Читать книгу Erstflug - Matthias Falke - Страница 2

Kapitel 1. Der Brief

Оглавление

Immer am Zaun entlang. Einmal um den ganzen Komplex. Einmal um den Gulag. Das half zwar auch nichts. Man musste ja doch wieder hinein. Aber man wusste dann wenigstens, dass es ein Außerhalb gab.

Immer dem Zaun nach. Genau genommen waren es sogar drei: ein elektrischer, ein Stacheldraht, ein normaler, von außen nach innen. Außerdem die Kameras, die Infrarotsensoren und Bewegungsmelder, die Selbstschussanlagen. Die Fabrik war gesichert wie die nationalen Goldreserven. Oder wie ein KZ, letzteres in umgekehrter Richtung. Aber das spielte keine Rolle. Undurchdringlich war undurchdringlich. Wer drin war, kam nicht raus, wer draußen war, kam nicht hinein. Die Pforte öffnete sich nur dem Eingeweihten.

Er gehörte dazu. Er war zugelassen. Was früher das Brandzeichen, die Ziffernfolge auf dem Unterarm, war jetzt der implantierte Chip, in etwa an derselben Stelle, dicht beim linken Handgelenk. Das war der Türöffner. Damit kam man hinein.

Und jetzt knisterte der Brief in seiner Tasche. Damit würde er wieder hinaus kommen.

Sie hatten tatsächlich einen physischen Brief geschickt. Per Einschreiben. Er musste auf drei verschiedenen Pads quittieren. Ein wattierter Umschlag. Das Wappen der Union und das Logo der Mission. Er musste ihn nicht öffnen, um zu wissen, was darin stand. Er hatte damit gerechnet. Er hatte lange darauf gewartet. Der Brief war überfällig, sie hatten sich Zeit gelassen! Aber jetzt war er da. Endlich!

Einmal um das Gelände, immer am Zaun entlang. Er wusste nun auch, welcher Tag es war, den er nie wieder vergessen würde. Dieser! Der hohe wolkenlose Himmel. Ringsum die gelben erntereifen Wiesen und Felder. Die Hummeln und Bienen über den Ähren, der Mohn und die Kornblumen zwischen den Halmen, die ergeben auf den Schnitt warteten. In der Ferne das mondblaue Gebirge. Sein Kamm bezeichnete genau die Wasserscheide. Ein Regentropfen, der auf dieser Seite fiel, strömte durch diesen Bach in diesen Fluss und weiter in dieses Meer. Einer auf der anderen Seite, und wenn es nur eine Handbreit war, in einen anderen Bach, einen anderen Fluss, ein anderes Meer. Erst im Ozean wären sie wieder vereint. Der Ozean war der Tod. Dort konnten sie nur auf die Wiedergeburt in Form einer Gewitterwolke hoffen.

September. Nachsommer. Es war noch immer heiß. Aber die Tage wurden kürzer, die Nächte waren schon empfindlich kalt. Alles neigte sich, alles ging hinüber.

Einmal außenrum dauerte dreißig Minuten. Eine Mittagspause. Aber man konnte den Gang auch während der Kaffeepause wagen. Sie waren keine Angestellten, die nach der Uhr arbeiteten. Keiner von ihnen konnte nach acht Stunden nach Hause gehen. Was sie an Freiheit im Großen entbehrten, das genossen sie im Kleinen. Sie konnten aufstehen und einmal um den Block laufen, einfach so, während der ›Arbeitszeit‹. Kein Hahn krähte danach. Der Aufsicht war es vollkommen egal. Auch die Aufsicht war lax, wie alles hier. Dass sie Gefangene waren, Sklaven, Geiseln, hatten sie sich selber zuzuschreiben. Sie waren Galeerensklaven, die sich selber angekettet hatten. PoW’s in einem Krieg, in dem keine Gefangenen gemacht wurden. Ihre Ketten, das war ihre eigene Begeisterung, das Fieber, in dem sie für ihre Sache brannten. Die Sache aber, um die dieser Krieg geführt wurde, das war der Gegenstand, der hier in höchster Abgelegenheit herangezüchtet wurde. Das Produkt dieser Fabrik.

Parallel zum Zaun, an seiner Außenseite, verlief ein zehn Meter breiter Streifen kurz gemähter Wiese. Dann kamen die Felder, die sich nach allen Seiten dehnten. Der nächste Hof, das nächste kleine Dorf war eine Stunde entfernt, ein paar Minuten mit dem Scooter, aber hier hatte niemand einen Scooter. Zu weit, als dass man hätte rufen können. Hinlaufen war gänzlich aussichtslos. Man wäre aufgegriffen worden, ehe man die Hälfte der Strecke überwunden hatte. Im übrigen hatte niemand die Absicht zu fliehen.

Er war einer der wenigen, der einmal am Tag nach draußen ging, um frische Luft zu schnappen. Um sich zu vergewissern, dass es das Draußen noch gab. Ein paar seiner Kollegen traten ab und zu vor die Pforte, um zu rauchen. Manche reagierten ihren Frust in lauten Schreien ab, die ungehört über den Getreidefeldern verhallten. Die meisten waren voller Unverständnis für dieses Bedürfnis, der Arbeit auch nur fünf Minuten den Rücken zu kehren. Freiwillig!

Sie hockten krummgeschlossen vor ihren Konsolen, nuschelten in ihre Headsets, fingerten sich zitternd und mit schielenden Augen, als stünden sie unter Drogen, durch die holografischen Displays. Vielleicht nahmen sie wirklich etwas ein. Zumindest Psychopharmaka waren weitverbreitet, aber auch Schlimmeres. Abends mussten die Wärter sie ermahnen, die Ruheräume aufzusuchen. Zwölf Stunden, in Ausnahmefällen vierzehn Stunden, das war das Maximum. Mehr duldete die Leitung nicht. Man wollte die Leute, die besten ihrer Art auf diesem Planeten, nicht vorschnell verschleißen. Man brauchte sie noch. Das Produkt war nicht fertig. Jedenfalls noch nicht marktreif. Es würde auch noch eine Weile dauern.

Einmal am Zaun entlang, die Sonne auf dem Scheitel spüren. Den Wind in den Ähren hören, das Summen der Insekten. Würde er Sehnsucht danach haben? Würde er sich danach verzehren?

Der Brief brannte in seiner Jackentasche. Das war der Schlüssel. Jetzt würde er die andere Seite kennen lernen. Er würde erfahren, ob sich all die irrsinnige Arbeit gelohnt hatte. Sechs Jahre seines Lebens steckten in dem Projekt. Sechs Jahre in diesem Komplex, der sich nur wenig von einem Gefangenenlager unterschied. Sechs Jahre Einsamkeit. Abends eine Stunde per Videostream, alle paar Monate ein Wochenende. Er war frei, er konnte über seine Zeit verfügen! Dann trafen sie sich in irgendeiner Stadt. London, Rom, Sidney, Doha. Aßen zu Abend in sündhaft teuren Restaurants. Geld spielte nicht die geringste Rolle. Verbrachten Nächte in den ausgesuchtesten Hotels, die so perfekt und austauschbar waren, dass er am Morgen nicht wusste, in welcher Stadt, auf welchem Kontinent sie diesmal abgestiegen waren. Die Welt war klein geworden. Manche behaupteten: zu klein!

Was würde sie dazu sagen? Er schob den Gedanken von sich. Es würde sich alles irgendwie ergeben.

