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Kapitel 3 Weit Davor
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Ich glaube, es geht los“! Horst Dienel sah kurz von seiner Zeitung auf. So scheinbar emotionslos, wie seine Frau ihm soeben eröffnet hatte, dass es wohl Zeit würde, das Krankenhaus aufzusuchen, faltete er seine Morgenlektüre zusammen, setzte die Brille ab und sah Johanna an. Seine Frau lächelte, aber Horst kannte sie gut genug um zu erkennen, dass es kein echtes Lächeln war. Es ging ihr nicht so gut wie noch bis vor zwei Wochen. Sie fühlte sich unwohl, wie schon seit fast einer Woche permanent. Vielleicht hatte sie doch einfach nur etwas Angst vor der jetzt unmittelbar bevorstehenden Geburt. Aber niemals würde Hanna, wie er sie nannte, ihn damit belästigen wollen. Er sollte nur ihre fröhliche Seite kennen, so, wie er sie kennen und lieben gelernt hatte. Diese Liebe ging von beiden Seiten aus. Jeder respektierte den Anderen so, wie er war. Man erkannte, wenn sich der Partner nicht wohl fühlte und versuchte, das Leid zu lindern oder zumindest Trost zu spenden.
So war es auch heute Morgen. Johanna erwartete das erste Kind des noch jungen Paares, aber so wie während der ersten Monate der Schwangerschaft alles ohne Probleme verlief, schienen sich jetzt, so kurz vor der Niederkunft, Komplikationen einstellen zu wollen. Johannas Frauenarzt stellte bei der letzten Vorsorgeuntersuchung fest, dass die Blutwerte der jungen Frau nicht mehr ganz so optimal waren wie bisher und auch jetzt hätten sein sollen. Er wollte so kurz vor dem geplanten Geburtstermin jedoch keine Medikamente mehr verabreichen und sie am liebsten ins Krankenhaus zur Beobachtung einliefern. Dem widersprach Johanna aber aufs Heftigste, hätte sie doch dann ihren Horst länger als unbedingt nötig allein zu Hause lassen müssen. Da der Arzt jedoch trotz der schlechteren Werte keine ernsthafte Bedrohung zu erkennen vermochte, gab er dem Protest Johannas nach, legte ihr nahe, sich rechtzeitig in die Klinik zu begeben, und entließ sie lächelnd und mit guten Wünschen aus seiner Praxis.
So saß sie also jetzt zu Hause, lächelte ihren Mann ein wenig verkrampft an und sagte „Ich glaube, es geht los!“ um ihm zu bedeuten, dass sich die Geburt ankündigte.
Horst, der selbstverständlich Urlaub hatte, um seiner Frau in dieser Zeit beistehen zu können, lächelte zurück und sagte nur „Dann lass’ uns nicht länger warten“, stand auf und ging ins gemeinsame Schlafzimmer, um die schon seit zwei Wochen gepackte Tasche für das Krankenhaus zu holen. Es war 12 Uhr mittags, als die beiden das Haus verließen.
Johanna hakte sich bei ihrem Mann ein und gemeinsam gingen sie so an diesem sommerlichen Augusttag zum Auto. Ein kurzes Telefonat mit dem Marienhospital, wo sie auch die vorbereitenden Kurse für werdende Mütter besucht hatte, kündigte ihre Ankunft dort an. Schweigend fuhr das Paar die Strecke zum Krankenhaus. Nur mit einem gelegentlichen Blick, lächelnd, zum Partner verständigten sie sich. Horst wurde das unangenehme Gefühl nicht los, dass es seiner Frau schlechter ging, als sie es ihm gegenüber zugeben wollte. Er machte sich Sorgen, genau wie Johanna auch, die nicht verstand, warum es ihr nach mehr als acht Monaten nahezu problemloser Schwangerschaft offenbar von jetzt auf gleich nicht mehr so gut ging, wie sie es gewohnt war. Warum war ihr denn seit ein paar Tagen immer so komisch zumute? Ihr Gynäkologe Dr. Romberg hat ihr nach der letzten Untersuchung noch einen Bericht für die Klinik mitgegeben. Er hat ihr auch versucht zu erklären, warum er sie gerne vorzeitig ins Krankenhaus eingewiesen hätte. Aber Johanna hat ihn nicht verstanden. Sie machte sich ihre eigenen Gedanken, ja mehr noch, sie hatte sogar etwas Angst. So hatte sie den Umschlag mit dem Arztbericht ungeöffnet und von Horst unbemerkt in ihre gepackte Krankenhaustasche gelegt, zu ängstlich, den Brief zu öffnen und eine von ihr nicht gewollte Wahrheit zu lesen. Sie fand auch nicht den Mut, ihrem Mann von dem Bericht zu erzählen. Dieser versteckte Arztbefund war bisher das einzige Geheimnis, das sie vor ihrem Mann hatte und sie wusste sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass es auch das letzte sein würde, auch wenn sie es ganz tief in sich drin geahnt und befürchtet hat.
Mittwoch, 26.August 1970
Die vergangenen zwei Wochen waren die schwersten in Horsts bisherigem Leben. Er stufte dies so ein, unwissend, dass ihn das Schicksal durchaus noch schlimmer treffen könnte.
