Читать книгу Jockele und die Mädchen - Max Geißler - Страница 3

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Als wäre diese Geschichte nicht wahr — so wunderlich angetan mit allem Zierate der Romantik schreitet sie heraus aus dem grünen thüringischen Waldleben! Mit Zigeunern, die sich die Häuser aus bunten Lappen und Fichtenreisern erbauen und durch den Bergwald fliegen wie die Distelfinken, denen der Herrgott am letzten Schöpfungstage die Reste seiner Farbeschalen aufgetupft hat. Und mit einem alten Mädchen, das in besinnlicher Güte und Einsamkeit dem Herzschlag des Thüringer Waldes lauschte — auf einmal fiel der Veronika Sinsheimer ein Kind in die Hände, als sie schon daran dachte, wem sie das kleine Haus vermachen solle, wenn eines Tages der Mann im weissen Mantel über das Gebirge schritt, der die blauen Mohnkörner des ewigen Schlafes auswirft.

Das mit dem Kinde geschah ganz früh am Jakobustage — zu Sommeranfang, wenn die Drosseln das Silber ihrer Lieder über den Wald werfen wie die jungen Mütter des Christkindleins Haar um die Weihnachtstanne.

Die Häuslein sind um den Fuss der Vorberge gesäet wie die Weizenkörner; ein paar sind emporgeweht an die Hänge, und der Bergwald legt seine grünen Arme darum. Zuhöchst steht das des Fräuleins Veronika Sinsheimer — von weitem anzuschauen als ein Wildrosenbusch im Mai; denn es hatte frühlingsgrüne Mauern und ein hellrotes Ziegeldach, darin zwei blanke Augen, just wie das alte Fräulein selber.

An den Fenstern waren weisse Vorhänge, feuerrote Geranien und Glockenstöcke; die standen auch während des Bergwinters in lachendem Blühen. Kein Wunder, denn das Fräulein in dem Frühlingshause wandelte in einem freundlichen Spätlichte des Lebens, so warm und hell, dass die grämlichen Nebel der Altjüngferlichkeit sich darin niederschlugen als ein Tau in den Sommermorgen.

Die Leute von Ibenheim gingen gern bei ihr ein und aus; denn sie sprach eine feine thüringfremde Sprache. Die hatte sie mit aus der norddeutschen Heimat gebracht und schoss das „s“ von dem feinen Bogen ihres Mundes wie einen Pfeil. Die zu ihr kamen, banden sich daheim eine saubere Schürze vor und strichen sich die Schuhe vor der Schwelle des Hauses ab, oder sie liessen die Pantoffel draussen stehen; denn um das Fräulein Veronika war alles blank.

Die lebte das Leben des späten Mädchens in Freude und erzählte keinem Menschen, dass sie hundertmal Gelegenheit gehabt hätte, einen Mann zu nehmen, oder dass gar einer wegen seiner Liebe zu ihr ins Wasser gegangen sei, sondern sie sagte: es wäre halt keiner gekommen, sie lieb zu haben, darüber wäre sie stehengeblieben. Und ihre Augen lachten das leise Lachen der Freude über diese Rede, weil sie dennoch mit dem Leben fertig geworden war.

Dies stille Leben lag vor den Augen all der Leute von Ibenheim, und doch war die feine kleine Person des alten Fräuleins für sie voller Geheimnisse. Aus jedem Stücke des Hausrats schaute eine ferne liebe Zeit, wie sie in den Erkerstuben alter Burgen eingefangen ist, die vordem einmal Kemenaten junger Frauen gewesen sind. Ahnungsreich lag der Duft von Lavendel um alle Körbchen und Decken, um Kissen und Polster, und Fräulein Veronika Sinsheimers reinliches Wesen trippelte zwischen diesen Dingen umher, und das Leben hatte kein Stäubchen auf sie geworfen.

Die Menschen sahen sich an ihr die Augen voll Sonntag. Und an dem Zinzilein, dem kleinen Mädel des Holzhauers, das an jedem Tag in das Frühlingshaus kam, war all der Sonntag hängengeblieben: es schoss das spitze „s“ aus seinem Mündlein wie sie; seine kleine Zunge schwang in diesem Mündlein als gegen eine silberne Glocke, und wenn das Zinzilein aus der Hütte des Holzhauers über den Weg lief, ward der Waldsaum hell — in Kindern leuchtet das Scheinen der anderen Welt, aus der sie gekommen sind, rasch wieder auf.

Das Zinzilein blühte seinen fünfjährigen Frühling so in das Leben der alten Dame hinein und schüttete seine klingenden Fragen über sie, als es anfing, an dem Dasein herumzuraten: „Warum kann ich nicht in Deinem Hause schlafen, liebe Tante Veronika? Und warum sage ich zu Dir Tante und nicht Mutter? Warum bist Du nicht meine Mutter? Und was ist für ein Unterschied zwischen einer Tante und einer Mutter? Wenn ich gross bin — kann ich dann immer bei Dir sein, liebe Tante Veronika? Und warum ist es bei Dir so schön, so schön?“

Darüber kamen sie dann beide ins Raten; und wie eine Blume wandte sich diese junge Menschenblüte der Sonne zu, in der Fräulein Veronika stand. Den Namen Zinzilein hatte die Kleine für sich gemacht — er war aus der Zeit, da die Worte in dem jungen Munde noch manchmal durcheinanderpurzelten, aus Kreszenzia und Sinsheimer entstanden. Und weil es ein so wunderlicher Zusammenklang war, blieb er an dem Kinde hängen: als das ‚Zinzilein‘ ist die Kreszenzia Laufer durch ihr Leben geschritten.

Aus dem unbewussten Blumendasein des ganz kleinen Holzhauermädels wurde gemach ein Menschenleben; und in seligem Erschauern liess Fräulein Veronika das Glück dieses sachten Blühens in die Waldstille ihrer Tage rieseln und fühlte, wie es an ihrem vereinsamten Herzen zum Wunder ward.

Die Eltern des Zinzilein gingen zu Walde roden und aufforsten, und wenn der Schneewind über die Berge brauste, sassen sie bei der Heimarbeit, die in dieser Gegend Brauch ist: sie machten Puppen. Ausser dem Zinzilein hatten sie kein Kind; und dies eine ward ihnen fremder mit jedem Tag. Es dachte anders und redete anders als Vater und Mutter. Und wenn das Zinzilein des Abends heimkam und aus seinem Frühlingsherzen heraus über sie schüttete, was das alte Fräulein am Tage hineingelegt hatte, merkten sie, dass das Kleine ein Gast in ihrer Waldhütte geworden war. Dann gaben sie sich Mühe, so fein mit ihm zu sprechen, wie es selber sprach, und standen vor ihm in feierlicher fremder Freude wie vor einer Tulpe, die ihnen auf den Geburtstagstisch gestellt worden. Wenn das Zinzilein nebenan in seinem Bette lag, holte die Mutter jedes Stück herzu, das es auf seinem Körperlein getragen, liess ihre harte Hand darübergleiten und drückte es gegen die Wangen, zu fühlen, wie sanft es sei. Oder sie hielt das Kräuschen aus alten Spitzen gegen das Licht der Lampe, den feinen Lauf der Fäden zu sehen; denn Fräulein Veronika sorgte für alles — auch dafür, dass sich das Kinderherz den Eltern nicht völlig abwende. Und das war sehr schwer.

Sie badete es an jedem Tage des Sommers in einem klaren Bergquell, der aus dem schwarzen Wurzelgrunde heraus sich in ein Sonnenbett legte und das Glück des Himmels und Lichts in sich trank, ehe er als fussbreites Wasser in die Welt lief. Sie lehrte das Kind, diese Welt durch ihre klugen, reinen Augen zu sehen, und schloss ihm auf jedem Gang in den Frühling ein Wunder der Erde auf.

Es schien, als wäre die unerforschliche Macht, die die Menschen Schicksal nennen, zu der späten Erkenntnis gelangt, dass diesem Fräulein Veronika das herrlichste Mutterherz geschenkt worden, das sich denken liesse — da legte es ihr das kleine fremde Mädel in die Arme; denn das Kleinod dieses Frauenherzens, das kein Mann gefunden hatte, durfte nicht in Vereinsamung verloren gehen. Und dies Schicksal erkannte auch, dass dies Frauenherz unerschöpflich sei an hingebender Liebe und Klugheit ... am frühen Morgen des Jakobustages, als das Fräulein Veronika sein Spitzenhäubchen auf die ergrauenden Haare gesetzt hatte und gleich einmal nach dem Zinzilein ausschauen wollte, ob es schon am Waldrand herüberschreite ... „Na,“ sagte Fräulein Sinsheimer, „wer hat mir denn da etwas auf die Haustürschwelle gelegt?“

Sie beugte sich ein wenig nieder und machte die Augen weit. Es war ein Bündel aus grauem Wolltuch. Sie rührte ein wenig mit ihrem weichen Morgenschuh daran. Da wackelte etwas unter dem Tuche. Und sie tastete mit ihren Fingern darüber. Da kneckerte ein Lebendiges in dem Bündel — „Na!“

Es war aber weder ein junger Hund noch eine junge Katze darin, sondern ein leibhaftiges Menschlein, in Dinge gewickelt, die grosse Armut als Windeln ansehen konnte. Und daneben kniete das gütige alte Mädchen und wusste nicht, was es mit sich selber anfangen sollte.

Da kam ein wunderliches verzweifeltes Lachen über sie. Sie trippelte durch die Stuben und durch die Küche, und ihre besonnenen Hände begannen umherzugreifen, als könnten sie einen der vielen flatternden Gedanken erhaschen. Sie legte die Hände vor den Mund, als müsse sie dies hilflose Lachen ersticken, das gar keinen Platz hatte in diesem seltsamsten Augenblick ihres Lebens ....

„Na, na, und gar ein Bübchen!“ schrie sie aus ihrem gepressten Herzen heraus. Aber dieser Ruf war schon Glück; denn er brach aus ihr hervor wie die Sonne aus dem verstürmten Märzhimmel.

Dann lief sie und nahm das grosse Bündel auf ihre Arme und trug es in die Küche und aus der Küche in das Zimmer und aus dem Zimmer zu ihrem Bette und legte es darauf. Und alle Türen standen offen, da lief ein goldener Morgenwind ins Haus und lief um sie her, und sie legte in ihrer freudigen Not eine Serviette dreieckig zusammen und das braune Bübchen darauf und deckte es mit ihrem weichen Deckbett zu bis an die Nase.

Zu all dem sagte der Junge gar nichts; als Zeichen seines lebendigen Einverständnisses wackelte er einmal mit den Lippen eine saugende Bewegung, beschied sich aber, ballte die Fäustlein, legte sie an seine Wangen und schlief sich tief in die wohlige Wärme dieses Bettes und neuen Lebens hinein wie ein Maulwurf.

Als das kleine braune schlafende Ding mit dem glänzenden Fellchen auf dem Kopfe nicht mehr in den Lumpen war, fasste Fräulein Veronika die Hülle mit sehr spitzen Fingern an und legte sie auf ein Zeitungspapier ... da klapperte etwas auf den Fussboden. Es war ein silberner Ohrreif, der der Mutter über der Hast und dem Schmerze des Scheidens entfallen sein mochte; oder eine der kleinen Hände hatte über dem letzten Kusse stürmischer Liebe nach einem Halt gesucht; oder die grosse Herzensnot der Frau hatte dem Kinde das einzige Besitztum mitgegeben, dem sie noch einen geringen Geldeswert beimass.

