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Einleitung

Gab es eine NS-Sprache? Gibt es Naziwörter? Diese Fragen beantworten diejenigen sehr schnell mit Ja, die ihre politischen Gegner abqualifizieren, indem sie ihnen den Gebrauch echter oder nur vermeintlicher Begriffe der NS-Terminologie vorwerfen. Als das AfD-Bundesvorstandsmitglied Hans-Olaf Henkel beispielsweise 2015 forderte, man müsse die Partei von Rechtsradikalen »säubern«, erregten sich sowohl innerparteiliche als auch außerparteiliche Kritiker reflexartig über die Verwendung eines NS-Begriffs und waren damit der Notwendigkeit enthoben, sich inhaltlich mit Henkels Position auseinanderzusetzen. Von einigen wird bei solchen Auseinandersetzungen gleich die ganze deutsche Sprache unter Naziverdacht gestellt. Ebenso erregt und voreilig wird – wie ich bei Diskussionen mit Lesern meiner Bücher und meiner Zeitungstexte feststellen konnte – allerdings auch die Existenz eines nationalsozialistisch geprägten Vokabulars von Leuten bestritten, die fürchten, eine »Sprachpolizei« wolle ihnen vorschreiben, wie sie zu reden hätten.

Die Zeitgenossen hatten an der Existenz einer NS-Sprache und von Naziwörtern nicht den geringsten Zweifel. Der Philologe Victor Klemperer begann gleich nach der Machtergreifung 1933 in seinen Tagebüchern Belege für das zu sammeln, was er »Lingua Tertii Imperii« (Sprache des Dritten Reichs) nannte. In der Prager Exil-Zeitschrift »Weltbühne« wurde das Aufkommen des Wortes → Eintopf dem neuen Regime zugeschrieben. Der Schriftsteller und BBC-Redakteur Heinrich Fischer hielt schon 1942 in London eine Rede über »Die deutsche Sprache im Dritten Reich«, in der er beklagte, dass »der reichste Wortschatz der Welt jetzt auf knapp 500 Worte reduziert erscheint, wie die gleichen vorgekauten Phrasen mechanisch immer wiederkehren – in allen Reden, Leitartikeln oder Frontberichten; vor allem aber in der Sprache, nein, in dem Gerede der Jugend, die schon in der Öde dieses sprachlichen Kasernenhofes aufgewachsen ist«. 1944 erschien dann bereits im New Yorker Exil das erste kritische Wörterbuch zum »Nazi-Deutsch«, das einzelne Begriffe ins Englische übersetzte und erläuterte. Herausgegeben hat es der in Berlin geborene Heinz Pächter, der seinen Namen als Amerikaner in Henry Maximilian Pachter änderte.

Vor allem aber ließen auch die Nazis selbst keinen Zweifel daran, dass sie eine neue Variante des Deutschen schaffen wollten. Von 1933 an wurde Gymnasiasten in der Schule nicht nur die NS-Ideologie, sondern auch der korrekte Gebrauch der Terminologie beigebracht. Grundlage waren von NS-Funktionären verfasste Wörterbücher wie »Politisches ABC des neuen Reiches« von Carl Haensel und Richard Strahl, »Das ABC des Nationalsozialismus« von Curt Rosten oder das »Taschenwörterbuch des Nationalsozialismus« von Hans Wagner. Propagandaminister Goebbels selbst formulierte als Staatsziel schon im März des Jahres 1933: »Das Volk soll anfangen, einheitlich zu denken, einheitlich zu reagieren.«

Diesem Ziel unterwarfen die Sprachlenker des NS-Regimes auch die etablierten Wörterbücher. Bereits die 11. Auflage des Dudens wurde 1934 um etliche Ausdrücke aus der nazistischen Terminologie wie Zinsknechtschaft vermehrt. In der 12. Auflage von 1941 ist der nationalsozialistisch geprägte Wortschatz noch weit stärker vertreten – nicht nur mit Bezeichnungen der vielen neu geschaffenen Institutionen und Titel wie → Blockwart, Obersturmbannführer, Ehestandsdarlehen oder Kraft-durch-Freude-Fahrt, sondern auch mit Begriffen, die die Ideologie transportierten, etwa Großdeutsches Reich. Hinzu kamen zahlreiche Zusammensetzungen aus der NS-Rassenkunde wie Rassenhygiene oder Neubildungen wie Erbpflege. Ähnlich bearbeitet im Sinne des von Goebbels geforderten einheitlichen Denkens wurden auch der Sprach-Brockhaus sowie die von 1939 an erscheinenden Bände des großen sprachhistorischen Nachschlagewerks »Trübners Deutsches Wörterbuch« und ganz besonders der in jeder Hinsicht »braune Meyer«. Das Lexikon erschien zwischen 1936 und 1942 in der 8. Auflage und war vollständig gleichgeschaltet. Nach dem Krieg wurde es von den Alliierten wie Hitlers »Mein Kampf« oder anderes Nazischriftgut behandelt: Man entfernte es aus Bibliotheken und vernichtete es. Folgerichtig machte man sich auch nicht mehr die Mühe, die geplanten Bände 10 (Soy–Zz) und 11 (ein Register) nachzuliefern.

