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Gegen den Strich

Unter den aufmerksamen Blicken von Jenaro Leguízamo hatte Nairo Quintana in beeindruckender Manier den Clásico Club Deportivo Boyacá 2008 gewonnen. Ein paar Tage später schilderte Leguízamo der Teamleitung von Colombia Es Pasión den Sieg in schwärmerischen Worten.

Als er sagte: »Er lebt auf dem Alto de Sote in 3.100 Metern Höhe«, meinten die Teamärzte sofort: »Bring ihn her!«

Nach dem Test runzelten die Teamärzte die Stirn. Jenaro erinnert sich: »Die maximale Sauerstoffaufnahme schien übermäßig hoch, daher wandten sie sich an mich: ›Warum machst du nicht einen Feldtest und schaust, was du herausfindest?‹«

Jenaro schilderte, was geschah, als er und Nairo sich ein paar Tage später in Paipa, zwischen Tunja und Sogamoso, trafen.

Nur neun Kilometer des Anstiegs hinauf nach Palermo waren asphaltiert. Wir hatten Referenzzeiten von Sergio Luís Henao, Atapuma, Pantano und Fabio Duarte, aber Nairo hatte ein Rad, das gut und gerne 12 oder 13 Kilo wog. Die ersten drei Kilometer waren richtig schwer, mit Steigungen um die 15 Prozent. Auf halber Strecke nach oben hielt Nairo an. »Trainer, ich habe es vermasselt. Ich bin zu schnell angegangen und erledigt. Lassen Sie es mich morgen noch einmal versuchen.«

Am nächsten Tag saß er ruhig, aufrecht, ohne Regung des Kopfes auf dem Rad, mit dieser Miene, die nichts preisgibt. Die Zeit war sehr gut. Die Leistungsdaten waren sehr gut. Ich rief Ignacio Vélez an und sagte: »Trainer, er ist derjenige welche.«

Ignacio sagte: »Okay. Ich rufe Luísa an und richte ihr aus, ihn unter Vertrag zu nehmen. Sag dem Jungen, dass er ein Team hat.«

Einige Tage darauf reiste Nairo nach Antioquia zur Vuelta del Porvenir 2008. Sein ärgster Rivale war Darwin Pantoja. Während sie sich gegenseitig in Schach hielten, rissen zwei andere Fahrer aus und fuhren einen uneinholbaren Vorsprung heraus. Nairo gewann das Zeitfahren und wurde am Ende Dritter in der Gesamtwertung.

Anfang November rief Jenaro bei ihm an.

»Bist du bereit, den Vertrag zu unterschreiben?«

»Nein, Trainer, es tut mir wirklich leid.«


Am 24. Februar 2009 veröffentlichte die kolumbianische Tageszeitung El Tiempo unter der Schlagzeile »Mein Name wurde nie mit der Operación Puerto in Verbindung gebracht« eine Stellungnahme des bekannten ehemaligen spanischen Radprofis Vicente Belda. »Ich hatte nichts damit zu tun«, gab er zu Protokoll. »Ich weiß nicht, woher die Gerüchte kommen.«

Während seiner aktiven Karriere war Belda ein versierter Kletterer gewesen, der Etappen bei der Vuelta und dem Giro d’Italia gewann und bei der Spanien-Rundfahrt 1981 das Podium erreichte. Anschließend hatte er sich einen Namen als Teammanager des inzwischen aufgelösten Rennstalls gemacht, der lange Jahre vom Sportartikelhersteller Kelme gesponsert worden war. Im März 2004 hatte der frühere Kelme-Profi Jesús Manzano in der spanischen Sport-Tageszeitung AS ausführlich über seinen Dopinggebrauch in seiner Zeit dort berichtet. Das Ende des Teams kam zwei Jahre später: Nachdem in Madrid eine Reihe von Wohnungen durchsucht und 153 Blutbeutel aus Kühlschränken sichergestellt wurden – Blut, das Athleten entnommen worden und offenbar für die Reinfusion bestimmt war –, nahm die spanische Polizei im Mai 2006 mehrere Personen fest, unter anderem den Trainer und sportlichen Leiter von Kelme, Ignacio Labarta, die Teamärzte Eufemiano und Yolanda Fuentes – Bruder und Schwester – sowie den Teammanager Vicente Belda.