Das Fräulein verwahrte den Ring in einer Glasschale auf der Etagere; aber die Hüllen trug sie in dem Papier hinaus und legte sie rechts neben die Schwelle.

Da kam das Zinzilein, wie der Frühling, der über die Berge steigt — der Morgenwind nahm es an der Hausecke gleich ein bisschen beim Kopfe; aber das Mädel stellte ihn darüber zur Rede: „Was fällt Dir denn ein? Du verstruwelst mir ja ganz meine Haare!“ und schubste mit seinen kleinen Händen vor sich in die wehende Bergluft.

Fräulein Veronika führte das Zinzilein gleich an das Bett, und weil sie auf den Zehen ging und die Augen voller Geheimnis hatte, musste etwas ganz Wunderbares in diesem Bette sein.

Da sah das Zinzilein das blauschwarze Fellchen und sah die kleinen Läden, die über die Augen herabgelassen waren ... aber das Wundern dauerte nur einen Augenblick, dann krümmte sich das Zinzilein in leisem, über die Massen lustigem Lachen, und damit es nicht laut werde, klemmte es die Hände zwischen die Knie und lachte in einem fort. Dann warf es seine Arme stürmisch um Veronika.

„Das ist aber eine feine Geschichte!“ sagte es. „Ich werde jetzt gleich laufen und meinen Puppenwagen holen!“

„Nein,“ sagte das Fräulein, „der ist viel zu klein.“

Und sie gingen miteinander in die Küche, wo das Wasser zum Morgenkaffee noch immer wallend gegen die Stürze des Topfes stiess, und liessen die Tür ein wenig offen.

„Weisst Du,“ sagte das Zinzilein und redete ganz leise, „ich werde mich so lange an das Bett setzen, bis er aufwacht! ... Ob man ihm nicht einmal die Augen ein wenig aufklappen könnte?“

„Ach lieber gar,“ sagte Tante Veronika. „Zuerst gehst Du einmal zum Gemeindevorsteher und sagst zu ihm: Sie möchten, bitte, gleich einmal zu Fräulein Sinsheimer kommen — es ist eine sehr wichtige Sache.“

Das Zinzilein musste diese Worte dreimal wiederholen, lief damit einen Steinwurf weit den Berg hinab zum dritten Hause und sah den Vorsteher in seinem Garten. Da hielt es sich an einem Zaunstänglein fest und schrie: „Die Tante Veronika hat ein Kind gekriegt — es hat einen schwarzen Kopf, und Du sollst schnell kommen. Es ist eine grossartige Sache!“

Herr Peter Squenz wusste, dass das Zinzilein ein unterhaltsames kleines Mädchen war, aber diese Botschaft schien ihm im höchsten Grade sonderbar. Er trat zu dem Kind an den Zaun, und weil er lachte, kam die Kleine ein bisschen aus dem Gleichgewicht. Da sah er, dass das Gesicht verängstigt war; denn das Zinzilein merkte, dass es die Worte der Tante über der Wichtigkeit des Augenblicks ganz vergessen hatte, aber es verliess sich auf sich selber und drängte: „Komm nur! Ein wirkliches richtiges Kind hat sie, liegt im Bette und hat die Augen ganz fest zu.“

Da dachte Herr Squenz, dem Fräulein Sinsheimer müsse etwas zugestossen sein, warf sich schnell den Rock über und ging mit dem Zinzilein. Das redete immerfort von dem Kinde und seinem Sammetfellchen, und brauchte altkluge Worte, die wunderlich in dem kleinen Munde standen, aber als Herr Peter Squenz das Fräulein in der Haustür stehen sah, geriet seine lustige Neugier in abgrundtiefe Verwirrung.

Da musste Fräulein Sinsheimer einspringen und ihn auf den rechten Weg führen. Die Sache war anders, aber sie war nicht weniger wunderlich; denn von dem kleinen Trupp Zigeuner, der in der Mondnacht durch den Bergwald gezogen war, hatte niemand etwas gesehen. Und weil das Fräulein Veronika auch erklärte, sie wolle für das Kind sorgen, wenn sich die Mutter nicht fände, und es solle der Gemeinde nicht zur Last fallen, so hatte Herr Peter Squenz weiter nichts zu tun, als den Vorfall mit dem Protokoll und der Unterschrift der Pflegemutter an seine Behörde zu berichten. In den umliegenden Dörfern und Städten blieben die Nachforschungen erfolglos. Die blanken Reden, die ins Ländchen liefen, versickerten, und es versickerte der Eifer der Behörden. So hatte Fräulein Veronika Sinsheimer zu dem blonden Zinzilein einen kleinen schwarzen Jakobus bekommen, den ihr recht gerne kein Mensch streitig machte. Diesen Namen hatte sie ihm gegeben nach dem Tage, an dem er gefunden worden. Etliche meinten zwar, er müsse Moses heissen; denn ob er aus dem Wasser oder aus dem Walde gezogen sei, wäre nicht so wichtig. Das Fräulein mochte davon nichts wissen.

Es blieb aber auch nicht bei dem Jakobus, denn das Zinzilein machte einen Jockele daraus und war mit seinem hellen ahnungsvollen Herzen um ihn und lebte sich in seiner Freude an ihm in ein sorgendes leuchtendes Glück; und die Tante Veronika lebte sich darüber hinein in die leuchtende Ewigkeit.

Natürlich hatte es Tante Veronika damit nicht eilig; denn Festungen, die ihm so sicher sind wie das Grab, pflegt ein weltfrohes Menschenherz nicht im Sturm zu erobern.

Es war nun doch ein grosser Wandel der Dinge im Leben der alten Dame eingetreten: mit seinem kleinen Fäustchen warf das am Waldrand aufgelesene Büblein das stille Gleichmass des blumenhaften Daseins einfach über den Haufen. Die rote Knospe seines Mundes faltete sich erst so leis auseinander, da herrschte er schon als König in seinem Reiche. Die blauen Wunder seiner Augen, in denen noch kaum etwas anderes war als die rätsellose Unbewusstheit des Himmels, machten das Wetter im Frühlingshause. Und weil er gewöhnlich nach Tante Veronika rief — mit Lauten, die ebensogut von einem Maikätzlein hervorgebracht werden konnten — wenn diese gerade in der Küche zu tun hatte, so musste ein Mädchen ins Haus. Es waren da überhaupt hundert Dinge um Seine kleine Majestät zu verrichten, deren viele recht unköniglich aussahen und die am besten einer dienenden Person überlassen wurden; denn zur Betätigung der unerschöpflichen Liebe blieb auch ohne jene Pflichterfüllung Gelegenheit genug.

So war das Haus am Bergrand vollgeworden zum Ueberlaufen, und die Tage begannen darin zu rennen wie die Windrädchen. Aber sie waren auch lustig wie diese, und es dauerte gar nicht lange, so hatte das Fräulein Sinsheimer wieder alles in seinen feinen weissen Händen, und die kleinen Sonnen, die sie sich an den Späthimmel des Lebens gestellt hatte, richteten ihren Gang nach dem grossen Licht ihres Herzens.

Darüber lernte das Bübchen seine Freude in die Welt jubeln, und das Zinzilein fand sich in ahnungsvoller Hingabe in die seltsame Rolle, die es diesem Jungen gegenüber zu spielen berufen war. Es ward ihm Schwester und Mütterchen; es herrschte und gehorchte; es ward Pol und Kompass, Saat und Sonne für das kleine Herz und schlang von einem zum anderen das Kettlein einer Liebe, das köstlicher war als Gold.

Weil es dem eigenwilligen Wunsche Jockeles entsprach, zog das Zinzilein in diesem Sommer ganz in das Frühlingshaus. Der Junge, dem Tante Veronika nachdrücklich klar gemacht hatte, dass es ein Gesetz des Wohlbefindens sei, die Nacht zum Schlafen zu benutzen, fand sich darein als in eine unverletzliche Pflicht. Und das Zinzilein war zu der Erkenntnis gelangt, dass man einem kleinen Menschen die Augendeckel nicht aufklappen dürfe, wenn sie heruntergelassen werden, und dass man so feine Härchen nicht stundenlang mit den scharfen Zähnen eines Staubkammes bearbeite. Dabei hatte sie Tante Veronika einmal ertappt, als es schon ganz rot unter dem Sammetfellchen hervorleuchtete. Man durfte einen Jungen auch nicht an einem Beine herumschlenkern wie eine Puppe. Es war überhaupt eine viel künstlichere Sache mit einem richtigen kleinen Menschen, und weit unterhaltsamer; denn der Jockele, als er sitzen konnte, bemühte sich nicht nur, dem „grossen“ und sehr klugen Zinzilein alles nachzutun, sondern er erfand auch eine Sprache, die das Zinzilein besser verstand als alle anderen.

Dass es nicht in dieser Sprache mit ihm reden durfte, war verdriesslich. Aber die Tante war gewöhnt, dass man Ordre pariere, und so musste das Zinzilein in seiner klaren und reinen Sprache schon mit dem ganz kleinen Jockele verkehren. Und merkwürdig — die Tante war in dieser Sache zu keinem Entgegenkommen zu bewegen ... die gütige, allerliebste Frau, die es gab! Und sie liess sich nicht einmal auf Erklärungen ein.

Darüber geriet das Herz Zinzileins beinahe in Not, und das Mädchen Mali wurde von ihm zu Rate gezogen. Es fand sich in dem wunderlichen Willen der Tante Veronika aber auch nicht zurecht. —

Die Kinder schliefen droben in der Giebelstube, und das Zinzilein hatte sich von der Sorge um die Nächte ein für allemal frei gemacht mit der Frage: „Wenn der Jockele kneckert, soll ich dann aufwachen?“ —

„Nein,“ hatte die Tante gesagt und behauptet, sie schliefe so leise, dass sie die Träume der Kinder kommen und gehen höre.

Von nun an änderte sich durch eine lange Reihe von Jahren nichts mehr; denn das Glück bleibt gern zu Gast in einem Haus, in dem man zufrieden mit ihm ist. Nur weil die Menschen immer an ihm herumnörgeln, ist es so scheu geworden, und es muss einer in dieser Zeit oft meilenweit wandern, um es einmal über den Weg laufen zu sehen.

Seit das Zinzilein im Haus am Walde wohnte, hatten sich auch die Holzhauerleute mit dem Dasein des kleinen Jakobus abzufinden versucht, denn denen war der Junge wie ein Meteorstein in die Suppe gefallen. Armut ist immer eigensüchtig und wird darüber noch ärmer.

Einmal erschien die Mutter des Zinzilein bei dem Fräulein Veronika. Sie hatte sich zu dem Gange äusserlich zurecht gemacht wie ein Dorfsonntag und gab sich redlich Mühe, frohmütig zu erscheinen. Aber was sie sagte, kam aus einem angesäuerten Herzen; denn der Puppenmacherin Barbara Laufer wollte just der schönste Pott ihrer Hoffnung in Scherben gehen und klirrte vernehmbar in ihre Rede: das Zinzilein würde nun wohl übrig werden ... Und von dem kleinen Mädel sprang sie gleich mittenhinein in ihre saure Weltanschauung, vor der die Milch auf dem Teetische zusammenrinnen konnte.

