Читать книгу Pechpilz - Matthias Naas - Страница 5

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Das Glück besteht nicht darin,

dass du tun kannst, was du willst,

sondern darin, dass du immer willst,

was du tust.

Leo (Lew) Nikolajewitsch Graf Tolstoi

I

Zu Recht plagten mich Selbstzweifel, während meine zittrigen Finger die kalten Eisenstangen umklammerten. Dafür lächelte mein Opa Karl glückselig und entspannt, rücklings auf der steifen Hartschaummatratze liegend, zur Decke empor.

Die Polizeibeamten auf der städtischen Station schenkten meinem seichten Wimmern keinerlei Beachtung mehr. Aber was will man um sechs Uhr morgens erwarten, wenn man die Nacht hindurch das gesamte Darmstädter Präsidium auf Trab gehalten hatte. Obendrein schienen die Polizisten hauptsächlich damit beschäftigt, unsere Angehörigen ans Telefon zu bekommen, in der Hoffnung, dass diese uns abholen würden.

Ein 84jähriger, im Leichtsinn lebender Greis und ich, sein Enkel, der eifersüchtige Vater einer jungen Tochter, hatten uns diese verfahrene Situation eingebrockt. Zusammen mit dem bei mir in vertrauensvoller Obhut geglaubten, verängstigten Pseudo-Kampfhund meines Freundes, sowie einem unschuldigen Opfer und einer entführten Schnappschildkröte.

Wie hatte ich Opa nur da mit reinziehen können, fragte ich mich? Und warum nur, hatte ich erneut solch einen Mist verzapfen müssen? Hatte mein Umfeld durch die Fußballleidenschaft und die unzähligen Missgeschicke der vorangegangenen Jahre nicht genug gelitten?

Doch ich hatte ebenfalls eingesteckt, obwohl ich mich abgemüht hatte, den Fettnäpfen nach Möglichkeit aus dem Wege zu gehen. Hatte doch alles mit den zwei Sätzen meiner vierzehnjährigen Tochter begonnen: »Papa, heute kommt mein Freund Ali zu uns, um mich abzuholen. Sei nett zu ihm, okay?«

Diese Sätze raubten mir den letzten Atem, wie ich ihn des Öfteren von Steffi, meiner Gattin, geraubt hatte. Die unvergleichliche Frau, die dem jahrelangen Chaos wacker standgehalten hatte. Zumindest bis gestern, als ich noch in Freiheit war!

Alles hatte mit unseren scheinbar so harmlosen Zukunftsplänen angefangen. Doch bestand das wahre Glück in einer Vorzeige-Hochzeit und aus einem modernen Einfamilienhaus? Oder lag das Glück nicht doch wo anders? Wüsste ich es, würde ich jetzt wie Opa Karl, zufrieden daliegen mit einem Lächeln auf den Lippen.

Einen Löwenanteil an diesem Scherbenhaufen trug sicher unser Architekt Christian mit seiner neu erbauten siebener Reihenhauskette! Dort, wo wir supergünstig das letzte freie Haus erworben hatten, gab es unterm Dach für zwei Kinder ein eigenes Zimmer mit Gemeinschaftsbad. Ein Geschoss tiefer lag unser Schlafzimmer mit Platz für ein klassisches Ehebett und daneben ein zusätzliches Badezimmer. Außerdem Steffis Arbeitszimmer, in welchem sie nach der Geburt plant, ihre Anwaltsfälle zum Thema Familienrecht zu bearbeiten. Das war zumindest in deshalb klasse, weil diese mittlere Etage meine TV-Fußballwelt im Wohnzimmer des Erdgeschosses von der der Kinder trennte. Ergo reichlich Ruhe für mich!

Wie ich einige Jahre später einsehen musste, war dies ein überlebenswichtiger Puffer zwischen mir und dem geschmacksfreien Musikgruppen-Wandposter-Cocktail in dem Zimmer meiner Tochter. Der bestand aus dem Blondschopf von Sunrise Avenue, dem Sänger und Traum aller Schwiegermütter von Revolverheld sowie den Vollblut-Gangstern Bushido und Kay-One. Dafür schien die Kommunikation wie abgeschnitten. Hier die Welt der Kinder, dort das Reich der Eltern.

Und für den Fall, dass das gemeinsame Familienleben eskalieren drohe oder die Familienbrut eines Tages zusätzlich das Wohnzimmer für sich in Beschlag nehmen würde, so könnte ich im Notfall die ungenutzten Kellerräume beziehen. Oh ja, einen Keller hatten wir ebenfalls. Den hatte uns damals der Architekten-Christian, der gleichzeitig Bauherr und Grundstückseigentümer in einer Person war, für günstige zwanzigtausend Euro zusätzlich aufgeschwatzt. Steffi fand den dufte ich weniger. Jeder seiner Vorschläge war sooo toll und alles ergab ja sooo einen Sinn.

Eine vierköpfige Familie in einem Haus ohne Keller, das wäre doch eine mittlere Katastrophe, hatte der verkaufstüchtige Tausendsassa gemeint. Das war schlau von ihm. Steffi war zu dem Zeitpunkt mit Isabell schwanger gewesen. An ein zweites Kind hatte ich nicht einmal gedacht. Wohl aber Steffi. Wo wir denn sonst die vielen Sachen verstauen wollten, wenn nicht im Keller, hatte er geschickt gefragt. Da das Reihenmittelhaus zwar in dritter von drei Reihen voll Hasenhütten lag, kam bei der Reihenhausversion mit Keller dafür kostenfrei eine Fußbodenheizung hinzu. Steffi war liebenswert in ihrer offenen Art und unbegrenzt begeisterungsfähig. Ein Traum für jeden GEZ-Vertreter. Trotzdem Eigenschaften, die ich bedingungslos an ihr liebte, die aber zu meinem Leidwesen meist zu kostspieligen Entscheidungen führten.

Aber damit war der Kostensteigerungsspießrutenlauf keineswegs am Ende angelangt, denn die dicken Fliesen aus Spanien vom Fliesen-Wunsch seien doch bedeutend empfehlenswerter. Da diese in der Lage wären, Wärme einzulagern, im Gegensatz zu solch dünnen, günstigen vom Baumarkt. Und durch die Kombination mit den vorteilhafteren Upgrade-Fenstern in Vierfachverglasung, würden wir im Haus enorme Energiekosten einsparen. Das alles für lediglich dreißigtausend Euro extra, was erst später zur Sprache hatte kommen sollen. Im Gegenzug erhielten wir seinerzeit das Ausstattungspaket mit dem Namen Green Earth anstatt Basic. »Freund« Christian hatte es eine Investition in die Zukunft genannt, die sich in ein paar Jahren bezahlt machen würde. Das hatte meiner grün angehauchten Steffi gefallen. Im Besonderen, da er uns hatte versprechen können, dass alles innerhalb von vier Wochen nach der Kaufvertragsunterzeichnung fertiggestellt sein würde rechtzeitig vor unserer geplanten Hochzeit und der Geburt unseres Babys. Ein Widerspruch wäre zwecklos! Umweltschonend, wie sie beide versuchten, mir zu erklären. Mit Erfolg.

Mittlerweile überkam mich das Gefühl, dass Christian selbst wesentlich dufter sei als ich. Klar, er hatte diese von Frauen geliebten Einmeterzweiundneunzig, war gebildet, erfolgreich, blond und stets gleichmäßig gebräunt. Dazu täglich sportlich aktiv, was ihn in meinen Augen nicht sympathischer darstellte. Obendrein seine charmante Art mit Frauen zu plaudern – Hölle! Jammern half da nichts, gegen den sah ich mich außerstande anzustänkern. Dafür würde er niemals, so wie ich einmal, Darts-Weltmeister werden, oder herausfinden, wie man mit einem Feuerzeug eine Flasche Bier öffnet.

Letzten Endes spielte meine Meinung keine Rolle. Steffi hörte ausschließlich auf Mr. Dufte. Ich sagte, lass uns die braunen Fliesen vom Bauhaus, die klassischen Armaturen vom Praktiker sowie ein paar Eimer Alpina-Weiß kaufen. Dann fragen wir mal im Bekanntenkreis, wer uns das verarbeiten kann, fertig wäre das Haus. Nein, meine Gattin meinte, Christian hätte einen besseren Geschmack. Was kam dabei heraus? Terrakotta-Fliesen, die extra für uns gebrannt wurden, Villeroy & Boch-Armaturen, Modell Classico und eine Innenwandfarbe mit dem behaglichen Namen Casa Ala Blanca. Zumindest weiß. Ansonsten gleicher Käse, nur dreimal so teuer!

