, gleichförmige Platten.«

»Wie groß sind die Einzelsegmente?«

»Keine Ahnung. Ich habe keine Vorstellung von den Dimensionen. Mir fehlt irgendein Anhaltspunkt.«

»Es scheint unmittelbar vor dir zu sein.«

»Du meinst, ich könnte es berühren?«

»Theresa, sei vorsichtig!«

»Ich strecke jetzt die Hand aus.«

»Es bietet natürlich keinen Tastwiderstand.«

»Ich scheine in es einzudringen.«

»Pass bloß auf.«

»Verdecken diese Strukturen deine Hand oder werden sie von ihr überdeckt?«

»Ich kann es wirklich nicht sagen. Also wenn ich unmittelbar dran bin, sind diese einzelnen … Fächer etwa einen halben Meter, vielleicht, oder doch eher zwei bis drei. Nein, es ist unmöglich.« Sie verstummte. Ein fremdartiges Schluchzen kratzte an den Lautsprechern.

»Theresa! Bist du in Ordnung?« Carlssen war weiß wie eine überdehnte Sehne.

Nur würgendes Röcheln.

»Silesio, hol sie da raus!« Der Commander wies auf das Pult, von dem aus die EVA ferngesteuert werden konnte.

»Nein, wartet!«

Ein Schniefen tropfte aus der knisternden Akustik.

»Theresa! Was ist denn los? Sollen wir den Kran zurückfahren.«

»Nein, es geht mir gut. An so was haben die Anzugkonstrukteure wieder nicht gedacht.«

»Ist dir schlecht? Hast du dich übergeben?«

Evchen klang besorgt.

»Ich bin … okay …«

»Sie weint.« Silesio zog langsam die Hand zurück, die über dem Notfallschalter des Bedienpultes schwebte.

»Ihr könnt euch das einfach nicht vorstellen.« Die Erste Offizierin hatte sich gefasst. »Ich war noch nie in meinem Leben so verwirrt. Höchstens als ich zum ersten Mal meine Tage hatte; aber das könnt ihr zwei euch ja auch nicht vorstellen. Ich lege meine Hand auf diese Oberfläche, spüre natürlich nichts. Kein Widerstand. Ich kann nicht einmal sagen, ob ich es berührt habe oder ob ich sogar durch die … Membran hindurchgestoßen bin. Aber meine Hand ist ganz warm – und diese Muster.« Sie schluckte wieder. »Es ist so … wunderschön.«

»Theresa, es ist, glaube ich, besser, du kommst jetzt zurück.«

»Lass sie doch. Vielleicht ist da tatsächlich so etwas wie eine Reaktion.« Silesio glotzte sich die Augen an den Videomonitoren wund, die nichts als Theresas stumme Pantomime zeigten.

»Und wenn es irgendwelche Strahlen aussendet?«

»Die hätten wir längst auf den Anzeigen und bis aufs letzte Hertz analysiert.«

»Trotzdem. Theresa, hast du gehört?«

»Ich könnte ewig hier sein und es betrachten. Es ist …«

Plötzlich schrie sie und die Übertragung knarrte einen Augenblick, bis die Automatik die Verstärkung herunterregelte.

»Es ist weg!«

»Es ist zurückgewichen.« Silesio glitt mit gleichmütigen Händen über seine Anzeigen. »Es hat die Kontraktion impulsiv beschleunigt und sich auf ein neues Minimum begeben. Es ist von dir aus fünfzig Meter zurückgeschnellt.«

»Aber so plötzlich. Ich muss wieder näher dran. Silesio!«

»Ich glaube, du kommst besser zurück.« Carlssen hatte eindeutigen Befehlston in der Stimme.

»Könnt ihr die EVA steuern oder muss ich erst wieder einsteigen?«

»Komm da weg, es will dich hinter sich herlocken.« Groenewold ließ die Instrumente nicht aus den Augen .

»Ich will es noch einmal sehen.«

»Offizierin der EVA, ich befehle Ihnen, an Bord der Dorset zurückzukehren!«

»Wie ein Traum, den man vergessen hat und der abstrakt und verworren war.« Theresa lag auf ihrem Lieblingssessel in der Messe der Dorset, den sie in die Waagerechte zurückgefahren hatte. Sie hielt die Augen geschlossen; ab und zu nippte sie an einem Cognac. »Hauchfeine Linien, die diese obsidianschwarze Oberfläche strukturierten. Eigentlich bildeten sie sie zugleich, denn außer den Linien war ja nichts zu sehen. Keine Reflexe, keine materielle Beschaffenheit. Nur diese Muster, die sich – so kam es mir vor – zu regelmäßigen Gebilden zusammenschlossen.«

»Keine der Kameras oder der sonstigen Instrumente hat irgendetwas registriert.«

»Ihr wollt mir einreden, dass ich halluziniert hätte.«

»Soweit wir wissen, bist du geistig und körperlich vollkommen …«

»Danke!«

»… gesund.«

»Warum ist es zurückgewichen?«

»Es hat sich vollkommen im Rahmen der bisherigen Fluktuationen verhalten.« Silesio war das Bedauern darüber anzuhören, dass er sämtlichen Spekulationen das Wasser abgraben musste. »Weder die Heftigkeit der Positionsänderung noch die Tiefe der Kontraktion gehen über das bisherige Maß an Oszillationen hinaus. Wir hatten zwei Minima, die noch um einige Meter hinter deinem Ereignis zurücklagen, und mehrere spontane Kontraktionen, die noch ruckartiger waren. Von mathematischer Seite lässt sich keine Handlung, die als Reaktion zu interpretieren wäre, erkennen.«

»Aber ich spürte etwas. Zumindest eine starke Wärme in der rechten Hand.«

»Groenewold hat dir Gewebeproben entnommen und deinen Arm kernspintomografiert. Nichts deutet auf externe Energieeinwirkung hin. Immerhin müsste sie stark genug gewesen sein, um deinen Schutzanzug zu durchdringen, dessen Sensoren im Übrigen auch nichts erfasst haben.«

»Also bin ich wohl einfach plemplem!«

»Ich vermute einen Effekt nach Art des autogenen Trainings. Durch die extreme Konzentration, die du im Augenblick der vermeintlichen Berührung auf die Hand bündeltest, erzeugtest du eine verstärkte Durchblutung und damit Wärmeempfindung. Tibetische Mönche haben auf diese Weise nasse Tücher getrocknet, die man ihnen in eisigen Winternächten über die nackten Körper breitete.«

»Dann muss ich eben noch mal raus. Oder am besten, wir gehen zu mehreren.«

Die nächsten Tage vergingen ereignislos. Commander Carlssen rieb sich in unendlichen Verhandlungen mit Luna auf, die nicht nur ergebnislos verliefen, sondern bei denen auch kaum festzustehen schien, worum man sich überhaupt stritt. Silesio äußerte, als der Commander nach einer zwölfstündigen Marathonsitzung völlig entnervt auf die Brücke wankte, den Verdacht, das Opak könne seine Umgebung doch beeinflussen, zumindest erscheine ihm das Verhalten Carlssens und der Behörden, mit denen er im Clinch lag, allmählich genauso undurchsichtig und opak wie das unerklärliche Objekt, das die Unannehmlichkeiten ausgelöst hatte, einen Kilometer neben unserem Schiff. Sie blieben weiterhin längsseits und setzten die robotische Überwachung des fremdartigen Phänomens fort. Theresas Gequengel, dass sie – allein oder in Begleitung – einen weiteren Weltraumspaziergang unternehmen wolle, ging den anderen auf die Nerven und selbst Gus protestierte kaum noch, sondern trottete ergeben aufs Drohnendeck, wenn Carlssen ihn eine weitere Routine durchführen oder eine neue Sonde fertig machen schickte. Auch seine ätzende Negativität erlahmte und fast hätte uns seine neuartige Gleichgültigkeit unheimlich sein sollen. Sie klinkten noch einen Spezialsatelliten aus, der sich exakt im Inneren des wolkigen Objekts positionierte. Aber außer einer geringfügigen Verschlechterung des Funkverkehrs, die in etwa der Abschirmung der Lambda-III-Module entsprach, die sie auf der anderen Seite des Opak in Stellung gebracht hatten, ergab auch diese Maßnahme keine Resultate. Terabyte um Terabyte an leeren Daten, sinnlosen Informationen wurden in die Speicher der Dorset geladen. Messungen und Überwachungen, die sich in nichts von denen unterschieden, die sie registriert hätten, wenn sie einen x-beliebigen Quadranten leeren Raumes untersucht hätten. Zwei Wochen nach dem Rendezvous drohte sich ein Lagerkoller auszubreiten. Eine dumpfe, verstockte Schweigsamkeit beherrschte die Crew, die nur noch zu einzelnen gereizten Wutausbrüchen ihr schwerfälliges Brüten unterbrach. Selbst die alltäglichen Manöver und Kontrollen wurden wortlos oder unter aggressivem Genuschel durchgeführt. Und dann geschah es.