Sonderbarerweise gab es genau auf der Rückseite des Komplexes auch ein Firmenschild. Es wies grell in die menschenleere Weite dieser Felder, die in ein paar Tagen nur noch Stroh und Stoppeln sein würden. Nachts wurde es sogar angestrahlt. Er war eigens einmal spät, nach Schichtende, herausgekommen und hatte seinen täglichen Gang nicht mittags, sondern in der blauen Stunde absolviert, um das zu sehen. Und tatsächlich: das riesenhafte Schild, leuchtend und flimmernd, schrie seine Botschaft den Mücken und Nachtfaltern entgegen. Sonst war niemand da. Oder gab es einen Gott, der alles sah? War die Firmenleitung so vermessen, auch ihn beeindrucken zu wollen?

Die Besucher waren beeindruckt. Nicht von dem Schild, aber von der Fabrik. Ihre Delegationen kamen ohne Unterlass, an manchen Tagen dicht und unaufhörlich wie die Touristengruppen in einem Freizeitpark. Dann wurde einer von ihnen abgestellt, die Standardführung und die offizielle Präsentation zu begleiten, auch wenn es dafür eigentlich die Frauen von der PR-Abteilung gab. Es machte mehr her, fand die Geschäftsführung, es war etwas anderes, wenn einer der Ingenieure mit den interessierten Gästen sprach. Sie alle hassten diesen Job. Er kostete Zeit, die man anschließend wieder hereinholen musste. Eine Stunde mindestens, um die man abends die Konsole später herunterfahren konnte. Außerdem waren sie alle introvertiert. Eigenbrötler. Workaholics. Sie wollten ihre Arbeit machen und um Himmels Willen nicht gestört werden. Die meisten waren faktische Autisten, manche auch tatsächliche. Sie waren Einzelkämpfer in einer Legebatterie des Geistes, in der es nur um eines ging: die Hervorbringung des Produkts. Wenn die Besucher kamen und sie an der Reihe waren, nuschelten sie ihren Text herunter, klickten sich viel zu schnell durch die immergleiche Präsentation und verabschiedeten sich dann, die Herren und Damen internationaler Großkonzerne den Hostessen überlassend, die mit Sekt und Canapées bereitstanden.

Er hatte die Runde geschlossen, sog noch einmal die würzige Luft dieses Tages ein, von dem er wusste, dass er in seinem Gedächtnis nun ein für allemal einrasten und stehen bleiben würde, und ging dann durch die Pforte. Der Türöffner reagierte auf den Chip in seinem Handgelenk. Der menschliche Wachmann salutierte und nickte ihm freundlich zu. Er mochte ihn. Manchmal tranken sie abends ein Bier zusammen an der kleinen Bar unten im Freizeitkeller. Auch die beiden Türsteher-Droiden sonderten ihre simplen Sprüche ab. Es waren Jahrmarktroboter, billige Blechgehäuse mit primitiver Personenerkennung und ein paar einfachen Protokollfunktionen. Die Geschäftsführung liebte sie, und die Gäste ließen sich bereitwillig davor fotografieren. Als Ausweis der Expertise, die in diesem Gebäudekomplex versammelt war, waren die Dinger eigentlich eher kontraproduktiv. Sie hatten die Leitung immer wieder einmal darauf aufmerksam gemacht. Aber es hatte nichts gefruchtet. Das Management hatte seine eigenen Vorstellungen und wich von ihnen nicht ein Jota ab.

Manchmal fragte er sich, ob die Oberen überhaupt eine Vorstellung davon hatten, was sie herstellten, an was sie arbeiteten. Konnten diese Herren in den teuren Anzügen und die Damen in den schicken Kostümen begreifen, was für einer Unternehmung sie vorstanden? Es ging nicht um die Details. Die verstanden sie sogar untereinander nur zum kleinsten Teil. Es ging um das Grundsätzliche. Ihm schwindelte ab und zu, wenn er ein wenig Abstand nahm, beim Gang am Zaun entlang oder abends an der Bar. Es hatte Momente gegeben, da es ihm unheimlich geworden war. Und spät nachts, nicht nach dem ersten Bier, aber vielleicht nach dem dritten oder fünften (und noch ein paar Tequila dazu!), hatte auch der eine oder andere Kollege ihm gestanden, dass er diese Empfindungen kenne und teile. Den Oberen war das ganz gleichgültig. Für sie war es nur ein Produkt. Das wollten sie verkaufen. Sie verkauften es umso eifriger, als es noch nicht fertig war und kein Mensch wissen konnte, ob es jemals fertig werden würde. Ob es überhaupt und prinzipiell möglich war! Natürlich gab es Abfallprodukte, Vorprodukte, Teilprodukte. Sie spielten Milliarden ein. Aber das war nicht das, worum es hier eigentlich ging.

Er kehrte an seinen Platz zurück und warf den ungeöffneten Brief achtlos auf seine Arbeitsfläche.

Die Kollegen waren natürlich neugierig geworden. Schon der Auftritt des Zustellers in der Uniform des staatlichen Postdienstes! Und dann das pompöse Ritual des dreimaligen Abzeichnens! Sein Unterarm war gescannt worden, um seine Identität zweifelsfrei sicherzustellen. Jetzt steckten sie die Köpfe durch die schallschluckenden Zwischenwände aus künstlich komprimierter Luft und glotzten ihn fragend an.

»Was ist das?«, brachte einer hervor.

Er grinste, nahm den Umschlag wieder von der auf Stand By verharrenden Konsole, wedelte durch die Luft damit und ließ ihn in seiner Umhängetasche verschwinden.

»Meine Kündigung«, sagte er dann.

Den Rest des Tages ließen sie ihn in Ruhe. Sie kannten ihn gut genug, um zu wissen, dass sie nichts aus ihm herausbekommen würden. Der eine oder andere mochte für sich zwei und zwei zusammenzählen.

Er konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit. Jetzt nur keine Panik aufkommen lassen! Nicht anfangen zu grübeln und sich in den Konsequenzen verzetteln, die das nach sich ziehen würde. Alles würde sich fügen. Im Lauf des Nachmittags kam er wieder in einen solchen Flow, dass er den Brief vollkommen vergaß. Am Abend erinnerten ihn die Blicke der Kollegen, an deren Spalier er sich zu den Unterkünften kämpfen musste, dass etwas geschehen war. Er ignorierte es nach Kräften, passierte die hintere Sicherheitsschleuse, die den Hochsicherheitstrakt des eigentlichen Arbeitsbereichs vom Rest des riesigen Gebäudekomplexes trennte, und stieg ins Basement hinunter, wo die Zimmer und die Freizeiteinrichtungen waren.

Die Oberen wohnten außerhalb, in den umliegenden Dörfern, wo die Firma ihnen Appartements angemietet oder Häuser gekauft hatte. Sie fuhren abends mit ihren Scootern dort hinaus oder wurden von ihren Chauffeuren abgeholt. Die Freizeit verbrachten sie mit ihren Frauen und Kindern auf ihren Anwesen mit grünen Vorgärten und blauen Pools.

Die Programmierer wohnten in der Fabrik. Die Treppe hinunter gab es ein weitverzweigtes Labyrinth von Unterkünften, Sport- und Fitnessräumen, Kinos und Bars. Man konnte schwimmen gehen, auf der Trainingsmaschine ein paar Kilometer laufen oder sich massieren lassen. Nach der schweren geistigen Arbeit des Tages wäre das sogar vernünftig gewesen. Aber den meisten stand der Sinn nicht nach derartigen Zerstreuungen. Sie gingen nach der Schicht direkt in einen der Vorführsäle und ließen sich das neueste Holo-Spektakel präsentieren, um anschließend an einer der Bars über die Spezialeffekte zu fachsimpeln, oder sie hingen in einer der Lounges ab, wo Musik dröhnte und auf den Bildschirmen Sexvideos und Sportübertragungen liefen.