Den Zeitgenossen war also klar, was Naziwörter waren, und dementsprechend dringend empfanden sie nach dem Krieg das Bedürfnis, den deutschen Wortschatz von ihnen zu reinigen. Die 13. Auflage des Dudens von 1947 erschien so rasch nach dem Zusammenbruch des Regimes, weil man die Erziehung zur Demokratie nicht mit einem Wörterbuch für möglich hielt, das noch mit vergifteten Ausdrücken gespickt war.

Ebenfalls gleich nach dem Krieg erschienen zwei grundlegende Publikationen mit der erklärten Absicht, die deutsche Sprache zu entnazifizieren. Für Westdeutschland wurde das Bändchen »Aus dem Wörterbuch des Unmenschen« mit seinen zahlreichen Auflagen maßgeblich. Das schmale Buch sammelte Artikel, die Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm E. Süskind zwischen 1945 und 1948 für die Zeitschrift »Die Wandlung« geschrieben hatten. In den 28 Texten betrachteten sie Wörter des NS-Sprachgebrauchs und ihr Fortleben in der Gegenwart.

Im Westen weniger zur Kenntnis genommen wurde Victor Klemperers im Untertitel als »Notizbuch eines Philologen« bezeichnetes Buch »LTI«, das oben bereits erwähnt wurde. Es erschien 1947 im Ost-Berliner Aufbau Verlag. In der Zeit des Kalten Krieges war daher seine Wirksamkeit in der Bundesrepublik begrenzt. Seit den Neunzigerjahren ist Klemperers gesamtdeutscher Ruhm jedoch stetig gewachsen – vor allem durch die Veröffentlichung seiner Tagebücher, die Bestsellerstatus erlangten und für das Fernsehen verfilmt wurden.

Pächter war Historiker, Sternberger Politologe, Klemperer ein romanistischer Philologe. Mit diesen drei Sprachforschern begann die wissenschaftliche Analyse der Sprache im Dritten Reich. Sie hält bis heute an und hat eine kaum noch überschaubare Zahl von Publikationen hervorgebracht. Das Grundlagenwerk, auf das sich alle anderen beziehen müssen, ist das mehr als 700-seitige Nachschlagewerk »Vokabular des Nationalsozialismus« von Cornelia Schmitz-Berning, das Anfang der Neunzigerjahre erschien. Schmitz-Berning hat diesen Gipfel der detaillierten Sprachgeschichtsschreibung in einer Zeit erklommen, als es noch keine Internetrecherche und keine großen elektronischen Textdatenbanken gab. Von daher ist es immer wieder erstaunlich, wie viel sie über den NS-Wortgebrauch und seine Wurzeln in der völkischen und antisemitischen Agitation seit Mitte des 19. Jahrhunderts herausgefunden hat.

Die Forscher haben mittlerweile eine Reihe von Elementen identifiziert, die typisch sind für die Sprechweisen des nationalsozialistischen Regimes. Es gab grammatische und stilistische Besonderheiten und sogar spezielle Vorlieben bei der Zeichensetzung, vor allem aber waren es bestimmte Wörter, die das Regime in seinem Sinne nutzte. Man kann vier Typen unterscheiden:

Erstens Neologismen, also Wortneubildungen: Sippenhaftung (→ Sippenhaft), Vergeltungswaffen, Kulturschaffende.

Zweitens Wörter, die einer absichtlichen Bedeutungsveränderung unterzogen wurden. Beispielhaft dafür ist die schon von Hitler in »Mein Kampf« 1925 vorgegebene Aufwertung von → fanatisch zu einem positiven Begriff. Solche Veränderungen konnte es allerdings auch schon lange vor der NS-Zeit gegeben haben. So hatte der ursprünglich rein sprachwissenschaftliche Ausdruck → arisch bereits im späten 19. Jahrhundert den Sinn einer Rassenbezeichnung angenommen.