»Kommt schnell, so kommt doch! Warum hört mich denn niemand?«

Die Alarmanlage schrillte elektrisch, aber sie war nicht von Durchsagen der Automatik begleitet. Jemand musste sie manuell betätigt haben.

»Wo bleibt ihr denn? Theresa! Commander! Oh mein Gott!« Groenewold rannte über den Gang des Wohntraktes, in dem sich eben die ersten Türen öffneten. Sie trug nur einen fleischfarbenen BH und eine Stretchhose, in der sie anscheinend zu schlafen pflegte. Ihre Augen waren rot und ließen vermuten, dass sie sonst Kontaktlinsen benutzte. »Er dreht durch! Wir müssen ihn sofort zurückholen.«

Carlssen stürzte aus Theresas Kabine und lief, ohne seine Zweite Offizierin eines Wortes für würdig zu erachten, auf die Brücke hinaus.

»Automatik: Meldung!«

Seit ein paar Tagen war der Schichtbetrieb gelockert worden, sodass das Cockpit während der Nacht unbesetzt blieb, und natürlich passierte es kurz nach Mitternacht.

»Schadensmeldung und Selbstkontrolle! Aus welchem Grund wurde der Alarm aktiviert?«

»Ich war das.« Groenewold hatte den Commander eingeholt und betrat neben Theresa die Brücke.

»Was ist los? Ich habe keine Fehlermeldung?«

»Gus! Er ist auf dem Drohnendeck!«

»Als Bordingenieur ist das sein gutes Recht. Der Zeitpunkt ist allerdings etwas exzentrisch gewählt.« Carlssen ließ einen Monitor aufflammen und auf die Innenkamera des Drohnendecks gehen. Dort war nichts zu sehen.

»Automatisches Schott VII im Bereich des Shuttledecks geschlossen«, quäkte die Automatik. »Ein Mann mit A-13-Tornister bereit zum Ausstieg.«

»Er hat gesagt, er will das Ding fertigmachen.« Evchenwarf den anderen einen unguten Blick zu.

»Da ist er. Gus!« Carlssen hatte den Techniker im äußeren Bereich jenseits der Luftschleuse entdeckt. Er trug einen Raumanzug und einen düsengetriebenen Tornister, mit dem er sich frei außerhalb des Schiffes bewegen konnte.

»Gus, was machst du da?«

Die Gestalt auf dem Monitor reagierte nicht, sondern strebte entschlossen dem hinteren Schacht zu, der für personelle Ausstiege ohne Fahrzeuge vorgesehen war.

»Gus! Mach sofort Meldung!«

»Er hat seine Kommunikationsautomatik abgeschaltet; er kann uns weder hören noch mit uns sprechen.« Theresa versuchte, das Programm zu aktivieren, das in Notfällen den Kontakt zu handlungsunfähigen Astronauten ermöglichte. »Er hat den Empfänger manipuliert. Ich kann seine Blockade nicht durchbrechen.«

»Er wird sich etwas antun!« Groenewold hatte sich an Silesio gehängt, der als Letzter die Brücke betrat und mühsam versuchte, die Situation zu erfassen.

»Verdammt noch mal, was hat er vor?« Carlssen verfolgte, wie Gus schwerfällig den Schacht erkletterte. Er hatte einen armlangen Gegenstand dabei, den er jetzt an einer Schnalle seines Anzugs befestigte.

»Er blockiert die Kommunikation.« Theresa warf einen illusionslosen Blick zu Silesio hinüber, der sich an der Automatik zu schaffen machte.

»Aber er steht in Kontakt mit dem Hauptcomputer.« Silesio hatte die Benutzeroberfläche verlassen und betrachtete interessiert die kilometerlangen Directorys, die auf seinem schwarzen Schirm herunterratterten.

»Was macht er jetzt?« Groenewold beugte sich über Theresa. Die Erste Offizierin schaltete auf die Außenkameras um, die die Backbordansicht der Dorset zeigten. Die Luke des hinteren Schachtes wurde geöffnet. Gus stieß sich hinaus und schwebte einige Meter vom Schiff weg. Dann zündete er das Triebwerk auf seinem Rücken und beschleunigte rasch in einer weiten Kurve.

»Er will zum Opak!« Theresas Stimme hatte den hysterischen Klang einer Mutter, die um ihr Kind fürchtet.

»Sonst ist ja auch nicht sehr viel los hier draußen.« Carlssen fügte sich in sein Schicksal der Untätigkeit und sah harmlos zu, wie Silesio sich durch die virtuellen Innereien der zentralen Automatik wühlte.

»Um Himmels willen, es wird etwas Schreckliches geschehen!« Groenewold plumpste auf einen freien Sessel und starrte ergeben vor sich hin.

»Er ist in Kontakt mit dem Bordcomputer.« Silesio sprach leise durch die konzentrierten Zähne. »Er lässt sich permanent irgendetwas überspielen.«

»Er ist fast da.« Theresa hatte Gus auf seiner zielbewussten Flugbahn mit dem Zoom der Außenkamera verfolgt.

»Was hat er da bei sich?«

»Geh mal näher ran.«

»Dieses Ding da, oberhalb seiner rechten Hüfte.«

»Er wird es attackieren und es wird ihn verschlingen.«

»Da ist nichts, Groenewold, was er attackieren könnte. Geh noch dichter dran!«

»Siehst du es, dieses lange schwarze … Scheiße!«

»Er hat den Kilowattlaser! Automatik: Backbordabschirmung auf höchste Leistung. Wenn er mit dem Ding herumfuchtelt, macht er uns hässliche Löcher in die Außenhaut.«

»Vielleicht kann ich seine Blockade überlagern.« Silesio grub sich ungerührt in den Softwaresalat ein. Auf den Monitoren hatte Gus seinen Antrieb gedrosselt und leicht gegengesteuert. Er bremste ab und löste den schwarzen Zylinder von seinem Hüftgurt.

»Er will es pulverisieren, der Idiot!«

»Theresa, ich vermute, bis du mit dem Shuttle draußen bist, ist es zu spät. Können wir eine Drohne an ihn heransteuern, dass sie ihm einen Klaps auf den Hinterkopf gibt?«

»Momang.«

»Jetzt!« Silesio klang freudig erregt. »Er ist raffinierter, als ich dachte. Er lässt sich die aktuellen Erfassungsdaten auf das Visier projizieren. So kann er es sehen, auch wenn er es nicht so wie Theresa sieht.«

»Schlaues Kerlchen. Das muss ihn einige Nachtarbeit gekostet haben.«

»Oh Gott, er wird uns alle umbringen!« Evchen starrte auf den Videoschirm. Gus hatte sich mit kurzen, magnesiumblau aufblitzenden Triebwerksstößen einige Meter vorwärts geschoben. Jetzt hob er den ausmontierten Laser und stellte etwas an einem seitlichen Schalter ein.