Er ging, wie jeden Tag, zuerst auf sein Zimmer. Ein schmaler fensterloser Raum mit einem Bett, einem Tisch und einem Spind sowie einem eigenen Bad. Er duschte und legte sich dann eine Stunde flach auf seine selbstjustierende Matratze, die die Verspannungen in seinem Nacken und seinen Schultern registrierte und durch Vibrationen aufzulockern versuchte. Dabei hörte er leise klassische Musik.

Er öffnete den Brief, in dem nichts stand, das er nicht erwartet hatte. Allenfalls wunderte ihn der lakonische Ton. Es waren wirklich nur drei Sätze. Und immer noch fragte er sich, warum es so lange gedauert hatte!

Dann ging er hinüber in seine Lieblingsbar. Er schwang sich auf den Hocker und lehnte sich über die Theke. Das Mädchen stellte unaufgefordert ein Bier vor ihn.

»Hawaii oder Mexikana?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf zum Zeichen, dass ihm das egal war.

»Dann gibt’s Hawaii«, erklärte sie. »Mexikana hab’ ich sowieso nicht da.«

»Wieso fragst du dann?«, gab er zurück. Schlagartig spürte er, wie müde und ausgebrannt er war. Das Sprechen strengte ihn an.

»Um dich zu ärgern«, sagte sie. »Ich weiß doch, dass du dich nicht gern entscheidest.« Und sie äffte ihn nach, der schlaff und groggy über der Theke hing und etwas vor sich hinnuschelte, das klang wie: »Miregal, macheinfachirgnwas!«

»So schlimm?« Er musste schmunzeln. Das kalte Bier tat gut. Es klärte seinen Kopf, der von zu vielen Dingen voll war. Der Alkohol entspannte augenblicklich und hob seine Stimmung.

Sie zwinkerte ihm zu und kümmerte sich dann um die Mikrowelle, die den Fraß für ihn aufwärmte.

Trixi arbeitete tagsüber oben als Hostess. Sie begleitete die Besuchergruppen, reichte ihnen Häppchen und ließ sich von den Männern in den Ausschnitt kucken. Da sie im Komplex wohnte, besserte sie ihr karges Salär damit auf, dass sie abends noch an einer der kleinen Bars bediente. Sie war ja sowieso da. Sie war hübsch. Klein und zierlich. Spielte die Rolle des schnippischen Dummchens gerade so gut, um für die desinteressierten Programmierer überzeugend zu wirken. Es hieß, dass sie hin und wieder mit dem einen oder anderen ins Bett ging. Sie nahm Geld dafür, aber ihr Tarif richtete sich danach, wie sympathisch ihr jemand war. Umsonst machte sie es nie, schon aus Prinzip.

Natürlich hieß sie nicht Trixi. Das war ihr Künstlername. Wie ja auch die KI-Spezialisten ihre eigenen Nicknames hatten, unter denen sie ihre Programme schrieben.

»Ich höre, du hast Post bekommen, Laertes?!«

Sie betonte das Wort, als könne nichts anderes als eine Unanständigkeit dahinter stecken.

»Einen Brief?«

»Und wenn schon«, grinste er.

Er mochte sie. Irgendwie, bildete er sich ein, schäkerte sie anders mit ihm als mit den anderen. Vermutlich lag es daran, dass er sie nie gefragt hatte. Sie hatte es auch nie darauf angelegt. Sie wusste, dass er vergeben war.

»Ich habe noch nie einen Brief bekommen«, sagte sie mit künstlichem Schmollen.

Inzwischen waren die Kollegen aufmerksam geworden, die rechts und links von ihm abhingen. Sie unterbrachen ihre Unterhaltungen, die ausnahmslos kryptische Fachgespräche waren, und wandten sich zu ihm um.

Trixi hatte diesen Effekt beabsichtigt. Sie weidete sich an ihrem Erfolg. Als sämtliche Augenpaare in der kleinen Bar sich auf Laertes gerichtet hatten, drehte sie sogar die Musik leiser, um zu der Frage auszuholen:

»Was stand denn drin?«

Er schob ihr sein Glas hin, das er durstig geleert hatte. Aber sie ließ sich nicht ablenken. Obwohl es ihm sonst unangenehm war, im Mittelpunkt zu stehen, sonnte er sich für einen Moment in der ungewohnten Aufmerksamkeit, die ihm zuteil geworden war. Dann hob er die Schultern zu einer Geste herablassender Gleichgültigkeit und sagte:

»Die MARQUIS DE LAPLACE.«

Er ließ das einige Sekunden wirken.

»Ich bin nachgerückt.«

Den Kollegen klappten die Kiefer runter. Der eine oder andere musste einen Augenblick des Neides niederkämpfen, das entging ihm nicht. Dann überwog aber doch die kameradschaftliche Freude. Trixi gingen beinahe die Augen über.

»Die MARQUIS DE LAPLACE«, schrie sie. »Aber das ist ja Wahnsinn.«

Sofort kehrte die Musik zu ihrer alten Lautstärke zurück.

»Das müssen wir feiern!«

Bevor er etwas hätte sagen können, erschienen einen Flasche Tequila und ein Planetensystem leerer Gläser vor ihm auf der Theke.

»Dann feiern wir«, sagte er ergeben.

Trixi war schon dabei, die Gläser einzuschenken.

Am nächsten Morgen hatte er einen Brummschädel. Er hasste Tequila! Das Zeug verschmierte einem das Gehirn. An vernünftige Arbeit war ohnehin nicht zu denken. Er ging zum Leiter seiner Arbeitsgruppe.

Jones schaute ihn freudlos an.

»Hab schon gehört.« Er kaute die Worte mit breiten Backen klein, als bestünden sie aus zäh gewordenem Fleisch. »Glückwunsch!«

Laertes dankte wortlos.

»Natürlich sind wir stolz«, fuhr Jones mit vollkommen unmodulierter Stimme fort. »Aber es fällt mir sehr schwer, meinen besten Mann ziehen zu lassen.«

»Ihr müsst mich freistellen«, sagte Laertes. »Gesetz der Union vom 1. Januar ...«

»Lassen wir das.« Jones musterte ihn. »Ich weiß, dass du das jetzt nicht falsch verstehst, wenn ich bemerke, dass es eigentlich eine Schweinerei ist.«

Er ließ ihn reden, erwiderte aber nichts.

»Wir haben dich ausgebildet. Wir haben dich sechs Jahre lang in diesem Projekt gehabt.«

»Die Universität von Kalifornien hat mich ausgebildet«, wandte Laertes ein.

»Du weißt, wie ich’s meine«, knurrte Jones. »Wenn ihr von der Uni kommt, seid ihr Rohdiamanten, mit denen man erst einmal gar nichts anfangen kann. Sechs Jahre Projektarbeit, vor allem an einem Projekt wie diesem. Dann seid ihr etwas wert!« Er betonte das letzte Wort hart und knarrend. »Wenn eine andere Firma käme und dich haben wollte, würde ich ein paar Millionen Ablöse einklagen.«

»Die MARQUIS DE LAPLACE ist ein staatliches Projekt«, sagte Laertes ruhig.

