Читать книгу Wenn Gedanken Flügel hätten - Matthias Gehler - Страница 10
ОглавлениеDie Jury
Frühjahr 1989
Die Deutsche Demokratische Republik kümmert sich um ihre Künstler. Das ist gesetzlich festgelegt in der „Anordnung über Anerkennung der künstlerischen Qualität und Einstufung der Volkskunstkollektive und Solisten“ vom 25. Mai 1971.
Ich bin Besitzer einer Klappkarte mit Siegel und Unterschrift von Herrn Gießner, Stadtbezirksrat für Kultur in Berlin-Friedrichshain, die mich zum anerkannten Solisten macht. Die sogenannte Pappe muss alle drei Jahre erneuert werden. Diesmal findet neben der obligatorischen Einstufungsüberprüfung auch ein Auswahlverfahren der Stadt Berlin für das Chanson-Festival Frankfurt/Oder statt. Ich gehöre zu den fünf Solisten, die dafür in die engere Wahl gekommen sind. Die Prüfung ist öffentlich. Sie findet in einem langen Saal über dem Kino „International“ statt. Der Raum ist abgedunkelt. Ein Seitengang führt hinunter zu einer kleinen intimen Bühne. Während seitlich des Gangs alle Plätze voll belegt sind mit Theater- und Jugendklubleitern, sitzen ganz vorn in den ersten beiden Reihen die Mitglieder der Jury. Sie sind fast alle über 40 und tragen blaue FDJ-Hemden. Es handelt sich um Kulturfunktionäre.
Mir wird ein Platz an der Seite im Gang zugewiesen. Die Dame, die mich begrüßt und die Organisationsleiterin des Sängerwettstreites ist, reicht mir die Hand und sagt, dass ich gleich am Anfang dran wäre. Außerdem freue sie sich schon auf meinen Auftritt. Mir wird etwas mulmig. Wahrscheinlich kennt sie nur das Programm, das ich vor drei Jahren eingereicht und vorgesungen habe. Es heißt „Wenn Gedanken Flügel hätten“ und ist vor allem humanistisch geprägt. Inzwischen sind zwei weitere Programme gefolgt. Im Frühjahr 1989 singt man nicht mehr nur Humanistisches, sondern legt mehr Wert auf politische Aussagen. Angesichts der Blauhemden habe ich allerdings keine Zweifel, dass ich kritischere Lieder singen werde – egal was geschieht. Aber die freundliche Dame, die an mich glaubt, macht mir Sorgen. Ich kann nicht zurück. Ich setze mich und nehme meine Gitarre aus der Hülle. Die Aufregung steigt. Werden mir die Finger gehorchen?
Nach einer Vorrede heißt es „Bühne frei“. Ich nehme mein Instrument, steige die Stufen nach oben und setze mich auf den bereitstehenden Hocker vor das Mikrofon. Geblendet durch das Scheinwerferlicht erkenne ich kaum Gesichter. Mein Mut kehrt zurück. Ich sage nichts, stimme kurz noch die D-Saite nach und fange an zu singen: „Wie alt war ich wirklich, als ich 15 war? War ich vielleicht zu jung für mich in diesem Jahr?“
Das folgende Lied ist direkter. Darin lache ich einen Polizisten an, dem meine Freundlichkeit suspekt ist. Während des Auftritts herrscht Ruhe und knisternde Spannung im Saal. Mir scheint, als warten einige im hinteren Zuschauerraum auf ein Duell mit den Blauhemden. Nach dem ersten Lied gibt es nur gedämpften Applaus. Am Schluss meines Vortrags ist der Applaus laut und lang – besonders aus den hinteren Reihen.
Ich denke darüber nach, ob die Jury meine Worte wirklich verstanden hat. Noch während meines Abgangs in Richtung Seitenplatz bezieht ein Jury-Mitglied erregt Position. Ein älterer Herr ist aufgestanden, hat sich dem Publikum und mir zugewandt und gibt zu verstehen, dass er den Inhalt des Liedes sehr wohl verstanden hat. „Doch warn wir wer, bevor wir was geworden sind“, wiederholt er meine Zeile, träfe für die DDR nicht zu. „Bei uns kann jeder sein, der er ist“, führt er aus. Der Sozialismus ermögliche die Entfaltung der Talente der Kulturschaffenden und jeden Bürgers, daran hätte er keinen Zweifel. Die Jury konzentriert sich in ihrer Beurteilung lange auf den Inhalt des ersten Liedes, obwohl ich eigentlich in den anderen viel direkter war. Sie sind vorbereitet. Der Text muss ihnen vorgelegen haben. „Wie alt war ich wirklich“ hatte ich schon im September 1987 geschrieben, jedoch bislang selten gesungen.