»Das Ding braucht zwanzig Sekunden zum Aufheizen, so lange haben wir noch Zeit. Silesio?«

»Gleich hab ich ihn.«

Ein mehrmaliges Krachen in den Lautsprechern, das nicht nur Groenewold zusammenschrecken ließ, ging in lautes Keuchen und Stöhnen über. Gus schien verbissen vor sich hin zu sprechen. Fetzen wie »Scheißding« und »Ins All blasen« waren zu hören. Der Ingenieur fühlte sich »seit Monaten terrorisiert«.

»Kann er uns hören?« Carlssen wartete das indifferente Kopfnicken seines Chefprogrammierers nicht ab. »Gus! Ich wünsche sofortige Meldung!«

Der Astronaut, der vor den Weiten des leeren Raumes mit der Bedienung des zylindrischen Gerätes kämpfte, hielt inne.

»Ingenieur der Dorset, ich befehle Ihnen, Meldung zu machen und an Bord zurückzukehren!«

»Lasst mich bloß in Ruhe!« Jetzt war die verzerrte Stimme deutlich zu vernehmen. »Ihr könnt mich alle am Arsch lecken.« Er wandte sich wieder dem Laser zu und hob ihn auf Brusthöhe. Obwohl das Gerät schwerelos war, handhabte er es, als wäre es von großem Gewicht.

»Kannst du diese Projektion unterbinden? Vielleicht hält ihn das auf.«

»Bin schon dabei.«

Die Alarmanlage jaulte wieder auf. Theresa zuckte zusammen, fasste sich aber und aktivierte den Monitor, der hektisch um Aufmerksamkeit blinkte.

»Was ist passiert?«

»Er hat gefeuert. Eine der Drohnen hat den Lichtblitz registriert.«

»Modul III/2, um genau zu sein.« Theresa vergrößerte die Anzeige. »Er ist durchgedreht. Er knallt im luftleeren Raum rum.«

»So, jetzt müsste der Datenfluss unterbrochen sein.« Silesio ließ seinen Schirm wieder auf die normale Oberfläche zurückspringen.

»Scheiße!«, hörte man aus den Lautsprechern. »Ihr Schweine … werd euch …« Dann erstickte seine Wut in einem Gurgeln.

»Er hat den Laser auf höchster Leistung. Ich kann ihn über die Außensensoren abtasten.«

»Ingenieur der Dorset!« Carlssen versuchte es emotionslos weiter. »Dies ist ein Befehl.«

Und sie erschraken doch und sahen von ihren Monitoren auf. Eine lautlose, permanganatfarbene Explosion glühte in der Nacht des entweihten Himmel auf. Ein fahl umzackter Blitz, der zu kalten Funken verrieselte.

»Was war das?«

»Er hat eine der Drohnen getroffen, Modul III/3.«

»Vermutlich reiner Zufall. Er kann es ja nicht einmal sehen.«

»Carlssen, unternimm was! Wir müssen dieses wahnwitzige blindwütige Geballere beenden.«

Theresa hatte jeglichen Humor verloren und sah besorgt zur Backbordscheibe hinaus. Wo man das im luftleeren Raum unsichtbare Lasergemetzel nicht vermutete. Aber plötzlich ging es sehr schnell. Über die Lautsprecher hörte man ein animalisches Keifen. »Kugel in der … Stein …« Sein ergebnisloser Grimm schien mit Gus durchzugehen. Er zündete sein Tornistertriebwerk und stürzte sich mitten in das reglose Opak hinein, wie wild aus der schweren Laserwaffe um sich feuernd. Dann verlor er die Kontrolle und überschlug sich. Für einen Sekundenbruchteil erfüllte tiefrotes Rubinlicht die Brücke, als ein Strahlenbündel an der Abschirmung des Schiffes detonierte und gestreut wurde.

»Energieverlust mittschiffs«, blökte die Automatik.

Im gleichen Augenblick überflutete eine weitere Explosion das fokussierte Schwarz der Videoschirme. Ein entsetzlicher Schrei und ein kreidiges Sägen erstarben in den Lautsprechern. Sonderbar aufgefetzt und zerbläht trieb der leblose Körper davon.

»In düstrem Schweigen richtet Gott.«

Carlssen sah konzentriert auf die Grafiken, die unverändert die pulsierende Blase des Opak nachzeichneten.

Nach Gus’ Tod wurde es noch gespenstischer auf der Dorset. Woche um Woche verging und allmählich stieg der Verdacht in ihnen auf, dass sie es niemals mehr fertigbringen würden, die Flugbahn des Opak zu verlassen und die Erde anzufliegen, deren Orbit längst das nähere Ziel als die Leibniz war. Sie unterquerten den Asteroidengürtel, durch ihre Neugier und durch seine Unerklärbarkeit an das Objekt festgekettet, auch wenn sie ihm kaum noch Aufmerksamkeit schenkten. Luna III war inzwischen zu der Überzeugung gelangt, dass es sich um ein ungefährliches und ansonsten uninteressantes Phänomen handle. Die Flugbahnberechnungen ergaben, dass es die Erdbahn an einer Stelle passieren würde, die um fast 90° von der aktuellen Position unseres Heimatplaneten versetzt sein würde. Man gab ihnen freie Hand für die weiteren Beobachtungen und überließ sie unserem unersättlichen Überdruss. Mehrere Spaziergänge, die Theresa von Carlssen oder Silesio begleitet unternahm, wiederholten die Eindrücke ihres ersten. Auch die Männer sahen das seltsame hauchfeine Linienspiel, das eine unbeschreibliche Kontur der substanzlosen Oberfläche nachzuzeichnen schien. Darüber hinaus gewannen sie keine Erkenntnisse. Mehrere Dutzend Drohnen und Roboter umschwärmten das Objekt und lieferten unvorstellbare Massen an nutzloser Information. Silesio differenzierte seine Beschreibungen; er unterschied, je näher wir den geostationären Teleskopen kamen, erst ein Alpha-I- von einem Alpha-II-Opak, um später noch ein Gamma- sowie ein asymptotisches Delta-Objekt, das sich innerhalb der virtuellen Beschreibungen auf einer mathematischen Metaebene befand, zu definieren. Sie vermaßen das Nichtexistente und trieben dabei die Kartografie des Unerklärlichen zu höchster Perfektion. Die Dorset durchschnitt die Mars- und die Erdbahn und näherte sich dem friedvollen Reich der Venus. Die Abschirmung musste erhöht werden, da sich die Bugschilde zu erhitzen drohten. Für sonnennahe Missionen war das Schiff nicht konstruiert; es operierte für gewöhnlich in interstellarer Arktis. Einige Abende vor dem Ereignis hatten Carlssen und Silesio ein langes Gespräch.

»Wie habt ihr’s, Guter, mit der Religion?« Der Commander hatte aufgepasst und ließ seinen Läufer diesmal, wo er war.

»Du weißt: Ich bin überzeugter Skeptiker und von Geburt an Atheist.«

»In den letzten Wochen wirkst du – verändert.«

»Obwohl ich nach Erdzeit über hundert Jahre alt bin, versuche ich, auf neue und fremdartige Phänomene zu reagieren.« Silesio wandte den Blick nicht von dem Steckschach ab, das er vor einem Menschenalter auf einem indischen Basar erstanden hatte. »Und wenn das da draußen kein ungewöhnliches Phänomen ist, weiß ich nicht, was das Wort bedeutet.«

»Es erschüttert dein agnostizistisches Weltbild?« Carlssen setzte zögernd einen weiteren Bauern vor und bereute es im selben Moment.