»Das ist ja die Scheiße«, schimpfte Jones. »Keine Ablöse, keine Entschädigung. Und wer soll jetzt deinen Job machen?«

»Es rennen tausende Programmierer da draußen rum, die mindestens so gut sind wie ich.«

»Wir wissen beide, dass das nicht stimmt.« Jones seufzte. »Nicht aus dem Stand. Sie brauchen Jahre, um sich einzuarbeiten. Jahre, um so gut zu werden wie du!«

»Ich habe starke Kopfschmerzen«, erklärte Laertes. »Eigentlich wollte ich nur ...«

»Du wolltest deinen Abschied einreichen. Ohne Kündigungsfrist, ohne Abfindung. Bumm!«

»Es tut mir leid, wirklich!«

»Schwätz kein dummes Zeug!« Jones wirkte für einen Augenblick beinahe versöhnlich. Er deutete auf Laertes’ dröhnenden Schädel. »Ihr habt gefeiert.«

»Ein bisschen.«

»Hat Trixi dir einen geblasen?«

»Nein.«

»Komm schon, mir kannst du es sagen.«

»Jones.«

»Okay, ich weiß. Du hast da draußen etwas besseres.«

»Bringen wirs einfach hinter uns«, bat Laertes.

»Du kriegst deine Papiere.« Jones nickte. Er begann auf seinem Display zu tippen und Formulare anzufordern.

»Im übrigen wirkt das auf euch zurück«, sagte Laertes noch. »Die ganze Publicity. Ihr könnt damit werben!«

Jones stöhnte genervt. Ob es an den Tücken des Systems lag, das die Dateien nicht so bereitstellte, wie er es wollte, oder an Laertes, musste sein Geheimnis bleiben.

»Komm mir nicht mit sowas!« Er überzeugte sich, dass die Datenverarbeitung lief, und widmete sich wieder seinem Gegenüber. »Es wäre gut, wenn wir eine Uni wären, ein Ausbildungsinstitut, eine Eliteschmiede, weißt du! Aber das sind wir nicht. Wir haben nichts davon, wenn die Leute weggehen. Selbst wenn die Konkurrenz dich gekauft hätte, für ein paar Millionen, hätten wir nichts davon, denn was du hier machst, ist unbezahlbar.« Er überflog die Zeugnisse, die auf seinem Schirm erschienen. »Ich sehe gerade, du hattest sogar eine UK-Klausel. Für alles Geld der Welt hätten wir dich nicht hergegeben.«

»Jetzt müsst ihr es umsonst tun.«

»Wir brauchen keine Publicity, nicht solche. In den Hauptnachrichten, in den Mainstreammedien in die Kamera lächeln. Dann ein Schwenk über die MARQUIS DE LAPLACE. Das ist nicht speziell genug. Das interessiert unsere Kunden nicht!«

Laertes sah ihn nur an. Das ist nicht mein Problem, sagte seine Miene.

»Wir brauchen dich hier«, sagte Jones. Er klang jetzt beinahe weinerlich. »Wir brauchen jemand, der die Arbeit macht. Diese gute, geniale, unfassbare Arbeit!«

»Ich werde dort das Gleiche machen«, erklärte Laertes. »Deshalb haben sie mich angeworben. Das Kleingedruckte habe ich noch nicht gelesen, aber bestimmt gibt es eine Klausel über den Technologietransfer.«

»Das ist alles Scheiße.« Jones winkte nicht einmal mehr ab.

»Im übrigen«, sagte Laertes noch, »komme ich ja wieder.«

Der Leiter seiner Arbeitsgruppe starrte ihn nur an. »Ich habe die Projektbeschreibung gelesen«, brummte er.

Die beiden Männer sahen sich eine Weile an. Sie hatten gut zusammen gearbeitet. Ein paar Mal hatten sie auch an der Bar miteinander getrunken. Nicht Laertes, den er deswegen verdächtigte, wohl aber Jones war mehr als einmal mit Trixi auf ihr Zimmer gegangen. Laertes mochte ihn, irgendwie. Im großen und ganzen hatte Jones sich ihm gegenüber fair und menschlich verhalten. Er war ein Mensch für ihn gewesen, kein Leistungserbringer wie die anderen Programmierer, die ihre Standardzahlen abliefern mussten wie Kühe ihre soundso vielen Liter Milch. Er versuchte, den Job und den Menschen auseinander zu halten. Das rechnete Laertes ihm an.

Jones gab den Transfer frei. Die Arbeitszeugnisse und die anderen Papiere wurden auf Laertes’ Handgelenksimplantat überspielt.

»Alles Gute«, sagte er tonlos.

Laertes sicherte die Dateien, nickte dem anderen noch einmal zu und ging.

Der Junge vom Fahrdienst wartete schon. Laertes warf seine Tasche in den Scooter. Viel war es nicht. Er hatte nie viel besessen. Ein paar Garnituren Wäsche. Ein paar Bücher. Den Rest konnte man nachkaufen oder synthetisieren. Die großen internationalen Hotels, in denen er abstieg, wenn er die Fabrik hin und wieder für ein paar Tage verließ, um sich mit Kathy zu treffen oder an einem Kongress teilzunehmen, waren mit den modernsten Einrichtungen dieser Art ausgestattet, die es sonst nur auf Raumschiffen gab.

»Einen Moment noch.« Er nickte dem Fahrer zu, der mit einem gleichgültigen Achselzucken reagierte.

Dann stand er vor dem Portal und sah es, wie er es noch nie gesehen hatte. Als einer, der weggeht. Sechs Jahre seines Lebens hatte er hier verbracht. Und es blieb ihm noch genügend Zeit. Er würde noch einmal herkommen können. Aber er wusste nicht wozu. Jones und die Kollegen, die Abende bei Trixi an der Bar. Es war nicht so, dass er das nicht vermissen würde. Aber er würde es verkraften. Es war zu verschmerzen. Wirklich zuhause gewesen war er hier eigentlich nie.

Er drehte sich um. Die schmale Asphaltbahn, die sich wie ein Feldweg in die wogende Weite der erntereifen Felder hinausschlängelte. In der Ferne waren automatische Mähdrescher im Einsatz. Sie zogen Wolken von Spreu hinter sich her wie riesige Schneepflüge. Ihre KIs waren primitiv. Sie hatten sich nach Feierabend einmal damit belustigt, sich die Programmierung anzusehen. Einer der Farmer hatte sie darum gebeten. Aber das Zeug war unsagbar lächerlich. Mit KI, wie sie sie verstanden, hatte es im Grunde nichts zu tun. Es waren Roboter, die selbständig ein ausgewiesenes Feld abernteten und dann mit ihrer Fracht zum Silo fuhren. Ein Dreijähriger hätte die Routinen dafür schreiben können. Einer von Laertes’ Kollegen passte auf die Schnelle ein paar seiner Standards ein und schickte das Ganze dem Besitzer zurück, der sich überschwänglich bedankte. Ein paar Tage später fuhr er vor und brachte einen Fresskorb für die ganze Arbeitsgruppe.

Anekdoten.

Er wusste, dass er viel Zeit haben würde, sie zu rekapitulieren. Ob jemand da sein würde, dem er sie erzählen konnte? Aber für wen würde das interessant sein?

Der junge Kerl mit dem Scooter wartete geduldig. Er wurde nach Einsätzen bezahlt. Solange kein weiterer Auftrag in der Warteschleife hing, konnte es ihm egal sein, ob er hier herumlungerte oder am anderen Ende seiner Strecke.

Laertes fiel auf, dass das Gebirge näher gerückt war. Es war klar. Jeder Grat, jeder Felszacken, jeder Geröllbrocken zeichnete sich ab, als sei das Firmengelände über Nacht etliche Kilometer nach Süden gewandert. Er wusste, dass es am Föhn lag – der wiederum für einen nicht unerheblichen Teil seiner Übelkeit verantwortlich war. Er schätzte das Verhältnis Tequila – Wetter auf etwa 60 zu 40.