Drittens Hochwertwörter, die in der Ideologie einen besonderen Stellenwert hatten und entsprechend häufig verwendet wurden, etwa Volk, Rasse oder Reich. Mit diesen Begriffen wurden die für den NS-Stil so typischen offiziösen Zusammensetzungen gebildet. Reichsnährstand oder Reichsluftschutzbund verliehen relativ trivialen Institutionen eine Aura. Volksempfänger oder Volkskanzler beschworen besondere mythische Verbindungen zwischen Volk und Radio oder zwischen Volk und dem Mann an der Spitze des Staates.

Viertens Ausdrücke, die bereits vor dem Erscheinen der NSDAP von anderen politischen und gesellschaftlichen Gruppen geprägt worden waren, deren Bedeutung dann aber im spezifisch nationalsozialistischen Sinne verengt wurde, beispielsweise Führer oder Konzentrationslager. Zu dieser Gruppe gehören auch die vielen Wörter aus der Sprache der Jugendbewegung und des Wandervogels, wie Gau oder Pimpf. Ein anderes Beispiel ist der Wortbestandteil sozialistisch des Parteinamens.

Der angestrebte Bedeutungswandel war häufig auf offizielle Texte, ideologische Schriften und die gleichgeschaltete Presse beschränkt. Fanatisch und erst recht → Propaganda blieben trotz entsprechender Bemühungen der NS-Sprachlenker in der Alltags- und Umgangssprache negativ besetzte Begriffe. Sogar der durchgebräunte Duden von 1941 definiert fanatisch noch mit »engstirnig, eifernd«. Erst recht gilt das für Bauer. Der Bauer sollte laut Reichserbhofgesetz von 1933 nur noch den rassisch und erbgesundheitlich unanfechtbaren Besitzer eines der rund 700 000 Erbhöfe bezeichnen. Diese Höfe machten jedoch nur etwa ein Fünftel der land- und forstwirtschaftlichen Betriebe im Reich aus. Menschen, die auf anderen Höfen arbeiteten, sollten fortan nicht mehr Bauer, sondern Landwirt genannt werden. Ganz sicher haben sich die wenigsten an diese Sprachregelung gehalten.

Weitere absichtliche Bedeutungsveränderungen erfolgten bei → Plutokratie, das ursprünglich eine relativ neutrale Bezeichnung für eine Gesellschaftsform war, von den Nazis jedoch zur Verunglimpfung der westlichen Demokratien eingesetzt wurde. Objektivität erfuhr ebenfalls eine solche Abwertung. Hitler hatte den Begriff in »Mein Kampf« in dem Maße abqualifiziert, in dem er seine Gegenwörter Fanatismus und fanatisch aufwertete. Auch ehemals deutlich negativ besetzte Ausdrücke wie brutal, rücksichtslos, kämpferisch und wild wurden im NS-Sprachgebrauch im positiven Sinne verwendet.

Letztere sind Beispiele für die so auffällige Häufung von Ausdrücken und Metaphern aus den Bereichen Kampf und Krieg. Dem lag das radikalisierte sozialdarwinistische Weltbild zugrunde, dem zufolge auch das menschliche Leben ein ununterbrochener Kampf ums Dasein sei. Man verstand darunter nicht nur einen Kampf zwischen Individuen, sondern auch zwischen Völkern und Rassen. Hitlers Buch hieß ja nicht umsonst »Mein Kampf«.

Die Militarisierung der Sprache wurde bereits von Klemperer angesprochen und auch nach ihm als typisch für die Redeweisen im NS-Staat angesehen. Die Nazis haben diese Militarisierung allerdings nicht erfunden, sie haben nur eine viel ältere Tendenz verstärkt. Militärische Ausdrücke wurden seit dem Mittelalter und der frühen Neuzeit in der deutschen Allgemeinsprache verwendet. Einen ersten Gipfel erreichte diese Metaphorik im Kaiserreich nach 1871 dank des hohen Ansehens des Militärs und dann erst recht in der stahlgewittrigen geistigen Atmosphäre des Ersten Weltkriegs. An diese Sprachbildwelten konnten die Nazis mühelos anknüpfen. Bezeichnend für die Militarisierung der Sprache ist die auffällige Häufigkeit des Substantivs Einsatz (auch in Zusammensetzungen wie Arbeitseinsatz) und des Verbs einsetzen. Noch im Ersten Weltkrieg waren nur Truppen eingesetzt worden.