Ich steckte zu diesem Zeitpunkt in einer Zwickmühle, weswegen es mir klüger erschien, mich unauffällig und gehorsam zu verhalten. Wir suchten schon einige Monate erfolglos ein gemeinsames Heim. Dort zu klein, da zu teuer, miese Lage, kein Kindergarten und Supermarkt in der Nähe. Das übliche Wunschkonzert von angehenden Eltern, die planten zusammenzuziehen, um eine Familie zu gründen. Ein freistehendes Haus mit Fußballfeldgroßem Garten, auf dessen Rasenfläche die Kinder kicken könnten, war meine Ansage. Bezahlen, so tönte ich, sei für mich kein Problem. Ersparnisse und ein sicherer Job ergäben eine Wahnsinns-Bonität, erklärte ich ebenso Steffis Vater, der seit er mich das erste Mal traf, an mir gezweifelt hatte und sich um seine Tochter sorgte.

Und die finsterste Realität holt einen spätestens dann wieder ein, wenn man vor dem Finanzberater seiner Hausbank sitzt. Hoffend auf den besten Deal, denn man ist ja schon über dreißig Jahre Kunde bei der Bank. Da half einem das sorgfältig aufbewahrte Jeans-Sparbuch nichts, wie ich feststellen musste. Und dabei sah meines tipptopp gepflegt aus. Als ich es mit geschwellter Brust dem Berater auf den Tisch legte, war ich der Meinung, dass er mir ein günstiges Finanzierungsangebot machen würde. Doch ich verstand umgehend, dass ich mich irrte. Dieser Typ mit Mitte zwanzig hatte eindeutig keinen Schimmer, wie kostbar das Jeans-Sparbuch für unsere Generation gewesen war.

Als dieser daraufhin was von zwanzig Prozent Eigenkapital faselte, schrie ich ihn an: »Damals bekam man wenigstens noch Zinsen!« Er erwiderte trocken, mein Sparbuch habe mit einem damaligen Guthaben von 1.898 D-Mark weitaus weniger Zinsen in den vergangenen zwei Jahrzehnten eingebracht, wie ich es womöglich annehmen würde.

Meine Unmutsäußerung war dann das Letzte, was ich zu dem Thema sagte, bevor Steffi mir Redeverbot auferlegte und daraufhin das Betteln um Geld übernahm, indem sie mit Papi telefonierte, der uns unter Auflagen rettete. Für mich bedeutete es, dass ich Verträge unterschrieb, die mich dazu verdammten, dass ich die kommenden dreißig Jahre fünfunddreißig Prozent meines monatlichen Gehalts an die Bank abzuführen hatte. Dazu weitere fünf Prozent für einen erstklassigen Bausparvertrag, der das alles ablösen sollte, wenn ich ergraut sein würde. Das Haus dafür im Anschluss aber unser Eigentum wäre und das klang vernünftig. Doch das Beste: Meine Ersparnisse mussten nicht geopfert werden. Steffi empfand den Jeans-Sparbuch-Versuch ziemlich megapeinlich. Zumal der Bankmann zu allem Überfluss fragte, ob ich es auflösen wollen würde, um das Guthaben dem Girokonto gutzuschreiben. Dezent zickig verneinte ich das mit den Worten, dass ich plane, es für »schwere Zeiten« aufzuheben.

»Kannst du mir mal verraten, wie du mit nicht einmal eintausend Euro ein Haus kaufen wolltest?«, schrie Steffi lauthals, als wir auf den Stufen vor dem Sparkassenpalast standen und das war bei genauer Betrachtung eine durchaus berechtigte Frage. Ich hatte zwar knapp fünftausend Euro auf meinem Girokonto übrig, aber selbst zusammen reichte es nicht mal dafür, einen gebrauchten Kleinwagen zu kaufen.

Steffis Vater ermöglichte uns ein privates Darlehen, dass das benötigte Eigenkapital für die Bank abdecken sollte. Dafür musste unser Haus aber auf Steffis Namen eingeschrieben werden. Nur so zur Absicherung, wie der Herr Papa versicherte. Nicht, dass ich mich mit dem Haus unterm Arm absetzen würde, dachte er womöglich insgeheim. Obendrein sollte aber nur ich als Familienernährer das Darlehen der Bank, wie seines, monatlich bedienen. Ich habe in meinem Leben wahrlich schlauere Deals fabriziert, aber dieser war unverzeihlich. Andererseits, Unterhaltszahlungen hätten sich ähnlich verheerend auf mein Einkommen ausgewirkt, wo ich doch bald Vater werden sollte.

Schlaue Menschen behaupten, man habe immer eine Wahl. Ich hatte keine. Obendrein stand unsere Hochzeit an, für die mein restliches Erspartes draufgehen sollte. Außerdem kristallisierte sich langsam heraus, dass mein überaus geliebter Fußballverein, die Darmstädter Lilien, es in die Relegationsspiele schaffen würden. Und das bedeutete für mich letztendlich, dass das Rückspiel der beiden Aufstiegsspiele zur Zweiten Bundesliga auf den Tag vor unserer standesamtlichen Trauung fallen würde. Deshalb war ich gut beraten, ausreichend Pluspunkte bei Steffi im Vorfeld zu hamstern, denn es kam so, wie vorhergesehen.

Spielbeginn zwanzig Uhr dreißig, aber leider in Bielefeld. Das erforderte eine sorgfältige Reiseplanung von Darmstadt aus, damit ich Steffi glaubhaft versichern konnte, rechtzeitig zur Trauung zurück zu sein. Dies bedurfte nicht nur Mutes, sondern ebenso einer durchdachten Strategie. Es wurde in meinem Fall vor allem eines: kostspielig.

Ich weiß, was Frauen jetzt denken werden. Alles nur wegen eines doofen Fußballspiels und so. Aber das war etwas anderes. Etwas von größerer Bedeutung, denn es ging um das fast aussichtslose Rückspiel in der Relegation. Das Hinspiel in unserem Stadion drei Tage zuvor stellte kein Problem dar, aber eben dieses Rückspiel. Verpassen wollte ich keines der beiden. Eher hätte ich mich im nahegelegenen Woog-See ertränkt. Und so bat ich meine Freunde, den Junggesellenabschied auf den Tag des Rückspiels zu legen. Die Idee fand ich genial, zumal die sich im Zweifel etwas Dämliches hätten einfallen lassen. Sowas wie in einem Teletubby-Kostüm durch unsere Innenstadt zu laufen und lustige Trinkspielchen zu machen. Niemals hätten die mir beispielsweise eine Stripperin organisiert, die nackt aus einer Riesentorte springt, um sich anschließend auf meinem Schoß zu räkeln. Der Kniff: Über einen Junggesellenabend würde Steffi nicht meckern können, war man für die Pläne Anderer doch offensichtlich machtlos wie unwissend, was die Freunde planten.

Um Steffi weiter milde zu stimmen, lobte ich Christian in den Himmel, der mir im Verlaufe des Deals etwas zu eng mit Steffi wurde. Aber sie meinte, ich bräuchte mir bei ihm gar keine Sorgen zu machen, der interessiere sich nicht für das weibliche Geschlecht. Ich schluckte die Pille der Ungläubigkeit, verbeugte mich demütig vor ihr und fand die Auswahl der Innenwandfarben passend. Selbstredend benötigten wir dazu einen Keller, keine Frage. Zu dem Preis schien der gar geschenkt.

Zu jenem Zeitpunkt wurde mir verschwiegen, wie viel unser Baby zusätzlich zu den horrenden Lebenshaltungs und Darlehenskosten verschlingen würde. Als ich mich später einmal darüber auslassen sollte, meinte Steffi lapidar, dass ich doch gerne einmal auf meine Dauerkarte fürs Stadion verzichten könnte. Ebenso auf die kostspieligen Fahrten zu den Auswärtsspielen. Das saß! Ehrlich. Lieber hätte ich mir einen Arm abgehackt oder mir eine Niere oder die Leber herausschneiden lassen und in Rumänien vertickt.

Mein Plan mit Blick auf das Relegationsspiel am Vorabend der Trauung schien dafür brillant. Fand ich zumindest. Für mich und meine Freunde buchte ich den letztmöglichen Zug von Bielefeld zurück, um elf Uhr abends, und gegen zwei Uhr sollten wir daheim sein! Ich rechnete bis zu vier Minuten Nachspielzeit ein, Gedränge beim Rauslaufen, ebenfalls den Fußweg zur Haltestelle. Das alles sollte man in vierzig Minuten locker schaffen können. Sollte. Das verlorene 1:3 beim Hinspiel zu Hause trübte die Stimmung keinesfalls. Wir müssten drei Tore schießen. Und da wir in unserem Stadion nur eines in des Gegners Netz geballert hatten, schien die Hürde extrem hoch, aber die. Daher war davon auszugehen, dass es nichts zu Feiern gäbe. Ergo, wir locker den letzten Zug erreichen würden.

Im Grunde genommen klappte die Vorbereitung für den gefakten Junggesellenabschied spitze, quasi wie am Schnürchen. Thomas, mein alter guter Sportsfreund aus einem körperlich fitteren Lebensabschnitt, war Teil unserer Freundesgruppe und erhielt von mir klare Instruktionen, vier Tage vor dem geplanten Junggesellenabschied Steffi anzurufen. Er schien mir für diese Aufgabe der am geeignetste meiner Jungs, da er, bevor wir es überhaupt in Erwägung gezogen hatten, einmal verheiratet und geschieden war. Außerdem war er körperlich so robust, dass er nicht gleich einknicken würde, sollte Steffi losmotzen. Das Ziel war eindeutig. Er sollte ihr beibringen, dass sie mich demnächst zwecks eines Junggesellenabschieds entführen würden.