Ein letzter Blick über die Fassade. Das große Schild: ARTIFICIAL INTELLIGENCE RESEARCH CENTER. Es klang großspurig. Aber wenn man es recht bedachte, war es sogar eine Untertreibung. Sie hatten nicht Intelligenz erforscht, sondern Bewusstsein erschaffen. Zumindest den aufgeweckteren seiner Kollegen war von einem bestimmten Punkt an klar gewesen, dass sie an einer Schwelle standen. Sie erschufen ein Wesen, das nicht nur menschliche Funktionen simulierte, eine Turing-Maschine, sondern das tatsächlich über ein Bewusstsein seiner selbst verfügte. Er hatte das in einem kleinen Artikel in einem Fachblatt angezeigt, noch ehe die letzten Hürden genommen waren. Sie waren es übrigens auch jetzt noch nicht. Es würde noch Jahre dauern. Es würde immer weitergehen. Aber der Artikel hatte sich seinen Weg durch die Institutionen gebahnt. Jetzt hatte er sich in eine Eintrittskarte verwandelt. In ein Flugticket. In ein historisches Dokument.

Er riss sich los und stieg in den Scooter.

»Wo soll’s denn hingehen?« Der Fahrer schnippte seine Qatlette auf den Vorplatz, wo sie qualmend liegen blieb. Wenn sie die Auffahrt freigegeben hatten, würde ein dackelgroßer Bot erscheinen und den Stummel verschwinden lassen. Auch so ein Lieblingsspielzeug der Geschäftsführung, die bis heute nicht begriffen zu haben schien, dass sie keine Bots programmierten, sondern an etwas arbeiteten, das eine völlig andere Qualität hatte!

»Ins Dorf«, sagte er nur. »Dort komme ich allein zurecht.«

»Ich kann sie auch in die Stadt fahren«, sagte der Junge. »Oder gleich zum Flughafen. Wie es aussieht, sind Sie heute meine einzige Fuhre.«

»Danke.« Laertes schmunzelte ob der Bezeichnung. »Erst einmal ins Dorf.«

»Sie haben es nicht eilig.« Der Scooter erwachte mit dem charakteristischen Geräusch anlaufender Feldgeneratoren zum Leben.

»Ich habe alle Zeit der Welt.« Sandte er nicht genügend Signale aus, die verkündeten, dass er nicht an Konversation interessiert war? KIRA, die künstliche Person, die er erschaffen hatte und mit der er seit mehreren Jahren arbeitete, würde es verstehen.

Der junge Mann ließ die Turbine aufheulen und jagte sie die einspurige unmarkierte Straße entlang, die sie bei diesem Tempo in wenigen Minuten zur nächsten kleinen Ortschaft führen würde.

Laertes hatte es wirklich nicht eilig. Am liebsten wäre er zu Fuß gegangen. Immer auf das Dorf mit seinen Silos und dem Kirchturm zu, während die Berge darüber immer klarer und höher wurden. Aber es hätte keinen guten Eindruck gemacht. Er hatte Anspruch auf einen Chauffeur.

»Hab schon gehört«, plauderte der Fahrer.

»Was denn?«

»Sie haben das große Los gezogen!« Er zwinkerte ihm zu, während er lässig mit einer Hand steuerte. Laertes riskierte einen Blick auf das Display: der Scooter war selbstfahrtauglich. Er hätte auch ohne den Schwätzer zum Dorf gefunden. Das hatte etwas mit dem Protokoll zu tun. Und so hatte man wieder einen Arbeitsplatz geschaffen. Die Region war strukturschwach. Von AIRC abgesehen, gab es hier nichts als Rinderzucht und Getreide. Und die KI-Fabrik rekrutierte ihren Nachwuchs nicht gerade aus den Farmern der Umgebung.

»Ist es das?«, fragte er nachdenklich.

»Ich denke schon.« Der Junge machte aus seiner Begeisterung kein Hehl. Dann schoss er ihm einen verschwörerischen Blick zu. »Oder haben Sie Schiss?«

»Kein intelligenter Mensch würde leugnen, dass das Ganze mit einem mulmigen Gefühl verbunden ist.«

Laertes ließ das wirken. Er konnte zusehen, wie der Fahrer den Satz im Kopf ein paar Mal vor und zurückspulen musste.

»Es ist natürlich schon ein Schritt«, sagte er dann. »Man muss alles zurücklassen, eh?«

»So ist es.« Laertes tat noch immer der Schädel weh. »Aber bei dem Meisten ist das ja auch nicht schade, oder?«

Er legte das Handgelenk auf das Display, das in seiner linken Armlehne sichtbar wurde, und quittierte die Fahrt. Der Betrag würde von der Firma beglichen. Diese eine Dienstleistung hatte er noch gut. Er hätte auch gleich in die City fahren und sich bei einem der pompösen Hotels am Flughafen absetzen lassen können. Aber er wollte die Zwischenstation noch. Er brauchte die Etappe. Eine Sache war noch zu erledigen.

Als er ausstieg, war er jedenfalls endgültig ein freier Mann. Der letzte Kontakt, der ihn noch mit der Firma verband, salutierte eifrig, wendete auf dem kleinen Vorplatz des Gasthofs und bretterte mit jaulenden Aggregaten davon.

Laertes blieb allein zurück. Die kleine Reisetasche in der Hand – andere Leute nahmen mehr Gepäck mit, wenn sie in die Sauna gingen oder an den Strand. Er sah sich um. Der Gasthof war im Tiroler Landhausstil erbaut. Breite Balkone, vor denen Kästen mit Geranien und Pelargonien hingen. Holzschnitzereien. An einer Wand Lüftlmalerei. Er war oft hier durchgekommen, auf dem Weg zum Flughafen oder zurück. Meist nachts oder am frühen Morgen. Aber er war nie ausgestiegen und hatte sich das Gebäude angesehen. Das holte er jetzt nach.

Ein einziges Mal war er im Ort selbst gewesen. Jim Gallagher, zwei Gehaltsklassen über Curdy Jones, hatte die ganze Arbeitsgruppe zu sich nach Hause eingeladen. Er wohnte in einem protzigen Anwesen am Rand des Dorfes. Riesiger Garten mit Hochstammrosen und Obstbäumen. Ein Trampolin und ein eigener Tennisplatz für die Kinder. Natürlich ein Swimmigpool. Die Party diente offiziell dem gegenseitigen Kennenlernen. Ihr eigentlicher Zweck war es, den kleinen Sachbearbeitern und 0815-Programmierern vorzuführen, was man im Management verdienen konnte, auch wenn man von der Materie, die man dabei verwaltete, nicht den geringsten Schimmer hatte. Sie hatten das bald durchschaut und sich entsprechend aufgeführt, vor allem nach dem zweiten, dritten Bier. Einer hatte die Kinder des Hauses so oft und so erbarmungslos im Tischtennis geschlagen, dass sie zu heulen anfingen. Ein anderer den Hund in den Pool geschmissen. Jones hatte der puertoricanischen Haushälterin unter den Rock gefasst, die ihm daraufhin eine knallte, der ihr wiederum seinen Champagner ins Gesicht schüttete. Einer hatte in die Blumenrabatte gekotzt. Es war das letzte Fest dieser Art. Die Führung gab mit sofortiger Wirkung sämtliche Versuche auf, mit der restlichen Belegschaft zu fraternisieren.

Anekdoten. Laertes schmunzelte gedankenverloren vor sich hin.