Voller Traurigkeit dachte er an den vorletzten Mittwoch zurück. Nach ihrer Ankunft im Marienhospital hat Johanna ihr Bett im Doppelzimmer der gynäkologischen Station bezogen. „Ich bin müde und möchte mich ausruhen. Fahr’ Du ruhig nach Hause. Ich werde hier gut versorgt und wenn es etwas Neues gibt, bist Du sicherlich der Erste, der davon erfährt.“ Lächelnd bat Hanna so ihren Mann, sie alleine zu lassen. „Du siehst auch ziemlich geschafft aus. Dann pass’ gut auf euch beide auf und verärgere mir nicht die Schwestern und die Ärzteschaft“ erwiderte er mit dem Versuch, scherzhaft und unbekümmert zu wirken. Zärtlich küsste er sie auf den Mund, hauchte ein „Ich liebe Dich, mein Schatz“ und begab sich zur Zimmertür. Dort drehte er sich noch einmal zu ihrem Bett herum und sah, dass sie tatsächlich schon die Augen geschlossen hatte und offenbar eingeschlafen war. Im gleichen Moment verlor er sein Lächeln und seine Augen bekamen einen kummervollen Ausdruck. Leise verließ er das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Was sollte er jetzt zu Hause? Dort würde er nur unruhig hin und her laufen, Radio oder Fernseher ein- und wieder ausschalten und ständig das Telefon anstarren, als wenn er so einen Anruf aus dem Krankenhaus herbeizaubern könnte. Nein, nach Hause wollte er nicht fahren, in die große, freundliche Wohnung mit dem frisch eingerichteten Kinderzimmer. Er könnte es nicht aushalten, das leere Doppelbett im Schlafzimmer und die Babywiege im pastellfarben gehaltenen Raum für den Säugling, auf den sich beide so sehr gefreut hatten, anzusehen. Zu groß waren seine Befürchtungen. Warum nur? Johanna war doch bei allen Vorsorgeuntersuchungen gewesen und immer hat alles nur blendend ausgesehen. Bis auf die letzte Untersuchung. Und die Schmerzen, die Horst seiner Frau angesehen hat. Wenn doch bloß erst alles vorüber wäre und Johanna mit dem Neugeborenen wieder zu Hause wäre.
Während er in seinen Gedanken versunken schweigend den Krankenhausflur auf und ab ging, kam ihm eine Stationsschwester entgegen. „Ach, Schwester, entschuldigen Sie bitte. Mein Name ist Horst Dienel und ich habe gerade meine Frau in Ihr Zimmer begleitet. Sie ist eine Neuaufnahme und erwartet unser erstes Kind. Ich mache mir solche Gedanken, dass etwas nicht stimmen könnte.“ „Guten Tag, Herr Dienel, ich bin Schwester Annemarie. Da machen Sie sich mal keine Gedanken, es geht vielen werdenden Vätern so wie Ihnen. Gerade, wenn es sich um das erste Kind handelt. Ich habe Ihre Frau übrigens schon mehrfach hier im Hause gesehen, wenn sie zu den geburtsvorbereitenden Übungen gekommen ist. Und sie hat immer so glücklich und zufrieden ausgesehen, keine Spur von angekündigten Komplikationen.“ „Aber sie hat seit ungefähr einer Woche Schmerzen. Sie will sich nichts anmerken lassen, aber ich spüre, dass da etwas nicht in Ordnung ist.“ „Machen Sie sich keine Sorgen. Dr. Freiland, der leitende Stationsarzt, wird sich Ihrer Frau annehmen. Und glauben Sie mir: Er ist ein sehr guter Arzt. Er wird alles tun, um Ihre Frau und Ihren ersehnten Nachwuchs gesund nach Hause zu entlassen. Haben Sie denn Ihre Telefonnummer in der Anmeldung hinterlassen, damit wir Sie benachrichtigen können, wenn es soweit ist? Sie wollen doch auch bei der Geburt dabei sein, vermute ich?“ Schwester Annemarie wusste, mit Vätern in spe umzugehen. „Ja, natürlich, das will ich. Und unsere Telefonnummer habe ich natürlich auch hinterlassen.“ „Na, sehen Sie. Dann kann doch nichts mehr schief gehen. Setzen Sie sich noch eine Weile in die Cafeteria oder fahren Sie nach Hause. Versuchen Sie, sich zu entspannen. Aber jetzt müssen Sie mich bitte entschuldigen, da warten nämlich noch ein paar andere Frauen darauf, dass sie endlich zu zweit in ihrem Krankenhausbett liegen dürfen…“ Damit verabschiedete sich die Schwester lächelnd von Horst, der nach diesem Gespräch tatsächlich versuchte, sich zu beruhigen und nicht mehr ganz so schwarz zu sehen.
Er ging in die Cafeteria, kaufte sich einen Cappuccino, eine Illustrierte und eine Schachtel Zigaretten. Eigentlich hatte er schon vor mehr als einem Jahr mit dem Rauchen aufgehört, aber ihm war jetzt wieder danach. Er schlug die Illustrierte auf und steckte sich eine Zigarette an mit dem Streichholzheftchen, das als Werbung auf seinem Tisch lag. Nach drei Zügen hatte er genug. Angewidert drückte er die nur zu ein einem Viertel gerauchte Zigarette aus, nahm die Zeitung und verließ die Kaffeestube. Die Zigarettenschachtel „vergaß“ er absichtlich weil er nicht wollte, dass sein Kind in eine verrauchte und stinkende Wohnung einzog. Es war jetzt kurz nach 18 Uhr und er fuhr nun doch nach Hause um zu sehen, ob wirklich alles Notwendige vorbereitet war.