»Ihr habt wohl den Arsch offen, das ist ein Tag vor unserer Hochzeit!«, hörte ich sie nach anfänglicher Stille empört in den Hörer rufen.

Ich saß im Wohnzimmer und wusste: Das war der Anruf! Er hatte einen von mir vorgeschriebenen Text erhalten, den er nur abzulesen brauchte. Unter den jeweiligen Ansagen, die Thomas zu machen hatte, notierte ich die infrage kommenden Antworten von Steffi, damit er nicht gänzlich unvorbereitet dastand. Mein Tipp hatte gelautet: »Ihr spinnt doch völlig, das ist jetzt nicht euer Ernst!«

Ok, sie kam gleich mit dem offenen Arsch, was eine leichte Verschärfung darstellte. Als Nächstes sollte er sagen, dass sie sich dieser Verantwortung vollkommen bewusst wären und es ihnen ungemein leidtäte, es so kurzfristig arrangiert zu haben. Die Arbeit halt. Und sie würden ihr hoch und heilig schwören, mich rechtzeitig in der Nacht zurückzubringen. Wir würden eh nicht viel trinken. Zugegeben, den letzten Satz hätte ich mir sparen können. Der war riskant. Meine vorgefertigte Antwort lautete: »Ja klar, wie immer trinkt ihr nicht so viel. Fürwahr, ihr sauft trinken kann man das nicht mehr nennen.«

Aber hier lag ich vollkommen daneben. Der Zettel, den Thomas in der Hand hielt und der ihm vermutlich im nächsten Moment aus den Fingern glitt, war nicht mehr die Tinte wert.

»Thomas, du versuchst nicht ernsthaft mir das so zu verkaufen, oder? Und sage jetzt besser keinen Ton, sonst bekommen wir Streit, bevor ich mir gleich meinen Zukünftigen vorknöpfen werde. Ihr Schlaumeier meint ernsthaft, dass ihr mir das als Junggesellenabschied unterjubeln könnt? Wo ihr doch alle nach Bielefeld fahrt, um eure Lilien zu sehen?« Kurze Atempause. »Da brauchst du jetzt nicht rumzustammeln. Euer Noch-Junggeselle hat dümmlicherweise vorgestern die Bahntickets ausgedruckt und über Nacht im Drucker liegen lassen. Da habe ich mich gefragt, wann er geplant hat mir von Euren Plänen zu erzählen. So viel zum Thema Entführung!«, sprach sie in kernigem Ton.

Früher, als es keine mobilen Telefone gegeben hatte, hätte Steffi an diesem Punkt den Hörer auf die Gabel geknallt. So drückte sie nur die Auflegentaste und warf das Handteil geräuschvoll in die Schale. Jetzt saß ich da, zusammengesunken auf dem Sofa, im hintersten Eck unseres Wohnzimmers des neuen Hauses, in das wir frisch eingezogen waren. Ich wünschte mir in diesem Moment den duften Christian herbei, dass er mir mal geschwind einen Hinterausgang plant und sofort einbauen lässt. Aber wo kein Christian, da keine Tür. Und wo keine Tür, da hatte mich Steffi genau dort, wo sie mich haben wollte. In der Sofafalle. Ohne Möglichkeit zu entkommen.

Wie hatte ich nur vergessen können, die Bahntickets aus dem Drucker zu nehmen? Das war selten blöd.

Das war vermutlich der Hintergrund zum Sprichwort: »Lügen haben kurze Beine«, dachte ich für mich, als Steffi mich zur Rede stellte. Sie war nur einmeterneunundfünfzig groß. Dafür hatte sie einen langen Oberkörper. Folglich etwas kürzere Beine, die dennoch echt schnell bei mir waren. Trotzdem sah sie umwerfend aus, insbesondere wenn sie wütend war. Dann kamen die kleinen Grübchen prägnanter als beim Lachen zur Geltung, was ich normalerweise an ihr mochte. Dabei schleuderte ihr zum Pferdeschwanz gebundenes brünettes Haar peitschend von links nach rechts. Das stellte diese Art von Exzessen nicht minder sexy dar im Gegenteil. Mit ihrer ultrahippen Brille und dem erhobenen Zeigefinger hatte das etwas von einer strengen Lehrerin. Und Christian kam in jenem Moment erwartungsgemäß nicht. Es wäre seine einzige Chance gewesen, sich bei mir positiv zu verewigen.

Als sie auf mich zuschoss, waren die ersten Worte, die mir ins Gesicht schlugen, unsagbar laut. Es hörte sich an wie: Was ich denken würde, wie beschränkt sie sei, und sowas. Danach verstand ich kein Wort mehr, da sich ihre Stimme regelrecht überschlug. Daher interpretierte ich darin etwas Friedfertiges. Sowas in der Art, dass alles halb so wild wäre. Denn ich war überzeugt davon, mit dem Kauf des Hauses und meinem Kotau vor ihr sowie dem duften Architekten, mir jede Menge Vorschusslorbeeren erarbeitet zu haben.

Mir blieb keine andere Wahl, als meine Fehler einzugestehen und zustimmend zu nicken. Aber letztendlich hätte sie drohen und sagen können, was sie wollte. Sie wusste, ich würde trotzdem wegfahren, um das Spiel live zu erleben. Dabei träumte ich vor mich hin, wie wir in der siebten Minute in Führung gehen würden, während Steffi weiterhin ein Wortgeschwür nach dem anderen über mich ergoss. Ich hätte an Wortlepra erkranken müssen, aber meine Abwehrkette stand. Ihre sich überschlagende Stimme hallte so nach, dass ich erst gar nicht bemerkte, dass sie sich mittlerweile von mir abgewandt hatte. Ich fragte mich, ob ich die gesamte Zeit mit eingezogenem Pimmel dagesessen hatte, mit samt ein paar abgelassenen Angsttröpfchen. Doch es kamen kein Verbot, keine Drohungen. Steffi schien verständnisvoll und gönnte mir meine Fußballliebe, glaubte ich zumindest. In Wahrheit wollte sie sich der Schwangerschaft wegen nicht weiter aufregen. Was uns letztendlich beiden half, künftig in einer gewissen Eintracht zusammenleben zu lernen.

Vor Meinen Freunden im Zug erzählte ich logischerweise nichts von meinen Angsttröpfchen. Dafür lehnte ich mich bei der Bahnfahrt zum Spiel lässig aus dem Fenster und prahlte, wie arg verliebt ich in meine Zukünftige bin. Dass sie die Richtige für mich ist. Eine, die mich sein ließ, wie ich bin und mich nicht zu verbiegen plante. Das meinte ich sogar so. Ich war davon überzeugt, die Probleme, die ich von anderen Pärchen hörte, würden bei uns nicht aufkeimen. Sven, der mir direkt gegenüberstand, und von ähnlichen schrägen Eheverläufen wie Thomas zu berichten wusste, schüttelte nur mit dem Kopf und fragte, ob er mir das alles nicht tausendfach erklärt hätte.

»Doch, natürlich, aber der Kerl ist ja beratungsresistent!«, schallte es mir um die Ohren, als würde ich nicht anwesend sein. Woraufhin sich die anderen Mitfahrer zu Wort meldeten, wenn auch nur zustimmend mit einer Kopfbewegung. So Andreas und Harry, unsere beiden Top-Manager. Harry, tätig als Produktentwickler beim Haarmittelkonzern Wella, dem es dem Anschein nach bis heute nicht gelungen ist, ein funktionierendes Haarwuchsmittel zu erfinden. Und im gleichen Unternehmen Andreas, der Laborleiter, der all das austesten musste, was Harry so Neues erfand. Nur, dass bei Andreas die Haare, im Gegensatz zu Harry, bis weit über die Schulter wuchsen. Aber ansonsten erfreuten sich beide an ihrem derzeitigen Singledasein. Mit ziemlicher Sicherheit, zumindest in solchen Momenten. Generell weiß man sowas ja nie genau. Dafür hatten sie wesentlich mehr Kohle als ich und benötigten keinen Schwiegervater, um ein Haus über die Bank zu kaufen. Und Michael kloppte hinterher: »Das war der schon immer!« Er war in der Position sich das zu erlauben zu sagen. Als einziger von uns in einer stabilen Ehe, wusste er, wie so eine Ehe funktioniert. Obendrein hatte er das gewisse Etwas, was ebenfalls Christian ausmachte. So einer, der alles fertigbrachte und sich nebenbei vorbildlich für frierende Seehundebabys einsetzte.