Aber Tante Veronika wusste derartigen Ausfällen zu begegnen.

Was sie sich an Lebensglück und an Freude zurechtgerichtet hatte, stand mit einer etwas spitzen Ueberlegenheit gegen die Menschen, und es hätte wie Feindseligkeit ausgesehen, wenn Veronika eine Unterhaltung über derlei Dinge jemals eingegangen wäre; denn die Lebensauffassung dieser Menschen baut sich auf die Weisheit: Wir können anfangen, was wir wollen — wir haben kein Glück und sind an die Schattenseite des Daseins gesetzt. — Fräulein Sinsheimer aber sagte: Jeder Mensch hat vom Glücke genau so viel, als er sich erzwingt. Und in ihrem Munde lag das unausgesprochene Wort: „Sie haben alle nicht das Geschick, glücklich zu sein!“

Und damit hatte das Fräulein recht. Die leuchtende Weisheit der wenigen Stillen im Lande war auch die ihre geworden; denn zuletzt sind es doch nur diese Stillen, die in allen Stücken mit dem Leben fertig werden. Aber sie wusste auch: es würden alle an ihr herumnagen wegen dieser Erkenntnis, sobald sie einmal ihre Zunge davonlaufen liess, und man würde sie als eine verrückte alte Jungfer ausrufen.

Sie hütete sich, die Menschen zu bessern und zu bekehren, damit ihr nicht die eigene Sonne über diesem müssigen Beginnen auslösche. Sie liess sich tausendmal sagen: „Ja ja, das Fräulein Sinsheimer hat das Grosse Los des Lebens gewonnen!“ Aber sie verriet keinem, wie töricht diese Rede sei, und dass sie selbst auf ein in Tränen ertrunkenes Dasein zurückschauen würde, wenn sie ihren vereinsamten Jahren nicht eine Fülle von Licht mit aller Weisheit und Zähigkeit ihres Herzens abgerungen hätte.

An einem Sonntagnachmittag um die Teestunde brach die Barbara Laufer in das Frühlingshaus. Sie liess aus ihren ungeschickten Worten heraus merken, dass der Eindringling Jakobus dem Zinzilein leicht ein Glück streitig mache. Dies Glück hatten sie in dem Holzhauerhause schon mit heimlicher Freude gehätschelt.

Ueber allem rückte das Fräulein seinen Stuhl mit Entschiedenheit in die Sonne, fasste das flache altmeissener Schälchen mit drei spitzen Fingern und schlürfte ihren Tee mit jener süssen Behaglichkeit, gegen die keine Säuernis verknitterter Herzen ankommen konnte. Sie wäre gewöhnt, ihr Haus und ihr Leben selber zu bestellen, sagte sie, und fand dafür so feine und blanke Worte, dass die Frau Barbara in ganz demütiger Dankbarkeit zuhörte und mit der Erkenntnis davonging, sie wäre nahe daran gewesen, eine fürchterliche Dummheit zu machen.

Als ihr Mann sie vom Waldsaume her gegen das Haus kommen sah, schritt sie voll unverrichteter Dinge ihres Wegs.

Er fragte an ihr herum, ob sie denn nicht von Leben und Sterben geredet habe? Es könne doch einem alten Menschen einmal etwas zustossen, und dergleichen.

Aber die Frau Barbara meinte, so weit wäre sie gar nicht gekommen, und er solle nur selber zusehen, wenn er sich einbilde, er mache es besser. Danach knurrten sie sich noch ein bisschen an, trösteten sich zuletzt aber mit der Weisheit, dass ein gesprungener Topf oft recht haltbar wäre. Sie trauten sich dabei nicht, die Sache mit dem rechten Namen zu nennen, und hatten doch schon so lange daran herumgedacht.

Das Fräulein Sinsheimer aber hatte sich in ihrem Leben nur ein einziges Mal überraschen lassen. Das war an jenem Sommeranfang gewesen, als ihr die Vorsehung den kleinen Jakobus in die Arme gelegt hatte. Nun war längst alles wieder in schöner Ordnung in ihrem Herzen, und es war fertig zum Leben und zum Sterben. Die Puppenmacherin Barbara Laufer brauchte gar nicht zu kommen, um einmal nachzuschauen, wie die Sachen stünden.

Aber die sehnerigen Augen der Leute von Ibenheim rieten vergeblich an der geheimnisvollen Freude des Fräuleins vom Berge und an ihren Absichten für die Zukunft herum.

Die Freude an den Kindern bekam ein helleres Herz mit jedem Tage; denn es blühte an ihnen alles licht hinein in das Leben. Nur das Mädchen Mali war ein Ding im Hause, dem das Glück über dem Zusammensein mit den anderen Menschen längst keine Selbstverständlichkeit mehr war. Um Mali schauerten um diese Zeit die kühlen Tage des späten Mädchenlebens, in denen die Lippen ihre Sehnsucht zu vergessen haben, und es doch nicht können. Malis Herz spähete aus vom Turme der höchsten Zeit, ob sich eine Stätte finden liesse, von der es sagen könnte: Hier bin ich daheim.

So hatte Fräulein Veronika auch ihr Sorgenkind, das nicht gleich in die Sonne des Hauses als in sein fröhliches Besitztum hineinwuchs. Aber es fiel ihr nicht ein, dem Mädchen Mali Wohltaten für die kommende Zeit zu verheissen, sondern sie schrieb einfach unter den letzten Willen, durch den sie die Kinder bedacht hatte, dass die Mali — wenn sie die Kleinen bis zur Mündigkeit erziehe — in der oberen Giebelstube des Hauses für den Rest ihres Lebens Wohnung haben solle, und setzte ihr einen Geldbetrag aus.

Das Mädchen erfuhr von alledem nichts, und Fräulein Sinsheimer war zu jeder Stunde bereit, diese Bestimmung durch eine andere zu ersetzen, wenn Mali der Ansicht wäre, das Glück finde sich im Lande irgendwo für sie leichter als an dem hellen Herdfeuer des Frühlingshauses.

Und als sie sich derart auch mit ihrem Sterben auseinandergesetzt hatte — damit sie sich Grab und Himmel nicht vergälle — nahm sie die grosse Kunst mit aller Zähigkeit wieder auf, das Leben in klarster Bewusstheit zu leben. Sie empfing jeden Tag aus den Händen ihres heiteren Gottes als ein Geschenk, das sie in grenzenloser Hingebung austeilte an alle, die in ihrem Hause waren.

Tante Veronika hatte dreissig Jahre tiefster Sommereinsamkeit ihres Lebens mit Bergwald, Büchern und sich selber verbracht. Darüber kann der Mensch ein wunderlicher Kauz werden und eine so zerknitterte Seele bekommen, dass sie der Stahl des blankesten Glücks nicht wieder ausplättet. Er kann aber auch zu einer lichten Höhe mit erhabener Rundschau über alles Menschentum gelangen, für die besondere Gesetze des Lebens geschrieben sind.

Für Tante Veronika galt beides.

Sie war aus der langen Stille nicht ganz ohne Knitter hervorgegangen, aber die waren an ihr als feine Besonderheiten; und wenn sie da und dort Aehnlichkeit mit jenen Brüchen hatten, in denen sich der Staub der Altjüngferlichkeit festsetzt, so verbarg sie das unter dem Takt ihres geläuterten Frauentums und blies diesen Staub nicht durchs Haus nach der Gewohnheit jener Frauenzimmer, in denen verwelkte Jahre ihre Verwüstungen anrichten. Schon das Wort Staub verursachte ihr das Unbehagen einer nahenden Krankheit, und wenn sie es ausgesprochen hatte, rollte sie die Spitze der Zunge hinter den Zähnen in dem Gefühle, es sei von der grauen Wolke, die darübergestrichen, etwas hängen geblieben. Aber sie wedelte nicht als ein lebendig gewordenes Wischtuch durch das Haus. Und da sie dies Haus vor dreissig Jahren erbaute, geschah es in der weisen Erwägung, dass sie an dem sonnenvollen Rande des Buchenschlages so hoch über allem stehe, was innerhalb der menschlichen Gemeinsamkeit wie Staub auffliegt, als es einem Menschen möglich ist, der einsam sein will, ohne sich in die Welt feindseliger Einsiedelei zu vermauern.

Sie hatte in diesen dreissig Jahren die hellen Augen frohsinnig in die Welt gerichtet und hatte in der Rolle des vergnügten Zuschauers das Wundern nicht verlernt. Sie stand der neuen Zeit mit dem Respekte gegenüber, den grosse Wandlungen der Dinge zu beanspruchen haben, und redete nicht nach der Art alternder Leute mit wehmütigem Bedauern von der guten vergangenen Zeit, weil sie mit der neuen nicht mehr Schritt halten können — hoho, diese Tante Veronika schloss sich ihre Tage auf, als hätte sie eine Geschichte der Entwicklung des deutschen Volkes im zwanzigsten Jahrhundert vor! Und als der erste Zeppelin über die Wälder im Herzen Deutschlands donnerte, wunderte sie sich, dass man darauf so lange habe warten müssen, und sie sagte zu Herrn Peter Squenz: „In fünfzig Jahren werden die Menschen über die Massen lustig sein bei dem Gedanken, dass ihre Grossväter mit solch einer Explosionsmaschine die Fahrt in die Welt des gestirnten Himmels begonnen haben; den Mut werden sie bewundern, aber die Weisheit, die mit Gas und Funken durch die Lüfte reiste, werden sie belächeln.“

Herrn Peter Squenz, dem gerade das Herz in seligem Stolz auf die Zeit erschauerte, in der er lebte, sah Fräulein Sinsheimer mitleidig aus den Winkeln seiner Augen an und sagte, die Errungenschaft sei eine Sache, über die hinaus es einfach nicht mehr ginge.

Fräulein Veronika aber lächelte und antwortete: „Schade, dass wir in fünfzig Jahren beide irgendwo im All herumwirbeln oder etwa als wilde Rosen an einer Berghalde unsere Sommerseele in heiterem Blühen verhauchen und uns über unsern heutigen Zusammenstoss nicht mehr unterhalten können!“ Dann lachte sie ihm so überlegen ins Gesicht, und das erhabene Bild des Luftkreuzers versickerte im Blau über dem Gebirge. Herr Peter Squenz aber dachte: „Was richten Bücher, Gedanken und Einsamkeit in von Natur ganz vernünftigen Menschen für heillose Verwirrungen an!“

Nun hatte Fräulein Sinsheimer aber weder den Ehrgeiz, ein gelehrtes Frauenzimmer zu sein, noch war sie vom Dichterwahn oder den Emanzipationsgelüsten ihrer städtischen Schwestern befallen; sie predigte weder die Erlösung vom Manne — was in ihrer manneslosen Lage nicht unverständlich gewesen wäre — und forderte auch nicht das Frauenstimmrecht ... aber schon dass sie ein ganzes Regal voll Bücher besass und sich sogar mit ihnen beschäftigte, war für Ibenheim bei Waltershausen eine unerhörte Tatsache. Und die hätte genügt, die Besitzerin so vieler gedruckter Gelehrsamkeit zum Gegenstand sorgsamer Beobachtung ihres Geistes zu machen, wenn das Fräulein das Bedürfnis gefühlt hätte, den Leuten häufiger in ihrer Ueberlegenheit zu begegnen. So aber hatte sie sich die herrlichste aller Künste in vollkommenem Masse zu eigen gemacht: sich vor der Welt ohne Hass zu verschliessen. Und ihr kleines Reich blieb für alles, was draussen lag, uneinnehmbar.