»Man sollte meinen, dass ein Skeptizismus – mit kräftiger Stoa gewürzt – durch nichts aus der Fassung zu bringen ist. Und doch beunruhigt mich dieses Nichtobjekt mehr, als ich mir bisher erklären konnte.«

»Durch seine Existenz oder durch sein Verhalten?« Der Commander sah fühllos zu, wie die Phalanx seiner Bauern dahingemetzelt wurde.

»Durch sein Nichtverhalten. Diese sentimentale Opernphrase, die du nach Gus’ Amoklauf …«

»In düstrem Schweigen …«

»… richtet Gott. Da hast du – und es wäre unhöflich, zu unterstellen, dass es unbewusst geschah – den Kern dieses beunruhigen Phänomens am Schopf gepackt.«

»Den Nagel auf den Kopf getroffen.« Carlssen trat die Flucht nach vorne an und bot dem gegnerischen König mit gelenkigem Springer Schach!

»Die Nichthandlung zur Handlung gemacht, das Nichtsein zum Sein uminterpretiert.«

»Es war eigentlich eher gedankenlos …«

»Das Ding hat nicht reagiert und, seit wir es beobachten, in keiner Weise gehandelt. Wenn man von irgendetwas sagen kann, dass es einfach nur da ist, dann von diesem Objekt.« Silesio ließ den Springer unter einem Turm verschwinden und ging zum Gegenangriff über. »Das war Gus’ Verhängnis, dass er auf etwas stieß – und eben nicht ›stieß‹ –, das seiner Attacke keinen Widerstand bot. Er rannte nicht offene Türen ein, sondern setzte den Rammbock an, wo weder Tür noch Rahmen war.«

»Das hob seinen Verstand aus den Angeln.«

»Er konnte nicht verstehen, dass es Dinge gibt, die er nicht verstehen konnte.« Silesio ließ seinen Läufer die Flanke wechseln und startete ein Umzingelungsmanöver. »Machbarkeitsfanatiker! Das ist das Sonderbare, dass ausgerechnet diese handwerklich begabten Schraubenschlüssel-Geister, die nun wirklich nicht sehr umfassend unterrichtet sind, sich nicht vorstellen können, dass es Phänomene gibt, die ihr Vorstellungsvermögen übersteigen. Es bedarf schon einer weit gespannten Bildung, um die Grenzen des eigenen Intellektes zu erfassen. Und erst ein Sokrates, der den Horizont menschlicher Möglichkeiten einmal umschifft hat, darf dann von sich sagen, dass er weiß, dass er nichts weiß.«

»Das ist dein Lieblingsthema, ich weiß.« Carlssen unternahm eine illusionslose Rochade, von der er wusste, dass sie das Ende nur hinausschieben konnte.

»Der Erkennende gelangt dahin, alle Erkenntnis zu relativieren.« Er hatte mit seinem Bauern die Ziellinie erreicht und stellte Carlssens König mit der neu erstandenen Dame ins Schach.

»Matt!« Der Commander streckte die Waffen und schnippste das weiße Figürchen in den Staub.

»In der Welt der Phänomene ist das Bewusstsein nur eine Randerscheinung.«

»Aber wo sind die Erscheinungen ohne den, dem sie erscheinen?«

Carlssen begann mit unverhohlenem Missmut, ein neues Spiel aufzustellen.

»Das Opak existierte, bevor es von uns kontaktiert wurde. Die Bahndaten deuten darauf hin, dass es von außerhalb des Sonnensystems, vermutlich von außerhalb der Milchstraße stammt. Glaubst du wirklich, es wäre in seiner Existenz davon abhängig, dass wir es orten, längsseits gehen und verständnislos anglotzen? Es schert sich nicht darum, ob wir es zur Kenntnis nehmen.«

»Vielleicht will es uns gerade dadurch – etwas sagen …« Carlssen probierte lustlos eine neue Eröffnung.

»Hast du das von Groenewold? Jeder Student weiß um den Unterschied, der zwischen dem Messergebnis ›0‹ und keinem Messergebnis besteht. Ein positives Ergebnis des Wertes ›0‹ kann man interpretieren, wo kein Ergebnis vorliegt, gibt es nichts zu deuten. Und wir haben hier kein Ergebnis.«

»Aber was hat es zu bedeuten, dass wir, trotz unglaublicher Anstrengungen, keine Ergebnisse erhalten? Offensichtlich ist es nicht einfach indolent, sondern widersetzt sich unserer Erkenntnisapparatur.«

Silesio brachte seinen getreuen Springer in Position.

»Mich beunruhigt nur, dass da offensichtlich etwas ist.«

»Und nicht nichts. Ich glaube nicht an einen Gott. Ich bin überzeugt davon, dass es keine moralische Weltordnung, keine Seele, kein Leben nach dem Tode gibt. Mein metaphysisches Bedürfnis hat sich ganz auf die eine Frage zurückgezogen, die nach aller rationalistischen Tabula rasa bestehen bleibt und über die wir uns niemals werden hinwegsetzen können, wie mein Pferd hier über die tumbe Batterie deiner Bauern. Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?« Silesio hatte die Stimme zur Rezitation erhoben und seinen Commander feierlich angesehen. Jetzt lehnte er sich zurück und schob ihm das Spielbrett mit müder Geste zu. »Schachmatt, übrigens. In vier Zügen. Du bist nicht bei der Sache.«

Carlssen würdigte seinen matten König keines Blickes mehr. Der Chefideologe fuhr fort.

»Es gibt nur diese eine Frage und zugleich wissen wir, dass wir sie niemals beantworten werden. Leider habe ich auch die fromme Illusion, in hora mortis würden wir der Wahrheit ins strahlende Angesicht blicken, inzwischen abgelegt. Wir werden sterben, wie wir lebten, im schmerzlichen Bewusstsein unseres vollkommenen Unwissens. Sieh hinaus, wie es flimmernd die Sterne überstreicht und gelassen seine opaleszierende Bahn beschreibt. Das Einzige, was ich über das Opak zu wissen glaube, ist, dass wir niemals herausbekommen werden, was es ist. Es ist die Kristallisation unseres Unvermögens. Natürlich können wir zu spekulieren anfangen und rastlose Hypothesen entwerfen. Vielleicht ist es ein eigenes Universum, eine Welt, die geschäftig und friedvoll unseren Kosmos durchquert. Oder ein Elementarteilchen, das durch eine Verwerfung des Quantenraumes in eine falsche Dimension geraten ist, ein Elektron, das versehentlich zur Größe eines Dorfes aufgeschwollen ist. Ich weiß es nicht und ich weiß, dass ich es niemals wissen werde. Anscheinend legst du keinen Wert auf eine weitere Partie?«

Die Dorset hatte den Rand ihres Operationsradius erreicht. Die Abschirmung lief auf 150 %, die Klimaautomatik hatte die Leistungsgrenze überschritten. Wir näherten uns der Merkurbahn, als Theresa in einem lakonischen Manöver die Bugraketen zündete und so eine Geschwindigkeitsverzögerung bewirkte. Das Schiff fiel hinter das Opak zurück, das unbeeindruckt der Sonne entgegenzog. Die Distanz nahm rasch zu, vor allem nachdem wir die Spur des Objektes, dem wir einige Tage noch mit zunehmendem Abstand gefolgt waren, endgültig verließen, den Merkur umrundeten und eine Beschleunigungsphase einleiteten, um zunächst auf einen Venusorbit zurückzugehen. Lethargische Wortlosigkeit herrschte an Bord, als wir begriffen, dass die Akten geschlossen waren. Tausende von Ordnern, gefüllt mit unbeflecktem Papier. Eine Woche nach dem »Abkoppeln« kam die Meldung von Luna III. Das Opak war verschwunden. Es hatte, kurz bevor es die äußere Sonnenkorona berührt hätte, aufgehört zu existieren. Noch einmal bemächtigte sich eine gewisse Aufregung der Behörden und auch der Besatzung der Dorset. Aber an der Tatsache gab es nichts zu rütteln. Das Objekt hatte sich, ohne dies durch die geringfügigste Veränderung seines Verhaltens anzukündigen, in nichts aufgelöst. Es war ins Nichts eingegangen, dem es nach Meinung vieler Kommentatoren, denen sich Groenewold und Theresa und schließlich auch Commander Carlssen anschlossen, entstammte und dem es auch während seines Daseins im Grunde angehört hatte. Lediglich Silesio blieb bei seinem spröden Skeptizismus und meinte, das erkläre immer noch nicht, wie sich das Nichts zu einem Etwas habe verpuppen können. Die Dorset bog mürbe in eine exzentrische Umlaufbahn des zweiten Planeten ein, gestrandet nach einer vielmonatigen Reise durch die schweigenden Gezeiten der Sinnlosigkeit.