Es war natürlich alles in bester Ordnung. Das Kinderbett frisch bezogen, keine Bügelwäsche mehr und keine Reste auf dem Tisch vom letzten gemeinsamen Essen mit seiner Frau. So setzte er sich vor den Fernseher, goss sich ein Glas Gemüsesaft ein und suchte auf den damals vorhandenen drei Programmen nach einer interessanten Sendung. Das Letzte, was er noch bewusst mitbekam, war die Tagesschau, die von der Unterzeichnung des Moskauer Vertrages durch den damaligen Bundeskanzler Willy Brandt berichtete. Wach wurde er dann, als nur noch das Testbild zu sehen war.
„Wie es ihr wohl geht“, dachte er „ob sie immer noch – oder schon wieder- schläft?“ Er starrte auf das Telefon. Es hatte nicht geklingelt, davon wäre er sicherlich wach geworden. Nicht einmal seine Mutter hatte angerufen um zu hören, ob es etwas Neues gab. Aber sie war auch nicht so penetrant neugierig und aufdringlich wie andere Mütter, die ihre Kinder mit ihrer ewigen Sorge, Nörgelei oder Präsenz ganz schön auf die Geduldsprobe stellen konnten.
Um ein Haar hätte er jetzt selbst im Krankenhaus angerufen, aber es war mitten in der Nacht und er zwang sich dazu, vernünftig zu sein. Jede wesentliche Neuigkeit, ob positiv oder negativ, hätte man ihm sicherlich sofort mitgeteilt und ihn ins Krankenhaus beordert. Also zog er seinen Pyjama an, ging ins Badezimmer und anschließend ins Bett in der Hoffnung, noch ein wenig schlafen zu können.
Das Telefon schrillte morgens um halb Fünf. Er hatte es erst gar nicht als Telefonklingeln wahrgenommen, das Geräusch war Teil seiner wirren Träume geworden. Ihm erschien es zunächst als das nervöse Geläut einer Straßenbahn, die sich den Weg durch eine Menschenmenge bahnen musste, um ihn und seine Frau rechtzeitig in die Klinik zur Entbindung bringen sollte. Doch dann erkannte er seinen Irrtum und nahm, nervös und mit zitternden Händen, den Hörer von der Gabel.
„Dienel“ meldete er sich und hörte wie in Trance die Stimme der Stationsschwester am anderen Ende der Leitung. „Herr Dienel, können Sie bitte zur Klinik kommen? Der Bereitschaftsarzt bat mich, Ihnen dies auszurichten.“ „ Natürlich, Schwester. Ist denn etwas passiert?“ „Ich weiß leider nichts Näheres, ich habe auch gerade erst meinen Dienst übernommen.“ „Ja, gut. Ich bin in ein paar Minuten da.“ In Windeseile zog er sich an, griff seinen Schlüsselbund und rannte mit klopfendem Herzen zu seinem Auto.
Horst war eigentlich ein besonnener und umsichtiger Autofahrer, aber davon war im Moment nichts zu merken. Mit weit überhöhter Geschwindigkeit raste er durch Essen in Richtung Marienhospital. Der morgendliche Berufsverkehr hatte noch nicht eingesetzt und er konnte wohl von Glück sagen, dass die nächtlichen Polizeistreifen offenbar auch unterwegs zu ihren Wachen waren, um ihre Schichten an die nachfolgenden Kollegen vom Tagesdienst zu übergeben. So erreichte er die Klinik innerhalb kürzester Zeit, stellte sein Auto auf dem noch leeren Besucherparkplatz ab und hastete in das Gebäude. Als er die gynäkologische Station betrat und der dienst habenden Schwester gegenüber stand, fiel ihm auf, wie diese ihn kurz von oben bis unten musterte. Da erst wurde ihm bewusst, wie er aussehen musste. Seine wirr vom Kopf abstehenden schwarzen Haare, sein unrasiertes Gesicht und die schon recht angegriffen wirkende Kleidung vom Vortag standen in krassem Gegensatz zu seinem sonst so gepflegten Äußeren. Er sah selbst kurz an sich herunter. „Entschuldigen Sie, Schwester. Aber ich habe eine sehr unruhige Nacht hinter mir. Wie geht es denn meiner Frau? Steht die Geburt bevor? Oder komme ich vielleicht doch zu spät, um dabei zu sein?“ „Kommen Sie bitte, Herr Dienel. Dr. Freiland erwartet Sie bereits.“ Schwester Birgit führte Horst zum Sprechzimmer des Stationsarztes und meldete ihn an. Mit ernstem Gesicht, wohl fühlend, dass hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung war, betrat Dienel den Raum des Arztes, begrüßte diesen und setzte sich auf dessen Geheiß auf den Stuhl am Schreibtisch, gegenüber des Mediziners.
Es war zehn nach Fünf am Morgen des dreizehnten August, als für Horst Dienel eine Welt zusammen brach.