Die Inflation soldatischer Metaphern wird 1940 von Wolfgang Krause in einem Aufsatz für die »Zeitschrift für Deutschkunde« durchaus zustimmend vermerkt: »Man spricht heute von der deutschen Autohandelsfront, man stößt zu einer Lösung vor. Eine Zeitung überschreibt ihre lustige Ecke ›Antreten zum Lachen‹. Eine Hochzeitsglückwunsch-Drahtung lautete: ›Zu zweien im Gleichschritt marsch!‹ Die Erzeugungsschlacht muß gewonnen werden, vielleicht durch eine ›Großkampfoffensive‹, durch eine Mobilisierung der besten Kräfte.«

Dem Bereich des Militärs entstammt auch die im NS-Staat bis an die Grenze der Lächerlichkeit getriebene Neigung zu Abkürzungen. Klemperer, der die Liebe der Pgs. und der Angehörigen der HJ zu Abkürzungen mit dem Titel seines Buches »LTI« parodierte, zitiert eine Sprachglosse aus der »Deutschen Allgemeinen Zeitung« von 1944, die infrage stellt, was elf Jahre nationalsozialistische Bürokratie in die Welt gesetzt haben. Ob eine Lautgruppe wie Hersta der Wigru noch Deutsch sei, fragt der Autor der Glosse. Hinter diesem Monstrum, das für heutige Ohren klingt, als würde es der Kunstsprache von »Game of Thrones« entstammen, verbirgt sich die Herstellungsanweisung der Wirtschaftsgruppe, die in einem ökonomischen Lexikon tatsächlich so abgekürzt wurde. Das konnte man komisch finden, aber spätestens, wenn man vom SD bespitzelt und von der Gestapo ins KL geschleppt wurde, verging einem das Lachen über den Abkürzungsfimmel.

Recht nahe am Bereich des Militärs sind die Ausdrücke aus dem Bereich der Technik. Am berüchtigtsten ist wohl der elektrotechnische Terminus Gleichschaltung, der 1933 in den juristischen Wortschatz eingeführt wurde. Vermehrt wurden nun technische Ausdrücke auf Personen angewandt: prägen, erfassen, formen, organisieren, eingliedern. Eine besonders krasse, auch schon manche Zeitgenossen erschreckende Dehumanisierung fand mit dem Wort Menschenmaterial statt.

Diese sprachliche Technikfaszination ist, wie so vieles andere, keineswegs exklusiv und zuallererst im NS-Sprachgebrauch zu beobachten. Sie trat bereits seit der Jahrhundertwende vermehrt auf. Bei der Neuen Sachlichkeit und dem Bauhaus war sie teilweise sogar künstlerisches Programm. Man denke nur an den Ausdruck »Wohnmaschine«, den Le Corbusier 1921 münzte. Das alles gehörte zu den vom Geisteswissenschaftler Helmut Lethen so genannten »Verhaltenslehren der Kälte«, mit denen alte und neue Eliten nach 1918 auf den Umbruch ihrer Lebens- und Erfahrungswelt reagierten. Was bei den Künstlern in der Weimarer Republik ein freiwilliger Akt war, wurde im NS-Staat eine von oben angewandte Strategie der Abhärtung, Entmenschlichung und Gefühlsabtötung. Klemperer schrieb dazu: »Jeder soll Automat in der Hand des Vorgesetzten und Führers, zugleich auch Druck-knopfbetätiger der ihm unterstellten Automaten sein.«

Paradoxerweise stammen zahlreiche Begriffe aber auch aus einem Feld, das der Technik völlig entgegengesetzt ist: der Biologie. Vergleiche mit Tier- und Pflanzenwelt sowie Wörter aus der Medizin gehörten lange vor der NS-Zeit zum ewig wiederkehrenden Repertoire vor allem antijüdischer Texte. Schon im 16. und 17. Jahrhundert bezeichnet man Juden als Otterngezücht, Dornen oder Pest. Im 19. Jahrhundert wurde diese Argumentationsweise im rassistischen Sinne ver-pseudowissenschaftlicht. Man begriff das Volk als Organismus. Juden wurden zu Schädlingen, Parasiten, Bakterien, Schmarotzern, welche die Gesundheit des Volkskörpers schädigten und, weil selbst → entartet, zur Entartung von →Rasse und Nation beitrugen. Die Nationalsozialisten fanden hier ein reichhaltiges Begriffsinstrumentarium vor.