Bordcomputer des Explorers Dorset I; Logbuch des Kommandanten:

Wir haben das innere System verlassen und durchschneiden die Bahn des Saturn an einer Stelle, die der bereifte Planet in einem Jahr innehaben wird. Die Leibniz, nach wie vor im Uranusorbit geparkt, wo sie für eine neue interstellare Mission überholt wird, steht auf einer Position von 150°, mehrere Milliarden Kilometer entfernt. Die Erde befindet sich gegenwärtig hinter der Sonne, was den Funkverkehr entschieden verspärlicht. Die Kommunikation wird über die Relais der Marsbasen aufrechterhalten. Aber die zuständigen Behörden von Luna III scheinen seit Monaten das Interesse für uns eingebüßt und uns dem Vergessen überantwortet zu haben. Am besten beginne ich damit, die Ereignisse nachzutragen, die seit unserem Abkoppeln von dem sonderbaren und bis zuletzt unerklärlichen Objekt, genannt »Das Opak«, und dessen bald darauf erfolgendem Verschwinden vorgefallen sind.

Wir hatten das Objekt, das wir nicht mehr sonnenwärts begleiten konnten, verlassen und die Dorset auf Venushöhe zurückgenommen. Da kein Einsatzplan vorlag und alle übergeordneten Stellen anscheinend die Zuständigkeit für uns verloren hatten, dümpelten wir in einem ausgreifenden Orbit um den weiß-blauen Planeten, dessen Schwefelgewitter und Seen aus kochendem Blei harmlos und jeder Aufmerksamkeit entbehrend unter uns brodelten. Von dem unerwarteten Sichauflösen des rätselhaften Phänomens – das die meisten von uns im Nachhinein für konsequent und beruhigend erklärten – der Beschäftigungslosigkeit anheimgegeben, verbrachten wir mehrere Wochen damit, das lädierte Schiff zu überholen. Vor allem im Drohnendeck gab es unendlich viel zu tun, da wir die meisten der ausgesetzten Robotsonden vor unserem Ablegen in den Hangar zurückbeordert, dort aber zunächst nur notdürftig verstaut hatten. Hier gingen wir nun daran, die kostspieligen und nutzlosen Instrumente zu warten und in angemessener Weise zu vertäuen. Gus fehlte uns, da wir nicht nur seinen Sachverstand kaum ersetzen konnten, sondern vor allem auch seinen zupackenden Trotz entbehrten.

Die Arbeiten näherten sich dem Ende, als wir von Luna III aus dem Behagen geschrillt wurden. Das Opak war jenseits der Sonne, aber auf einer Bahn, die die vor einigen Monaten abgebrochene exakt fortsetzte, wieder aufgetaucht. Offensichtlich hatte es unseren Zentralstern in einer Art von Verpuppungszustand durchquert und sich nun auf einer merkurnahen Position, die spiegelbildlich der Koordinate des Verschwindens entsprach, wieder enttarnt und strebte in ansonsten unverändertem Habitus von der Sonne weg. Es war wohl in einer gewissen Verlegenheit der zentralen Beobachtungsstation begründet, die nicht so recht zu wissen schien, was sie mit uns anfangen sollte, aber man reaktivierte uns und übermittelte einen neuen Marschbefehl, der darauf hinauslief, die Verfolgung des Phänomens aufzunehmen und die Observierung fortzusetzen.

Da das Opak mittlerweile nicht nur einen Vorsprung von etlichen hundert Millionen Kilometern gewonnen hatte, sondern sich jenseits der Sonne befand, die wir nun nicht mit der gleichen Indolenz durchtunneln konnten, wurde ein aufwendiges Manöver nötig, dessen Berechnung die Erste Offizierin und den Chefprogrammierer mehrere Tage kostete. Die Dorset musste die Sonne umrunden und das Objekt, das dann bereits die Marsbahn hinter sich gelassen haben würde, auf einem komplizierten, mehrfach gekrümmten Kurs in einigen Monaten einholen. Es wurde daher beschlossen, das Schiff von der Automatik steuern zu lassen, überwacht von den Stationen Luna II und III, und die Crew dem Tiefschlaf zu überantworten.

Nachdem die erforderlichen Sequenzen eingegeben waren, gaben wir mehrere Minuten vollen Schub aus dem Photonentriebwerk und nahmen Kurs auf die Erde, die wir in großem Abstand umrunden würden. Dann war eine Rückkehr zur Venus vorgesehen, wo uns ein neuerlicher Swing-by auf eine hyperbolische Bahn um die Sonne und zum Rendezvous jenseits der Marsbahn katapultieren würde.

Die Zweite Offizierin suchte unmittelbar nach der Startphase die sensorielle Koje auf. Einen Tag später zog sich die Erste Offizierin zum Tiefschlaf zurück, und schließlich ließ sich auch der Kommandant auf 27 °C herunterkühlen. Das Schiff war auf Kurs; der Chefprogrammierer, das vierte noch lebende Besatzungsmitglied, blieb auf eigenen Wunsch wach. In stoischem Schweigen beschrieb die Dorset die ineinander verschachtelten Kegelschnitte, die es in streng ballistischen Webmustern hin und her warfen, beschleunigten und dem Bestimmungsort zudirigierten.

Die Weckautomatik kippte mich mit dem Zartgefühl eines Müllkutschers in die Realität zurück. Ich kam mit der vertrauten Unbeholfenheit zu mir. Ich betrachtete die Anzeige vor meiner vertrockneten Nase und stellte fest, dass ich fast zwei Wochen vor dem programmierten Termin aus dem Tiefschlaf zurückgeholt worden war. Nachdem ich meinen Personalcode auf die Innenseite des Sichtfensters getippt hatte, öffnete sich der Sargdeckel, wie die Kojenklappe im Jargon genannt wurde, und ich klomm heraus. Niemand erschien, um mir bei der Reanimation meiner unterkühlten Knochen zu helfen, dennoch brauchte ich eine Weile, um mich zu wundern.

»Warum wurde ich geweckt?«

Im gleichen Augenblick wusste ich, was passiert war. Es gab nur eine Möglichkeit, nur eine logische Erklärung.

»Mortales Ereignis in Sektor C«, verkündete die Maschinenstimme in schmeichelhafter Kälte.

Ich zog den komischen Schlafanzug aus, in dem man während des Schlafes vor sich hin rottet, und wankte in den Wohntrakt hinaus. Im Kopf war ich absolut klar und voll trauriger Nüchternheit.

»Wer hat dich diesen absurden und geschmacklosen Ausdruck gelehrt?«

Ich erkundigte mich ohne Neugier, bekam aber prompt und ohne erkennbare Irritation den Namen eines besonders unsympathischen Systemingenieurs der Leibniz geliefert.