Als er eintrat, registrierte er mit Erleichterung, dass ihn hier niemand kannte. Er ging zur Rezeption und mietete das beste Zimmer des Hauses für zwei Nächte. Vielleicht würde er nur eine davon in Anspruch nehmen. Das hing davon ab, was für eine Verbindung er finden würde. Aber es kam nicht darauf an. Er hatte es immer so gehalten. Das erste Haus am Platze, die teuerste Suite. Geld spielte keine Rolle, ob die Firma zahlte oder ob es privat war. Er verdiente zwar nicht annähernd so viel wie Gallagher oder die Leute, die noch über ihm standen. Aber er hatte andererseits auch nie Gelegenheit gehabt, sein Geld auszugeben. Keine Familie, kein eigener Wohnsitz, keine Hobbies. Die Wochenenden mit Kathy waren das einzige. Aber wenn es acht im Jahr waren, war es viel. Im Bunker, wie sie den Gebäudekomplex von AIRC nannten, zahlte alles die Firma, auch die Unterkunft, den Kaffee und die Mikrowellenpizza. Nach bürgerlichen Gesichtspunkten war er ein wohlhabender Mann. Die Firma hatte gute Anlageberater! Aber das hatte ihn eigentlich nie interessiert. Geld war soviel wert, wie man sich dafür kaufen konnte. Was das anging, war er in all den Jahren bedürfnislos gewesen.

Ein Mädchen in ländlicher Tracht brachte ihn auf sein Zimmer. Dafür, dass es nur ein Gasthof war und kein Hotel, war es beinahe luxuriös. Ein ungewöhnlich großes Doppelbett, davor der nicht weniger riesige interaktive Schirm. Die Tür zum Bad stand offen, das die Grundfläche des Wohnraums noch zu überbieten schien. Er erkannte einen Whirlpool und eine Zweipersonen-Sauna, außerdem ein Fahrradergometer. Das ganze Etablissement war auf ein älteres, wohlhabendes Publikum berechnet, das hier den Nachsommer verbrachte, in den nahen Bergen wandern ging und die Abende ausufernden Weinproben und den Kreationen der Sterneköche widmete.

Er danke dem Mädchen und steckte ihm einen Zehner zu. Dann fiel ihm noch etwas ein.

»Würden Sie mir etwas gegen Kopfschmerzen bringen?«

Sie nickte und lief die Treppe hinunter. Als sie wiederkam, hatte er die Schuhe ausgezogen und sich auf dem Bett ausgestreckt. Sie kredenzte ihm die Tablette in einem Glas sprudelnden Wassers, als handele es sich um eine Jahrgangsauslese. Dabei musterte sie ihn mit einem mitfühlenden Blick.

»Der Föhn?«

»Das auch.« Er leerte das Glas in einem Schluck. Prickelnde Kälte explodierte in seinem Magen. »Wir haben gestern gefeiert!« Eine kreisende Bewegung der Hand auf Höhe seiner Schläfen sollte seinen Zustand verdeutlichen.

»Was haben Sie gefeiert?«, fragte sie.

»Meinen Ausstand.«

»Sie sind von der Firma«, riet sie. »Die die Roboter bauen.«

»Wir programmieren sie«, korrigierte er sie sanft. »Gebaut werden sie woanders.« Das eine entsprach der Wahrheit zwar ebenso wenig wie das andere, aber irgendwie fand er Gefallen an der kleinen Unterhaltung.

»Wurden Sie gekündigt?«

»Ich habe meinen Abschied eingereicht.«

»Oh!« Die Kleine staunte. Das musste man sich leisten können, soviel war ihr klar. »Und – was machen Sie jetzt?«

»Ausspannen.« Er überlegte. »Vorträge. Übermorgen muss ich nach Hawaii.«

»Das ist ja aufregend!« Sie legte den Finger an den Mund. »Soll ich Ihnen eine Verbindung heraussuchen.«

»Das schaffe ich schon selber. Vielen Dank!« Er sah sie an. »Waren Sie mal dort?«

»Um Gottes Willen!«

»Zwei Stunden.« Er hob die Schultern, wohl wissend, dass das eigentlich nicht seine Art war. Der Brief musste etwas mit seinem Serotonin gemacht haben.

»Das ist nicht der Punkt«, sagte das Mädchen altklug. »Ein solcher Flug kostet mehr, als ich hier im ganzen Jahr verdiene.«

Das mochte sein. Über solche Dinge hatte er nie nachgedacht.

»Entschuldigen Sie bitte. Das war gedankenlos.«

»Nein, ist schon gut.«

Sie stand da und sah ihn an; Er spürte, wie der Kopfschmerz sich in seinen Winkel zurückzog wie ein eingeschüchtertes Tier in seinen Bau. Auch das mochte zu seiner übermütigen guten Laune beitragen. Er überlegte, ob er sie einfach einladen sollte, ihn zu der Tagung zu begleiten. Sie war nett. Wie sie dastand und den Impuls unterdrückte, sich auf die Bettkante zu setzen, während ihre Aufmerksamkeit immer wieder zur offenen Tür stolperte, von der leise die Geräusche des Treppenhauses und der Rezeption, drei Stockwerke weiter unten, drangen.

Jones wäre ihr jetzt an die Wäsche gegangen.

Laertes schickte sie weg.

»Vielen Dank. Wenn ich noch etwas brauche, lasse ich es Sie wissen.«

Sie knickste förmlich. Dann schloss sie die Tür. Er hörte noch die Schritte ihrer schwerer Holzcloggs, die sich die Wendeltreppe nach unten tasteten.

Er lag eine Weile da und betrachtete die Decke. Dann setzte er sich auf. Er aktivierte den Schirm. Es gab täglich mehrere Verbindungen nach Lihue, direkt oder mit Zwischenlandung in Newark oder Atlanta. Ein erstes Durchscrollen ergab, dass überall noch Plätze frei waren. Er nahm davon Abstand, sich jetzt schon festzulegen und ein Ticket zu reservieren.

Dann sah er auf die Uhr. Eine Stunde Zeitverschiebung: Das hieß: Sie hatte jetzt gerade Mittag. Er atmete tief durch und pingte ihre Nummer an.

Die Leitung wurde sofort freigegeben. Wie er vermutet hatte, saß sie bei Tisch.

»Ungewohnte Zeit«, sagte sie nur.

Sie hatte ein Display neben dem Ess-Tablett erzeugt, auf dem sie ein Fachjournal studierte. Sie legte die Hand darauf. Die Anzeige erlosch. Dann sah sie ihn an.

»Mahlzeit«, brachte er hervor.

Sie sah umwerfend aus. Obwohl für gewöhnlich rot ihre Farbe war, brachte auch der weiße Kittel ihr schwarzes Haar und den blassen Teint gut zur Wirkung. Ihre Augen, aus denen das Störrische nur selten wich, das Eigensinnige. An den Wochenenden brauchte es meist den ganzen ersten Abend, viel Champagner und noch mehr Küsse, um das Harte zu mildern, das in ihren Augenwinkeln und auf ihren Lippen war. Auch jetzt war ihr Blick streng und ein bisschen ungeduldig, als sei er in die Ordination geplatzt.

»Danke.« Sie stocherte in ihrem Salat herum. »Was – gibt’s?«

»Ich wollte mich einfach mal wieder melden.« Lügen war noch nie seine Stärke gewesen.

Sie fiel auch nicht eine Sekunde darauf herein. Mit vollen Backen kauend, dass er das Krachen der Salatblätter und Paprikascheiben bis zu sich hörte, sah sie ihn an und musterte dann die Umgebung, soweit sie bei der Übertragung mit ins Bild kam.

»Wo bist du da überhaupt?«

»Ein Gasthof, im Ort«, sagte er schnell.

»Aha?«

Sie schob eine weitere Gabel in den Mund und spähte unverhohlen nach der Uhr.

»Ich musste mal raus.«

»Laertes.«

»Ich.« Er hatte nicht erwartet, dass es so schwierig werden würde.

»Hast du etwas ausgefressen?«, fragte sie mütterlich. »Du hast doch nicht gekündigt? Oder haben sie dich rausgeschmissen.«

»Sie haben mich nicht rausgeschmissen«, beeilte er sich zu sagen.

