Читать книгу Das lila Land - Matthias Sonnenberg - Страница 3
ОглавлениеDas lila Land
Es gibt Menschen, die können sich beim Träumen zusehen. Wie Reisende verlassen sie ihren schlafenden Körper, betrachten sich wie ein unbekanntes Land, das ihnen Rätsel aufgibt oder Angst einflößt oder einen lang gesuchten Frieden zu schenken verspricht. Sie schweben über sich wie windgefüllte Drachen über der Erde und gewinnen Abstand zu ihrem allzuvertrauten Ich und dem, was sie für sich selber sind.
Und auch ein kleiner, gedrungener, langbärtiger Mann aus einem abgelegenen Tal in Afghanistan gehörte zu diesen Menschen. Er war das gefürchtete Oberhaupt eines Dorfes mit verfallenen, lehmverschmierten Häusern.
„Mein Schwert über den, der nicht dem Wort des Propheten folgt! Elend über die, die zu widersprechen wagen!“, sagte er zu jeder Gelegenheit. Dabei blickten seine dunklen Augen starr und durchdringend. Wer ihn ansah, der erfror. „Ich habe Allahs goldenen Segen auf meiner Seite!“
Doch an einem verwehten, grauen Nachmittag explodierte eine Fliegerbombe neben dem Dorf und schmetterte den Mann gegen einen Stein. Er fiel sofort in einen tiefen, komaähnlichen Zustand und träumte von einem einfarbigen Land. Dabei sah er sich im Staub liegen. Verdreht, mit dem Gesicht nach unten. In dem geträumten Land, es schwebte im Endlosen, gab es nichts, was nicht lila war. Alles, der Himmel, die Sonne, die Erde, die Wiesen, die Menschen, die Blumen, die Tiere, die Flüsse und Seen, die Häuser und die Straßen waren in lila Farbe getaucht und von lila durchzogen. Kein Mensch weit und breit in diesem Land, der etwas anderes als lila kannte. Ahnungen von anderen Wahrnehmungen gab es nicht. Jedes Ding, jeder Augenblick und jede Vorstellung in den Köpfen erschien immer nur in dieser einen hypnotischen, wunderbaren, überreal scheinenden Farbe.
Das Einzige, was alles unterschied, war der Farbton. So glänzte die Sonne in einem dunklen, edlen Perlmuttlila, das sich von dem cremigen, krokusfarbenen Himmelsviolett deutlich abhob und wundervolle Effekte am Himmel erzeugte. Die massigen Wolken standen mit der Sonne und ihren wuchtigen, lila Perlmuttstrahlen in enger farblicher Verwandtschaft und ihre Formen waren so ausgeprägt, dass man in ihnen auch ohne Phantasie Tiefseewürmer, explodierende Augen, dampfende Zigarren oder fliegende Bäume erkennen konnte. Diese Wolken waren um ein Vielfaches größer, als die in der bunten Welt und riefen ehrfürchtiges Staunen hervor. Durcheinander gewirbelt wurde die farbliche Ordnung am Himmel nur durch Wetterumschwünge, die ein zartes Violett in ein saftiges Blutpflaumenlila oder ein durchscheinendes Grauviolett in ein glänzendes Schwarzlila verwandeln konnten.