Silesio lag angezogen auf seinem Bett, mit geschlossenen Augen auf dem Rücken ausgestreckt, ein trügerisches Lächeln um den erkalteten Mund. Das silberne Röhrchen auf dem kleinen Nachttisch verriet, warum er keine Schmerzen gelitten hatte. Der Tod musste vor mehreren Stunden eingetreten sein. Bis die Automatik seine Routinemeldungen vermisste und mich langsam auftaute, war der Leichnam zu wächserner Steife erstarrt. Ich setzte mich nackt, wie ich war, neben den Toten auf das abgedeckte Bett und faltete gedankenlos seine störrischen Hände ineinander. Dann fiel mein Blick auf die speckige Kladde. Ich teile hier den vollständigen Text des handschriftlichen Testamentes mit.

Silesios letzter Wille …

Ich attestiere mir hiermit selbst, dass ich bei geistiger Gesundheit und unbedingt zurechnungsfähig bin. Mein körperlicher Zustand ist zerrüttet und in wenigen Stunden wird eine gnädige Dosis des Opiats, das seit Langem mein täglicher Begleiter ist, meiner physischen Existenz ein Ende setzen.

Es ist ein Jahr her, seit die medizinische Automatik an Bord der Leibniz anhand meiner Blutwerte die Diagnose stellte, und damals hätte ich nicht gedacht, dass mir nicht nur von der Zeitspanne her, sondern auch was die Erlebnisdichte angeht, noch solche Fülle an Leben, ja die eigentliche Erfüllung meiner Existenz bevorstünde. Es gelang mir, die Erkrankung geheim zu halten, indem ich sämtliche Meldungen der Software unterdrückte. Ich begab mich auf den Explorer Dorset, um das Mutterschiff und sein dichtes Überwachungsnetz verlassen zu können. Kaum habe ich damals geahnt, welcher geistigen Intensität ich mich dadurch noch einmal aufschloss und wie der Tod mich so der letzten Sinngebung meines Lebens entgegenschickte. Erst allmählich, während vieler Wochen der größtenteils einsamen Meditation, begriff ich die Bedeutung des Phänomens, dessen Erkundung unsere Mission galt. Obwohl ein weiteres Rendezvous kurz bevorsteht, welches ich nicht mehr erleben werde, zweifle ich nicht daran, dass diese zweite Observierung in wissenschaftlicher Hinsicht genauso ergebnislos verlaufen wird wie die hinter uns liegende. Umgekehrt war die subjektive Erfahrung der Begegnung mit dem sogenannten Opak das zentrale Erlebnis meiner 126 irdischen Jahre.

Ihnen, Commander, der Sie vermutlich in einigen Stunden geweckt werden – es ist mir nicht gelungen, die Automatik in diesem Punkt toleranter zu gestalten –, habe ich bei unserem letzten Gespräch zu erläutern versucht, dass ich das Opak für ein nichttranszendentes und absolut nicht sinnhaltiges Phänomen ansehe. Vielleicht habe ich mich damals zu negativ ausgedrückt und meine Gedanken, die sich seinerzeit noch nicht völlig gerundet hatten, skeptischer formuliert, als ich sie heute auffasse. Das fragliche Objekt stellt sich mir inzwischen in einem völlig anderen Lichte dar. Es ist unbegreiflich, unerklärlich, unfassbar. Aber darin unterscheidet es sich nicht von Ihnen und mir, von allen anderen Objekten im Universum bis zum letzten Staubkorn, das auf einer exzentrischen und gegenläufigen Bahn den Saturn umrundet, ja: nicht vom Universum selbst, dessen Gestaltung und Erscheinungsfülle wir im Einzelnen nachvollziehen und beschreiben mögen, dessen Existenz aber für alle Zeiten die begrenzten Kapazitäten des menschlichen Geistes überschreiten wird. Alles Seiende ist unbegreiflich; aber auch das absolut Unbegreifliche, mit dem wir es hier meiner alternden Intuition nach zu tun hatten, ist ein Sendbote des Absoluten. Sie, lieber und geschätzter Kommandant, haben Lohengrin zitiert. Auch das Opak war ein solch Ritter, der unsere Welt durchquert, ohne auf sie einwirken zu können, Manifestation seiner Fremdheit und monumentaler Spiegel unseres Nicht-begreifen-Könnens. Auch das absolut Unfassliche ist ein Absolutum, vielleicht das Absolutum überhaupt, das wir noch in Begriffe fassen können, wenn es auch jenseits unseres Verstehens angesiedelt ist. Ein grober Geist wie Gus zerbrach an dieser Mauer an Unbegreiflichkeit, für einen von jeher skeptischen Intellekt wie den Ihres alten Kameraden bedeutete die Begegnung mit diesem Monstrum des Schweigens, obwohl ich an Erkenntnis um keinen Deut mehr erfasste als unser unseliger Bordingenieur, eine Offenbarung. Ich hatte mich als junger, zu Spekulationen neigender Mensch damit abgefunden, dass wir nichts vollkommen verstehen können. Jetzt habe ich erfahren, dass es etwas gibt, dem gegenüber unser Nichtverstehen vollkommen ist. In unserem Gespräch habe ich leichtfertig einige Hypothesen entworfen, was das Opak noch alles sein könnte, mit welchen Metaphern wir es noch umschreiben könnten. Ich endige mein Leben und gehe ins Nirwana ein, das kein Sein ist und kein Nichts. Diese Aufzeichnungen beschließe ich mit einer weiteren, um nichts deutlicheren Spekulation. Sie steht klar vor meinem schmerzenden Geist – was nichts beweist – und erscheint mir plausibel wie ein Eiskristall am Morgen nach dem ersten Frost – was ebenfalls nur von subjektiver Bedeutung ist. Das Opak ist eine Welt, hatte ich vermutet; jetzt kann ich sagen: Es ist unser eigenes Universum, dessen göttliche Unbegreiflichkeit zu einer unstofflichen Blase geronnen ist; es ist unser Kosmos noch einmal, der sich selbst in gespanntem Schweigen durchquert, um die Rätsel seines wunderbaren Seins in ihrer Fülle zu kontemplieren.

Leben Sie alle wohl.

Ich blieb lange sitzen und spann die Gedanken des Alten weiter, unbewusst und dahintreibend, etwa so, wie man eine Melodie weitersummt, die man irgendwo aufgeschnappt hat. An sich ist es buchstäblich nichts, versuchte ich Silesios Exegese des Opak fortzusetzen. Ein monströses pulsierendes Nichts. Es ist kein böses, kein verschlingendes, kein handelndes Nichts. Unsere Sonden und Radiowellen haben es durchquert, wir haben es an der Hand gehalten. Und doch begegnete jeder in ihm sich selbst, jedem wurde über die Art und Weise, wie er an das Phänomen heranging und sich mit ihm auseinandersetzte, sein eigenes Ich offenbart. Gus’ aggressives Desinteresse setzte seinen zerstörerischen Grundimpuls frei, Groenewold schrumpfte fast ganz zu schlichter kreatürlicher Furcht zusammen. Silesio erprobte seine philosophische Spekulationsfreude und seinen Willen zur Apokalypse, die in dem unendlich facettierten Objekt ihr definitives Katalyt fanden. Theresa und ich brachten unser wissenschaftliches Instrumentarium zum Einsatz und scheiterten, wie billig, an der nackten, unprovozierbaren Positivität der Erscheinung. Indem es sich nicht zeigte und bis zuletzt unsichtbar, ein Nichtphänomen blieb, zeigte es jedem sein Wesen. Wir müssen dem Unerklärlichen begegnen, um uns selbst erklären zu können.

Das Testament enthielt noch ein kurzes Postskriptum, mit schwerfälligen Zügen offenbar schon unter der Wirkung der lösenden Droge abgefasst.

Übrigens habe ich die Aufzeichnungen der Katastrophe noch mehrmals durchgehört und so weit entstört, dass ich Gus’ Gebrüll verstehen konnte. Sein letzter Satz lautete offenbar: »Lieber eine Kugel in der Brust als einen blauen Stein in der Hand.« Ich vermute, dass es überflüssig ist, dich darauf hinzuweisen, dass es sich bei diesem Aphorismus um ein literarisches Zitat handelt. Anscheinend zog er den Tod einem Leben im Angesicht des handgreiflichen Mysteriums vor. Man könnte daraus auch schließen, dass er den Laser selbst auf sich gerichtet hat – und dass sein Tod kein Unfall, sondern Selbstmord war. S.