»Was ist dann passiert?« Sie schob das Tablett weg, obwohl der Teller kaum zur Hälfte geleert war, und trank einen Schluck Wasser. Dann sah sie wieder nach der Uhr.

»Laertes«, sagte sie. »Ich muss dann wieder. Worum geht es denn?«

»Das ist es ja!« Er ertappte sich dabei, wie ihm der Schweiß ausbrach. »Ich würde gerne richtig mit dir reden. In Ruhe und unter vier Augen. Nicht so!«

Sie sah ihn nur an. Im Hinterkopf ging sie ihre OP-Termine durch.

»Können wir uns sehen?«, fragte er.

»Die Woche ist es schlecht«, sagte sie rasch. »Jeden Tag zwei, drei komplizierte Sachen. Da muss ich mich konzentrieren. Am Wochenende Bereitschaft.«

»Am Wochenende bin ich auf Kauai.«

»Wie wäre es das Wochenende danach?«

»Das müsste gehen.«

»Und wo? Magst du herkommen?«

»Gerne!« Er holte Luft. Irgend etwas verhakte sich in seinem Kopf. Da war noch ein Meeting, das er eigentlich nicht absagen konnte, aber er hatte vergessen, wo es stattfand und um was es sich handelte. Paris? Irgendwas mit »Personale Identität«. Er wischte den Gedanken weg. Ohnehin würde er sich organisatorisch neu aufstellen müssen.

»Ist gut.« Er nickte ihr zu, die ihn aus dem Schirm heraus ansah. »Ich komme zu dir, und wir gehen irgendwo in der Stadt was essen. Auf der Burg! Such uns was Schönes aus!«

»Mach ich.« Ihr Blick wurde ein wenig weicher. Der warme sinnliche Schmelz ihrer braunen Augen, der so selten und so kostbar war. »Magst du mir nicht sagen, was es ist?«

»Kathy.« Er wand sich. »Ich muss dir etwas sagen.« Warum war es so schwer? »Ich möchte dich etwas fragen!«

»So so.« Jetzt, endlich lächelte sie. »Dann frag doch!«

»Nicht so.« Er sonnte sich in ihrer Schönheit, ihrer Erwartung, ihrer Freude. »Das würden wir uns den Rest unseres Lebens nicht verzeihen.«

»Da kannst du recht haben«, schmunzelte sie versöhnlich. »Also Freitag in acht Tagen, sechs Uhr abends, im Burgrestaurant. Schaffst du das?«

»Ich werde da sein.«

»Fein.«

Er hätte so gerne ihre Hand genommen. Diese Videoverbindungen waren einfach Mist!

»Ich liebe dich.«

»Ich liebe dich auch.« Sie deutete einen Kuss an. »Jetzt muss ich aber wirklich!«

Die Leitung wurde gekappt.

Er blieb den ganzen Tag auf dem Zimmer. Die Tablette hatte den Kopfschmerz ausgeknipst, aber nicht die Mattigkeit, die mit dem Föhn zusammenhing. Er streckte sich auf dem Bett aus und schlief eine Stunde. Dann ging er ins Bad, duschte sich kalt ab, setzte sich in die kleine Sauna und duschte noch einmal eiskalt. Danach ging es ihm besser.

Er rief auf der Rezeption an und bestellte ein leichtes Essen. Der Anblick der knackigen Salate auf Kathys Teller in der Mensa der Semmelweis-Klinik hatte ihm Appetit gemacht. Wenig später kam ein junger Mann in Lederhosen und brachte ihm etwas, das man in Übersee mit viel Fantasie als Caesar’s Salad bezeichnet hätte. Laertes war enttäuscht. Er hatte sich auf das Dirndl gefreut. Aber natürlich getraute er sich nicht, danach zu fragen. Bestimmt hatte sie schon Feierabend.

Er setzte sich im Bademantel auf den Balkon und aß, während er den Blick über den kleinen Ortskern des Dorfes und die Felder schweifen ließ. In der Ferne blinkte etwas. Das waren die Flachdächer und Antennenmasten des Bunkers. Schon jetzt hatte er beinahe vergessen, dass es die Firma gab, und dabei hatte er sein halbes bewusstes Leben dort verbracht! Er war erleichtert. Es würde auch ohne gehen.

Am Nachmittag unternahm er einen Spaziergang, einmal rund um den Ort. Die Berge im Süden wurden immer noch plastischer. Auf den Feldern stiegen überall die goldbraunen Fahnen der Spreu auf, die von der Tätigkeit der Mähdrescher und Erntemaschinen kündeten. Es war warm und trocken, unglaublich angenehm. Er setzte sich auf einen Felsbrocken, der an einer Weggabelung lag, und bot sich den Sonnenstrahlen dar. Würde er das vermissen? Der Gedanke überkam ihn wie ein Schock. In der Firma war ihm in schöner Regelmäßigkeit die Decke auf den Kopf gefallen. Einmal am Tag musste er an die frische Luft und die halbe Stunde außenrum, immer am Zaun entlang, sonst wurde er verrückt. Dort würde das nicht möglich sein!

Sicher gab es Kompensationen. Psychopharmaka. Lichttherapie. Etwas in der Art.

Im Grunde war er ja nie im Raum gewesen. Vor Jahren ein Kongress auf Luna II. Natürlich war das aufregend. Aber der Flug dauerte nur ein paar Stunden. Der Aufenthalt unterschied sich kaum von einem Dutzend anderer in irdischen Tagungshotels. Und dann war es schon wieder vorbei gewesen.

Mit Kathy hatten sie immer einmal zu den Vergnügungskuppeln von Luna III gewollt. Wenn sie einmal mehr Zeit hatten als ein Wochenende jeden zweiten Monat. Bis jetzt hatte es sich nie ergeben. Vielleicht während der Flitterwochen? Zum zweiten Mal kurz hintereinander spürte er, wie sich etwas in ihm zusammenkrampfte. Er musste den Knoten in der Magengrube langsam wegatmen. Noch war nichts entschieden. Es würde sich alles fügen!

In der warmen Septembersonne sitzend, aktivierte er sein Display und widmete sich den Terminen. Paris war erst Anfang übernächster Woche. Dann konnte er das nach Budapest machen. Und da die kommende Woche frei war, hatte er nach Kauai noch ein paar Tage, um in Pensacola vorzusprechen. Man hatte ihm zwar noch nicht mitgeteilt, wie das offizielle Prozedere aussehen würde, aber wenn er quasi auf der Durchreise war, konnte er ja einmal kurz Station machen.

Dabei fiel ihm ein, dass er zwar den Eingang des Briefes quittiert, aber noch nicht geantwortet hatte. Musste er sich dort irgendwie melden? Das Schreiben verkündete das factum brutum, als sei es eine ausgemacht Sache. Von einer Rückbestätigung war nicht die Rede. Sie hätte er auch erst nach dem Gespräch mit Kathy gegeben. Aber wenn sie nun gar nicht nötig war? Wenn sie einfach davon ausgingen, dass er eine solche Chance sowieso nicht ausschlagen konnte. Und würde er das wollen?

Ohne einen bewussten Entschluss war er aufgestanden. Als er aus seinen Grübeleien in die Realität zurückkehrte, fand er sich auf dem Feldweg wieder. Er musste schon mehrere Minuten gegangen sein. Die ersten Höfe und Appartementhäuser des Ortes lagen vor ihm. Er seufzte. Eines nach dem anderen. Dann kehrte er zum Gasthof zurück.