Bei aller Unterschiedlichkeit haben Technik-Metaphern und biologische Sprachbilder ein wesentliches Element gemein: Sie dienen der Entmenschlichung. Sie verschleiern, dass hier Menschen Menschen etwas antun oder über sie verfügen.

Hitler selbst – da sind sich die Wissenschaftler einig, die sich mit seinen religiösen Vorstellungen befassten – glaubte nicht an Gott. Das hielt ihn nicht davon ab, sich in Reden auf den Allmächtigen und besonders auf die Vorsehung zu berufen. Auch der ehemalige katholische Musterschüler Joseph Goebbels bediente sich gerne eines religiösen Vokabulars. Das vielleicht berühmteste Beispiel ist die Bezeichnung → Drittes Reich, die Goebbels als Erster auf die NS-Herrschaft und den angestrebten NS-Staat bezog.

Religiöse Begriffe gehörten zum Grundwortschatz des nationalsozialistischen Sprachgebrauchs. Das war 1937 schon so auffällig, dass Papst Pius XI. in seiner Enzyklika »Mit brennender Sorge« die deutschen Gläubigen warnte: »Ein besonders wachsames Auge, Ehrwürdige Brüder, werdet Ihr haben müssen, wenn religiöse Grundbegriffe ihres Wesensinhaltes beraubt und in einem profanen Sinne umgedeutet werden.«

Das traurigste Beispiel ist die Umdeutung des Wortes Glaube. Besonders in der Wendung fanatischer Glaube (an Hitler, an den Sieg) war dieser ursprünglich für die Metaphysik reservierte Begriff ein Schlüsselbegriff der NS-Rhetorik. Und im Gegensatz zu so vielen anderen Prägungen und Bedeutungsveränderungen der Regime-Propaganda gelangte die Umdeutung dieses Wortes auch in die Reden normaler Menschen. Klemperer berichtet von sonst längst allen Illusionen beraubten Deutschen, die am Kriegsende immer noch ihren Glauben an Hitler betonten.

In einem Land, in dem sich der Parlamentarismus und eine überregionale Medienlandschaft erst viel später entwickelten als etwa in England oder Frankreich, lag es auch nahe, sich in der politischen Rhetorik an die einzige Art von öffentlicher Volksrede anzuschließen, die in den Jahrhunderten zuvor erlaubt war. Wie man den Hörer direkt ansprach und sein Vertrauen gewann, das konnte man zunächst von Pfarrern lernen, und mit deren Methoden übernahm man auch deren Wortschatz. Aber nicht nur dies: Die Reden von Hitler oder Goebbels sind auch gespickt mit stilistischen Mitteln, die aus der Bibel und der von ihr inspirierten Sprache der Predigt und des Kirchenliedes bekannt sind: Parallelismen, Antithesen, Anaphern, vorangestellte Prädikate und Parataxen.

Der Nationalsozialismus war eine neue Religion, die mit der alten konkurrierte. Volk, Reich, Führer und Rasse traten darin an die Stelle von Vater, Sohn, Heiligem Geist und Muttergottes. Nicht nur Goebbels sprach immer wieder vom »nationalsozialistischen Glaubensbekenntnis«. Im Zentrum dieser Pseudoreligion stand Hitler als Prophet und Messias zugleich. Drittklässler mussten am 3. März 1934 in der Münchner Blumenschule ein Diktat mit folgenden Sätzen beginnen: »Wie Jesus die Menschen von der Sünde und Hölle befreite, so rettete Hitler das deutsche Volk vor dem Verderben. Jesus und Hitler wurden verfolgt, aber während Jesus gekreuzigt wurde, wurde Hitler zum Kanzler erhoben. (…) Jesus baute für den Himmel, Hitler für die deutsche Erde.«