Aber das ließ mich alles kalt. Ich tönte sogar während der Hinfahrt, nach dem achten Bier im Speisewagen an der kleinen Theke, dass ich mich bei Dieter Bohlens DSDS anmelden würde, im Falle des Aufstiegs. Die Hoffnung stirbt ja zuletzt.

Die Stimmung im Stadion war sensationell. Und man glaubt es kaum, aber, unsere Spieler hatten einen eigenen Plan. Sie besaßen den eisernen Willen, den Aufstieg in die Zweite Bundesliga zu meistern. Diese Mannschaft Schoss das halbe Stadion mit jedem weiteren Treffer in Ekstase. Es endete in einem Relegationskrimi, der über ein 3:1 für uns in der regulären Spielzeit in die Verlängerung ging, wir darin den unbedeutenden 3:2Anschlusstreffer fingen, aber in der Nachspielzeit das 4:2 für uns erschossen.

Es war ein Wunder geschehen! Weniger aber wunderte es, das muss man der historischen Objektivität halber so festhalten, dass nach dem Wahnsinn niemand das Bielefelder Stadion verlassen wollte – wir eingeschlossen.

So kam es nicht nur zum Aufstieg, sondern gleichzeitig zum grandiosen Zusammenbruch meiner minutiösen Heimreisepläne. Es war der Zeitpunkt einzugestehen, ich hatte, anders als der Bösewicht im Sonntags-Tatort nicht nur einen Fehler begangen, nein, ganze drei Fehler waren mir vorab unterlaufen. Und jetzt hatte sich mit dem unerwarteten Sieg der vierte Fehler eingeschlichen: Das war unverzeihlich.

Den letzten Zug aus Bielefeld hatten wir nach der großartigen Stadionfeier logischerweise verpasst. Andere Fans fuhren schlauerweise die vier Stunden mit gecharterten Bussen. Für uns, hauptsächlich für mich, bedeutete das, in banger Sorge auszuharren bis zum Morgengrauen. Angekündigte Abfahrt des ersten Morgenzugs um sechs, Ankunft um zehn Uhr. Taxi nach Hause, duschen, Anzug anziehen, zum Standesamt fahren, um elf Uhr »Ja« sagen, dazu freudig nicken. Schien mir im Freudentaumel machbar – und war es dennoch nicht.

An einem Bahnhof zu stehen, um festzustellen, dass es generell an Rückfahrt-Alternativen mangelt, war schwer zu verdauen. Von jedem Bielefelder, der vorbeilief, angepöbelt zu werden, war dagegen nichts. Unsere ratlosen Blicke glichen in diesem Moment mehr jenen der gegnerischen Fans im Stadion nach dem Abpfiff. Niemand sagte einen Ton, bis ich vorschlug, erstmal ein paar Bier zu holen, bevor ich Steffi anrufen würde. Alle stimmten zu, woraufhin wir mit hängenden Köpfen einige Straßen bis zur nächsten Tankstelle schlichen, zwei Sixpacks kauften und auf der Stelle austranken. Dann rief ich sie an. Dieses Mal wollte ich Thomas nicht vorschicken. Ich schaute ihn zwar kurz hilfesuchend an, doch er guckte verzweifelt woandershin, wissend, was mich erwarten würde.

»Hallo mein Schatz!«, jauchzte ich leicht überschwänglich in mein Handy, nachdem sie sich gleich nach dem ersten Klingeln meldete.

»Ist der Zug pünktlich?«

»Steffi, Mensch, wir sind aufgestiegen – unfassbar, oder?« Ich unternahm den Versuch, ihrer Frage auszuweichen.

»Aha!«

»Wie? Mehr hast du nicht dazu zu sagen?«

»Okay, toll, freut mich für euch! Und was bedeutet das jetzt?«, fragte sie und gab mir unmissverständlich zu verstehen, dass sie der Aufstieg wenig interessierte.

»Nun ja, dass wir nächste Saison in der Zweiten Bundesliga spielen!«, dabei erhob ich nochmals die Stimme, um meine Euphorie mit ihr zu teilen.

»Ich meinte mit Bedeutung so etwas wie, dass die Auswärtsspiele zukünftig weiter weg sein könnten? Aber bitte, kannst du jetzt meine Frage beantworten, ob du pünktlich ankommst?«

Das war das Blöde mit Steffi. Sie hatte ein untrügbares Gefühl für die Schwachpunkte.

»Ja, also, weißt du, es gab ja Verlängerung, und dann haben wir noch in der Nachspielzeit das Ding gedreht, und dann …«, weiter kam ich nicht.

»Verdammt nochmal, Philip wann kommst du an?«, schrie sie in den Hörer.

»Tja, ähm, sofern alles problemlos läuft, ungefähr …«

Erneut unterbrach sie mich.

»Vergiss es, ich will deine Ausreden nicht mehr hören. Um zehn Uhr fahren wir zu Hause los, ohne Wenn und Aber!«

»Warum schon um zehn? Die Trauung beginnt um elf Uhr. Wir benötigen nur eine knappe Viertelstunde zum Standesamt.«

»Philip, wie du weißt, müssen wir davor das Blumenband fürs Auto beim Floristen abholen.«

»Was für ein Blumenband? Davon weiß ich nichts, steht das wieder im Kalender?«

Der Antwort vorweg ließ Steffi ein gereiztes Atemgeräusch erklingen.

»Ich hatte dich vor zwei Wochen gefragt, ob wir unseren Wagen mit Blumen schmücken wollen. Du saßt auf dem Sofa und warst einverstanden. Warum sollte ich das in den Kalender schreiben ist doch kein Familienevent?«

»Wenn ich auf dem Sofa gesessen habe, dann um Fußball zu schauen. Da rede ich nicht.«

»Philip, du hast genickt! Und jetzt sage mir, wo du momentan steckst?«

Da war sie wieder, ihre kommunikative Masche. Scharfe Anrede mit Vornamen, dann die Frage, welche ich kurz zuvor hatte verdrängen wollen, in leicht abgeänderter Form.

»Ich nicke jedes Mal, wenn ich Fußball sehe das nutzt du aus. Und: Ich steh in Bielefeld an irgendeiner Tankstelle rum!«, rief ich trotzig, sodass es ebenfalls die Menschen an der hintersten Zapfsäule mitbekamen.

»Zehn Uhr!«, sagte sie mit prägnantem Ton, bevor sie auflegte. Das war unmissverständlich.

Ich sah die Jungs an, die im Halbkreis vor mir standen. Andreas meinte spontan, dass es offenbar recht gut gelaufen sei. Ich konnte seine Meinung aus irgendeinem Grund nicht teilen. Für mich fühlte es sich an, als hätte sich aus dem Telefon eine Kugel auf den Weg in meinen Schädel gemacht. Thomas sah betreten zur Seite, bevor er mit einem Satz zum Pinkeln ins Gebüsch verschwand. Er hatte ja bereits Erfahrung in Sachen telefonischer Abfuhr. Harry scannte derweil verlegen den Boden, als suche er seinen Hund Woody, der nicht dabei war. Dazu raufte er sich die Haare, obwohl kaum mehr welche vorhanden waren. Mein Gebrauchtwagenhändler-Freund Sven, der sich erstmal seinen Vollbart entlauste, tat zumindest etwas Vernünftiges und lief in die Tanke zum Bier holen. Und Michael hatte hoffentlich aus Mitgefühl ebenso einen Schweißschleier auf der Stirn wie ich.

Die aussichtslose Lage war jedem bewusst. Ich würde es niemals bis um zehn packen. Andreas behauptete, die Comicfigur The Flash könnte es. Daraufhin entstand eine kurze sinnlose Diskussion in der Runde. Darüber, welcher Superheld außerdem in der Lage sei, innerhalb von fünf Minuten vom Bahnhof vier Kilometer nach Hause zu flitzen, zu duschen und sich in einen Anzug zu werfen.

Plötzlich fuhr der Mannschaftsbus in die Tankstelle ein. Wir erstarrten zu Salzsäulen, als die Spieler singend ausstiegen und die Tankstelle in Beschlag nahmen, um flüssigen Proviant für die Rückfahrt einzukaufen. Jeder der Spieler begrüßte uns der Trikots wegen. Wir bekamen nur ein »Glückwunsch« über die Lippen. Außer Michael, der war verschwunden. Dann standen die Spieler Hanno und Toni Arm in Arm vor uns, meinten, dass wir uns mit der Heimfahrt beeilen sollten. Im heimischen Stadion würde in ein paar Stunden eine Party starten. Wir nickten fleißig, ohne Reaktion, da sie mit Sicherheit davon ausgingen, dass wir mit dem Auto unterwegs waren. Ergab ja Sinn. Als Fußgänger hat man an Tankstellen wenig rumzuhängen. Dann tauchten die wieder im Getümmel ab, dafür Michael auf. Im Schlepptau den Vereinspräsidenten.

»Servus Jungs, euer Freund hat mir von eurem Schicksal erzählt. Wer von euch ist Philip?«

Ich hob zaghaft meine Hand in die Höhe.