Ich machte mich auf den Weg, um Theresa zu wecken. Meine fröstelnden Gedanken liefen neben mir her. Ich fand diese Absurdität des Schicksals, das unter Milliarden von kryptischen Sätzen, die genauso wenig Sinn ergeben hätten, ausgerechnet dieses fantastische Zitat ausgewählt und unserem Bordingenieur in den Mund gelegt hatte, grotesk und ich zwang mich, nicht darüber nachzudenken, was unser Techniker uns mit dieser bedeutungslosen Sentenz hatte sagen wollen.

Theresa stieg aus der Koje. Während sie den elektronikgespickten Anzug abstreifte und in den Wäscheschacht knüllte, erzählte ich ihr, was geschehen war. Ich stellte Silesios Tod friedlich und versöhnlich dar. Wir schlossen den Leichnam in einen dieser unangenehmen schwarzen Zinksäcke ein und brachten ihn in den Seitentrakt des Drohnendecks, der von den alles bedenkenden Konstrukteuren der Dorset exakt diesem Zweck vorbehalten war. Nachdem wir die kleine Kammer verriegelt und ihren Inhalt auf die Temperatur des Weltraumes heruntergekühlt hatten, schlug Theresa vor, dass wir uns erst einmal etwas anziehen sollten.

»Rückholsequenz einleiten!«

Aus purer Lust an der Tautologie betätigte ich noch den manuellen Schalter. Wir hatten geduscht und uns angekleidet und nach einem wortkargen Frühstück beschlossen, auch Groenewold wecken zu lassen. Das Rendezvous stand bevor, und da wir nur noch zu dritt waren, würde es entsprechend schwieriger werden, die Dorset auf Kurs zu bringen und das wissenschaftliche Equipment für eine neuerliche Observierung vorzubereiten.

»Rückholsequenz kann nicht eingeleitet werden«, nörgelte die kastrierte Stimme. Am enervierendsten war die unmodulierte, sachliche Anmaßung, mit der sich die Automatik immer wieder den harmlosesten Anweisungen widersetzte.

»Warum nicht?«

»Lebenserhaltende Systeme inaktiv«, schnarrte die Automatik.

»Oh Gott!« Theresa knickte seitlich ein und sank über die sarghafte Koje.

»Warum sind die Systeme inaktiv?« Ich erkundigte mich ganz freundlich bei dem Scheißcomputer und forderte ihn höflich auf, mich über den Gesundheitszustand der Insassin zu informieren.

»Sie sieht so komisch aus.«

Theresa brachte sich fast um bei dem Versuch, durch das Sichtfenster nach den Kontrollanzeigen über Evchens Brust zu spähen, ohne dass das Glas des gewölbten Fensters von ihrem Atem beschlug. Ich erinnerte mich an die Kombination und öffnete den Deckel der Koje manuell, während die Automatik uns damit nervte, irgendwelche Routineziffern herunterzubeten. Offensichtlich hatte man die Tiefschlafsensoren umprogrammiert. Als wir die Luke hochklappten, wussten wir Bescheid. Die Luft, die uns entgegenströmte, war viel zu kalt und von inakzeptabler Süße.

»Sie hat ihn geliebt.« Theresa hatte die Waagerechte eingenommen und pendelte langsam mit dem Schwenksessel hin und her.

»Aber er sie nicht.«

»Er hat sie benutzt.«

»Er ist tot.«

»Umso schlimmer. Schwer zu sagen, was sie mehr gekränkt haben muss, dass er mit ihr schlief, ohne sie zu lieben, oder dass er sich umbrachte, ohne ihren Trost zu suchen oder sie wenigstens ins Vertrauen zu ziehen.«

»Ich habe sie viel zu wenig gekannt. Von allen Mitgliedern der Crew habe ich mit ihr am wenigsten anfangen können.«

»Euch Männern war sie zu unscheinbar, wohl auch zu weinerlich.«

»Hast du gewusst, wie sehr sie darunter litt?«

»Auch eher indirekt, durch Beobachtung. Sie ließ mich nicht wirklich an sich ran.«

»Jetzt ist es zu spät.«

»Aber wie viel Energie und Sachverstand auch sie in dieser verzweifelten Tat bewies!«

»Sie musste die gesamte Programmierung der Koje ändern, sodass sie erst regulär einschlief und dann allmählich weiter abgekühlt und schließlich – abgeschaltet wurde.«

»Und dabei alle Meldungen der Automatik unterdrücken. Auch die äußeren Anzeigen waren normal. Dabei lag sie schon einen Monat lang tot in ihrem kalten Bett.«

»Commander, würde es Ihnen etwas ausmachen, mich festzuhalten?«

Zehn Tage und einige Kurskorrekturen nachdem wir den Kühlschrank der Dorset kurz hintereinander mit zwei Leichen bestückt hatten, schwenkten wir auf die Bahn des Opak ein, das unwissend und unbeeindruckt die Höhe des Mars passiert hatte und den äußeren Planeten entgegenstrebte. Die Reihe der bizarren Rätsel, die dieses Objekt seit seiner Entdeckung an sich geknüpft hatte, erfuhr dadurch eine Verlängerung, dass die Drohne, die wir im mathematischen Inneren der unsichtbaren Wolke positioniert und auf deren Rückführung wir verzichtet hatten, sich exakt dort befand, wo wir sie vor Monaten aufgegeben hatten. Offensichtlich hatte das Gerät den Flug durch das Innere der Sonne unbeschadet überstanden. Da das Opak bei seinem Eintauchen in die Sonnenkorona verschwunden war, machten wir uns das ominöse Geschehen so zurecht, dass das Objekt einen anderen Aggregatzustand angenommen und den in seiner Mitte fliegenden Messroboter bei dieser Transformation mitgenommen hatte. Umso größer war unsere Ratlosigkeit, als es Theresa gelang, die Aufzeichnungen der Sonde abzuspielen, die nicht nur zum Zeitpunkt der Auflösung nicht aussetzten, sondern für den gesamten Zeitraum einen unveränderten und durch kein Sonnenplasma beeinträchtigten Sternenhintergrund zeigten, der sich, von den Undulationen des Opak sachte durchwellt, in nichts von den Aufnahmen vor und nach dem Sonnendurchgang unterschied.

Wir ließen es auch dabei bewenden und machten uns daran, die Armada der verstauten Drohnen wieder freizusetzen. Das war zu zweit kaum noch zu bewerkstelligen. Ein Roboter, den wir nicht richtig kalibriert hatten, zerschellte an einer Strebe des Decks, ein weiterer Satellit mit fehlerhafter Trimmung gehorchte Theresas Kommandos nicht und umkreiste unser Schiff auf einer instabilen Bahn, anstatt sich vor der Nase des Opak zu positionieren. Wir mussten ihn mit der Fernsteuerung der Unendlichkeit überantworten. Schließlich hatten wir ein notdürftiges Beobachtungsnetz installiert, das mechanisch anfing, die sinnlosen Datenmassen der ersten Exploration um weiteren Informationsmüll zu ergänzen. Es waren Tage erschöpfender Arbeit, an denen wir 16 oder 18 Stunden bis zum Umfallen auf dem Drohnendeck und auf der Brücke zu tun hatten. Deshalb fiel uns auch gar nicht auf, dass alle Meldungen, die wir absetzten, von Luna III unbeantwortet blieben. Erst allmählich kam uns das Schweigen, in dem wir dahinzogen, zu Bewusstsein. Wir hatten Jupiter passiert und näherten uns Saturn, inzwischen hatten wir uns damit abgefunden, dass wir nur automatische Empfangsbestätigungen erhielten, gleichgültig an welche Basis wir uns wandten. Offensichtlich hatte man uns abgeschrieben oder man sah uns gar als eine Art Aussätziger an, die mit einem rätselhaften Fluch behaftet waren und die man besser ohne viel Aufhebens verschollen gehen ließ. Wer wusste, vielleicht galten wir auf offizieller Seite bereits als ebenso tot wie unsere drei Besatzungsmitglieder.