Doping verstieß in Spanien gegen kein spezifisches Gesetz. Es war eine Sache, mit der sich ausschließlich die Sportbehörden beschäftigten. Doch das schiere Ausmaß des Skandals veranlasste die Ermittler, Anklage wegen der Gefährdung der öffentlichen Gesundheit zu erheben. Im April 2013, nach jahrelangem gerichtlichen Hickhack, wurde Fuentes zu einem Jahr Haft und vier Jahren Berufsverbot als Sportarzt verurteilt, Labarta zu vier Monaten Haft. Beide wurden anschließend in der Berufungsverhandlung freigesprochen. Die Dopingvergehen galten als erwiesen, verstießen aber nicht gegen spanisches Recht.

Belda wurde in erster Instanz freigesprochen. Doch als er im Juni 2008 nach Kolumbien flog, lastete die Operación Puerto noch immer schwer auf ihm. Es war nicht sein erster Besuch: Schon 1985 hatte er zwei Etappen bei der Vuelta a Colombia gewonnen. Diesmal war er vom spanischen Ex-Profi Pepe Del Ramos, dem Besitzer des Helmherstellers Catlike, wegen eines Jobangebots in Boyacá kontaktiert worden.

Die Rivalität zwischen den Provinzen Antioquia und Boyacá hatte die Führung von Boyacá zum Handeln veranlasst. Im Mai 2008 hatte der aus Boyacá stammende Giovanni Báez für eine in Medellín ansässige Mannschaft die Vuelta a Colombia gewonnen. Beldas früherer Schüler Hernán Buenahora, inzwischen 41, war für die Farben Boyacás Zweiter geworden, doch wie jedermann wusste, stammte er aus der benachbarten Provinz Santander.

Mit verletztem Provinzstolz wandten sich José Rozo Millán, von 2008 bis 2011 Gouverneur von Boyacá, und Fernando Flores, der Leiter von Indeportes Boyacá, dem Sportinstitut der Provinz, an Luis Gabriel Roa, den Vertriebsrepräsentanten des Radherstellers Orbea und der Helmmarke Catlike in Bogotá, und fragten ihn, ob er irgendwelche guten jungen Trainer kenne. Roa nahm Kontakt zu Pepe Del Ramos in Spanien auf.

Vicente Belda erzählte mir: »Pepe sagte: ›Nun ja, ich kenne einen. Er ist nicht jung, aber er ist gut.‹«

Beldas Verpflichtung als Sportdirektor des Radsportteams von Indeportes Boyacá wurde am 10. Juli 2008 bekanntgegeben.

Es war der Beginn eines Zustroms von Flüchtlingen der Operación Puerto. Oscár Sevilla beispielsweise war 2001 bester Nachwuchsfahrer der Tour de France geworden und Zweiter der Vuelta a España im gleichen Jahr, aber seine Karriere geriet 2006 ins Stocken, als Dokumente, abgehörte Telefongespräche, Blutbeutel und Beweismaterial aus Überwachungen seine Verstrickung in die Operación Puerto belegten. Sevilla wurde von seinem Team T-Mobile gefeuert und schloss sich 2007 vier anderen Operación-Puerto-Fahrern bei der kleinen spanischen Mannschaft Relax-Gam an. Als die Veranstalter der Vuelta bekanntgaben, dass Relax-Gam der moralischen Satzung der Rundfahrt zuwidergehandelt habe und daher nicht eingeladen werde, war Sevillas Karriere im europäischen Radsport quasi beendet. Die gleiche Palette an Beweisen belastete außerdem Sevillas früheren Kelme-Kollegen, den Kolumbianer Santiago Botero, Zeitfahrweltmeister von 2002. Im Jahr 2008 schlossen sich Sevilla und Botero sowie die ebenfalls in Ungnade gefallenen Tyler Hamilton und Francisco Mancebo der amerikanischen Mannschaft Rock Racing an, für die Sevilla als erster Nicht-Kolumbianer den Clásico RCN gewann.