Das lila Land war von Bächen und Flüssen durchzogen, die sich zu langen, von moosigen Bergen umsäumten Seen ergossen und dem schottischen Hochland nahe kamen. Die Sträucher, Blumen und Bäume waren mannigfaltig und gaben mit ihren verspielten Formen und feinen Farbnuancen berauschende Anblicke. Es gab in lila jede Sorte Blumen: saftiges Rotlila, Lavendellila, Hellviolett und frisches Lilapurpur und Rotviolett. Es gab verwischte Blütenblätter: fliederviolette, blaulilane, fingerhutlilane, bordeauxviolette, knallige stief mütterchenlilane, pinklilane und purpurviolette. Es gab glänzende, silberlilane Blumen und feine rosalilane oder dunkelrosalilane Gewächse. Es gediehen dunkle, leuchtende perlmuttlilane wie auch helle rosenblattroseviolette Pflanzen und vieles mehr. Sie alle wuchsen in wilden Gärten, an Hecken, auf endlosen Wiesen, an den Ufern der Flüsse und Seen, in den rauschenden Espenwäldern. Und sie alle boten eine überwältigende Pracht, der man sich nicht entziehen konnte. Trotz dieser bannenden Wirkung hatte das Lila einen unguten Einfluss auf die Seelen der Bewohner. Gewisse Gehirnteile waren, bedingt durch den einseitigen Farbreiz, schwächer ausgebildet als in der bunten Welt. Entscheidende Synapsen konnten nicht geschlagen werden. Wichtige neuronale Brücken und Verbindungen gab es nicht. Die Verkümmerung der Gefühle, Gleichgültigkeit und Kälte im Miteinander waren die Folge. Und das spiegelte sich auch in der Bauweise der Häuser wider. Ihr Aussehen war das immer gleiche. Sie waren aus violettgrauem Beton, klein und stets quadratisch. Sie hatten randlose Flachdächer und enge Fensterlöcher. Wie Kriegsbunker und unfertige Bauklötze lagen sie in den Hängen der Landschaft. Ähnlich den Häusern des afghanischen Dorfes, aus welchem der träumende Mann kam.
Die einzige Abwechslung bildeten die ebenso bedrückenden, unterirdischen Festsäle. Sie hatten beträchtliche Ausdehnungen und niemand konnte von einem Ende zum anderen blicken. Sie gaben eine Vorstellung dunkler Endlosigkeit. Am größten war der Saal in der Hauptstadt Auar. Er hatte eine flache Decke. Und das spärliche, graulila Licht verbreitete eine unheimliche Stimmung, welche die Bewohner jedoch nicht als solche empfanden. An den Wänden des Saals haftete lavendelfarbener, schimmernder Samtstoff. Darüber hingen lange Kristallspiegel, die von dicken Eisenrahmen umschlossen waren. Zwischen diesen Spiegeln klebten kleine, blinde Spiegelscherben, die im fahlen lila Licht fischschuppenartig glänzten. Wer sich in ihnen betrachtete, bekam fetzenartige, entstellte Spiegelungen seines Körpers. Halbe Gesichter, zerteilte Münder und Augen und handlose Arme sorgten für Verstörung. In dem Saal hing ein Geruch aus Vanille und Weihrauch. Er klebte in dem graulila Teppich und verstärkte die Wirkung des dunstigen, fahlen Lichts. Noch beklemmender wurde der Saal durch die Tatsache, dass es keine Fenster gab. Nur eine eisenbeschlagene, in die Decke eingesetzte Klapptür, die mit einer gewundenen Treppe verbunden war, führte in den Raum. Auch in dem Dorf des träumenden Mannes gab es solch einen unterirdischen Festsaal.
Bedrückend war ebenfalls die Atmosphäre, die von den mittelalterlich anmutenden Straßen und Wegen des lila Landes ausging. Sie waren mit matt glänzenden Pflastersteinen bestückt und eng. Das Vorankommen auf ihnen war mühsam und ein Reisender war einigen Unannehmlichkeiten ausgesetzt.