Er aß im Restaurant zu Abend. Die Küche war wirklich hervorragend. Eine der besten im Umkreis von mindestens hundert Kilometern. An den anderen Tischen saßen ältere Ehepaare, auch mal einen Vierergruppe. Sie musterten ihn abfällig. Er war allein, er war viel zu jung, er war äußerst leger gekleidet. Dann widmeten sie sich wieder ihren Gesprächen, die um Aktienkurse und Schönheitsoperationen kreisten. Er studierte die Nachrichten auf einem kleinen Schirm. Kämpfe im Nahen Osten und Kurdistan, am Khyberpass und in Oman, im Tschad und am Oberlauf des Orinoko. Die Union erhob den Anspruch, die Menschheit zu repräsentieren, aber es gab immer wieder Gebiete, die sich von ihr lossagten. Die sogenannte westliche Welt, die zivilisierten Völker, die raumfahrenden Nationen! Doch es mangelte nicht an Stämmen, Religionsgemeinschaften und halben Kontinenten, die Wert darauf legten, diesem Club, wie sie sagten, nicht angehören zu wollen. Die Segnungen der modernen Medizin, die Rechtssicherheit in einem säkularen und laizistischen Weltstaat, die wissenschaftliche Erforschung ferner Welten, die Ressourcen, die von mehreren Dutzend extraterrestrischer Basen und Minen, vom Mars bis zu den fernsten Außenposten iKuipergürtel, zur Erde flossen – all das erachteten sie für null und nichtig und hingen lieber ihren heiligen Büchern, Überlieferungen und sogenannten Offenbarungen nach, die im wesentlichen darin zu bestehen schienen, einander abzuschlachten.

Laertes schaltete die Sendung ab.

Er ging auf sein Zimmer, aber nur um festzustellen, dass er nicht müde war und dass er das Alleinsein heute nicht gut vertrug. Er rief die Rezeption und orderte eine Flasche Wein. Auf der Terrasse war es immer noch angenehm warm. Die Sonne war untergegangen. Alles war blau und still. Der Himmel war ungeheuer groß.

Als sie neben ihm stand, war ihm sein Erschrecken unangenehm. Er hatte sie nicht gehört. Sie hatte die Cloggs gegen weiche Sneaker vertauscht und das Dirndl gegen ein sportives Dress.

»Entschuldigung«, sagte sie betroffen, als sie bemerkte, wie er zusammenzuckte. »Ich hätte klingeln sollen.«

»Es ist schon gut.« Er lächelte ihr tapfer zu. »Stellen sie das einfach hierher.« Er wies auf den kleinen Tisch, der neben der ausnehmend bequemen Liege stand.

Sie folgte der Aufforderung. Der Wein war schon geöffnet. Sie schenkte ein. Er probierte und nickte dann zerstreut.

»Schöner Abend«, sagte sie versonnen.

»Ich habe gedacht, Sie hätten frei«, erwiderte er. »Heute Mittag ...«

»Nachmittags habe ich ein paar Stunden Freizeit«, plauderte sie unbefangen. »Dafür ist abends wieder Dienst.«

»Rezeption?« Er musterte sie. Ihr Aufzug hätte eher zu einer Aufseherin in einem Fitnessstudio gepasst.

»Eigentlich unten«, sagte sie. »Sie wissen, dass wir eine Kegelbahn haben! Auch eine Bar, ein Sonnenstudio, ein Kino!«

»Ich habe den Prospekt gelesen.«

»Wollen Sie nicht nach unten kommen? Es sind auch nicht viele Leute da.«

Er sah sie an. Sie stand da, kippelte nervös mit dem rechten Fuß, rieb die Hände aneinander. War sie eine wie Trixi, die sich auf diese Art etwas dazu verdiente? Sie war hübsch. Blaue Augen, eine kleine Nase. Die Zöpfe waren vermutlich Vorschrift.

Vermutlich mangelte es auch nicht an Gelegenheit. Zwar waren die meisten Gäste graumelierte Paare in den Sechzigern, aber hin und wieder stieg bestimmt auch ein pensionierter Zahnarzt oder ein geschiedener Rechtsanwalt hier ab.

»Danke«, sagte er. »Ich möchte gerne allein sein.«

»Sie sind anders als die anderen.«

»Müssen Sie nicht wieder runter«, fragte er. »Nicht, dass ich Sie vertreiben möchte!«

»Ich werde angepiepst.«

Sie biss sich auf die Lippe. Er sah, wie sie mit etwas kämpfte. Dann setzte sie sich in den zweiten Liegestuhl. Es war ja alles doppelt vorhanden. Jetzt bemerkte er, dass zwei Gläser auf dem Tablett standen. Nur eines war gefüllt. Er schenkte das zweite ein, nur einen Strich hoch, und reichte es ihr.

»Eigentlich bin ich ja im Dienst«, kicherte sie. Dann goß sie den Schluck mit einer raschen Bewegung aus dem Handgelenk hinunter, wie man es beim Digestif zu tun pflegt.

»Ich werde Sie nicht verraten«, sagte er.

Sie seufzte aufgesetzt. »So eine schöne Nacht.«

Inzwischen war es dunkel geworden. Der letzte blaue Widerschein im Westen war erloschen. Die ersten Sterne leuchteten auf. Einer davon zog die Aufmerksamkeit auf sich.

»Was ist das?«, fragte das Mädchen. »Der scheint es ja mächtig eilig zu haben.«

Laertes aktivierte kurz das Display und glich die Daten ab.

»Das ist kein Stern«, sagte er dann.

»Sondern?«

»Das ist die MARQUIS DE LAPLACE!«

Der silbrige Lichtpunkt strebte glitzernd und flimmernd nach Nordwesten und verschwand am Horizont.

»Davon habe ich gehört«, sagte das Mädchen. »Die bauen da ein Raumschiff.«

»Das kann man so sagen.«

»Wow!« Sie starrte noch eine Weile in den Himmel, aber der fliegende Bauplatz auf seiner niedrigen Umlaufbahn war längst wieder aus dem Blickfeld verschwunden.

Er spürte, wie sie ihn in der Dunkelheit ansah.

»Sie kennen sich aber gut aus!«

»Es gibt eine App«, sagte er ausweichend. »Man wird laufend über alles informiert. Die Baufortschritte, die Anwerbung der Mannschaften, den Flugplan.«

»Und? Sind Sie dabei?!«

Er wusste nicht, wie sie das wissen konnte. Frauen und ihr sechster Sinn!

»Ja.« Er zwang sich, ganz ruhig und gefasst zu klingen.

»Sie fliegen zu den Sternen!« Sie griff ungeniert zur Flasche und füllte sich ihr Glas.

»Nur ein Stern«, sagte er. »Tau Ceti.«

»Wahnsinn.« Sie trank und sah ihn mit leuchtenden Augen an.

In diesem Moment hätte er sie haben können. Sogar kostenlos!

Das alles gefiel ihm nicht. Seine Nerven, der Wein, die Zutraulichkeit dieses einfachen Geschöpfs.

»Da werden Sie aber eine Weile unterwegs sein«, stellte sie fest.

»Kann man so sagen.« Er wiederholte sich formelhaft wie die primitivste aller Protokoll-KIs. »Das ist eine ordentliche Strecke!«

Ihr war noch etwas eingefallen.

»Was sagt denn Ihre Frau dazu?«

»Ich habe keine Frau.«

»Oh.«

Er sog die wunderbare klare Nachtluft ein und sah sie fest und durchdringend an. »Ich möchte Sie bitten, jetzt zu gehen.«

»Verstehe.« Sie stand auf. »Sie wissen ja: Kellerbar!«

Sie hüpfte, einen Schlager vor sich hinsummend, zur Tür, die sie betont laut und umständlich hinter sich schloss.

Er schenkte sein Glas wieder voll und trank es in einem langen, langsamen Zug aus.

Erstflug

Подняться наверх