Als der Jockele seinen Einzug in das Frühlingshaus gehalten hatte, rieten die Leute eine Zeitlang wieder lebhafter an den Dingen da oben herum und sagten: Wenn ein Mensch keine Sorge hätte, so mache er sich welche — an dem Jungen von dunkler Herkunft werde sie ihr Wunder schon noch erleben! Etliche mutmassten sich darum in eine wilde Zukunft hinein und sahen den Jakobus Sinsheimer, der doch wahrscheinlich ein Zigeuner wäre, als Räuberhauptmann sein Unwesen in den thüringischen Wäldern treiben.

Einmal brachte das Mädchen Mali solchen phantastischen Klatsch mit aus dem Dorfe. Das war sehr heilsam für sie, denn sie erkannte an der hellen Empörung ihres Herzens, wie sie sich in ihrer Denkart allgemach loslöste von den Schichten, aus denen sie gekommen war.

Tante Veronika lachte ihr vergnügtes Lachen darüber und sagte einige Worte über die Macht der Erziehung. die nicht nur den Leuten von Ibenheim, sondern der Menschheit im allgemeinen noch ein Buch mit sieben Siegeln sei ... Doch — das war wieder einmal eine der gelehrten Reden des Fräuleins, die das Mädchen Mali nicht ganz verstand. Aber zu denken hatte ihr diese Unterhaltung gegeben, und sie lenkte das Gespräch in der Folgezeit immer wieder einmal darauf zurück; denn der Unterschied zwischen der Blütenfreude des kleinen Jockele und einem angehenden Räuberhauptmann hätte schliesslich doch selbst einem Holzhauerverstande eingehen müssen.

Weil es nicht in dem Wesen des Fräuleins lag, so schulmeisterte sie weder an Mali noch an den Kindern herum. Sie ging zwischen diesen drei Menschen einher wie zwischen den vielen, vielen Rosen ihres Gartens, und liess blühen und ranken nach eigenen Gedanken, bis die Natur einmal sich selber im Wege war. Wie sie des Morgens mit der kleinen blanken Rosenschere durch die Sommerbeete wandelte, so schuf sie mit der klaren Feinfühligkeit ihres Herzens auch Ordnung in der überschiessenden Seligkeit des jungen Lebens. Und die Regel, in die sich dies Leben hineinlief, hiess: der Wille zum Glück.

Nicht weit vom Hause lag eine Sandgrube, die war voll Sonne, und um ihre Säume wob der Sommer blühende Borden. Da standen die Kerzen des Natterkopfs, und an jeder brannte ein Dutzend blauer Flämmlein und leuchteten über die goldene Einsamkeit der Sandhalde. Da war ein Wildrosenbusch, da war purpurner Steinklee — es brachte jeder Monat ein paar Hände voll neuer Blumen, es brachte auch jeder dem Buchwald eine neue Farbe des Kleides, und zuletzt den scharlachenen Königsmantel. Und als das grosse Rauschen der Wälder gekommen war, fuhr der Wind über den Sandbruch hinweg, und es war, als hätte sich aller Sommersonnenschein in der Kuhle gesammelt.

Das Zinzilein war über diese Wahrnehmung ganz ausser sich vor Freude, kletterte hinab in den gelben Trichter und sah zu, wie der Wind droben an den Rändern die bunten Blätter als Kreisel trieb. Er jagte ihrer gleich hundert auf einmal in wirrem Tanze dahin, immer auf dem schmalen Rande — wenn eins davon an den Hang entwischte, durfte es nicht mehr mitspielen; denn in dem Trichter war es still und warm wie an einem schönen Sommertage. Da sagte das Zinzilein: der Sandbruch wäre ihr goldenes Haus; aber die Mali meinte, das Haus hätte ja kein Dach, also wäre es keins. So genau ginge das nicht, sagte wieder das Zinzilein, wurde aber auf einmal schweigsam und patschte mit seinen kleinen Händen die Mauern der Sandburg fester, die sie während der vorigen Tage gebaut hatten. Nach einiger Zeit sagte es: „Mali, es ist ein Loch, und es ist voll Gold — und wenn es kein Haus sein kann, so ist es ein Brunnen; denn ein Brunnen hat auch kein Dach.“ — „Aber in einem Brunnen ist Wasser,“ wusste die Mali. — „Haha,“ lachte das Zinzilein, „in unserem ist etwas viel Feineres — guck nur, es ist ein ganz goldener Brunnen!“ Da guckte die Mali und fand das nun wirklich.

Von Stund an hiess der Sandbruch der Goldbrunnen. Zwar — dies Wort hatte zuerst die Tante Veronika ausgesprochen, als sie ihr erzählten, was sie heute miteinander geredet hätten; aber das Zinzilein hatte doch die ganze Sache erfunden. — Der Wildrosenstrauch hatte nun Hagebutten mit schwarzen Mützen, und die Mali lehrte davor das Zinzilein das Lied von dem Männlein, das still und stumm im Walde steht und ein Mäntlein aus lauter Purpur umhat. Der Gesang der Mali war scheusslich, aber das Lied war fein.

Manchmal ging auch Tante Veronika mit in den Goldbrunnen. Zuvor war sie über den farblosen Schacht nie erfreut gewesen, der mit in ihrer Umzäunung lag, aber nun waren die Kinder darin vor allen Einbrüchen und vor der Zerstörungswut junger Dorfgenossen sicher. In den Tagen des Herbstes sammelten Veronika und Zinzilein Samen von hundert Blumen, und das Zinzilein kroch an den Hängen des Goldbrunnens herum, schaufelte da und dort ein Loch und legte Samen und bessere Erde in den Sand und wollte auch gleich warten, bis es wüchse.

Als wieder Tage voll Sonne den pfeifenden Bergwinter vertrieben und die Kätzchenweide im Goldbrunnen schon Wolken gelben Blütenstaubes in den Frühling warf, spazierte der Jockele auf eigenen Füssen in den Sandbruch, kam aber nicht weit über den Rand, an dem im Herbste die bunten Buchenblätter gelaufen waren; denn dann geriet er ins Kugeln und schoss kopfüber kopfunter auf den Grund des Trichters. Das war eine peinliche Geschichte, hätte ihn aber keine Träne gekostet, wenn die Mali und das Zinzilein nicht mit so schrecklichem Schreien hinterdreingelaufen wären, als müssten sie nun alle seine Beinchen zusammensuchen.

Darüber merkte der Junge, dass etwas mit ihm passiert sei, aber er hätte es mit jungmännlicher Tapferkeit getragen, wenn die beiden Mädchen nicht in ein erlösendes Lachen verfallen wären, als er sich den langen Weg mit verständnislosen Augen betrachtete, den er in Purzelbäumen durchmessen hatte. Da begann er ein gefährliches Heulen, bis man ihm den Sand aus Mund und Nase gewischt hatte und ihm aus sorgenden Herzen versicherte, dass er noch ganz sei.

Im Jahre darauf hatte er schon ein Holzschwert und lief dem Zinzilein damit entgegen, wenn es aus der Schule kam.

Als er diesen Weg in die Welt zum ersten Male schritt, hatte er gleich einen Kampf zu bestehen. Auf dem Anger vor dem Hause des Herrn Peter Squenz sonnte sich nämlich eine Gänsemutter mit ihren sechs Kücken. Die Kinder stiegen so sachte daran vorüber, auf einmal ward der Hals der alten Gans zu einer zischenden Schlange und schoss ihnen entgegen. Das Zinzilein überkam der Schreck, aber der Jockele riss sein Schwert aus dem Gürtel und fuchtelte damit bedrohlich in der Luft herum. Da musste die Frau Peter Squenz kommen und ihn retten.

„Ha!“ sagte er mutig, als ihn die Squenzin wieder auf sicheren Grund gestellt hatte — „ha!“ Aber in diesen Ruf der Tapferkeit gewitterte es sachte aus überstandenen Fernen.

Der Goldbrunnen erhielt in den folgenden Jahren das Aussehen eines Bahnhofsneubaus. Man konnte dabei aber auch an die Anlage einer Kupfermine denken.

Als Jockele dann in die Schuljahre hineinwuchs, standen ihm die Sandburgen, die unter jedem Gewitterregen einstürzten, nur noch in lächelnder Erinnerung; denn da hub er ein lebensgefährliches Graben in der Sandkuhle an ... Holzhauer hatten beim Stöckeroden am Saum einer Waldau ein Hockergrab gefunden, dazu Waffen und Urnen. Deshalb wollte auch er in forschendem Eifer ein Stück Weltgeschichte zutage wühlen.

Das betrieb er, bis er einmal die Schule vergass und Tante Veronika selbst sich auf den schwierigen Weg in den Goldbrunnen machte. Da kroch er aus den Röhren im Sande wie ein Fuchs aus dem Bau, und die Tante hatte Gelegenheit, ein bisschen Wildwuchs zu beschneiden. Das Zinzilein war in dem Sandbruch nun schon ein seltener Gast geworden, und die Mali war seit Jahren nicht mehr hinabgestiegen. Da nahm der Jockele in Jungenweise überhand. Aber in dieser Stunde bewährte sich die Erziehungskunst der alten Dame wieder einmal ausgezeichnet —

„Ich hätte Dir sagen sollen, dass solch eine wilde Hantierung für einen Jungen gefährlich ist. Hast Du denn gar nicht daran gedacht, dass die Sandmassen über Dir zusammenbrechen könnten?“

„O ja,“ sagte der Jockele, „wenn jemand darauf herumliefe, könnte das wohl sein.“

Da leitete sie ihn zu einer besseren Erkenntnis, und dann musste er sein Ränzlein überhängen und in die Schule gehen, die schon längst angefangen hatte.

Das war eine furchtbar peinliche Geschichte; denn als er über die Schwelle trat, spiessten ihn die Blicke aus hundert Augen auf; und als er dem Lehrer berichtete, wie er zu der Verspätung gekommen, brandete ein Lachen aus fünfzig Kinderkehlen um ihn, dass es ihm ganz rosenrot vor den Augen wurde. Während er dann auf seinem Bänklein sass, sauste ihm ein Sturm in den Ohren, als ob er die grosse Seemuschel von Tante Veronikas Wandbrett daranhielte.

Aber ein Gutes hatte diese Sache doch: er bekam an jenem Tage die Taschenuhr, deretwillen er sich schon lange um ein paar Jahre älter gewünscht hatte — nun hörte er auf einmal die Zeit laufen in richtigen kleinen Schritten, deren jeder eine Wegstrecke vorwärts bedeutete. Und das war an dem gleichen Tage, an dem er darüber nachdenken lernte: Tod und Leben stünden so dicht beieinander, dass oft nur eine Handvoll Sand zwischen beiden wäre ... Und er hatte immer gedacht, vom Leben zum Tode wäre es weiter als bis an das blaue Gewölbe des Himmels, das kein Adler und kein Zeppelin erfliegen könne.