Dem hohen Ton der Predigt mit seinem oft altertümelnden Klang steht ein niedriger und ganz und gar zeitgenössischer Quell an Metaphern und Vergleichen gegenüber, dessen sich die Nazis ebenfalls oft bedienten: die Sprache des Sports. Hier tat sich wieder besonders Goebbels hervor, der im Vergleich zu Hitler in vieler Hinsicht der modernere der beiden Hauptprotagonisten der NS-Sprache war. In seiner Rede vom 7. November 1942 in der Stuttgarter Stadthalle verharmlost Goebbels die Lage in Nordafrika nach der verlorenen Schlacht bei El-Alamein: »Ich möchte die gegenwärtige Kriegslage etwa vergleichen mit einem Fußballspiel, dessen erste Halbzeit 4:0 geendet hat oder 5:0. Die zweite Halbzeit beginnt, und in den ersten Minuten gelingt dem Gegner sozusagen ein Überraschungstor. (…) Das ist aber egal. Wenn man ein Tor Vorsprung hat, ist man deutscher Meister.« Dies ist ein hervorragendes Beispiel für den Zweck, den Sportliches in der NS-Sprache erfüllt: Es reduziert die Komplexität. Es gibt Halt und Hoffnung, indem es Unbekanntes und Unübersichtliches in vertrauten, beruhigenden Bildern beschreibt. Das gilt auch für die Box-Vergleiche, zu denen Goebbels in seiner Rede greift: »Der Sieg wird nicht bemessen nach den Schlägen, die man empfangen hat, sondern der Sieg wird danach bemessen: Wer liegt am Ende am [hier schlägt Goebbels auf das Pult] Boden – und wer steht am Ende wenn auch auf zitternden Beinen.« Danach wechselt er zum Fußball und redet noch mal zehn Minuten darüber, was zu tun ist, wenn beim Stand von 5:0 das erste Gegentor fällt.

Neben der Komplexitätsreduktion brachte dieser Ton noch ein paar andere Elemente in den Klang der Rede: Dynamik, Entschlossenheit, Kampfgeist, Volkstümlichkeit und eben Modernität. Gerade der Boxsport war in den Zwanzigerjahren ein Faszinosum auch der künstlerischen Avantgarde gewesen. Ebenso waren Rad- und Autorennen bis in die höchsten und hipsten Kreise angesagt. Das alles echote noch in der NS-Sprache.

Der brüllenden und aktuellen Bildhaftigkeit des Sports ist ein weiterer Typus von Wörtern entgegengesetzt: Ausdrücke, die einen altdeutschen, wenn nicht gar germanischen Ton vortäuschen und eher ein germanophiles bildungsbürgerliches Wagner-Publikum ansprachen. → Gau als Verwaltungseinheit, → Thing für ein Theaterspektakel, → Gefolgschaft für das Personal eines Betriebs gehören dazu, aber auch Sippe oder -wart in Zusammensetzungen wie → Blockwart oder Zuchtwart.

Eine typische nationalsozialistische Rede oder andere öffentliche ideologische Äußerung würde man aber wohl an keinem der bisher genannten Elemente allein erkennen, sondern eher an der Hemmungslosigkeit, mit der das alles in übertriebener Fülle gemischt wurde: über Fußball, Biologie und Krieg zu Technik und Religion und wieder zurück. Dieser Metaphernüberfluss ist es, der den »Schwulst« ausmacht, den schon die Zeitgenossen dem faschistischen Stil nachgesagt haben und den die Forschung der vergangenen sieben Jahrzehnte zu definieren versucht hat.

Schwülstig wirkt auch die Tendenz zur Übertreibung in den Texten der Nazizeit. Linguisten wie Christian Braun, mit dessen 2007 erschienenem Buch jede wissenschaftliche Betrachtung des »nationalsozialistischen Sprachstils« (Braun) beginnen muss, haben drei Arten von Superlativen im Blick: erstens den grammatischen Superlativ, der an seiner Form zu erkennen ist. In einer Rundfunkrede am 1. März 1933 behauptete Göring: »Seit Anfang Februar entfalten die kommunistischen Funktionäre in allen Orten regste Tätigkeit.« Zweitens den semantischen Superlativ, in dem schon in der Wortbedeutung allein ein höchster Grad oder Einzigartigkeit ausgedrückt wird und der nicht immer klar vom grammatischen Superlativ zu trennen ist. Klemperer hat bemerkt, dass jede Rede Hitlers von der gleichgeschalteten Presse mit dem pompösen Attribut historisch bezeichnet wurde. Typisch für den Personalstil des Diktators sind aber auch Wörter wie gigantisch, unerschütterlich, restlos, einmalig. Zum festen Wortschatz aller Parteigrößen gehörten weiterhin Ausdrücke wie grundlegend, endgültig oder tagtäglich, die alle dem Behaupteten einen Ewigkeitswert beilegen sollen.