»Freut mich, dass du morgen heiraten wirst. Da wir nicht der Grund dafür sein wollen, dass du deine Hochzeit verpasst, möchten wir euch im Bus mit zurücknehmen. Das Problem ist, dass wir nur noch zwei freie Sitzplätze haben. Also aus versicherungstechnischer Sicht müssten wir eigentlich passen. Da aber eh alle Mannen im Bus rumhüpfen, merkt das wohl niemand. Der Busfahrer hat sein Okay gegeben ausnahmsweise. Hoffen wir also auf ´ne unfallfreie Fahrt. Nur eins, deckt euch bitte vor Ort mit Getränken ein.«

Michael stand mit einem Grinsen bis zu beiden Ohren da.

»Genial, oder?«

Dafür drückte ich ihm mein restliches Geld in die Hand und stieg in den Bus ein. Sollten die sich um Bier kümmern. Beim Einsteigen fragte ich den Busfahrer, wann wir ankommen würden. Er meinte, das hinge davon ab.

»Verkehr, nachts nach ein Uhr?«

»Nein, du Schwarzfahrer, von der Häufigkeit der Pinkelpausen!«

Fein, jetzt war ich beruhigt. Der einzige Nüchterne in dem Bus gab mir blöde Antworten. Harry, der direkt hinter mir einstieg, kombinierte und rechnete munter vor sich hin und tippte auf eine Ankunftszeit so gegen sechs Uhr morgens.

»Harry, echt? Um sechs?«

»Schätze ich. Es wird sicher die eine oder andere Pinkelpause geben, sagte doch auch der Busfahrer. Es ist jetzt nach ein Uhr, wir haben vier Stunden Fahrt vor uns.«

Entspannt und zufrieden lehnte ich mich auf einem der freien Sitzplätze zurück, zuversichtlich, dass ich das jetzt locker schaffen könnte. Und überzeugt davon, dass auf Pech Glück folgt. Weil Steffi nichts mitbekommen würde, da ich längst neben ihr liegen würde, bevor ihr Wecker klingelte.

Dachte ich. Bis der Bus losfuhr und der Präsident über das Mikrofon preisgab, dass man mit mir, Andreas, Thomas, Harry, Sven und Michael nicht nur den Aufstieg, sondern gleichzeitig meinen Junggesellenabschied feiern wolle. Der Bus grölte wie verrückt. Letztendlich klopfte jeder der Spieler mir mit beileidsbekundender Miene auf die Schulter. Vorwiegend herzlich Elton da Costa, als wüsste er, in welches Drama er mich mit seinem letzten Tor geschossen hatte. Ergänzend fügte der Redner am Mikro hinzu, dass die Stadt für morgen gegen zwölf Uhr die Meisterschaftsfeier auf dem Karolinenplatz vorbereiten würde, mit allem Drum und Dran. Daraufhin musste ich die auf mich zutreffenden, vorwurfsvollen Blicke meiner Freunde schlucken.

Es dauerte keine zehn Minuten, bis ich im Gang tanzte und mitsang. Die Ausgelassenheit im Bus steckte jeden von uns an. Sogar Michael und Harry hüpften munter mit.

Acht Pinkelpausen und drei Tankstellenstopps später erreichten wir letztendlich um dreiviertel sieben das Heimstadion. Dort empfing die halbe Stadt die Mannschaft mit Feuerwerk sowie ausgelassenem Jubel. Thomas erzählte mir später einmal, ich hätte nach dem Aussteigen irgendwelchen Fans Autogramme mit einem fetten Edding-Stift gegeben. Danach nahm das Feiern seinen Lauf.

Wie sensationell dieses Spiel, die Rückfahrt und Ankunft mit Party am Morgen war, konnte ich nur daran bemessen, dass es zwischenzeitlich hell wurde. Doch für mein Gefühl lief weiterhin alles nach Plan.

Bis ich auf Zehenspitzen in unser neues Reihenmittelhaus schlich und Steffi weinend in Hochzeitsmontur am Frühstückstisch vorfand. Da bemerkte ich, dass entweder sie zu früh oder ich zu spät war. Ich holte tief Luft, um zu fragen, warum sie so früh wach sei. Verkniff es mir dann glücklicherweise. Die Uhr an der Wand konnte ich nur schwer entziffern, sah nur, dass der kleine Zeiger die Neun passiert hatte.

»Es ist zwanzig vor zehn, du Arschloch! Und du kommst jetzt im Lilientrikot nach Hause? Wehe dir, dass du außerdem gesoffen hast. Ich setze mich heute nicht hinters Steuer das ist dein Part, mich zu fahren! Du hast noch eine Viertelstunde!«

Ich weiß nicht mehr, ob sie das im sanften Ton sagte. Vermutlich kaum. Trotzdem war ich in dem Moment total nüchtern und rannte los – wie Flash.

Es ist wahnsinnig, was ein Adrenalinschock mit einem betrunkenen Menschen anrichten kann. Das ist Wiederbelebung à la Elektroschocker. Mir gelang alles in den verbleibenden fünfzehn Minuten, ausgenommen mich zu rasieren. Das hätte blutig geendet in diesem Zustand. Dafür gurgelte ich fast eine ganze Flasche Listerine, was mir nach außen hin atemtechnisch erstmal gut stand. Einiges davon schluckte ich dennoch hinunter. Dass ich obendrein zig Kilometer rannte, hatte ich Christian zu verdanken. Da er das Badezimmer im Obergeschoss eingeplant hatte und das Ankleidezimmer im Keller. Zumindest nur für den Hausherrn, oben gab es nur Platz für Steffis Garderobe.

Als ich zurück in die Küche kam und wie frisch gebügelt dastand, zumindest für mein Empfinden, sah ich auf dem Küchentisch neben einer Packung Kleenex und zwanzig zusammengeknüllten Weichpapierkugeln eine geöffnete Flasche Champagner stehen. Ich erkannte, dass Steffi davon maximal ein Glas getrunken haben konnte. Dann tippte sie mir von hinten auf die Schulter, sagte, dass sie angesichts der Umstände das hätte trinken wollen. Und ich sei jetzt der Allerletzte, der sie in puncto Schwangerschaft belehren müsse. Sie würde im Auto warten.

»Minus drei«. Was für die Minuten stand, die mir blieben, es bis ins Auto zu schaffen. Ich starrte dreißig weitere Sekunden auf den prickelnden Schampus, bevor ich ihn mir schnappte. Dabei lief ich ans Küchenfenster und überprüfte, ob sie tatsächlich im Auto saß. Minus zwei. Beim Schuhe Anziehen spürte ich, etwas vergessen zu haben. Doch dann wurde mir übel und ich sprang zurück in die Küche ans Waschbecken und kotzte einen derben Strahl gemischt aus Bier, Listerine und Champagner hinein. Minus eins. Nahm das einundzwanzigste Kleenex, um mir den Mund abzuwischen. Danach fühlte ich mich innen wie außen gereinigt. Bei minus dreißig Sekunden rannte ich folglich hinaus, überholte dabei Usain Bolt, der blöd guckte, stieg zur Fahrerseite ein und ließ den Motor an. Zehn Uhr zeigte die digitale Anzeige am Armaturenbrett.

»Und jetzt biste sprachlos, oder?«

»Fahr einfach los, Philip, ich will mich nicht mehr aufregen müssen. Mein Bauch tut weh und du kostest mich meine letzten Nerven.«

Es war kaum zu glauben, wie gelassen sie das zu mir sagte. Ich wollte die Chance nutzen und Pluspunkte sammeln, um aus dem Minus rauszukommen. Sogleich fuhr ich los, doch zwei Straßenecken weiter war es schon wieder vorbei mit der Herrlichkeit.

»Wo zur Hölle fährst du hin?«

»Na zum Standesamt, warum?«

»Philip, ich habe dir gestern am Telefon gesagt, dass wir zuerst zum Blumenladen müssen, um das Blumenband fürs Auto abzuholen. Kannst du dir nicht einmal das merken, was ich dir sage?«, motzte sie mit veränderter Stimmlage.

Mir war im Stillen bewusst, das ich es mir hätte verkneifen sollen, doch es platzte aus mir heraus. Ich konnte mich aufgrund der Abtötung sämtlicher Gehirnzellen nur vage an ein Telefongespräch erinnern.

»Was für ein Blumenband?«

Steffi schaute mich an. Das letzte Mal, dass ich solche rot leuchtenden Augen gesehen hatte, war bei Christopher Reeve im allerersten Supermanfilm. Damals, mit zehn, war ich begeistert, wie er mit diesem Augenstrahl Gegenstände zu sprengen in der Lage war. Steffis Blick traf ebenso hart auf meine Stirn. Doch da war nichts zu zerstören. Es lag eh alles in Scherben.