Die Wahrsager im Dorfe waren darüber entweder hinweggestorben, oder sie getrauten sich nicht, ihre wilden Prophezeiungen aufrechtzuerhalten; denn der Jockele war ein über die Massen manierlicher Junge geworden, er brach ihnen weder in die Hühnerställe, noch schnörrte er den Leuten die kleinen Fenster in den Giebeln und Dächern mit der Steinschleuder in Stücke; und wenn ein paar Schlingel vom Förster bei dem Stellen von Leimruten und Sprenkeln abgefasst wurden, so war der Jakobus Sinsheimer nie dabei. Manchmal gab es zwar auch ein wildes Fahren durch den Bergwald, aber nicht zu oft; denn die Kinder in dieser köstlich grünen Welt blühen wie die Nägelein in den Scherben auf den Fenstersteinen: sie puddeln sich über der Heimarbeit die roten Backen zum Teufel, oder es löscht ihnen im halben Licht der Stuben der Glanz aus den Augen, und die Wälder und dunkelblauen Berge ihrer Heimat stehen vornehmlich in ihrer Sehnsucht. Dem Jockele aber sprudelten die Quellen entgegen und — unerhört: er badete sogar darin. Dies zuzulassen, war auch eine solche Lästerlichkeit des Fräuleins Sinsheimer! ... Der Jockele durfte mit dem Zinzilein und der Mali durch den jauchzenden Hochwald streifen, so oft er wollte. Oder er ging mit einem Forstgehilfen zwischen Tag und Dunkel, wenn nur über dem Hörselberge noch eine Flamme Licht im Verleuchten war und wenn die Nebel in feinen Gespinnen in den Wipfeln hingen, und sah die Hirsche heraustreten und hörte sie ihren königlichen Brunftschrei über die Grenzen ihres Reiches schlagen — ah, du dunkelgrüne, du starke, du einzige Thüringer Erde!

Um diese Zeit lief der Jockele den Dorfjungen aus den Händen. Es war ein so kümmerliches Blühen des Geistes und Herzens um sie, und sie rochen nach Leim und Stube — was soll einer damit anfangen?

Das alte Fräulein, das nun ganz weisse Scheitel hatte, hielt alles Leben im Hause weiter in ihren sicheren Händen. Manchmal gab es eine freundschaftliche Unterredung über den Jockele mit dem Zinzilein; denn dieses war nun ein ‚Fräulein‘ geworden, litt an einer verzärtelnden Liebe zu dem Jungen und dachte, es müsse den ‚Kleinen‘ aus der tiefen Hingabe ihres Herzens heraus noch beraten wie damals, als er im Kittelchen in der Sandgrube Kuchen buk. Mit solch mütterlichem Behaben drohte sie oft die ganze Pädagogik der Tante über den Haufen zu werfen.

„Du musst nicht meinen, Du hättest ein Mädchen vor Dir,“ sagte dann die Tante; „ein Junge, der unter der ängstlichen Fürsorge von lauter Frauen aufwächst, läuft Gefahr, unter die Räder des Lebens zu kommen. Ich habe es deshalb von frühester Kindheit mit dem Jockele anders angefangen als mit Dir. Ein Junge muss einmal in der Welt stehen und muss sich ein Stück dieser Welt erobern können.“

Die Dorfschule reichte für den Jungen längst nicht mehr zu. Tante Veronika spannte ihn immer eine Stunde des Tages noch zur Fahrt durch das Reich ihrer Bücher ein. Sie hatte sich da einen klugen Plan zurechtgedacht, und weil sie selbst in allen Werken, die auf dem Regale standen, wohl beschlagen war, ging Jockele willig in dem Geschirr und nahm gegen die alte Dame nicht überhand. Als er auf einen Physikband verfiel, richtete er sich in dem Gartenhause, das aus Stein war und ein Fenster hatte, und in dem es sich sehr traulich lebte, eine Werkstätte zu allerlei Hantierung ein.

Einmal baute er wochenlang an einer Lokomotive, eine Konservenbüchse musste dabei die Rolle des Dampfkessels übernehmen. Danach galt es, ein Flugzeug zu erdenken, natürlich von so kühner Bauart, wie sie den Fachleuten noch nie eingefallen war. Und als er aus einem Automaten eine apfelgrosse Weltkugel erstanden hatte, die mit Schokolade gefüllt gewesen war, hing er sie an einem Faden an die Decke des Gartenhauses, und die Frauen mussten kommen und sich die Sache ansehen. Das Fenster stellte die Sonne vor, und Jockele löste an der im Raume schwebenden Erdkugel der Mali das Geheimnis von Tag und Nacht. Zur grösseren Anschaulichkeit hatte er die Schattenseite ein bisschen mit Ofenruss angestrichen.

Er hatte in dem Gartenhaus überhaupt hundert Dinge aufgestapelt: wunderlich gewachsene Hölzer, die die Form von Köpfen hatten, der er dann immer ein wenig nachhalf, bis die Mali sich vor ihnen entsetzte; dazu Versteinerungen, sauber aufgespannte Schmetterlinge, die sich in einem Kasten mit einem Glasdeckel befanden, und zu denen er nach den Büchern der Tante die Namen geschrieben hatte; Raupenhäuser, in denen er den Wandel der Würmer zum Falter beobachtete; ein Fischglas und ein Terrarium mit Eidechsen, einer Blindschleiche und einer Ringelnatter.

Damit die Bergwinter seinen Eifer nicht unterbrachen, war der einzige Raum des steinernen Gartenhäusleins auch mit einem kleinen Ofen versehen worden.

Je mehr er in das betriebsame Jungentum hineinwuchs, desto sicherer entglitt er den Einflüssen der sehr sanften Mädchenhaftigkeit, mit denen das Zinzilein um ihn war.

Tante Veronika bemerkte das mit Genugtuung; denn das Behaben des Zinzilein zu dem Jungen war ganz voll von der Rätselhaftigkeit der Liebe, die in ihrer Masslosigkeit gar nicht anders bezeichnet werden kann als hingebungsvolle Eigensucht. Es schien fast, als vereinsame das Zinzilein über seiner Liebe zu dem Jungen, weil er nun so von ihr fortwuchs.

Sie sagte das Veronika auch. Aber die Tante blieb bei ihrer wunderlichen Ansicht: das müsse so sein. Im übrigen liess sie sich auf Erklärungen nicht ein, hütete sich dem Jungen gegenüber ängstlich vor aller Schulmeisterei und sorgte dennoch, dass sie ihm an der Hand ihrer Bücher von Zeit zu Zeit ein neues Wissensgebiet erschloss. Er ging auf alles mit begieriger Freude ein, aber von der Sorge, die Veronika in dieser Zeit des flüggen Jungentums am meisten beschäftigte, sagte sie dem Zinzilein gar nichts. Und dennoch schlief die Sorge nie ganz ein, es möchten sich eines Tages an Jockele vererbte Eigentümlichkeiten zeigen, denen gegenüber alle Erziehung und Liebe ohnmächtig wären. Aber diese Bangigkeit nagte nicht an ihr und quälte sie nicht; denn sie war ihr in Wahrheit gegen ihre Ueberzeugung gekommen in einer Zeit, die ganz voll war von der Mechanikerweisheit der Vererbung. Und dafür fand sie zu ihrem Erstaunen eines Tages auch bei dem Menschheitslehrer Goethe eine Belegstelle — „Man könnte erzogene Kinder gebären, wenn die Eltern erzogen wären ...“

Darüber geriet sie von neuem ins Raten. Aber trotz aller Mühe, die sie sich gab, konnte sie diese Verse nicht ganz zu ihrer Ansicht umdeuten, dass eine in allen Stücken vollkommene Erziehung die geistige und sittliche Verfassung eines Menschen aller Vererbung zum Trotze bestimme.

Tante Veronika hätschelte den Gedanken solchen unerkannten Königtums der Erziehung mit eifersüchtiger Liebe als die köstlichste Erkenntnis ihres Lebens — und nun wälzte ihr gar Johann Wolfgang einen Fels in den Weg! Zwar: er setzte damit auch der Erziehung eine der vielen Kronen auf, die seine königliche Hand zu vergeben hatte, aber ... Und dies Aber blieb stehen und rumorte in Winkeln ihrer Seele herum, die Jahrzehnte in wundervoller Sonnenruhe gelegen hatten.

Doch — eine sechzig Jahre alte Dame lässt sich schwerer umstimmen als ein sechshundert Jahre altes Klavier. Und das war in diesem Falle ein grosses Glück.

Wunderlicherweise war es das Zinzilein, das die Frage zuerst aufwarf, was einmal aus dem Jockele werden solle. Das kam daher, dass der Gedanke in dem Mädchen Wurzel geschlagen hatte: ein Junge müsse geschickt werden, sich ein Stück Welt zu erobern. Wie er das in Ibenheim anfangen sollte, war nicht leicht zu denken.

Tante Veronika war in diesem Falle von einer unerforschlichen Sorglosigkeit und sagte:

„Zuerst und vor allem muss er ein Mensch werden. Es ist falsch, einen Jungen für einen Beruf zu bestimmen, weil er im Spiele diese oder jene Neigungen zeigt. Solche Neigungen sind wichtig, aber es geht nicht an, darin in verliebtem Stolze gleich einen Weg fürs Leben zu erkennen.“

Das Zinzilein meinte, Naturforscher wäre für den Jockele das Richtige, und dachte sich etwas ganz Närrisches dabei.

Eines Wintertags, als alle Quellen des Lichts aus dem geschliffenen Späthimmel brachen und es aussah, als wäre die Himmelsglocke zertrümmert worden, weil der Sonnenball, siebenmal grösser als sonst, in seiner leuchtenden Majestät anders nicht hätte durch die Tore ziehen können, schlug der Jockele seinen Farbekasten auf und pinselte das königliche Spiel des Verleuchtens auf ein weisses Papier. Er sass am Fenster des Gartenhauses, sein Tisch war eine alte Hobelbank, an der in grauen Zeiten Tante Veronika ihre Rosenpfähle selber zugerichtet und grün angestrichen hatte — da fiel das gewaltige Flammenwerk des Himmels in seine jauchzenden Augen. Er wusste kaum, was er tat — es war ihm, er stünde davor mit hoch, hoch emporgestreckten Armen und wäre ganz nackt; denn alle Armseligkeit des Irdischen fiel darüber von ihm ab — und hätte ein Schauen in eine andere Welt. Aber er sass doch an der braunen Hobelbank, inmitten tausend kleiner Dinge, die er dem Alltag aus den Händen genommen, und strich in Selbstvergessenheit die Farben auf das Papier.

Und dann war es ein recht armseliges Machwerk geworden — es fehlte darin kein Licht, aber es fehlte das Leuchten ... Die Himmelsfreude seiner Augen war ausgelöscht auf der Spanne Weges durch den Pinsel! Darum sah sein Sonnenuntergang so verbrecherisch aus, als hätt’ ein Dorfjunge, der dem Puppenmaler zugesehen, einen Haufen farbiger Kreidestücke an der schneeweissen Haustür der Tante Veronika probiert. Scheusslich!

Er warf den Pinsel hin und verlor sich mit seinen Gedanken wieder in das letzte Scheinen, das noch ferne stand.