Als sie dann endlich auf den zweiten Titel zu sprechen kommen und auch da wieder nicht die Melodie und Dichtung kritisieren, sondern den Inhalt, stehe ich auf und entgegne, dass das Lied mit dem Polizisten auf einer wahren Begebenheit beruht. Das glaubt die Jury nicht. Wieder will ich etwas entgegnen, da spüre ich, wie mich mehrere Hände auf meinen Platz zurückziehen. Es sind Menschen, die mir besorgt zu verstehen geben, dass ich nichts mehr sagen soll. Alle Blicke sind auf mich gerichtet. Intuitiv nehme ich meine Gitarre und stecke sie langsam in die Hülle. Jetzt redet keiner mehr, auch nicht die Jury. Zu hören ist der Reißverschluss der Hülle, der sich zeitlupenähnlich schließt. Ich nehme meine Gitarre, stehe auf und gehe den Gang nach oben in Richtung Ausgang.
Es regt sich in den Reihen, an denen ich vorbeigehe. Veranstalter und Leiter von Jugendklubs reichen mir im Halbdunkel des langgestreckten Saales Visitenkarten. Als sich die Tür hinter mir schließt, halte ich mehr als 30 Kärtchen und damit Auftrittsmöglichkeiten in meiner Hand.
Der Abend hat Konsequenzen. Die Teilnahme am Chanson-Festival in Frankfurt/Oder habe ich mir verscherzt. In meiner Pappe werde ich auf die Qualitätsstufe „gut II“ zurückgestuft. Ich darf lediglich 10 Mark bei selbstständigen Auftritten verlangen und nach Absprache hundert Prozent Konzertaufschlag. Von Theatern werden Auftritte, die schon geplant sind, abgesagt. Manche Veranstalter sind so offen und gestehen mir am Telefon, dass sie Anweisung haben, mich nicht singen zu lassen. Eine Ausnahme ist die Berliner Studiobühne in Friedrichshain, die sich mutig widersetzt und in der ich weiterhin auftreten darf.
Ich tingele jetzt von Jugendklub zu Jugendklub und genieße die publikumsnahe Atmosphäre. Da sitzen je nach Größe des Raumes fünfzig bis dreihundert Interessierte, die auf jedes Wort warten. Einige reisen sogar mit von Konzert zu Konzert. Jeder Abend hat ein eigenes Gepräge. Es entstehen neue Lieder, die dieser engen Beziehung zum Publikum entwachsen und entsprechen.
Während die Auftritte in den Theatern zurückgehen, füllen sich die Kirchen bis zum Bersten. Manchmal sitzen die Zuhörer nicht nur auf den Kirchenbänken, sondern auch noch auf dem Fußboden im Gang.
Viele Jahre später
Jedes Jahr treffen sich Medienmacher, Politiker und Fachinteressierte zum Medientreffpunkt Mitteldeutschland in Leipzig. Der Mitteldeutsche Rundfunk lädt am Abend in die Gewölbe der Moritzbastei zu einem Empfang ein. Es gibt Getränke und etwas zu essen, vor allem aber lockere Gespräche am Rande der Workshops und Seminare. Man trifft sich, man scherzt, es wird Musik gespielt. Ich stehe mit Kollegen in einem größeren Kellergewölbe und höre auf die Musik. Überall herrscht gute Laune. Zu mir stellt sich eine hochrangige, bekannte Medienmacherin, mit der ich dienstlich zu tun habe. Der Abend ist mehrere Gläser alt. Sie prostet mir zu: „Matthias, wir kennen uns.“ Ich bin überrascht über das vertraute „du“. Dann offenbart sie mir: „Ich war damals mit in der Jury im Kino ‚International‘.“ Erinnerungen aus dem Frühjahr 1989 steigen in mir auf. Ich suche in Gedanken die ersten beiden Reihen ab, kann ihr Gesicht aber nicht finden. In mir ist weder Verbitterung oder Groll, sondern durchweg Gelassenheit. Wir haben damals in zwei sehr voneinander entfernten Winkeln derselben Welt gelebt und tragen heute zwei verschiedene Perspektiven eines Ereignisses mit uns herum.