»Dreh um, fahr zum Blumen-Schulz zurück und sage jetzt keinen Ton mehr, außer das Jawort heute! Wobei ich echt am überlegen bin, alles abzublasen!«

Unter Blumenband verstand ich die Dinger, die man bei der Einreise nach Hawaii von den bauchfrei bekleideten hübschen Mädels um den Hals gehängt bekommt. Das, was Frau Schulz uns ans Auto brachte, hätte Godzilla problemlos zu Gesicht gestanden bei seiner Ankunft auf der Insel. Bei der Übergabe sagte sie mir, ich solle die beiden Schnüre jeweils an den Außenspiegeln befestigen. So, dass die Blumen mittig am unteren Ende der Windschutzscheibe auflägen. Steffi blieb derweil im Wagen sitzen und beobachtete mich, wie ich mit den dünnen Seilchen hantierte. Da ich niemals zur See gegangen war, konnte ich lediglich auf meine Kenntnisse des Schuhebindens zurückgreifen. Erfolgreich strahlte ich Steffi angesichts meiner akkuraten Schleifen durch die Windschutzscheibe an. Sie gestikulierte, dass ich drinnen bezahlen müsse, und tippte dazu auf ihre Uhr. Das verstand ich, ausnahmsweise.

»Macht hundertachtzig Euro, Herr Philips!« Ja, meine Eltern, die Eheleute Philips, hatten mir den witzigen Vornamen Philip gegeben. Dankenswerterweise ohne »s« am Ende. Sie müssen das lustig gefunden haben. Ich hatte in diesem Moment allerdings keine Zeit, mich darüber einmal mehr zu ärgern.

»Wasss? Sie meinen wohl achtzehn Euro?«

»Nein, das war mit Ihrer Frau vereinbart.«

»Aber das kann doch nicht Ihr Ernst sein?«, schrie ich aufgeregt.

»Also, wenn er Ihnen nicht gefällt, dann muss ich ihn wieder abhängen. Dann kostet es Sie nur die Hälfte, der Reklamation wegen.«

Ich zitterte, sie hatte mich matt gesetzt.

»Das ist Erpressung!« Dabei tastete ich meine Hosentaschen nach meinem Portmonee ab. Mir fuhr es eiskalt den Rücken entlang. Das war es, was ich zu Hause vergessen hatte. Ich sah die Verkäuferin hilfesuchend mit exorbitanten Kulleraugen an, schaute wie ein Gremlin, bevor man ihn mit Wasser bespritzte oder nach Mitternacht zu Essen gab. Zwecklos.

»Nein, Herr Philips, anschreiben können wir auf keinen Fall. Aber Sie haben die Innenseite Ihres Sakkos noch nicht durchsucht.«

Vom Antichristen mauserte sie sich zum Samariter. Und tatsächlich, da war es.

»Danke trotzdem ist es Wucher!«

Und löst sich ein Problem, kommt das nächste. Ich hatte vierhundert Euro eingesteckt, für die anschließende Hochzeitsfeier im engeren Familien und Freundeskreis. Das Buffet war vorab bezahlt, mein Bares sollte für die Getränke genügen. Mehr war ich nicht in der Lage aufzubringen, die Kredite mussten bedient werden. Als ich aus dem Laden ging, blickte ich ärgerlich zurück.

»Und außerdem, das ist noch nicht meine Frau!«

Auf dem Weg zum Auto überlegte ich, wie ich die Hochzeitsgäste dazu bekommen könnte, halb so viel zu trinken, wie ich eingeplant hatte. Was zweifelsfrei knapp kalkuliert gewesen war. Daher versuchte ich mich in Sicherheit zu wiegen, indem ich mir vorrechnete, dass meine besten Freunde spätestens um vierzehn Uhr die Fliege machen würden. Denn ohne jeden Zweifel würden sie beim Mannschaftsempfang mit Aufstiegsfeier am Karolinenplatz dabei sein wollen. Da genau diese Fraktion die heftigsten Trinker umfasste, könnte ich mit den zweihundert Euro auskommen, hoffte ich.

»Was hast du so lange gemacht und warum hast du so wild rumgestikuliert?«

»Ach nix, ich hatte ihr nur gesagt, dass die Blumen wunderschön seien und jeden Pfennig wert. Ich meine, stell dir vor, die hätten vierhundert Euro dafür verlangt, da hätte ich getobt. Aber so, so war das ja echt günstig.«

»Ja, finde ich auch. Die Idee kam von Christian.«

In diesem Moment würgte ich den Wagen ab. Mir wurde einmal mehr klar, dass die beiden die komplette Bodenhaftung verloren hatten. Musste mich aber auf die Straße konzentrieren.

Bevor wir auf die Schnellstraße einbogen, bat Steffi mich, doch etwas flotter zu fahren, da es kurz vor halb elf sei. Wir hatten zwar nur weitere zehn Minuten Wegstrecke vor uns und waren daher im grünen Bereich, dennoch wollte ich keinen Streit und gab Gas. Einhundert waren erlaubt. Plötzlich fragte sie mich, ob ich mir die Zähne geputzt hätte. Ich ließ nicht vom Gaspedal ab, fragte sie, wie sie drauf käme.

»Weil du die ganze Zeit schon einen säuerlichen Atem hast. Kau mal ein Kaugummi.« Ich kommentierte das anfangs nicht, aber steckte mir heimlich ein blaues Fisherman´s Friend in den Mund. Dabei dachte ich nur, dass ich trotz großer Feier am Vortag und durchwachter Nacht bei weitem nicht zu erschöpft bin für diesen Tag.

Bei dem zügigen Tempo war es faszinierend anzusehen, wie die kleinen Blüten munter vor sich hin zappelten. Bei 123 Stundenkilometer fragte Steffi mich, ob es womöglich schlauer sei, etwas vom Gas zu gehen. Das überhörte ich absichtlich, da ich damit beschäftigt war, mein Bonbon zu zerkauen.

»Natürlich habe ich mir die Zähne geputzt, aber wenn du meinst, gib mir halt ´nen Kaugummi«, platzte es aus mir heraus, was nicht gelogen war. Steffi schaute mich trotzdem skeptisch an. Ich passierte die Hundertdreißiger Marke des Tachometers, als Godzilla sich anschickte, seinen Kopf zu erheben. Das Halsband, gehalten von zwei dünnen Schnüren, lag jetzt mittig auf der Frontscheibe, ich konnte vor mir nichts mehr sehen. Steffi schrie irgendetwas, wovon ich lediglich das Wort »Langsamer!« wahrnahm, dabei die Tachonadel auf hundertfünfunddreißig zuging. Ehrlich, ich wollte just in dem Augenblick reagieren, da machte es flutsch und ich hatte wieder freie Sicht. Steffi schrie jetzt wesentlich lauter, während ich im Rückspiegel beobachtete, wie meine einhundertachtzig Euro in Form von Blüten über die B3 fetzten und die uns folgenden Autos erfolgreich ausweichen konnten. Mein persönlicher Godzilla wurde plötzlich überdimensional gnatzig angesichts der Tatsache, dass er soeben seine Halskette verloren hatte.

»Ich hatte gesagt, etwas schneller! Sonst kriechst du doch auch mit achtzig über die Straßen!«, wobei die überlaute Betonung auf »etwas«, lag.

Sie fing an zu heulen und hielt sich den dicken Babybauch, als drohe er in den Fußraum des Wagens zu fallen. Sie wimmerte und jammerte, dass sie das alles nicht glauben könne und erst recht nicht verdient hätte. Für meinen Teil galt das ebenso, aber das sagte ich nicht. War das doch die Hälfte meiner Dauerkarte für die nächste Saison, über die gleich Hunderte Autos rollten. Ich versuchte, Steffi zu trösten. Wortlos streichelte ich ihren Oberschenkel und sagte, dass es mir ehrlich leidtäte. Das half nur bedingt, denn sie glaubte mir ohnehin kein Wort. Dann schaute sie in den Schminkspiegel und bekam einen erneuten Weinkrampf. Wie sie jetzt aussehe, mit diesen verquollenen Augen und verlaufener Schminke.

»Wie Alice Cooper!«, sagte ich, um sie aufzuheitern. Glücklicherweise kannte sie ihn nicht. Im Ernst, das war alles Christians Schuld. Sprach ich logischerweise nicht aus, sondern bog in die Zielgerade ein, wie die freundliche Frau aus dem Navi mir zuhauchte, welche Steffi programmiert haben musste.

Wie Steffi korrekt vermutet hatte, kamen wir als Letzte am Standesamt an. Selbst die Bielefelder Reisegruppe stand schon gestriegelt im Trausaal, aufgereiht und vorsichtshalber an die Wand angelehnt, da kein Sitzplatz mehr frei gewesen war, meinte Michael. Bei ihrem Anblick überfiel mich die Frage, ob ich womöglich ein ähnlich aufgequollenes Gesicht hatte. Doch nirgends ein Spiegel weit und breit.