Es waren nun Wolken in wunderlichen und wilden Bildern über den Saum der Erde gekrochen und frassen den königlichen Glanz. Endlich waren nur noch zwei Oeffnungen in der Finsternis. Durch diese konnte man hineinsehen in glutrote Weiten ...

In diesem Augenblicke zerriss ein schwarzer Vorhang vor einer Kammer seines Herzens, und was ihm kein Mund eines Menschen erklärt hatte, ging in seiner Seele auf als eine rote stille Flamme: er erriet ein Stück der Götterlehre der Germanen, die von den Gipfeln dieser Berge, so wie er jetzt, durch die Türen des Himmels geschaut und ein machtvolles Wandern von Gestalten gesehen hatten, die dort in einem grossen Lichte gingen. Und weil die Vorfahren noch nichts von der Welt kannten, als was sie mit ihren Sinnen erfassten, deuteten sie sich das Gesehene und sagten: es ist das ewige Leben in jenem grossen Leuchten, und sie nannten es Walhall ...

Da fiel der rauhe Ruf des Mädchens Mali in den Sternenflug seiner Gedanken. Es war die Zeit des Nachtmahls, das sehr früh genommen wurde.

Auf seinem Gesichte lag noch der Widerschein des heiligen Feuers. An anderen Abenden nahm er sich mit wissbegierigen Augen gleich beim Eintritt ins Zimmer von den aufgetragenen Speisen einen Teil des Wohlbehagens hinweg, in das sich sein gesunder Jungenappetit hineinzuessen gedachte — heute stand er diesen Dingen gleichmütig gegenüber wie noch nie.

Das Zinzilein, das gewöhnt war, alle seine Begeisterungen und Enttäuschungen mitfühlend zu durchleben, als wär’s ein Stück von ihm, ein grosses Stück, trat gleich ohne anzuklopfen mitten in ihn hinein —

„Na,“ fragte es.

„Ich habe ein grosses Erlebnis gehabt!“ sagte er mit Wichtigkeit.

„Wahrhaftig — es ist noch ein ganz fremder Klang in Deiner Stimme!“

„Ich wünschte, ich könnt’ Euch alles halb so schön sagen, wie ich es gedacht habe! Aber es geht nicht. Wenn ich erzählen wollte, würde es geradeso herauskommen wie der Sonnenuntergangshimmel, den ich zu malen versucht habe. Ich wette, ich habe jedes Licht auf dem Papier, und ist dennoch eine abscheulich schlechte Sache ... es sieht aus wie die bunte Kaffeedecke, als sie das Mädchen Malchen mal abgekocht hatte, und sollte doch der Himmel werden — der herrlichste Abendhimmel, der je über der Erde gestanden hat!“

Er redete da in Worten, wie er sie vordem nie gebraucht — jedes hatte Flügel, und seine Augen hatten den Glanz grosser Sterne.

Dann lockte das Zinzilein Walhalls Entdeckung aus ihm heraus.

Er redete sich darüber in fernschauende Vergessenheit, aber es ward zuletzt doch nur ein Bild ohne den überirdischen Glanz, in dem seine Träume durch die Dämmerung gezogen waren. Das kam auch von der Scheu, vor den prüfenden Blicken der Tante und des Zinzilein alle Hüllen von der Seele zu werfen.

Darüber ward er schweigsam. Das Essen geschah ohne die begeisterungsvolle Hingabe, zu der er sonst imstande war, und er sah aus wie einer, der eine Erscheinung gehabt hat. Er war in der Dämmerung dieses Wintertags in einen neuen Abschnitt seines Lebens gesprungen.

Vor dem Schlafengehen nahm er sich das Zinzilein noch einmal zur Seite und sagte: „Du, das quält mich! Lach’ aber nicht! ... Es ist heute so etwas in mir aufgegangen — weisst Du, gerade wie damals, als die Schauspieler im Dorfe waren ... Wir sassen in dem ganz finsteren Saale, auf einmal rollte der Vorhang empor — es blühte ein schöner Rosengarten dahinter und stand alles in so warmem Lichte ... Jawohl, so ist es in mir gewesen! Zinzilein, sag es mir: ist das die Seele?“

Gott, wie purzelten ihm die Worte klug und unbeholfen über die Lippen!

Aber wenn er das alles hätte Veronika sagen sollen, wär’ es noch reichlich dümmer geworden.

Das Zinzilein geriet an dieser Frage des grossen Erwachens in Herzensnot. Es merkte: der Junge wollte eine sichere Rede hören über Dinge, die ihr selbst bis zu dieser Stunde nur unsichere Gedanken gewesen waren. Wie sollte sie denn das anfangen, ohne sich Jockeles Achtung und Liebe zu zertrümmern?

„Ja,“ sagte sie aus grosser Bedrängnis heraus, „das ist die Seele!“

„Das hab ich mir gedacht,“ sagte er in aufatmender Befriedigung. „Ist Dir das auch so gegangen?“

„Aehnlich wird es wohl gewesen sein,“ lächelte das Zinzilein. „Aber weisst Du, das sind Dinge, über die man erst klug reden kann, wenn man viel älter geworden ist. In der Jugend ist es genug, wenn man weiss, es ist etwas da, das einen von innen so warm und hell anscheint wie die Sonne von aussen.“

Das war das erlösende Wort! Es fiel in den Jungen aus einer grossen Not ihres Herzens, das an diesem Abend jedem seiner Gedanken und Blicke treues Geleit gegeben hatte. Und darum fand sich’s nun so auf Zinzileins Lippen, just wie es das drängende Begehren des Knaben brauchte, das plötzlich an dem Uhrwerke des Lebens herumzuraten begann.

Als der Jockele, der schon seit Jahren allein in der Giebelstube schlief, zu Bett gegangen war, geriet das Zinzilein in ihrer Bedrängnis an Tante Veronika. Die sass in der warmen Behaglichkeit ihres Lehnstuhls, aber als das Mädchen das fremde Geschütz auffuhr, griff Tante Veronika mit der einen Hand nach der Krücke des gelben Stockes, an dem sie nun aus einer alten Familiengewohnheit heraus zu gehen pflegte, und mit der anderen glitt sie so langsam über das Gesicht, als müsste sie sich ein bisschen lächelnde Verlegenheit abwischen ...

Es wurde an diesem Abend länger und gefühlvoller gesprochen als sonst, ohne dass es zu Entdeckungen von grundlegender Bedeutung über das Wesen der Seele gekommen wäre.

Seit dieser Zeit beschied sich Jakobus nicht mehr damit, vorgedruckte Bilder auszutauschen, sondern er suchte Farben und griff nach dem Himmel.

Darüber wurde das Zinzilein von einem grausamen Lachen befallen und sagte: kleine Kinder machten es geradeso — sie langten zuerst nach den schönen goldenen Nägeln des Firmaments, dann aber spielten sie mit Steinen und schlechtem Sand! Ob denn auf der Erde nicht etwas wäre, und nicht so voll von unmalbarem innerlichen Glanze wie die Wunder des Himmels? Sie könnte ihm zwar weiter nichts helfen als sehen ... „Guck,“ sagte sie, „da steht draussen der Zaun aus lauter braunen Stänglein, steht vor dem blauen Tuche des Himmels und hat sich so viele kleine Mützen aus frischem Schnee aufgesetzt ... könnte man das nicht malen?“

Himmel, was solch ein grosses Mädchen für herrliche Einfälle hat! — Da war das Zinzilein schon aus dem Gartenhause gesprungen, kam aber gleich wieder, schwang ein blaues Papier und sagte: die Sache wäre einfach genug — er brauchte den Himmel nicht einmal zu malen; denn da wäre er schon!

Die Tante lobte ihn danach mit Massen und sagte: wenn er hundert solche und ähnliche Dinge vor der Natur weggenommen, werde er grosse Geheimnisse entdecken. — Das war ein Rätselspruch von der Art jener, die die verschleiernde Kunst der Pythia geliebt hatte! Einer, der vor einem grossen Werke steht ohne den heiteren Glauben an seine Kraft, kann sich darüber verbluten.

Das Zinzilein verlangte mehr Lob für den Jockele, aber Tante Veronika überhörte das gute Wort gänzlich.

Die beiden letzten Schuljahre des Jungen wurden von ihr sehr ernst genommen, die Naturgeschichte und Malerei schienen dabei geflissentlich übersehen zu werden und blieben für die Sonntage und die Ferien.

Veronika hatte auch eine lateinische Grammatik ungemein ehrwürdigen Alters unter ihren Büchern entdeckt, die war voll Genusregeln von klappriger Enthaltsamkeit des Geschmacks und Geistes. Dazu ein Uebersetzungsbuch von Ostermann für Sexta, das bibliophilen Wert hatte; denn es war eines der ersten Exemplare der ersten Auflage und trug eine vergilbte Einschrift des Verfassers für den Vater der Tante Veronika.

Jockele, der sich ausrechnete, dass dieser Vater um jene Zeit gut hundertzwanzig Jahre hätte zählen können, ahnte beim Anblick der greisenhaften Würde des Buches zum andern Male seine Seele — diesmal in einem fröstelnden Erschauern.

Dann kam über die alte Dame eine fast heftige Betriebsamkeit im Latein. Gleich zu Anfang aber forderte der Junge Frist zu einem Privatschnaufer der Verwunderung, weil die Tante das nun auch noch konnte. Allein, sie gestand ohne Umschweise, dass es mit ihrem Latein hapere. Doch — das kannte der Jockele! Nichts als übertriebene Bescheidenheit! Und er war geneigt, jede Wette einzugehen, dass der Professor Sinsheimer, der an dem gelben Krückstock durch die Strassen Bremerhavens gestabt und dessen Werk die Tante Veronika war, an ausbündiger Gelehrsamkeit zugrunde gegangen wäre.

Während dieser letzten Schuljahre stand der Jockele der Grammatik und dem Uebungsbuche mit frostigem Herzen gegenüber, er lernte, weil er sollte, und niemand im Hause wusste eigentlich recht, wozu. Selbst Tante Veronika war froh, als sie dem Jungen erklären konnte, nun sei es mit ihrem Latein zu Ende. Das war an dem Tage, an dem sie die letzte Seite des Ostermanns für Sexta umschlugen.

Danach kam die heitere Ruhe des Frühlingshauses ein wenig ins Wanken, es war ein wunderliches Drängen nach aussen. Zuerst ging die Schulzeit des Jockele zu Ende, und es richteten sich allerlei Fragen steil und nüchtern vor dem innigen Beisammensein auf. Sie forderten die Antwort nicht von einem Tage zum anderen, aber sie schoben bei jeder unpassenden Gelegenheit den Kopf zwischen die drei Menschen und sagten: „Na, wie wird das?“ Und sie wären noch viel hartnäckiger gewesen, wenn das Zinzilein nicht um diese Zeit maienseliger Erdenfreude von einem Forstgehilfen schön gefunden worden wäre. Weil der nicht das Töchterlein des Holzhauers und Puppenmachers Laufer, den er im Walde an die Arbeit zu stellen hatte, sondern das Ziehkind der feinen alten Dame ehelichen wollte, war ihm von vornherein klar, er werde einen heillosen Sturm im Haus aus dem Hügel losmachen, der ihm die grossen Klötzer nur so vor die Füsse wirbelte.