Über die Körper der Menschen im lila Land ist zu berichten, dass die Gemeinsamkeiten zu den Menschen aus der bunten Welt groß waren. Sie hatten die gleichen Gesichtszüge, die gleichen Arme, die gleichen Beinlängen und auch die Funktion und die Lage der Organe war gleich. Nur die Farbe machte den Unterschied. Ihre Haut war von einem blassen, milchigen Lila überzogen, von welchem sich das Blaulila ihrer Haare, Münder, Fingernägel und Leberflecke ähnlich dem blassen, violetten Himmel und der farbenkräftigen, lila Sonne deutlich abhob. An den Augen gab es eine Besonderheit, zumindest bei einigen Bewohnern des Landes. Sie hatten nicht die übliche blaulila Färbung, sondern besaßen dunkle Augenringe, die zur helleren Haut gut kontrastierenden. Sie hatten eine purpurviolette Iris, die im gebrochenen Licht rubinartig schimmerte. Sie stachen heraus und genossen ein hohes Ansehen. Bei den Frisuren hingegen ragte niemand heraus. Alle Bewohner hatten die immer gleichen trostlosen Topfhaarschnitte und nicht anders war es mit ihrer Kleidung. Jeder trug wie einst die Menschen in China einen blaulila Anzug. Auch hier machte sich die geistige Verkümmerung bemerkbar. Genau wie an ihrem Verhalten. Alle Handlungen waren von Gleichförmigkeit, Intoleranz und Gleichgültigkeit gekennzeichnet. Niemand setzte sich für andere ein. Keiner zeigte Mitgefühl, wenn jemand litt, niemand beweinte den Tod eines Nahestehenden, niemand kümmerte sich um Bedürftige. Nur bei den alljährlichen Versammlungen und Festen, welche in den unterirdischen Sälen abgehalten wurden, herrschte ein schwaches Gemeingefühl, eine Vorstufe fürsorglichen Denkens. Die größte Versammlung fand in der Hauptstadt Auar statt. Dort besprach man wichtige Vorhaben, Ausgaben und notwendige Neuerungen. Auch feierte man. Jedoch waren diese Feiern nicht mit den Festen der realen Welt vergleichbar. So wie in Afghanistan, wo Veranstaltungen zwei bis zehn Tage andauern können. Wie das Eid al-Fitr oder das Eid al-Adha, wo mit Handtrommeln, Lauten und Flöten wilde, launige Melodien und Lieder gespielt werden und wo ausgelassen getanzt, gelacht und gesungen wird. Die Bewohner im lila Land standen still und unbewegt im Saal, wie versteinert. Sie sprachen kaum und hörten auf die dumpfen, gleichförmigen Melodien, welche einige Musiker mit ihren langen, gedrehten Ziegenhorninstrumenten spielten.
Regiert wurde das lila Land von einem Mann namens Unleud. Er lenkte die Geschicke des Landes und hatte bei den Versammlungen stets das letzte Wort. Schon viele Jahre war dies so, doch in einem Jahr geschah etwas Ungewöhnliches. Drei junge Männer aus der bunten Welt hatten sich in das Land verirrt. Als sie den lila Himmel und die lila Sonne erblickten, glaubten sie ihren Augen nicht zu trauen und ihre staunenden Münder wollten sich nicht mehr verschließen.
„Unglaublich!“
„Wo sind wir? Ist das ein lila Land?“
„Wunderbar ist das!“, schwärmten sie.
Magisch angezogen von der lila Farbe und angespornt von ihrer eigenen Neugier liefen sie immer tiefer in das Land hinein. Sie bestaunten die schwankenden, lila Gärten und Blumen, die gepflasterten, lila Straßen und Häuser, bis sie vor dem Festsaal in Auar standen. Ohne lange zu zögern, öffneten sie die eiserne Klapptür und stiegen die Treppe hinab. Alle Augenpaare waren sofort auf die drei jungen Männer gerichtet. Die Musik verstummte und Unleud ging verwundert zu ihnen hinüber.
„Was ist mit euch geschehen?“, fragte er und schritt noch näher an die Männer heran, ohne ein Auge von ihnen zu lassen.
„Mit uns ist nichts geschehen“, antwortete der jüngste und mutigste der Männer und sah gebannt in die Augen Unleuds, der ebenfalls mit einer leuchtenden, purpurvioletten Iris aufwarten konnte.
„Nichts geschehen? Natürlich ist etwas mit euch geschehen!“, erwiderte Unleud aufgebracht, „ihr müsst an einer Krankheit leiden oder wie sonst ist euer sonderbares Aussehen zu erklären?“
„Nein, ihr irrt! Wir kommen von weit her. In unserer Welt gibt es viele Farben. Wir sind nicht krank“, antwortete ein anderer, der lang und schlaksig war.
„Farben? Was sind Farben?“, fragte Unleud ungläubig.