„Herr Dienel, ich muss Ihnen eine äußerst bittere Nachricht überbringen“ begann der Arzt. Was war passiert? Horst Dienel ahnte, was Dr. Freiland ihm sagen wollte. „Ihre Frau hat gestern Abend, eine Minute vor Mitternacht, ein gesundes Mädchen zur Welt gebracht“ begann der Arzt. „Es ging alles leider viel zu schnell, als dass wir Sie noch benachrichtigen konnten“. „Johanna“ stammelte Dienel mit weit aufgerissenen Augen den Mediziner anstarrend. „Leider sind die Befürchtungen, die Dr. Romberg Ihrer Frau bei der letzten Untersuchung bereits mitgeteilt hatte, wahr geworden. Dass sich jedoch die Blutwerte noch einmal so dramatisch verschlechterten, war für ihn auch nicht vorhersehbar. Herr Dienel, es tut mir unendlich leid, aber Ihre Frau ist bei der Geburt Ihrer Tochter verstorben“.
Kreideweiß und mit starrem Blick saß Dienel dem Arzt gegenüber. „Warum? Warum nur?“ stammelte er immer wieder, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Immer wieder fasste er sich ins Gesicht, rieb sich die Augen und verschlimmerte damit sein ohnehin schon sehr zerknittertes Erscheinungsbild noch weiter. Der Stationsarzt versuchte ihm zu erklären, was genau passiert war, aber Dienel war nicht aufnahmefähig. Freiland hatte Angst, dass sein Gegenüber vollständig kollabierte und rief einen Kollegen von der inneren Abteilung an, damit dieser sich Dienel annehmen konnte.
Drei Stunden später wachte er in einem Krankenzimmer auf. Die Augen starr an die Decke gerichtet überlegte er, wo er war und was passiert ist. „Guten Morgen, Herr Dienel. Schön, dass es Ihnen wieder besser geht.“ Von ihm unbemerkt hatte die Schwester das Zimmer betreten. „Was ist passiert? Meine Frau, meine Tochter?“ „Sie haben einen Schock erlitten, Herr Dienel. Der Doktor hat Ihnen eine Beruhigungsspritze gegeben und Sie haben drei Stunden lang geschlafen. Doktor Windberg wird gleich bei Ihnen sein“ sagte die Schwester noch, um gleich darauf das Zimmer zu verlassen. Nahezu in der gleichen Sekunde betrat der Internist, ein sehr großer und übermäßig schlanker Mann von 45 Jahren das Zimmer und stellte sich an das Bett neben seinen Patienten. „Ich möchte zur Säuglingsstation“ bat Dienel, der gerade begann zu versuchen, sich mit seiner neuen Lebenssituation auseinander zu setzen.
In Begleitung von Dr. Freiland stand der noch etwas schwache Dienel vor der Scheibe der Säuglingsstation. Auf der anderen Seite stand die etwas mollig wirkende, aber unheimlich warm lächelnde Schwester Rebecca und hielt Horst seine schlafende Tochter entgegen. Dienel sah den Säugling, lächelte und weinte. „Konnte meine Frau unser Mädchen noch einmal sehen, bevor…?“ „Ja, mit einem Lächeln auf dem Gesicht und dem Kind im Arm ist sie friedlich eingeschlafen“ antwortete Freiland, wohl wissend, dass an dieser Stelle der Unterhaltung eine Lüge die beste Therapie für den Vater war. Denn natürlich war keinerlei Zeit für Emotionen da. Die Ärzteschaft war unmittelbar nach der Geburt vollauf damit beschäftigt, sich um die sterbenskranke Mutter zu kümmern, während der Säugling zur Untersuchung und Erstversorgung gegeben wurde. Aber wenn das Schicksal es so will, dann können sich ein, zwei oder zehn Ärzte um einen Menschen bemühen, ohne dass sich der gewünschte Erfolg einstellt.
„Sie ist ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Die kleine Stupsnase, die schwarzen Haare, die Gesichtszüge. Selbst die Grübchen fehlen nicht.“ „Wie soll sie denn heißen?“ „Jessica“ erwiderte Dienel, „darauf haben meine Frau und ich uns geeinigt, wenn es ein Mädchen wird. Ein Junge hätte Tobias heißen sollen. Ich werde sie aber Jessica-Johanna nennen in Erinnerung an meine Frau. Sie ist gesund, sagen Sie?“ „Ja“, erwiderte Freiland. „3030 Gramm schwer und 49 cm groß. Bei der allerersten Untersuchung hat sie die vollen 10 von 10 Punkten erreicht.“ „Und wie… wie geht es jetzt weiter?“ Fragend sah Dienel Dr. Freiland ins Gesicht. „Die kleine Jessica kann eine Woche bei uns bleiben. In dieser Zeit haben Sie Gelegenheit, alles Notwendige zu arrangieren. Wenn Sie Unterstützung brauchen, lassen Sie es mich bitte wissen.“
Das Alles ist also jetzt schon wieder zwei Wochen her, dachte Dienel, am Abend dieses 26. August in seinem Sessel im Wohnzimmer sitzend. Das erste Mal seit der Tragödie saß er jetzt entspannt zu Hause, ein Glas Rotwein vor sich, und zum ersten Mal konnte er sogar wieder über eine Komödie zaghaft lachen, die im Fernsehen gezeigt wurde. Als Erstes hatte er im Amt seinen noch restlichen Jahresurlaub direkt im Anschluss beantragt, was ihm angesichts der Umstände auch sofort genehmigt wurde. Dann hat er sich mit seiner Mutter, Rosemarie Dienel, besprochen. Die 53-jährige Witwe hat ihrem Sohn natürlich sofort ihre Unterstützung zugesagt. Da Johannas Eltern vor zwei Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen sind, gab es keine weiteren Verwandten, die man diesbezüglich hätte fragen können. Karl, Horsts älterer Bruder, war schon vor vier Jahren nach Manaus in den brasilianischen Bundesstaat Amazonas ausgewandert und konnte daher nicht mit eingeplant werden. Er fühlte sich nach seinem erfolgreich abgeschlossenen Medizinstudium dazu berufen, den Ureinwohnern des Regenwaldes als Arzt zur Verfügung zu stehen.