Die erste Betätigung dieser Liebe war das Interesse des jungen Forstgehilfen für den Jockele.

Einmal auf einem Spaziergang, als auf den Waldgrund die braunen Knospenhüllen der Buchen herabschneiten und das brünstige Schauern der Frühlingserde sich an Quellen und Bachsäumen zu Bändern aus Vergissmeinnicht zusammenwob, schlug der Forstmann Matthias Prinz dem Jungen eine Tür auf, durch die er einen Blick in die Ferne tat — so weit hatte er nie sehen können, wenn Tante Veronika vor seinen Augen hinaus ins Leben deutete! Es waren in Matthias einige Erinnerungen aus verlorenen Lateinjahren wachgeworden.

„Siehst Du,“ sagte er zu Jockele, „das Latein, das ich nicht gelernt habe, hat mir die Hälfte meines Lebens verdonnert!“

„Wie denn das?“

„Nun, ich hätte Oberförster werden können und Forstmeister — aber an dem Latein bin ich hängen geblieben.“

„Und wenn einer nicht Forstmeister werden will?“ klügelte Jockele an dieser Rede herum.

„Lern’s. Junge!“ schrie ihm Matthias Prinz ins Gesicht und legte ihm beide Hände auf die Achseln, „und wenn Du’s hundertmal nicht weisst, wozu Dir dies oder jenes nützen soll — raff zusammen in Deinen Frühlingsjahren, was Du kannst, denn es könnte die Zeit kommen da Du Gold daraus schlägst!“ Nach dieser klingenden Rede fragte er kurz: „Was willst Du werden?“

„Ich weiss es nicht. Wenn ich sehr fleissig bin, darf ich mir’s noch drei Jahre überlegen; bin ich faul, muss ich in irgendeine Lehre.“

„Junge,“ sagte Matthias, „das ist ja grossartig! ...“

Darüber waren sie an den Saum des Buchwalds gekommen, an dem die Umzäunung über dem Goldbrunnen dahinlief.

Sie gingen ganz langsam dem Frühlingshaus entgegen, und Herr Matthias Prinz redete sehr laut und väterlich.

Da lugte die Mali aus dem Küchenfenster, was es wäre, und gleich darauf trat Tante Veronika an dem gelben Krückstock heraus in die Sonne. Sie überschüttete die jungen Leute ganz mit der hellen Freude, die immer nicht genug Platz in ihren Augen hatte, und sagte, sie könne dem Herrn Matthias nun endlich danken für die Teilnahme, die er an der Entwicklung des Jakobus zeige.

Herr Matthias Prinz aber redete sehr verbindlich und ehrfürchtig zu der alten Dame, von der alle einsichtigen Leute mit so heillosem Respekte sprachen, und fand sich auch geschickt zu der Behauptung, von der er dachte, sie werde sie am meisten erfreuen. Er sagte, sie hätte den Jockele zu einem sehr klugen und braven Jungen erzogen.

Es lag aber nicht in der Art Veronikas, sich im Sturme nehmen zu lassen. Deshalb begegnete sie der prinzlichen Begeisterung mit einer massvollen und sicheren Liebenswürdigkeit; und als Matthias fragte, ob er bei Gelegenheit einmal in ihr Haus treten dürfe, entgegnete sie: „Ich werde mich darüber freuen; und dann wird Ihnen Jakobus in der Gartenhütte zeigen, wie er lernt, und Sie werden ihm sagen, dass ihm noch viel zu tun übriggeblieben ist.“

Danach reichte sie ihm die Hand und wusste, dass aus diesen drei Minuten die grösste Wandlung in ihrem Hause hervorwachsen würde, die seit dem Eintritt Jockeles darin geschehen war.

Nichts an ihr verriet diese Erkenntnis, aber das Herz des Herrn Matthias Prinz hatte Schwingen bekommen und wirbelte mit ihm hinein in den Frühlingswald — die Finken rührten ihr Schlagzeug, als hätten sie Wachtparade, die Mönchsgrasmücke trug den Schellenbaum, und die wilden Tauber schlugen die grosse Trommel. Und der Herr Prinz — als wär er schon König geworden — bildete sich ein, die ganze Waldmusik hätte der Frühling extra für ihn losgelassen. —

Jockele stand auch über diesen Tag hinaus den Ereignissen mit Unbefangenheit gegenüber. Das Geheimnis der rosenroten klingenden Liebe war für ihn noch nicht erfunden, und er brachte nicht den ahnungslosesten Verdacht auf, dass er von dem Herrn Matthias als Sprungbrett zu einer himmelblauen Seligkeit benutzt würde.

Gesprochen wurde nach Ansicht des Jockele von dem Forstgehilfen im Hause nur dann, wenn er selbst die Rede auf ihn brachte; Tante Veronika hatte mit sehr nachdrücklichen Worten namentlich der Mali alles verboten, was für die Ohren des Jungen nicht passte. Dass Mali und das Zinzilein in dieser Zeit oft recht geheimnisvoll taten, merkte er auch nicht — ein Junge merkt überhaupt nicht viel; er wühlte sich im Gartenhaus mit einer Wichtigkeit in seine Bücher, die er über den anderen Pflichten der Schule nicht einmal geahnt hatte.

Darüber war auch der „Ostermann für Quinta“ beschafft worden, an dem der alte Pastor in Jockeles Gemeinschaft jede Woche drei Stunden sein verblichenes Latein auffrischte.

Als Herr Matthias nach einigen Wochen im Frühlingshause Besuch machte, beschränkte ihn die Tante wiederum für die Dauer von drei Minuten auf das Damenzimmer. Dann begleitete sie ihn vor das Gartenhaus, das Zinzilein guckte durch den Vorhang, und der Herr Matthias Prinz suchte mit seinen Augen über die Achsel der Tante hinweg, ob etwa aus diesem Fenster ein Sonnenschein fiele. Er redete dabei ausgiebig und bezeigte ein grosses Interesse für die Anlage des Gartens.

Veronika war auch davon nicht im geringsten überrascht — wer überhaupt dächte, sie hätte sich von Stund an in die Rolle des schätzehütenden Drachen eingelebt — ha, der würde Fräulein Sinsheimer sehr schlecht kennen!

Sie liebte es, die Augen zu schliessen, um besser sehen zu können, und war dem Zinzilein selbst in den wichtigsten Angelegenheiten der Liebe unbedingt vertrauenswürdig. Wenn der Jockele davon etwas hätte ahnen dürfen, so hätte er gesagt: „Nun versteht sie das wahrhaftig auch noch!“

Tante Veronika hatte gegen die Dinge, die sich nun im Frühlingshause vorbereiteten, nicht das geringste einzuwenden, aber sie wollte alles mit der ihr eigenen Delikatesse behandelt wissen.

Sie fand es selbstverständlich, dass das Zinzilein gleich das neue Muster abhäkeln musste — jetzt, am Sonntag mittag, und eine Stunde vor dem Essen! Und sie fand es durchaus natürlich, dass dies auf einem Platze hinter dem Vorhang des Fensters nach dem Gartenhaus hin geschah, an dem das Zinzilein sonst nie sass. Dabei blühte das Zinzilein wie eine Malve und war von weltumarmender Glückseligkeit. Und weil Tante Veronika wusste, dass solch ein Glück als Geheimnis tausendmal schöner ist, merkte sie von den musizierenden Engeln, die das Zinzilein umtanzten, gar nichts.

Nach einiger Zeit ging die Gartentür — da stürzten sich alle anwesenden Engel dem Mädel ans Herz und läuteten damit, dass ihm angst und bange wurde.

In der schönen Zeit dieses Jahres schlossen sich Herr Matthias Prinz und Jockele innig aneinander, wiewohl der Forstgehilfe beinahe noch einmal so, alt war als sein junger Freund. Sie waren fast an jedem Tage beisammen.

Weil Matthias keine Gelegenheit vorübergehen lassen durfte, die sehr umsichtig befestigte alte Dame zu erobern — und wenn sie mit Ketten an den Himmel gebunden wäre! —, so machte er dem Jungen die Waldgänge zu fröhlich angeregtem Unterricht vor der Natur. Darüber wurde alles Glanz an dem, und er lief in seine ersten Jünglingsjahre, als wäre er der Blütenzauberer Frühling selber.

Das Ebenmass seines Wachstums geriet um diese Zeit, die zwischen den Zeiten steht, ein wenig in Unordnung, und die Glieder baumelten manchmal in der Welt herum, als wüssten sie nicht, was sie schlagen sollten. Das Zinzilein aber sagte in belustigter Uebertreibung, Arme und Beine hingen um ihn wie langgereckte Fragezeichen.

Aus dieser Erkenntnis des Zinzilein erklärte er sich die merkwürdig fremden Augen, mit denen das Mädchen nun manchmal an ihm herumsuchte, als gingen sie Rätsel raten. Und es trat auch sonst eine Veränderung in ihrem Wesen ein; früher machten sie oft einen Ringkampf, zu dem sie ihn sogar herausforderte — jetzt wies sie das als eine ganz unmögliche Sache von sich, und er hatte doch gerade so grosse Lust dazu. Früher war sie ein Kind gewesen wie er, nun war sie über Nacht ein Fräulein geworden und war voller Geheimnisse. Früher sah man ihr an, dass sie das Leben des Jungen in allen Stücken zu dem ihren machte jetzt wusste sie nicht einmal mehr in seinem „Laboratorium“ in der Gartenhütte recht Bescheid. Und die natürlichste Sache von der Welt — nämlich dass sie der Jockele heiraten würde — schien ihr auf einmal ein kindischer Spass, und sie lachte ihn aus. — „Davon verstehst Du noch gar nichts!“

Einmal des Abends, als die sammetweiche Sommernacht durch die Fenster ins Zimmer stieg, trat auch das Zinzilein herein, und seine Augen flogen vor ihm her wie Leuchtkäfer; da nannte sie der Jockele „ein merkwürdiges Stück Naturgeschichte“.

Er erzählte Tante Veronika, was er die Tage her von Herrn Matthias gelernt hatte, und das Zinzilein wurde darüber ganz Andacht.

Des anderen Tages ging sie selber mit ihm in den Wald, und da musste er ihr jede Seite des leuchtenden Sommerbuches umschlagen und musste vorlesen, was darauf geschrieben war — nicht nur von den Arten der Blumen und Bäume und des vielerlei Getiers, sondern auch von der Forstwirtschaft wollte sie hören. Sie war fast fürchterlich in ihrem Wissensdrange.

Da sagte Jakobus, sie solle nur einmal mitkommen, wenn er mit dem Herrn Matthias ginge. Aber das Zinzilein lachte ihn für diesen wohlmeinenden Vorschlag aus, und dies Lachen schlug einen Laden an seiner Seele auf, und es brach eine Fülle neuen Lichts in ihn. Ein Gedanke sprang ihm klingend ins Herz — da ward dies Herz voller Ahnungen. Das Zinzilein aber bückte sich rasch und strich mit der Hand über das grüne weiche Waldmoos ..

„Polytrichum commune, Goldhaar,“ sagte ihr der Jockele.