Inzwischen hatten wir also auch den Bereich des Saturn hinter uns gelassen. Ich wusste nicht, wie lange ich noch die Kraft haben würde, die offensichtliche Sinnlosigkeit, die sich in diesen Aufzeichnungen nur immer wieder selbst bestätigte, fortzusetzen.

Einige Tage später.

Wir reisen an der Seite des Opak. Allerdings beachten wir es kaum noch. Selten, dass einer von uns einmal einen Blick auf die automatischen Anzeigen wirft, die das Unvermeidliche und Immergleiche herunterspulen. Wir hängen unseren Gedanken nach, mit uns selbst beschäftigt. Manchmal vergessen wir, wo wir sind und warum wir hier sind. Dann durchfährt es einen wie ein Stich: Ach so, da draußen ist dieses sonderbare Objekt. Etwa so, wie man sich bisweilen sagt, dass man ja sterblich ist. Und dann wundert man sich erst recht darüber, dass man existiert.

Es gibt keinen Schichtplan und keinen festen Dienst mehr. Wir stehen irgendwann auf, sehen desinteressiert nach dem Rechten, trödeln im Wesentlichen herum und gehen irgendwann wieder ins Bett. Theresa verfiel auf den grandiosen Gedanken, die Klimaautomatik auf subtropische Temperaturen hochzuregeln. Seitdem tänzelt sie flüchtig oder überhaupt nicht bekleidet auf der Brücke umher, die sie mit lässiger Musik beschallen lässt. Manchmal gelingt es ihr, mich zu verführen, und dann lieben wir uns irgendwo, auf dem Gang, in der Messe oder gar mitten über den Kontrollpulten des stöhnenden Cockpits. Wir haben die Vorräte an Alkoholika und Opiaten inspiziert, über deren Erschöpfung wir uns nicht zu sorgen brauchen. Die schweigenden Titanspanten dieses gequälten Schiffs waren schon Zeugen bizarrer Orgien, seit meine Erste Offizierin zur Entdeckung ihrer »dionysischen Weiblichkeit« durchgestoßen ist. Ich kann mich nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir anfangen, uns in einer gewissen Haltlosigkeit zu verlieren.

Später.

Theresa hat vorgeschlagen, dem Beispiel Groenewolds und Silesios zu folgen und uns dem rauschhaften Traum des Todes an die friedvolle Brust zu werfen. Ich machte sie darauf aufmerksam, dass wir nicht zu unserem Vergnügen hier sind, sondern eine wissenschaftliche Aufgabe zu erfüllen haben.

Später.

Wir haben die Bahn des Uranus passiert. Noch nie hat ein unabhängiger Explorer so tief im Raum operiert. Milliarden von Kilometern vom Mutterschiff entfernt, das sich auf der anderen Seite der Sonne befindet. Ich habe die Energievorräte überprüft und eine drastische Verknappung des Treibstoffes festgestellt. Die lebenserhaltenden Systeme der Dorset können noch jahrelang arbeiten, aber unser Antrieb dürfte für eine Rückkehr zur Erde kaum noch ausreichen. Wenn wir Neptun hinter uns lassen, haben wir keine Möglichkeit mehr, unsere Flugbahn zu ändern. Theresa hat in einem mehrtägigen Rausch, den sie mithilfe einer Serie von Ampullen mit synthetischen Opiaten betrieb, ein neues Phantasma ausgebrütet: Wir sollten Kinder bekommen und die erste autarke Kolonie der Menschheit außerhalb des Sonnensystems bilden. Ich habe sie auf Entzug gesetzt und in ihrer Kabine eingeschlossen. Dabei fällt es auch mir immer schwerer, die Frage nach dem Sinn und der Zukunft dieser Mission, deren Knochenhand mich mehrmals täglich streift, zurückzudrängen. Sind wir schon verloren?

Immer noch später.

Wir werden nicht mehr umkehren können. Ich halte das lediglich zufällig an diesem Tag fest, an dem wir die schwarzgrüne Kugel des Neptuns in geringer Entfernung vorbeischwinden sahen, ohne irgendeine Anstrengungen zu unternehmen, in einem entschlossenen Swing-by-Manöver das Ruder herumzureißen. Mit dem achten Planeten haben wir nun die technische Möglichkeit zum Kurswechsel verloren. Tatsächlich können wir von innen heraus nicht mehr wenden; wir sind außerstande, uns von dem Objekt abzuwenden, das nach wie vor wenige hundert Meter längsseits neben uns dahingleitet. Wir sind außerstande, den Entschluss in uns zu erzeugen, das Opak dahinziehen zu lassen und zur Erde zurückzukehren. Diese Erkenntnis steht nur in scheinbarem Widerspruch zu der Tatsache, dass wir seit Wochen alle Anzeigen deaktiviert, alle Schirme abgeschaltet und nicht einen Blick aus den Panoramascheiben geworfen haben. Wir wissen, dass es da ist; und wir wissen auch, dass wir es nicht mehr werden verlassen können. In seiner monströsen Sinnlosigkeit, Silesio hatte recht, ist es zum einzig verbleibenden Sinn und Inhalt unseres Lebens geworden. Dass es ein absurder Sinn und ein leerer Inhalt ist, wer wollte es bestreiten? Nichtsdestoweniger ist es unser einziger.

Pluto, dessen Bahn wir als letzte überschreiten werden, steht zu weit abseits, als dass wir ihn zum Manövrieren benutzen könnten. Unser Treibstoff ist fast aufgebraucht. Wir nähern uns dem leereren Vakuum des interstellaren Raumes.

Viel später.

Wir durchschiffen den Trümmerregen der Oort’schen Wolke. Nur wenige Schiffe von den Dimensionen der Leibniz haben sich in diese finsteren Regionen gewagt. Ein Explorer der Dorset-Klasse ist hier verloren wie eine Nussschale auf einem Ozean. Doch das Opak ist bei uns. Wir wissen, dass wir nicht von ihm abkoppeln können, ehe wir sein Wesen nicht ergründet haben. Und wir wissen mit der gleichen skalpellhaften Deutlichkeit, dass wir es nie werden ergründen können. Der unstillbare Wissensdurst erlischt nicht, wenn er um seine Unstillbarkeit weiß. Er wird nur noch brennender und macht denjenigen, der ihm verfallen ist, zu einem Ahasver. Der Fluch, durch den er im Dasein gehalten wird, ist seine Neugier und sein Glaube an die positive Wahrheit, der auch dadurch, dass er radikal erschüttert wurde, nicht zu erschüttern ist. Der Wille zur Rationalität ist zutiefst irrational, aber auch diese Erkenntnis hilft nicht weiter.

Später.

Theresa schläft. Wir haben uns noch einmal geliebt, dann bat sie mich, sie in die Koje zu begleiten. Sie forderte mich auf, das System wie dasjenige Groenewolds zu programmieren, was ich ablehnte. Sie spritzte sich daraufhin ein schweres Opiat und ließ sich in den Tiefschlaf kühlen. Noch lebt sie und ich könnte sie jederzeit wecken. Genauso gut könnte ich ihre Lebenserhaltung mit einem Tastendruck stilllegen. Ich bin Herr über Leben und Tod und ekle mich vor mir selbst.

Sehr viel später.

Um uns ist Nacht. Neben uns schwebt ein opakes Objekt, von dem wir nicht wissen, was es ist, woher es kommt und wohin es uns verschleppt. Wir folgen ihm.

Opak

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