Rosemarie Dienel hatte ihren Mann im März 1956 bei dem Grubenunglück auf der Zeche Dahlbusch in Gelsenkirchen verloren, Horst war damals noch keine elf Jahre alt. Aber auch sie hat, genau wie ihr Sohn heute, nach der ersten Trauer ihr Leben weiter voller Optimismus angepackt. „Es muss weitergehen und es wird weitergehen. Wer sich in einer solchen Situation hängen lässt, der hat verloren. Ich bin es meinen beiden Söhnen schuldig, dass sie auch ohne Vater geborgen aufwachsen“, das war ihre Einstellung zum Leben und zu den Schicksalsschlägen, vor denen niemand gefeit ist.
Dienel hatte die vergangenen Tage häufig mit seiner Mutter zusammen gesessen. Einerseits war er dankbar für den Trost, den sie zu spenden vermochte aber andererseits gab es auch viel Praktisches zu besprechen. Wie sollte es weitergehen, wie konnte sie ihn unterstützen und vor allem, was war das Beste für die kleine Jessica?
Johanna war acht Tage nach ihrem Tod in aller Stille beigesetzt worden, dazu hatten sich Horst und Rosemarie entschieden. Sie hassten beide die so genannten Feierlichkeiten, die bei einer Beerdigung sonst zelebriert wurden und meistens erst in noch gedrückter, später jedoch recht ausgelassener Stimmung in einem Lokal endeten. Karl, Horsts Bruder, sprach schriftlich seine Anteilnahme aus, bedauerte jedoch, so kurzfristig nicht nach Deutschland kommen zu können. Er hatte seine Schwägerin nur einmal gesehen, bei der Hochzeit vor drei Jahren, als er zu diesem Anlass für ein Wochenende aus seiner neuen Heimat im Amazonasbecken, mitten im Dschungel gelegen, zu Besuch kam. So fand die Beisetzung nur im kleinsten Kreise statt und alle gemeinsamen Bekannten des Paares haben im Anschluss daran den obligatorischen Trauerbrief erhalten. Es würde noch schwer genug werden, wenn alle im Nachhinein pflichtschuldigst kondolieren würden.
Einen Tag nach der Beerdigung haben Dienel und seine Mutter dann die kleine Jessica nach Hause geholt. Den einen zusätzlichen Tag im Krankenhaus konnte Horst dem Stationsarzt noch abringen, weil er nur ungern mit dem Säugling auf dem Arm seine Frau bestatten wollte.
So war also jetzt der fünfte Tag des jungen Witwers vergangen, an dem der Säugling zu Hause war und er das erste mal wieder alleine war. Die vergangenen vier Tage war Horsts Mutter immer den ganzen Tag bei ihm, hat ihm gezeigt, wie man ein Baby wickelt, wie man es füttert, wie man es auf dem Arm hält und wie man ihm zeigt, dass man es liebt. Sieben Tag noch, dann war sein Urlaub vorüber und er musste wieder seine Arbeit im Amt aufnehmen. „Wenn ich das nur schaffe“ dachte er manchmal zweifelnd, „tagsüber der fähige und engagierte Mitarbeiter im Landesamt für Statistik und abends der fürsorgliche und liebende Vater einer Tochter“.
„Mach’ Dir keine allzu großen Sorgen, Horst“, sagte Rosemarie zu ihrem Sohn, „es macht mir nichts aus, Dir und der Kleinen mit ganzer Kraft zur Verfügung zu stehen. Wenn Du arbeiten gehst, werde ich mich tagsüber um Jessie kümmern und abends und am Wochenende hast Du genügend Zeit, der Kleinen zu zeigen, dass sie einen liebevollen Vater hat. Von mir zu Hause in der Rotthauser Straße bis zu Dir in den Krähenbusch ist es auch nicht so weit, dass ich mit meinen dreiundfünfzig Lenzen noch einen Führerschein machen müsste. Die Strecke kann ich auch gut mit meinem Fahrrad bewältigen. Wenn das Wetter gut ist, werde ich mit Jessie viel im Volksgarten unterwegs sein. Erst im Kinderwagen und es wird gar nicht lange dauern, bis sie Interesse am Spielplatz und an den Enten im Teich des Parks hat. Du wirst sehen, wie gut es Deinen beiden Frauen, die es nun in Deinem Leben gibt, gehen wird. Ich werde wohl die fitteste und strahlendste Oma sein, die hier in der Gegend ihr Enkelkind ausführt.“ „Mama, Du bist einfach wunderbar“ erwiderte Horst recht wortkarg und umarmte seine Mutter voller Dankbarkeit.
