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Kapitel 38: Chris’ Geheimnis

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»Was ist los, Chris? Mir scheint, du hast heute keine so rechte Lust auf unsere Arbeit.«

Sie saßen im Kinderzimmer von Chris, welches so gar nicht dem eines Sechsjährigen entsprach. Vielmehr vermittelten die deckenhohe Regalwand mit den vielen Büchern wie auch das Notebook auf dem Schreibtisch den Eindruck des Arbeitszimmers eines Collegestudenten.

»Möchtest du, dass ich dir eine Limo hole, oder wollen wir eine Pause machen? Du kannst gerne ein wenig zu Meira in den Garten.«

Nach wie vor starrte Chris seitlich an Daniela vorbei und es schien, als nähme er die Anwesenheit seiner Lehrerin nicht wahr. Dann blickte er ihr direkt in die Augen. Seine roten Pupillen weiteten sich. »Du kannst ihn nicht sehen, stimmt’s?«

»Was meinst du, Chris?«

Sein Blick wandte sich kurz von ihr ab, dann sah er ihr abermals in die Augen. »Wir sind nicht alleine.«

»Du meinst, es ist noch jemand hier?«

Chris nickte.

Verwirrt blickte sich Daniela im Zimmer um. »Aber hier ist niemand.«

Chris’ kleines Ärmchen deutete auf die hintere Ecke des Raums. »Michail ist wieder da.«

»Michail?« Daniela wandte ihren Blick in Richtung Wand, auf die der Finger nach wie vor zeigte. »Du willst damit sagen, da steht jemand, den du sehen kannst?«

»Ja«, war die lapidare Antwort ihres Schützlings.

»Und wer ist dieser Michail?«

Etwas verständnislos blickte der Kleine zu Daniela, als er aufzuzählen begann: »Gabriel, Uriel, Raphael und eben Michail.«

Als studierte Lehrkraft mit der christlichen Lehre vertraut, gruppierte sich Daniela eher in die Kategorie der Agnostiker ein, also jener, die sich nicht ausdrücklich zu etwas bekennen. Sie lehnte weder eine Gottesvorstellung ab noch hielt sie es für unmöglich, dass neben der »realen Welt« etwas anderes, Mächtigeres existierte. Doch die aufgezählten Namen waren ihr vertraut. »Sprichst du von einem Engel?«

»Erzengel. Erzengel Michail«, korrigierte Chris die Frage.

»Erzengel Michail ist also dein Freund. Und er steht direkt da drüben.« Ohne sich umzudrehen, nickte Daniela mit ihrem Kopf nach hinten zur Wand. Stumm bejahte Chris durch seinen Blick die Frage. »Ist dies das Geheimnis, von dem du mir erzählen wolltest?« Das Leuchten in Chris’ Augen verriet Daniela, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. Sie überlegte kurz, wie sie mit dieser seltsamen Information umgehen sollte. »Wie habt ihr euch denn kennengelernt?«

»Ich habe ihn gerufen und erklärt, dass er mir zur Seite stehen muss.«

»Dir zur Seite stehen?« Daniela sah Chris entgeistert an.

Dieser überlegte kurz und beschloss, dass er womöglich schon zu viel preisgegeben hatte. »Jetzt würde ich doch gerne in den Garten zu Meira gehen«, wiegelte er daher ab.

»Nur einen kurzen Augenblick noch, Chris. Michail ist also dein Freund, weil du ihn gerufen hast. Wie lange kennst du ihn denn schon?«

»Schon lange. Da war ich noch nicht hier.«

»Was meinst du damit, du warst noch nicht hier?«, fragte Daniela verdutzt.

»Na, eben nicht hier.«

»Wo warst du denn, als du ihn kennengelernt hast?«

»Ich fand ihn im Schützengraben, als ich direkt aus Immerzeit kam.«

Völlig verwirrt starrte Daniela den Kleinen an. »Schützengraben, Immerzeit? Ich verstehe nicht!«

Chris dachte nochmals nach, dann traf er eine Entscheidung. Sicher würde es ihm besser gehen, da Daniela ihm doch versichert hatte, nicht krank im Kopf zu sein und auch nicht eingesperrt zu werden.