Vicente Belda war zu diesem Zeitpunkt bereits in Kolumbien. Als Cheftrainer holte er seinen alten Kelme-Mitstreiter Ignacio Labarta an Bord. Für diejenigen, die Belda und Labarta unter Vertrag nahmen, mochte sich deren Verpflichtung durchaus wie praktizierte Globalisierung angefühlt haben; jedoch war es gerade die fehlende Integration des Landes in das Weltsystem, die es Dopern aus dem Ausland ermöglichte, eine Anstellung in Kolumbien zu finden, zum Nachteil heimischer Fahrer und Trainer.

Ohne eine Spur von Ironie sagte mir Belda: »Kolumbien steht im Ruf, zu dopen und den bequemen Weg zu nehmen.«

Labarta machte sich daran, die Ernährungs-, Trainings- und Regenerationsgewohnheiten der Fahrer anzupassen, und, wie Belda sagt: »2008 fingen wir an, Rennen zu gewinnen. Wir verbesserten die technische Seite, die physische Seite, das Training, alles.«

Belda fährt fort: »Es gab kaum Jugend- und Juniorenrennen, daher begannen wir, Schulwettkämpfe auf die Beine zu stellen, und machten uns auf Talentsuche.«

Im Dezember 2008 und Januar 2009 fingen Belda und seine Kollegen an, Sportler zu testen. »Wir führten 46 Leistungstests inklusive physiologischer Analysen durch.«

Nairo wurde zweimal getestet.

Belda sagt: »Der zweite Test bestätigte den ersten.«

Er rief im Sportinstitut an. »Wir sind auf ein Juwel gestoßen: ein 18-Jähriger mit Werten, die Santiago Botero hatte, als er 29 war.«

Von seiner Heimatstadt Tunja aus betrachtet, musste Nairos drohender Wechsel zu Colombia Es Pasión, mit seinem in Medellín ansässigen Management, wie eine feindliche Übernahme durch die Konkurrenz aus Antioquia aussehen. Nairo in der Provinz Boyacá zu halten, wurde zur Priorität. Nairos Vater Luís erinnerte sich: »Viele Leute riefen an, um mich zu überreden, Nairo nicht zu dieser Paisa-Mannschaft gehen zu lassen« – mit Paisa waren die Bewohner der Provinz Antioquia gemeint.

»Selbst José Rozo Millán [der Gouverneur von Boyacá] schickte einen Abgesandten, der mich bat, Nairo davon zu überzeugen, bei ihnen zu unterschreiben. Der Vertrag belief sich auf 18 Millionen Pesos im Jahr« – kaum mehr als etwa 4.700 Euro – »zahlbar in drei Raten: April, Juni und November. Das schien mir eine Menge Geld zu sein«, erinnert er sich.

Vicente Belda erzählte mir: »Das maximale Gehalt betrug 60 Millionen Pesos« – um die 16.000 Euro – »das Minimum, meine ich, 12 oder 18 Millionen, ich weiß es nicht mehr genau.«

Luisa Ríos, seinerzeit Geschäftsführerin von Colombia Es Pasión, erinnert sich an das Telefonat mit Nairo: »Er sagte: ›Es tut mir leid, aber ich habe dieses Wochenende bei Belda [in Boyacá] unterschrieben. Ich hatte keine Wahl. Aber‹, ergänzte er, ›tun Sie mir einen Gefallen: Versprechen Sie mir, dass Sie nächstes Jahr einen Platz für mich haben.‹«

Damit öffnete sich die Tür für Esteban Chaves, der sich seinem Trainer bei Colombia Es Pasión anschloss.

Colombia Es Pasión!

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