Donnerstag, 24.Dezember 1970
So gingen die ersten Monate von Jessicas kleinem Leben ins Land. Dem Sommer folgten einige sehr schöne Herbsttage, an denen ihre Großmutter Rosemarie ihr Enkelkind ausführen konnte und stolz mit dem Kinderwagen durch den Volksgarten in Essen-Kray fuhr. Sie wirkte glückliche und ausgeglichen wie schon lange nicht mehr und es war den beiden anzusehen, wie sie die gemeinsamen Stunden genossen. Auch Horst kam mit der neuen Situation nun gut zurecht. Seine Mutter war äußerst verlässlich, jeden Tag kam sie pünktlich mit dem Rad, damit er rechtzeitig mit seinem Opel Rekord nach Düsseldorf ins Amt fahren konnte. An manchen Tagen, wenn das Wetter im Herbst schlecht war, wollte er seiner Mutter natürlich nicht zumuten, mit dem Fahrrad zu ihm zu kommen. Dann zog er seine kleine Jessie warm an, packte sie ins Auto und fuhr sie zu ihrer Oma nach Gelsenkirchen. Mutter und Sohn waren also mittlerweile ein gut funktionierendes Team. An den Wochenenden, die Rosemarie trotz aller Fürsorge für sich zur Erholung benötigte, widmete sich Horst voll und ganz seiner Tochter und, wenn diese schlief, seinem neuen Hobby: Dem Kochen. Liebend gerne sah er sich im Fernsehen Vico Torriani an, wenn er seine Köstlichkeiten in der Küche zauberte. Er kaufte sich Kochbücher und übte, verfeinerte das Eine oder Andere noch nach seinem Geschmack und hatte vor, seine Mutter an Weihnachten mit einem selbst zubereiteten Festessen zu verwöhnen. Er wollte ihr damit seine Dankbarkeit zeigen und wie sehr er ihre Hilfsbereitschaft zu schätzen weiß.
Und so kam der Heilige Abend, das erste Weihnachtsfest für das jetzt vier Monate alte Mädchen. Alle Einkäufe hatten die beiden vorausschauenden Erwachsenen natürlich längst erledigt. So konnte sich jetzt, während Jessica ihren Mittagsschlaf hielt, Horst der Zubereitung des Weihnachtsessens widmen, während seine Mutter hingebungsvoll den großen und sehr gerade gewachsenen Weihnachtsbaum schmückte.
Es wurde die Familienidylle pur. Jessica, abwechselnd bei Papa und Oma auf dem Arm, schaute mit großen Augen auf die Lichter der festlich geschmückten Nordmanntanne, während Mutter und Sohn leise ein Weihnachtslied sangen, zu dem sie von Kirchengeläut und Orgelmusik von der Schallplatte begleitet wurden. Auch später noch schlief das Kind ruhig und zufrieden in seinem Bettchen, die neue, große und bunte Schmusepuppe neben sich, während die Erwachsenen die drei Gänge des von Horst zusammengestellten Weihnachtsmenüs genossen. „Ich soll euch beiden übrigens liebe Grüße und die besten Wünsche von Karl ausrichten. Er hat einen Brief aus Manaus geschickt“ meinte Rosemarie. „Ja, danke. Ich hoffe, es geht ihm gut. Außer den obligatorischen Grüßen zum Geburtstag und zu Weihnachten lässt er ja sonst das ganze Jahr über nichts von sich hören. Schade, dass er so wenig Familiensinn zeigt.“ „Doch, ich denke, dass er sich ganz wohl fühlt. Es ist ja auch immer mit großen Kosten verbunden, so eine Heimreise“ verteidigte Rosemarie ihren älteren Sohn. Insgeheim hatte auch sie gehofft, dass ihr Karl einmal wieder zu Besuch käme, aber auch hier versuchte sie, Stärke zu zeigen und sich nichts anmerken zu lassen. „Eigentlich fehlt nur noch Johanna zum vollkommenen Glück“ stellte Horst in einem Anflug von wiederkehrender Trauer fest. „Ja, da hast Du sicherlich recht. Lass’ Sie uns in Gedanken teilhaben und der schönen gemeinsamen Stunden mit ihr gedenken.“
Ähnlich harmonisch verlief auch der erste Weihnachtstag, den die Drei in Rosemaries Wohnung verbrachten während der zweite Feiertag jedem für sich gehörte. Man wollte das Fest in der jeweils eigenen Wohnung in aller Ruhe ausklingen lassen und sich ohne irgendwelche Zwänge entspannen. Horst war dankbar für diesen Vorschlag, denn auch er merkte, dass er mal einen Tag zum Ausspannen benötigte.