Als Erstes kam der Standesbeamte zur Begrüßung zu uns. Es war minus fünfzehn, wie Steffi sich auszudrücken pflegte, und es waren deutlich mehr Gäste da, als ich und mein Kontostand es erwartet hatten. Zur Not müsste ich wohl oder übel den Keller verkaufen, dachte ich mir. Auf dem Weg in die erste Reihe wurde nur Steffi aufgrund ihres supertollen und duften Hochzeitskleids gelobt. Wie traumhaft schön sie darin aussehe und sonstiges Geschmeichel. Das war der Zeitpunkt, als mir ihre Hülle erstmals auffiel. Steffi erzählte mir nur, dass es eine Spezialanfertigung sei, die unauffällig den Babybauch umspielte. Da hatte die Schneiderin für schlappe achthundert Euro Aufpreis etwas Wunderschönes geschaffen. Daran erinnerte ich mich in jenem Moment. Bedankte mich in Gedanken bei Steffis gläubigem Vater, der auf einer Hochzeit vor der Geburt bestanden hatte, weil das in seiner Familie so Tradition sei. Naja, und Steffi drängte mich ja ebenso, nur liebevoller.

Zu allem Überfluss stand dort obendrein der Christian-Dufte im Weg, um sie abzufangen. Küsschen links, rechts, links. Es folgten ausgiebige Lobpreisungen, wie umwerfend sie doch aussehen würde. Wonach ich an der Reihe war, die Kusssalve über mich ergehen zu lassen. Um Steffi nicht weiter zu verärgern, wich ich keinen Millimeter zurück, wenngleich mir ein Rückzug angesichts der Übergriffe geboten schien. Den Typ neben Christian hatte ich zuvor nie gesehen, obwohl er mir bekannt vorkam. Vorstellen wollte uns Steffi später, murmelte sie. Woher der Steffi kannte und sie ebenso herzlich begrüßte, wusste ich nicht.

In der ersten Reihe standen unsere Trauzeugen parat. Steffis Vater Klaus, der in seinem zu großen schwarzen Anzug versank. In der rechten Hand hielt er verkrampft seine Handbibel und in der linken sein Stofftaschentuch. Mein Trauzeuge Andreas stand ähnlich steif da. Aber aus anderem Grunde, wie mir schien. Und so hoffte nicht nur ich, dass die Sache hier schnellstens beendet sein würde. Eine Reihe dahinter saßen meine Eltern und zwischen ihnen mein Opa Karl. Sie gaben Daumenhoch-Handzeichen, offensichtlich um mir Mut zuzusprechen. Opa dagegen drehte den Daumen nach unten und lachte dabei.

Er hatte immer eine Vorahnung, was Frauen anging. Er war der Einzige damals, der mich über meine erste und letzte große Liebe, vor Steffi, hinwegtrösten konnte. Seine Lösung bestand darin, jedes Wochenende ein Fußballspiel der Lilien zu sehen. Egal in welcher Liga sie spielten, es sei weitaus besser, als zu Hause bei der Frau zu sitzen. Und wenn man keine hätte, dann erst recht, erklärte er mir in meinem sechzehnten Lebensjahr. Das Jahr, in dem meine Jugendliebe Claudia, wegen des französischen Austauschschülers Térence mit mir Schluss machte. Der Typ, den meine Eltern bei uns zu Hause aufgenommen hatten, damit ich etwas französisch lernen könnte, wie sie hofften. Es stellte sich heraus, dass er das vornehmlich Claudia beigebracht hatte. Heute noch höre ich gerne die Nachrichten, dass mal wieder jemand von einem Blitz getroffen wurde.

Als wir letztendlich in der vordersten Reihe ankamen, erkannte ich an Andreas wehleidigem Blick, dass er mir etwas mitteilen wollte. »Philip, tut mir echt leid, aber ich schaff das nicht. Ich bin noch sternhagelvoll und habe das Gefühl, dass ich gleich über den Altar brechen muss«.

»Andreas, das ist doch hier keine Essenseinladung, die du kurzfristig absagen kannst, weil es dir nicht gut geht! Und außerdem sind wir hier nicht in der Kirche, das ist kein Altar, sondern einfach nur ein alter Tisch!«

In dem Moment fragte mich Steffi, was los sei und ob ich die scheußliche Vase auf dem Trautisch gesehen hätte, die sie gänzlichst unpassend für den Anlass finden würde.

»Da hörst du es Andi, das nennt man einen Trautisch. Kommt von: trau dich!« Ich versuchte, ein wenig Humor in die verfahrene Sache zu bringen.

»Mir egal, Philip, es geht nicht! Ich breche gleich zusammen. Weißt du, wie viel Bier ich in mich hineingeschüttet habe bis heute früh? Bin nach Hause gekommen und habe eine halbe Stunde unter der kalten Dusche gestanden, nur um danach festzustellen, dass ich noch genauso blau bin wie vorher.«

»Ja und, meinst du, mir geht es besser? Wir waren doch die gesamte Nacht zusammen. Du kannst mich doch jetzt nicht im Stich lassen!«

»Es war deine beschissene Reiseplanung, Philip. Ich kann dir nur sagen, wenn ich hier noch länger stehe, passiert ein Unglück!«

»Und was soll ich jetzt deiner Meinung nach machen, mir noch in Windeseile einen Trauzeugen bei Amazon bestellen?«

»Ich habe die Jungs gefragt, die fühlen sich alle genauso elend. Von denen will ebenfalls keiner. Dafür habe ich Sven angerufen, der ging aber nicht ans Telefon.«

Mit zornigem Blick sah ich hinüber zu Thomas und Michael an der Wand, von denen jeder in diesem Moment einmal wieder verlegen in sämtliche Himmelsrichtungen schaute.

»Was ist mit Harry, den sehe ich nicht?«

»Genau, ich soll dir ausrichten, dass er dringend in die Firma wegen einer kurzfristig einberufenen Managementkonferenz musste, er bittet um Verständnis. Zum Glück haben die mich nicht auch noch reinbeordert. Daher sollten wir Woody mitnehmen, um auf ihn aufzupassen.«

Entsetzt sah ich ihn wahrhaftig zwischen Michael und Thomas sitzen. Sein schwarzes Fell glänzte prachtvoll. Er war der Einzige in der Reihe, der mich mit treuem Blick ansah, aber ebenso nervös wirkte. Wäre Harry anwesend, hätte ich ihn gefragt. Er hätte niemals abgelehnt. Seinen Hund schätzte ich kurzerhand ähnlich ein. Doch was würde Steffi sagen, wenn Woody mein Trauzeuge würde? Er müsste ja nur neben mir sitzen. Es könnte maximal an der Unterschrift scheitern. Dennoch verwarf ich die Idee.

»Oh Mann, das passt zu dem Tag. Dann musst du jetzt hier sitzen bleiben, bis sich irgendwer freiwillig meldet!«

»Wir können doch auch noch etwas warten, Sven kommt bestimmt wie immer etwas später, kennst ihn doch!«

»Sag mal, hast du sie noch alle? Soll ich hier eine Ansage machen, dass sich der Beginn der Theatervorstellung etwas nach hinten verschiebt, weil noch nicht alle Statisten da sind? Alter, wir haben hier ein Dreißig-Minuten-Zeitfenster, danach kommen die nächsten Heiratswütigen. Das geht hier zu wie im Taubenschlag.« Ich holte tief Luft und versuchte, meinen Puls zu bändigen, um in leisem Ton zu sprechen: »Andreas, bitte, setz dich jetzt hier hin und beiße die Zähne zusammen. Du musst ja nix machen, außer …«

Schon wieder unterbrach Steffi mich. Zischte wie eine Schlange, was um Herrgottswillen bei uns los sei und wir uns gefälligst hinsetzen sollten, da sich der Standesbeamte mittlerweile mehrmals geräuspert habe.

»Schon gut, ich sitze ja schon, was muss ich jetzt nochmal machen?«, fragte Andreas nach.

»Mir einfach nur die Ringe geben, wenn der da vorne dazu auffordert das hatten wir bereits letzte Woche besprochen!«

Ich hatte den Satz kaum ausgesprochen, da überfiel mich eine fürchterliche Ahnung. Eine Gänsehaut machte sich von den Zehen bis zum Haaransatz breit. Gleichzeitig rannte mir ein Wasserfall aus kaltem Schweiß in den Nacken und bis in die Poritze hinunter. Andreas‘ Frage, dass ich sie ihm dann jetzt geben solle, nahm ich nur beiläufig wahr. Denn da wusste ich, was ich in Wirklichkeit zu Hause vergessen hatte. Die Trauringe lagen dort auf dem Lilien-Fanregal, vor dem ich jeden Morgen die Vereinshymne sang. Nur nicht an diesem.

Der Standesbeamte trug seine vorbereitete Rede vor, die unvernommen durch meine Gehörgänge waberte. Ich fragte mich, wie ich aus dieser Nummer heil herauskommen sollte. Niemals, das wurde mir bewusst. Trotzdem suchte ich krampfhaft nach Möglichkeiten. Ein plötzliches Erdbeben schien die Lösung, dann müssten wir schleunigst das Gebäude verlassen. Oder der Beamte erlitt einen Herzinfarkt, was mir angesichts seiner Körperfülle am wahrscheinlichsten erschien. Ich sah jetzt die Vase auf dem Trautisch. Ein Apfelweinbembel mit Blumen darin. Das fand ich originell und überragend.