»Als ich nach Immerzeit kam, hat mir Aba von meiner Aufgabe erzählt. Also suchte ich Michail auf, der zum Mensch geworden war und gegen die Deutschen kämpfte. Dort im Schlamm des Schützengrabens fand ich ihn, gerade als er seinen Bruder Pjotr verlor. Als Michail wenige Stunden nach unserem Treffen nach Immerzeit zurückkehrte, hielt er den Schwur mir gegenüber und seither sind wir Verbündete.«

»Was ist Immerzeit, Chris?«

»Immerzeit ist hier und jetzt. Das Reich der Seelen – der Sperlinge.«

»Das Reich der Seelen und Sperlinge?«, wiederholte Daniela flüsternd. »Warum kann ich Michail nicht sehen?«, bohrte sie weiter.

Chris zuckte die Schulter. »Es ist das Reich von Thron. Zeitlos, denn von dort werden sie kommen.«

»Du sprichst in Rätseln«, meinte nun Daniela, der es allmählich unheimlich wurde. In ihr keimte Misstrauen auf. Was, wenn Chris sich das Ganze nur ausgedacht hatte, seine Vorstellungskraft ihm selbst einen Streich spielte? »Könnte es sein, dass du dir das Ganze nur einbildest?«, fragte sie daher.

»Zuerst hatte ich Angst davor. Ich wusste selbst nicht, wo die Grenze dessen ist, was ich sehe. So, als ob es zwei Chris in mir gibt. Schon als Säugling konnte sich der eine Chris in mir mit Michail unterhalten. Mehr und mehr erkannte ich, wer ich war und wer ich bin. Wir sind eins. Chris aus Immerzeit bin ich hier auf Erden. Und Michail steht mir zur Seite.«

»Also bist du dir sicher, dass es keine Einbildung ist?«, hakte Daniela nach, im Wissen, dass, egal was Chris ihr noch alles offenbaren würde, es dennoch ein Fantasiegebilde sein könnte.

Chris sah ihr tief in die Augen, dann wandte sich sein Blick zu Michail. Minutenlang starrte er wie hypnotisiert die Wand an. Als er wieder zu Daniela sah und sprach, waren seine Worte fest und überzeugend: »Nur weil du nicht sehen kannst, bedeutet dies kein Negieren der Existenz. Die Fantasie, der Glaube sind feste Bestandteile unseres Seins. Ergebenheit, die den Menschen mehr und mehr abhandenkommt. Ich spüre, was du denkst. Ebenso deine Unsicherheit. Diese empfand ich gleichermaßen zu Beginn meiner Erkenntnis. Frage Lea, sie hat Michail gesehen und sprich mit Olivia über Aba. Sie kennen sich. Dann kehrt auch dein Glaube zurück. Doch kein Wort zu meiner Mutter – hörst du.«

Daniela war wegen der Rhetorik wie auch des Inhalts von Chris’ Aussage verstört. Dies entsprach so gar nicht einem Sechsjährigen. »Warum darf Sandra nichts davon erfahren?«

»Sie ist noch nicht so weit. Doch es soll nicht mehr lange dauern, bis sie die ganze Wahrheit erfährt.«

Die Wortwahl, dieser Junge, wie er mit schneeweißer Haut und leuchtend roten Augen vor ihr saß, die Vorstellung eines unsichtbaren Erzengels im Nacken – Daniela lief ein Schauer über den Rücken. »Das ist ganz schön starker Tobak! Lass uns für heute Schluss machen!« Daniela rang sich ein Lächeln ab.

»Hab doch keine Angst vor mir«, kam die kindliche Bitte von Chris.

Zu Hause angekommen, nahm Daniela eine heiße Dusche. Mit Wollsocken, Jogginghose und kurzem grauem Shirt saß sie mit angewinkelten Beinen in ihrem Bett. Sie schloss die Augen und ließ das heutige Gespräch Revue passieren. Ihr stellten sich sprichwörtlich die Nackenhaare auf, als sie die Unterhaltung mit Chris Wort für Wort zu Papier brachte.

Chris Owen - Die Wiedergeburt

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