Donnerstag, 12.August 1971
Der erste Geburtstag. Rosemarie hatte vor, einen Kindergeburtstag zu feiern. „Nur im ganz kleinen Rahmen“ meinte sie. „Ich habe eine nette junge Frau im Park kennen gelernt, mit einem Jungen im gleichen Alter. Er hat vorige Woche seinen ersten Geburtstag gefeiert. Die Ärmste ist von ihrem Mann verlassen worden und sie erzieht das Kind jetzt alleine.“ „Mama!“ erhob Horst seine Stimme ärgerlich und sah seine Mutter streng an. „Versuchst Du etwa gerade, mich zu verkuppeln?“ „Aber nein, mein Junge, das mit der Geburtstagsfeier war doch nur so eine Idee“ antwortete sie, sah aber verschämt wie eine ertappte Sünderin zur Seite. „Ich dachte doch nur…. Na ja, Du bist doch auch noch jung, und vor allem bist Du ein Mann. Schließlich musst Du auch mal an Dich denken. Deine Fürsorge ehrt Dich ja, aber seit einem Jahr besteht Dein Leben nur noch aus Arbeit, Mutter und Tochter.“ „Da mach’ Dir mal keine Gedanken. Das, was Du meinst, hole ich mir schon bei Bedarf, schließlich lebe ich nicht im Exil sondern arbeite in einer großen Behörde in der Landeshauptstadt. Aber ein weiteres Mal heiraten werde ich nur dann, wenn mir tatsächlich noch einmal eine zweite Ausgabe von Hanna über den Weg laufen sollte. Und das halte ich doch für recht unwahrscheinlich. Aber vielleicht ist das mit der Geburtstagsfeier doch eine ganz gute Idee. Vielleicht freunden sich die beiden Kleinen ja tatsächlich beim Spielen an. Wann siehst Du denn Deine neue Bekannte wieder? Frag’ sie doch, ob sie übermorgen am Samstag Zeit hat. Dann machen wir fünf uns einen gemütlichen Nachmittag mit Kaffee, Kuchen und Kindergeplapper.“ In diesem Moment sah Horst zum ersten Mal, wie seine Mutter errötete. „Sie kommt am Samstag um halb Drei“ erwiderte sie leise und blickte dabei verlegen auf den Boden.
Samstag, 14. August 1971
Pünktlich zur vereinbarten Zeit am Samstag klingelte Ramona Hohberg, Rosemaries neue Bekannte, mit ihrem Sohn Marc an der Haustür der Dienels. Freundlich lächelnd bat Horst die beiden ins Wohnzimmer, wo sie schon von der kleinen Jessica und deren Großmutter erwartet wurden. Jessie war ganz aufgeregt, wollte sie doch Marc unbedingt ihr neues Spielzeug, das sie zum Geburtstag bekommen hatte, zeigen. Die beiden Kleinen kannten sich ja schon von einigen Treffen im Park und so gab es keine Notwendigkeit, sich gegenseitig erst einmal zu beschnuppern. Mit noch unsicheren Schritten tappelte Jessica auf den hellblonden Marc zu, in der Hand ihren neuen, großen und weichen Stoffhund. „Da, Da“ brabbelte sie aufgeregt und mit leuchtenden Augen, um ihr Schmusetier stolz zu präsentieren. Die drei Erwachsenen sahen belustigt den beiden Kindern zu, als sich plötzlich blitzartig die Szene veränderte und ins Gegenteil umschlug. Marc holte plötzlich aus, rief „Doof“, schlug den Hund aus Jessicas Händen und gab ihr einen Stoß, so dass sie auf den Hosenboden fiel. Jessica saß nun auf dem Boden, starrte zunächst wie betäubt auf Marc und begann nun, nach der ersten Schrecksekunde, herzzerreißend zu weinen.
Die beiden Elternteile und Rosemarie waren genauso erschrocken wie das kleine Mädchen. So wurde Jessie zunächst von ihrer Großmutter zum Trost auf den Arm genommen und Marc wurde von Ramona ausgeschimpft und bekam obendrein noch einen Klaps auf den Hintern, worauf dieser das Weinen Jessicas tatkräftig durch eigenen lautstarken Einsatz unterstützte. Nach einigen Minuten entspannte sich jedoch die Situation und die Kinder begannen, gemeinsam mit den Bauklötzen zu spielen, die Marc von zu Hause mitgebracht hatte. So konnten Ramona, Horst und Rosemarie endlich in Ruhe ihre Kaffeetafel eröffnen. Jessica blickte zwar gelegentlich noch etwas feindselig zu Marc, so, als überlege sie, wie sie ihm etwas heimzahlen könne, aber offenbar traute sie sich nicht wirklich, so etwas wie eine Racheaktion zu starten.
