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2. Die Lehrjahre.

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Mit demselben Recht wie Ferdinand Lassalle durfte Jean Jaurès von sich sagen, dass er mit dem ganzen Wissen seines Jahrhunderts ausgerüstet an die Untersuchung der modernen gesellschaftlichen Fragen herantrat. In ihrem titanenhaften Ringen glichen sich die beiden großen Sozialisten, ebenso in ihrem Scharfsinn, ihrer Beredsamkeit und ihrer Arbeitskraft. Aber Jaurès stand gefestigter und bodenständiger als Lassalle da. Er hatte nichts vom Abenteurer in sich, auch nichts des Meteorhaften: Jaurès schien ganz natürlich aus dem französischen Kulturboden emporgewachsen zu sein, ein neuer mächtiger Zweig am Wipfel eines festverwurzelten Baumes. Die lange Kette nationaler Überlieferungen, die gleichmäßigere Entwicklung und normalere Erziehung, die wundervolle Harmonie der geistigen und körperlichen Kräfte, das Aufgehen in der französischen Geschichte verliehen dem Franzosen eine Charakterfestigkeit und eine fast bäuerliche Zähigkeit, die ihn vor Abwegen schützten und in allen Erschütterungen und Stürmen nicht das Ziel aus dem Auge verlieren ließen.

Jaurès wurde am 3. September 1859 in Castres, Languedoc, geboren – in jener merkwürdigen Provinz Südfrankreichs, die so viele Ketzer, Freidenker und Gelehrte hervorbrachte. Languedoc besaß im Mittelalter freie Handelsstädte; dort waren die Albigenser zu Hause; im 18. und 19. Jahrhundert gab diese Provinz den Franzosen so berühmte Männer wie Lafayette, Guizot und August Comte. Die Familie Jaurès gehört der Mittelklasse an; eines ihrer Mitglieder war Constans Jaurès (gest. 1889), Admiral und Botschafter in Madrid und St. Petersburg. Die Eltern von Jean Jaurès waren nicht wohlhabend, und nur dem finanziellen Beistande des Schulinspektors Felix Deltour war es zu verdanken, dass Jean höhere Unterrichtsanstalten besuchen konnte. Schon als Gymnasiast zeichnete er sich durch große Beredsamkeit aus, wobei ihm ein außerordentlich scharfes Gedächtnis zu Hilfe kam. Im Jahre 1881 absolvierte er die École Normale in Paris, und zwei Jahre später war er Professor der Philosophie an der Universität von Toulouse. Im Jahre 1885 begann seine politische Laufbahn. Er wurde in die Kammer gewählt, übersiedelte nach Paris, wo er gleichzeitig seine philosophischen Studien fortsetzte und mit der sozialistischen Gedankenwelt Fühlung nahm. Die Früchte dieser Arbeiten liegen in zwei Schriften aus dem Jahre 1891 vor. Eine – in französischer Sprache geschrieben – behandelt die Realität der sinnlich wahrnehmbaren Welt; die andere – in lateinischer Sprache – beschäftigt sich mit dem Ursprung des deutschen Sozialismus. Jaurès, dessen geistige Väter Plato, Spinoza und Kant sind, bringt die deutsche Sozialdemokratie nicht mit dem Materialismus der Links-Hegelianer in Verbindung, sondern lässt ihn aus dem deutschen Idealismus hervorgehen. Der Stammbaum des deutschen Sozialismus gehe zurück auf Luther, Kant, Fichte und Hegel. Die Ereignisse fließen aus den Ideen, die Geschichte hängt von der Philosophie ab. Auf den ersten Blick würde man annehmen, dass der Sozialismus besonders in England geblüht haben müsste, da doch in diesem Land die moderne Wirtschaftsweise am unverschämtesten und am frühesten sich entfaltete. In England hätte man den wirtschaftlichen Prozess am leichtesten erfassen und ihn darstellen müssen. Aber wer hat ihn erfasst? Kein englischer Philosoph, sondern ein Deutscher, der in England wohnte: Karl Marx. Wäre Marx' Geist nicht von der Hegelschen Dialektik durchdrungen gewesen, dann würde er den dialektischen Prozess, den das Wirtschaftsleben vom Kapitalismus zum Sozialismus durchmacht, nicht erfasst haben. England lieferte die Tatsachen, die deutsche Philosophie das geistige System: Der Sozialismus wurde im deutschen Geiste geboren, noch ehe die Großindustrie ihren Höhegrad erreicht hatte und ehe die Elemente der neuen, werdenden Gesellschaft entwickelt waren. Studiert man den deutschen Sozialismus, so findet man darin eine Philosophie eingeschlossen. Sie nimmt an, dass Geschichte und Wirtschaft sich in einem dialektischen Prozess befinden, der die Form der Dinge verändert. Sie definiert die Freiheit nicht als die abstrakte Fähigkeit der Menschen, zwischen entgegengesetzten Möglichkeiten zu wählen oder als die Unabhängigkeit des Bürgers als Einzelmenschen, sondern als die wirkliche Grundlage der Gleichheit und Gemeinschaftlichkeit der Menschen. Die Philosophie des deutschen Sozialismus ist also eine Lehre vom allgemeinen Werden, vom Wachsen der gesellschaftlichen Freiheit, von der Entwicklung des Universums.

Es vergingen jedoch noch zwei Jahre, ehe Jaurès öffentlich sein sozialistisches Bekenntnis ablegte und sich der Bewegung anschloss.

Jean Jaurès

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