Oft wurden diese Superlative und Starkvokabeln noch gesteigert, wo Grammatik, Stilempfinden und Logik gar keine Steigerung mehr zuließen. Das berühmteste Beispiel für die Vermischung von grammatischem und semantischem Superlativ und ihre Hyperbolisierung bis zur Absurdität ist Goebbels’ Gebrauch des Adjektivs total in der Sportpalastrede im Februar 1943: »Wollt ihr den totalen Krieg? Wollt ihr ihn, wenn nötig totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt noch vorstellen können?«

Die dritte hyperbolische Kategorie sind superlativische Zahlenangaben. Der Staat definierte sich selbst in seiner Hybris als tausendjähriges Reich (allerdings nur eine Zeit lang, dann kam dieser Begriff genau wie Drittes Reich aus der Mode). In diesen Bereich gehören auch die unzähligen Wörter mit Großals Präfix: Großdeutschland, Großoffensive, Großkampftag. Hitler verwendete in seinen Reden auffällig viele Komposita mit höchst- und größt-.

Eine weitere etwas unklare Beschreibungskategorie für den nationalsozialistischen Stil könnte man als »einhämmernd« beschreiben. Diese Wirkung entstand dadurch, dass den Adressaten durch »millionenfache Wiederholung« (Klemperer bedient sich hier bewusst oder unbewusst einer Hyperbolik, die dem NS-Stil ähnelt) der ideologische Kernwortschatz eingebläut wurde. Dies geschah vorzugsweise auch durch die ständigen Reihungen und Dopplungen: hart und unbeugsam; ein Volk, ein Reich, ein Führer; flink wie Windhunde, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl.

Die Wiederholungsneigung ist nicht nur ein Ergebnis der von Hitler in »Mein Kampf« formulierten Maxime, Propaganda müsse sich immer am Dümmsten ihrer Adressaten orientieren. Sie ist auch ein typisches Element mündlicher Rede. Der Redner will der Flüchtigkeit des Gesagten entgegenwirken, indem er sich wiederholt, bis wirklich jeder verstanden hat, auch derjenige, bei dem der Groschen etwas langsamer fällt oder der es akustisch beim ersten Mal nicht gleich mitbekommen hat.

Eine Neigung zur Sprechsprachlichkeit gehört zu den Hauptkennzeichen der offiziellen Sprache des Dritten Reichs. Das hat damit zu tun, dass fast alles Aufruf, Befehl und Verführung war. Ihren Aufstieg verdankte die Partei nicht zum wenigsten der Tatsache, dass ihr Führer ein begnadeter Redner war. Auch, als sich die Macht der NSDAP etabliert und gefestigt hatte, bevorzugte man mündliche Formen der Politikvermittlung – dafür steht Goebbels’ große Krisensuada im Berliner Sportpalast ebenso wie die im Rundfunk übertragenen Hitler-Reden. Eine bekannte technische Errungenschaft, mit der das Regime bis heute im Bewusstsein der meisten Menschen verbunden bleibt, ist bezeichnenderweise das Massenradio: der Volksempfänger.

Die Tendenz zum mündlichen Ton beruht auch darauf, dass die beiden Hauptprotagonisten des NS-Stils ihre Äußerungen nicht selbst schriftlich festhielten: Hitler diktierte den zweiten Teil von »Mein Kampf«, und wer je in dieses Buch hineingelesen hat, weiß, dass es nichts von einem sorgfältig durchgearbeiteten schriftlichen Text besitzt. Sogar die Führerbefehle der letzten Kriegsjahre, als der Diktator nicht mehr öffentlich sprach, sind vom ganzen Gestus her ungehaltene Reden. Goebbels hat seine wöchentlichen Leitartikel für »Das Reich« ab 1941 diktiert. Sie wurden ja auch im Radio verlesen. Der Druck und die Zitierung in der Presse waren nur Sekundärverbreitungen.

Neben der Zeitersparnis sollte mit dem Diktat auch eine größere Unmittelbarkeit des Ausdrucks erreicht werden. Das führte dann manchmal zu grobianischer Umgangssprachlichkeit mitten im höchsten Predigtton. Hitler gebrauchte beispielsweise in seinen pathetischen Durchhalteappellen plötzlich das stilbrechende Verb umlegen – wie ein vulgärer Gangsterboss in einem Trivialkrimi.