„Ja. Farben sind ... Es gibt eben Rot, es gibt Grün und Weiß oder auch Lila. Der Himmel ist blau, die Sonne gelb, die Wiesen grün, das Holz braun und die Dächer rot.“
„Blau, Rot, Grün, Lila?“, fragte Unleud verwundert.
„Ja. Seht, unsere Haut ist weiß, unsere Münder sind rot und unsere Augen sind blau oder grün“, erwiderte der Schlacks.Nun traten die anderen Gäste im Saal ebenfalls dichter an die drei Eindringlinge heran. Misstrauisch betrachten sie sie und tuschelten. Den drei Männern stockte der Atem und sie stellten sich noch dichter aneinander.
„Weiße Haut, rote Münder also ...“, sagte Unleud mit nun zorniger Stimme.
„Ja, wir ...“,
„Schweigt!“, schrie Unleud die Männer an.
„Ihr lügt! Ihr seid Betrüger und Lügner und ihr werdet ...“, sagte er und seine purpurvioletten Augen blitzten und leuchteten wie Lichter auf.
„Greift sie!“, tönte es kurz darauf aus der Menge und ein tödlicher Ring zog sich immer dichter um die drei zitternden, bleichen Männer.
„Nein, nein“, schrie der Jüngste und streckte die Arme zur Abwehr nach vorn. Aber es nutze nichts. Und Unleud sagte, es waren die letzten Worte, die die Drei hörten:
„Ihr seid Lügner! Es gibt keine Farben, es gibt kein Weiß, kein Blau, kein Rot und kein Lila oder sonst irgendetwas. Nein! Ihr seid des Todes!“
Damit war das Urteil gesprochen. Der Mob stürzte sich auf die Männer. Man prügelte, trat, stach und würgte, bis kein Leben mehr in ihnen war. Danach lagen die drei mit gebrochenen Armen und Beinen, aufgerissenen Augen und zerschlagenen, blutenden Köpfen auf dem Teppich. Das rote Blut floss darauf breit. Dann wandte sich die Menge von den Toten ab und fuhr mit den Festivitäten fort. Die dumpfe Musik spielte wieder auf und Unleud nahm seinen alten Platz wieder ein. Das Leuchten und Blitzen in seinen purpurvioletten Augen legte sich und er lehnte sich zufrieden zurück. Die Lügner hatte er besiegt.
Aber der Mann aus Afghanistan träumte diesen Traum wieder und wieder und immer sah er sich dabei im Staub liegen. Woher jedoch diese ungewöhnliche Fähigkeit zur Selbstbeobachtung im Traum kommt, wenn sie überhaupt eine Fähigkeit ist und welche verborgene Bedeutung sie hat, darüber kann man nur spekulieren. Vielleicht ist sie ein Zeichen von geistiger Distanz zum Geträumten, die es der Seele ermöglicht, von den Gefühlen des Traums Abstand zu halten. Hierdurch könnte der Träumende bei sich bleiben, in seinem eigenen Ich und nicht der Spielball der oft unberechenbaren, düsteren und beklemmenden Stimmungen des Traumes werden. Wäre dem so, handelte es sich um eine geistige Überlegenheit. Und das würde bedeuten, dass der Träumende über dem Geträumten stünde und die Zügel selbst in den Händen behielte. Vielleicht sind aber auch Menschen, die sich beim Träumen betrachten können, in einem dunklen, unbewältigten Leiden gefangen. Vielleicht zeigt es eine krankhafte Abspaltung der Seele von dem, was den Traum verursacht und die Unfähigkeit dieser Seele, dem Geträumten zu folgen. Somit würde der Träumende vor der geträumten Realität flüchten, vor einer Realität, die zu schmerzvoll ist, als dass er sie ertragen könnte. Aber gut! Beide Theorien kommen aus dem spekulativen Denken und sind in keiner Weise belegt. Jeder, der darüber reflektiert, muss seine eigene Meinung finden.
Zu dem Mann aus dem Dorf ist zu sagen, dass er noch immer von dem lila Land träumt. Das Koma hält an. Wie lange? Niemand kann das sagen. Er sitzt noch immer in dem fensterlosen Saal und betrachtet die Toten. Denn er selbst ist Unleud.