Andreas schubste mich fortlaufend und flüsterte, ich solle ihm die Ringe geben. Ich raunte schamrot und schweißglänzend zurück, dass ich sie zu Hause vergessen habe.

»Siehst du, das ist noch so ein Grund, warum sich hier niemand hinsetzen wollte. Weil in deiner Gegenwart immer etwas Peinliches passiert. Und was machen wir jetzt?«

»Keine Ahnung, schick Sven ´ne SMS, dass er sie auf dem Weg hierher holen soll. Ein Ersatzhaustürschlüssel liegt unter der Fußmatte!«

Zum Glück schluchzte mein zukünftiger Schwiegervater Klaus seit der ersten Minute vor sich hin, was unser Geflüster mehr oder minder übertönte. Es war, wie es war: Schwiegerväter kann man sich nicht aussuchen. Aber Schwiegersöhne natürlich ebensowenig. Klaus war von Beginn an kein großer Fan von mir gewesen. Warum, das verstand ich erst, nachdem ich selber Vater wurde. Womöglich lag es daran, dass Klaus der Meinung war, mein Beruf sei zu wenig zukunftssicher, um eine Familie zu gründen, geschweige denn zu ernähren. Ich sollte mich weiterbilden und mir ein zweites Standbein schaffen, riet er mir ständig. Aber meine Güte, ich arbeitete schon zwanzig Jahre in der gleichen Firma. Von der Lehre an. Ich war unkündbar dachte ich.

Hans Heuser, der Standesbeamte, erzählte etwas aus unseren Lebensläufen, als ein lautes Piepen hinter uns ertönte. Alle in der ersten Reihe drehten sich um, und da saß Sven in der zweiten Reihe. Der musste vermutlich unter den ersten Gästen gewesen sein. Bemerkt hatte ich ihn vorher nicht. Steffi motzte ihn sofort an, während er Andreas fragte, wie er das denn jetzt anstellen solle. Hans unterbrach seine Rede und Sven erklärte Steffi achselzuckend, dass Andreas ihm eine SMS gesendet hätte. Steffi fauchte daraufhin Andreas an. Und ich gab ihr Rückendeckung.

»Also echt, Andi, du kannst doch jetzt nicht simsen!«

Er zeigte mir seinen Mittelfinger und presste zwischen seinen Lippen hervor, dass die Bombe eh gleich hochgehen würde und er es kaum erwarten könne.

Vor meinen Augen lief ein unangenehmer Film ab. Ich schaute Steffi an, wie sie einen kleinen Fächer aus ihrer Handtasche holte und sich Frischluft zuwedelte und mit der anderen Hand ihren Bauch hielt, der dem Anschein nach weiterhin schmerzte. Nicht ausgeschlossen, dass das Kleid doch mies geschneidert worden war und ich auf Schadenersatz klagen konnte, schoss es mir durch den Kopf. Logischerweise erst nach der Hochzeit.

Dann schaute sie mich an. Ebenso Klaus, der Beamte und all die anderen im Saal.

»Herr Philips? Ich habe gefragt, ob Sie die zu Ihrer Linken sitzende Stefanie Bärzel zu Ihrer rechtmäßig angetrauten Ehefrau nehmen möchten? Wenn ja, dann antworten Sie bitte mit: Ja, ich will!«

Das Einzige, was ich wollte, war hier rauszukommen. Steffis Miene verfinsterte sich mit jeder verstreichenden Sekunde weiter.

»Hm, ja natürlich, also, sicherlich möchte ich, ganz klar!«

Steffis Gesichtszüge entspannten sich. Der Standesbeamte stellte ihr dieselbe Frage. Jetzt wurde es für mich spannend. Ob sie es sich nach dem vorangegangenen Chaos anders überlegt haben könnte? Ich drehte meinen Kopf kurz zu Sven zurück, der wiederum in die Reihe hinter ihm schaute. Dann sah ich, dass man sein Handy von den Reihen dahinter nach vorne zu ihm zurückreichte. Wie konnte er das nur machen, fragte ich mich. Das war doch nicht witzig? Jeder, der die SMS las, schüttelte den Kopf. Meine Eltern wie alle anderen schienen fassungslos. Außer Opa Karl, der hielt ein kurzes Mittagsschläfchen an der Schulter seines Sohnes. Den Jungs an der Wand waren mittlerweile die Augen zugefallen. Einzig Ulli lachte. Sie wusste, dass in wenigen Minuten ihr Klausi mit der Handbibel auf dem Boden zusammenbrechen würde. Ulli war, im Gegensatz zu ihrem Mann, ständig guter Laune, da sie ihre Ehe nur mit Wodka ertrug, den sie sich bereits nach dem Frühstück täglich in den Orangensaft goss. Während mein Blick und meine Gedanken durch den Raum schweiften, überhörte ich das Jawort von Steffi. Ein wenig erschrak ich folglich, als der Bembel-Hans sprach: »Somit erkläre ich euch zu Mann und Frau!«. Wieso ging das alles so ratzfatz, fragte ich mich?

»Herr Philips, Frau Philips, Sie dürfen sich jetzt gegenseitig die Eheringe überstreifen und natürlich im Anschluss küssen«.

Man hörte die Spannung förmlich knistern im Raum. Steffi drehte sich erwartungsvoll zu mir um. Ich überlegte, alles auf Andreas zu schieben, der sie verloren habe. Klaus tauchte urplötzlich mit seiner Videokamera zwischen uns auf, um den Moment festzuhalten. Selbst Andreas stand stramm in voller Vorfreude da, um aus nächster Distanz das bevorstehende Drama mitzuerleben. Verzweifelt schaute ich auf den Beamten, der immer noch keine Anzeichen machte, in der kommenden Sekunde umzukippen. Also blieb nur ein Erdbeben.

»Hast du das gespürt Steffi? Die Erde hat gewackelt!«

»Ach Philipchen, du hast vermutlich zu lange gesessen und bist zu hastig aufgestanden. Jetzt ziehe mir endlich den Ring an, ich platze vor Neugierde!«

Da war er nunmehr. Der Moment, den die Sensationsmeute nach Svens Petze sehnlichst erwartet hatte. Ich sah Steffi an, wir hielten uns an den Händen. Dann fragte Steffi, warum ich zögern würde.

Ich war nicht in der Lage, ein Wort zu sprechen. Mein Kopf schwoll an, mir fielen sämtliche Haare aus. Ohren und Nase wuchsen unförmig in die Breite, die Augen quollen dreidimensional aus ihren Höhlen. Der Korpus verformte sich zu einem gehäuteten Windhund und meine Füße wuchsen über sich hinaus, um die gesamte Schwere der Last tragen zu können. Dabei sank ich gebeugt und gedemütigt zu Boden, um als Gollum, der die Ringe nicht mehr besitzt, Mitleid erwecken zu können oder geköpft zu werden.

Steffi hingegen sah mich nur fassungslos an, verlor dabei rapide an Gesichtsfarbe, um farblich mit ihrem Kleid eins zu werden. Auf Augenhöhe mit Klaus, der weiterhin fleißig meinen Arm und unsere Hände filmte, um zu bezeugen, wie ich den Ring aus der Hosentasche ziehen würde, geschah das Unabsehbare.

Es machte flutsch, ein Laut, der durch den ganzen Raum hallte. Steffis Augen nahmen den Ausdruck derer von Mesut Özil an. Danach überschlugen sich die Ereignisse. Steffis Fruchtblase platzte und breitete sich unter ihr aus. Die erste Reihe stob auseinander und riss Klaus mitsamt Kamera zu Boden. Derweil Andreas zum Altar sprang und in das hessische Kultgefäß erbrach, nachdem er die Blumen aus dem Bembel gezerrt hatte und diese durch die Luft flogen. Klausi kroch langsam empor, während der Beamte Andreas den Krug aus den Händen riss. Der kleine Woody hingegen zog Michael mit in den Schlamassel, der der Meinung gewesen war, das Hündchen an der Leine im Griff zu haben. Woody schleckte ungeniert das köstliche Fruchtwasser auf, als die übrigen Gäste, warum auch immer, in Panik verfielen. Ich schrie Sven an, der mir in dem Moment am nächsten stand, dass er den Notarzt rufen solle. Der schrie zurück, dass er nicht wüsste, wer momentan sein Handy hätte. Thomas war damit beschäftigt, Michael mit Woody an der Hand aus dem Elend zu ziehen, während Klaus mich anschrie, warum ich nichts unternehmen würde. Ulli schien im ersten Moment begeistert von der Show, kam aber dann ihrer Tochter zu Hilfe.

Und ich, ich fand in dem Moment das verloren geglaubte Glück. Es bedurfte keines Erdbebens, keines Infarkts, sondern einfach nur der Ankunft meines Kindes!

Pechpilz

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