Nicht nur Wörter, grammatische Besonderheiten und rhetorische Formen kennzeichneten den nationalsozialistischen Sprachgebrauch, sondern es gab sogar eine typische Satzzeichenverwendung. Klemperer hat den ironischen Anführungszeichen, die die Propagandisten des Dritten Reichs so liebten, ein eigenes Kapitel gewidmet. Mit ihnen zogen sie Begriffe ins Lächerliche, die einen positiven Klang hatten, wenn sie auf das eigene Lager gemünzt waren, die durch die Anführungszeichen mit Blick auf den Feind jedoch ins Gegenteil gekehrt wurden. Das konnte ebenso ein Begriff wie → »Humanität« sein oder der Titel »Marschall« beim Partisanenführer Tito.

Auch ein verschwenderischer Umgang mit Ausrufezeichen ist dem NS-Stil eigen. Das gilt naturgemäß für Plakate und plakatähnliche Textsorten. Die von Goebbels herausgegebene Wandzeitung »Parole der Woche« steigerte sich häufig in einen wahren Ausrufezeichenrausch mit bis zu drei »!!!« an den unmöglichsten Stellen im Text. Eine Rede Hitlers im September 1942, in der er den britischen Luftkrieg verdammt, wird von den Wandzeitung-Redakteuren mit Ausrufezeichen gespickt, als könnte man damit Lancaster-Bomber vom Himmel schießen: »Die Stunde wird auch dieses Mal kommen, in der wir antworten werden!!! Mögen dann die Generalverbrecher dieses Krieges und ihre jüdischen Hintermänner nicht zu winseln und zu flennen anfangen, wenn das Ende für England schrecklicher sein wird als der Anfang!!!« Im offiziellen Redemanuskript, das die gleichgeschalteten Zeitungen abdruckten, hatten die beiden zitierten Sätze nur ein einfaches Ausrufezeichen am Schluss. Bei den Nazis nahmen dank der Ausrufezeichen sogar Sätze die Gestalt eines Befehls an, die grammatisch gar keine Befehle waren.

Der Unterschied zwischen der tatsächlich gehaltenen Hitler-Rede, dem schon bearbeiteten Redemanuskript und ihrer Wiedergabe in der Wandzeitung ist auch ein Hinweis darauf, dass es die NS-Sprache in der von den Sprachlenkern angestrebten Einheitlichkeit nicht gab. Ein Geheimbefehl Himmlers an die SS las sich anders als eine öffentliche Rede von Hitler, Goebbels oder Göring. Die Wehrmachtberichte unterschieden sich stilistisch von Julius Streichers Hetze im »Stürmer«. Und es gab Personalstile. Ich traue mir zu, anonymisierte Reden von Hitler oder Goebbels schon nach wenigen Absätzen dem Sprecher zuordnen zu können – und das ist keine Raketenwissenschaft, für die man über besondere Genialität verfügen muss.

Doch ebenso blind könnte man nationalsozialistische Texte als solche identifizieren, ohne ihre Absender zu kennen und ohne dass ihre Inhalte gleich alles verraten. Denn es gab eine Schnittmenge zwischen fast allen offiziellen Verlautbarungen des Regimes, in der die hier genannten stilistischen Kennzeichen verräterisch gehäuft auftraten.

Von 1933 bis 1945 war Deutschland der nationalsozialistischen Sprachlenkung ausgesetzt. Von 1938 an auch Österreich. Wie sehr wirkt dieser Einfluss bis heute nach? Wo reden wir immer noch wie die Nazis? Und wo nicht? Diese Frage beschäftigt auch Laien immer wieder. Wenn jemand eine echtes oder vermeintliches Naziwort benutzt, werden politische Debatten schnell auf linguistisches Terrain gelenkt. Dieses Buch soll an 87 Beispielen zeigen, wie kompliziert die Verhältnisse sind: Oft stehen Ausdrücke zu Unrecht unter Naziverdacht. Bei anderen ganz alltäglichen und unpolitischen Wörtern dagegen ist ihr Ursprung in der NS-Zeit längst in Vergessenheit geraten. Es geht nicht darum, eine Fahndungsliste für irgendeine Sprachpolizei zu erstellen. Sondern es geht darum zu vermitteln, was die Grundlagen jeder angemessenen Ausdrucksweise sind: Sensibilität, Kenntnis der Stilebenen, Sinn für Angemessenheit und – ja – auch das Wissen um die Geschichte von Wörtern.

Verbrannte Wörter

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