„Ist es nicht eigenartig“, setzte Rosemarie die inzwischen in Gang geratene Gesprächsrunde fort, „immer, wenn etwas passiert, was unserer kleinen Jessie nicht so recht passt, ist ein blonder Junge oder Mann daran beteiligt. Ob sie die nicht mag?“ „Wie kommst Du denn darauf, Mutter?“ fragte Horst, der seine Mutter in Gegenwart Dritter immer „Mutter“ nannte und nie „Mama“, wie er es tat, wenn die beiden alleine waren. „Wir waren doch gestern beim Kinderarzt, weil Jessie geimpft werden sollte. Der Arzt, der sie sonst untersucht, also Dr. Morgenstein, ist aber im Urlaub. Dr. Morgenstein hat schwarze Haare und er und Jessie sind ein Herz und eine Seele. Die Vertretung gestern war ein Dr. Findeisen und der ist hellblond. Du hättest die Kleine mal hören sollen, wie sie nach der Impfe geschrieen hat.“ „Na ja, aber wenn er ihr doch eine Spritze verpasst hat! Das ist ja auch nicht jedermanns Sache“, versuchte Horst zu relativieren. „Vielleicht hast Du Recht, aber im Park gibt’s noch so einen hellblonden Jungen wie den Marc, der hat ihr auch schon mal ihre Puppe weggenommen. Da hättest Du unsere kleine Giftspritze mal erleben sollen! Den ganzen Spielplatz hat sie mit ihrem Gebrüll rebellisch gemacht.“ „Das hört sich aber fast so an, als wenn es umgekehrt ist, Frau Dienel“ beteiligte sich jetzt Frau Hohberg an dem Gespräch. „Jessica hat bestimmt nicht aus Prinzip etwas gegen blonde Jungen oder Männer. Sondern an allem, was sie bisher Negatives erlebt hat, war, wie sie schon sagten, ein blonder Mann oder Junge beteiligt. Sei es die Sache mit der Puppe im Park, die Spritze in der Arztpraxis oder gerade eben mein Marc. Den habe ich vorher auch noch nie so aggressiv erlebt. Kann es sein, dass blonde Jungen anders auf Jessie zugehen als die dunkelhaarigen?“ „Na, ich weiß nicht“ schaltete sich Horst noch einmal ein, „wir sind ja alle keine Psychologen. Aber ich halte das Alles nur für eine Reihe von seltsamen Zufällen. Bleibt zu hoffen, dass es jetzt mit dieser eigenartigen Häufung von solchen Vorkommnissen vorbei ist. Nicht, dass unser Mädchen noch einen Hass gegen hellblonde junge Männer entwickelt“, bemerkte er mit einem Lachen im Gesicht. „Obwohl: Mich kann es ja nicht treffen. Bei meiner Haarfarbe wird sie dann sicherlich nicht zum Vatermörder…“ fügte er noch schelmisch hinzu.
Während alle noch herzlich über die Bemerkung Dienels lachten, krabbelte Jessica zum nahe stehenden Sessel, zog sich daran herauf, ging, noch etwas wackelig mit ihren kleinen Beinchen, zielstrebig zur Spielecke zurück, trat vor den von Marc gebauten Turm aus Bauklötzen und gluckste vor Vergnügen, als dieser in sich zusammenfiel.
Dienstag, 24. August 1976
Die vergangenen fünf Jahre verliefen ohne nennenswerte Vorkommnisse. Jessica wuchs behütet vom Vater und von der Oma auf, da Mutter und Sohn ihre besondere Aufgabe zu meistern wussten. Sicherlich wurde Jessie auch mal krank oder versuchte, ihren Kopf durchzusetzen. Aber das alles war nichts, was nicht auch in anderen Familien vorkam und was mit einer Mutter an Omas Stelle nicht passiert wäre. Es gab auch schon mal aufgeschlagene Knie oder Streitereien im Kindergarten, aber die waren mit dem blonden Marc, der mit Jessica zur gleichen Gruppe gehörte, nicht häufiger als mit anderen Kindern auch. Einen Vorfall wie den zu ihrem ersten Geburtstag gab es nicht mehr und es wurde auch nicht mehr darüber gesprochen.
Heute nun, zwölf Tage nach Jessicas sechstem Geburtstag, sollte sie eingeschult werden. Durch ihren Geburtstag im August war sie die Jüngste der einzuschulenden Kinder. Die notwendige Reife für diese frühe Einschulung wurde ihr jedoch vom zuständigen Amtsarzt bescheinigt.
Horst, der in den letzten Jahren schon erfolgreich an seiner Beamtenkarriere gearbeitet hatte und insgesamt so ausgeglichen war, dass er sich an der einen oder anderen Beziehung versucht hat, hatte natürlich zu diesem besonderen Tag Urlaub und führte, in Begleitung von Rosemarie, seine Tochter stolz zur Joachimschule. Aufgeregt und voller Erwartung, gekleidet in einem hübschen Sommerkleidchen und ihre große Schultüte fest im Arm, saß Jessie nun zwischen Papa und Omi gemeinsam mit den anderen Kindern und Erwachsenen in der für diese Veranstaltung umfunktionierte Turnhalle der Schule und schaute gebannt nach vorne, wo die „Großen“, also die Viertklässler, ein Theaterstück für die neuen Kinder zur Begrüßung aufführten. Anschließend sprach noch die Schulleiterin ein paar Sätze, die aber wohl mehr an die Eltern als an die Kinder gerichtet waren, denn Jessica verstand nicht so ganz, wovon die Frau da vorne gesprochen hat. Da war vom „Ernst des Lebens“, von „schweren Aufgaben“ und von einem „neuen Lebensabschnitt“ die Rede. Für Jessie und die anderen Kinder ging es doch nur darum, Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen. War da noch mehr, was die Erwachsenen bisher noch nicht gesagt hatten?
Um diesen wichtigen Tag gebührend zu feiern, traf man sich am Nachmittag noch mit Ramona Hohberg und Marc in Horsts Wohnung. Es gab zunächst Kaffee und Kuchen und gegen Abend noch das Lieblingsessen der Kinder, Bockwürstchen mit Kartoffelsalat.