„Weisst Du das auch von dem Herrn Prinz?“

„Nein. Alles soll ich von dem Herrn Prinz haben! ... Warum bist Du denn so rot geworden?“

„Weil Du so grausam gelehrt bist,“ log das Zinzilein.

„Es wäre auch ein Name für Dich, Prinzessin Goldhaar!“ scherzte der Jockele.

Da wurde aus dem Zinzilein eine ungeheure blutrote Verwirrung; denn dieser Junge sprang ihr mit dem goldenen Wortspiele vom Prinzen und der Prinzessin mitten hinein in das Allerheiligste ihres Herzens, und es fehlte nicht viel, so ertappte er sie über heimlichem Opfer.

Das Herz des Zinzilein schlug sich allgemach in das vorige Gleichgewicht; sie war aber kurz angebunden, und ihre Gedanken stolperten umher wie die Libellen mit den blauen und glasgrünen Flügeln.

Von diesem Tage ab wurde das Verhalten Jockeles zu dem Herrn Prinz ein wenig anders. Aber nicht etwa respektloser, weil er hinter ein Geheimnis gekommen, oder gar misstrauisch, sondern es wurde ein bisschen verwandtschaftlich.

Der Himmel mochte wissen, wer dem Forstgehilfen das Märchen von der Prinzessin und dem Prinzen erzählt hatte — genug, er kannte es.

Danach kam er eine ganze Woche nicht ins Frühlingshaus, weil er in einem sehr fernen Forste Vermessungen vorzunehmen und Arbeiten zu überwachen hatte — aber am nächsten Sonntag, als schon die Mittagsglocke über das Dorf läutete und der Jockele ahnungslos von irgendwo aus dem September kam, nahm ihn die Mali gleich an der Haustür in ihre Hände. Ihre Augen fielen ihn an wie zwei Sonnen, und sie zog ihn eilig in die Küche und war gar nicht bei sich.

„Der Herr Prinz ist drinne!“ zischte sie ihn an. „Er will das Zinzilein heiraten — alleweil sagt er’s der Tante!“

„Hab ich längst gewusst!“ sagte Jockele so von oben herab, fiel aber gleich aus der Rolle, fasste die Mali unter und wirbelte sie ein paarmal durch die Küche. Dann gingen sie auf den Zehen, horchten manchmal ein bisschen durch den Türspalt und wisperten miteinander wie die Goldhähnchen im Winterwalde — alles als gäbe ihnen eine dunkele Ahnung ein: sie beide müssten nun zusammenhalten, da das Frühlingshaus langsam zu vereinsamen begann.

Auf diese losgelassene Freude kam ein Augenblick, der wäre beinahe sehr feierlich geworden: die Tante trat in die Küche und sagte, der Herr Matthias Prinz speise heute bei ihnen zu Mittag; dann führte Veronika den Jockele in das Zimmer, das ganz voll Gold und Glück und weisser Vorhänge war — „Jakobus,“ begann sie und gedachte in sehr schönen Worten von einer grossen Freude zu reden. Aber das dauerte dem Jakobus zu lange, da ging er ihr durch und stürzte den beiden ans Herz.

So hatte Herr Matthias Prinz das Wachstum dieses Jahres unter Dach, ehe die Welt von Nebeln eingewoben wurde — wie sich das für einen vorsichtigen Liebhaber schickt.

Tante Veronika, obwohl sie niemals in himmelblauer Verlobungsseligkeit herumgeflogen und darüber hinaus von dem anderen Geschlechte so gründlich stehen gelassen worden war als möglich, kam dennoch nicht auf den Einfall, es diesen einen entgelten zu lassen und ihn in Entsagungen zu üben — nur auf Delikatesse hielt sie und bestand darauf, dass „solche Sachen“ nicht zum Ansehen für andere gemacht seien. Wodurch aber nicht verhindert wurde, was sie beabsichtigte — nämlich, dass der lange schöne Knabe Jakobus die Vorstufe zu einer raschen und gründlichen Liebesschule durchmachte. Wäre der Lehrstoff weniger delikat zum Vortrage gelangt, so hätte Jockele vielleicht nicht die nötige Anteilnahme aufgebracht und wäre davongelaufen. Aber dieser Herr Prinz war in allen Stücken von einer so vorbildlichen Ritterlichkeit, dass der Junge während des Winters feststellte: Matthias der Prinz und Prinzessin Zinzilein wären einander durchaus würdig, und das Mädel in seiner sonnigen Blondheit wäre nun noch viel schöner geworden ... Lauter Dinge, an denen der Jockele so viel herumzudenken hatte, dass er denselbigen Winter in der Folgezeit einmal „die Auferweckung des Jakobus“ genannt hat.

Durch den tiefsten Bergschnee herüber trug Matthias eines Tages die Nachricht, dass er vom 1. April ab als Revierförster in der Nachbarschaft des Hörselberges bestimmt sei. Natürlich wollte er nicht unbeweibt seinen Einzug in das Waldforsthaus halten — da überkam den Jockele zum ersten Male die Schwäche der Eifersucht, und zwar auf beide, die sich ihm gegenseitig wegnahmen.

Er wäre darüber am Ende in die Unzufriedenheit des Flegeltums hineingewachsen, dem der liebe Gott zur Warnung als äusseres Kennzeichen das schlaksige Unebenmass der Glieder anhängt. Aber die Erziehungskunst der Tante Veronika trieb an ihm eine schöne späte Blüte: sein Takt gegenüber der waldgesunden Männlichkeit des Schwagers behütete ihn vor Entgleisungen.

So focht er den ersten Kampf mit sich und der Welt in der Stille des Gartenhauses aus; er ward einsilbig, er knurrte auch einmal, wenn er durch die Stube wippte, aber er setzte sich nicht dem vereinigten Gelächter der Engel und Menschen aus, die während der Vorbereitungen zur Hochzeit das Haus bevölkerten. Er arbeitete sich um seine offensichtliche Zurücksetzung mit grossem Eifer herum, entschädigte sich durch Erzählungen aus dem Gallischen Kriege des Cäsar, den er um diese Zeit mit dem Pastor las, und hörte mit sieghafter Genugtuung zu, wenn der ritterliche Herr Matthias das Bekenntnis ablegte, dass sein Schiff an dieser Klippe fast wrack geworden wäre.

So war Jockele über allem auf ein Nebengeleise rangiert worden. Da fiel er in der beschaulichen Ruhe seiner Gartenhütte auf eine Verzweiflungstat: er hatte die Schmetterlinge seiner Sammlung gemalt und begann, zu jedem die Naturgeschichte zu schreiben. Es war die erste Arbeit, die er planvoll ausnahm und durchführte. Das Zinzilein, das ihn am liebsten als „Naturforscher“ gesehen, hatte auch Verdienste an seinen farbigen Tier- und Pflanzenstudien, die oft recht hilflos waren. Deshalb dachte er, er wollte dem Zinzilein dies „Werk“ als Hochzeitsgeschenk überreichen; denn er wusste, Prinzessin Goldhaar war mehr als die anderen dazu geneigt, gute Vorsätze als Taten anzusehen.

Mitte März war er damit fertig, und als es der Buchbinder wieder ins Haus schickte, standen sie in diesem Hause gerade vor der Hochzeit.

Die wenigen Tage surrten noch vorüber; dann kam der stürmische 1. April, der das Zinzilein dem Frühlingshaus entführte — Himmel, was war von dieser blonden Mädchenjugend eine Fülle von Sonne gekommen!

Nun, da sie nicht mehr da war, schauerte den Zurückgebliebenen die Einsamkeit fröstelnd ans Herz. Ueberall lagen Erinnerungen: Blätter aus zerfallenen Blüten — das ganze Haus war voll von abgestandenen Festtagen; es war stief und stoppelfeldig in allen Zimmern, und gegen die Fenster stiess der Sturm, klirrte der Aprilregen.

Tante Veronika hatte sich fest zugeschlossen, stabte mit dem gelben Stocke in ihrer Wehmut herum und suchte nach einem liegengebliebenen Sonnenschein. Es war aber keiner da.

Vielleicht lief das alte Fräulein auch dem Gedanken nach, ob sie denn zum zweiten Male ganz verwaisen sollte?

Es ist bei den Jahren anders als bei den Menschen — die Jahre kriegen im Alter das Rennen, und man muss sich bei guter Zeit vorsehen, will man sie nicht davonlaufen lassen.

Jawohl, ganz heimlich dachte Tante Veronika daran, wie sie den Jungen im Hause behalten könnte, ohne dass er an ihrer verzeihlichen Selbstsucht nicht zur vollen Entfaltung seiner hellen Gaben gelangte. Aber sie fasste diesen Glauben nicht mit der alten Festigkeit an, weil ihr das Herz davor bange war. Und diese Bangigkeit verlor sie nicht mehr. Doch brauchte sie nicht lange an der Frage herumzuraten; denn eines Tages stand ein Sturm auf, der dem alten Mädchen am Bergwalde den Jungen aus Haus und Händen wirbelte ...

Zuvor aber kam Maria Reh nach Ibenheim.

Da war der Frühling im vollen Gange und schüttete ein Blühen in die Gärten, dass es über die Zäune lief.

Weil Fräulein Reh zuerst mit dem Mai durch den sprossenden Buchwald gestrichen war, kam sie mit Maleraugen voll Entdeckungen und einem Herzen voll Licht und Himmelblau und trat in das erste Haus, an dem sie der Weg aus dem Walde vorbeiführte.

Darin wohnten die Laufers. Frau Barbara fing sie gleich in dem Netz ihrer Freude und schüttelte die ganze Hochzeit und das Glück des Zinzileins über sie. An diesem Tage nahm Maria Reh die Stube nach dem Wald hinaus.

Als sie am nächsten Morgen mit der Staffelei in die Bergsonne stieg, um ihre Sinne vom wilden Farbendrängen zu erlösen, ward sie von dem Mädchen Mali erspäht. Deshalb schritt bald danach der Jockele von ungefähr des Weges, um zu sehen, was es wäre. Er kroch erst ein bisschen um das Malfräulein herum, und weil er noch so zwischen den Lebensaltern stand, durfte ihn ihre Spätfrühlingsreife ohne Scheu ermutigen. Es wurden ein paar falterleichte Fragen gewechselt — die erste liess Maria auffliegen. Weil sie den Jockele mit „Sie“ anredete, bekam er einen roten Kopf; denn das passierte ihm zum ersten Male. Aber er fand sich alsbald in das erforderliche Auftreten und erwies sich dabei als fertiger Schüler seines Schwagers Matthias.

Am ersten Regentage machte Maria Reh der Tante einen Besuch. Sie trat auch in das „Laboratorium“ und erbat sich den „Herrn Jakobus“ als fröhlichen Malergesellen, nachdem sie seine frischen, aber ungelenken Versuche gesehen hatte.

Einige Tage später, in denen das junge Buchlaub ganz zu Golde geschlagen worden, war aus dem komischen „Herrn Jakobus“ für das Fräulein schon der junge Jockele geworden — manchmal hiess er noch „Sie, Herr Jockele!“ — und er sass neben ihr im Walde und visierte mit dem Zielauge über den Bleistift hinweg die Lage der Dinge, die er skizzierte.

Wieder nach einiger Zeit wanderten sie zusammen in das Forsthaus am Hörselberge. Da nahm auch Maria ihr Skizzenbuch mit und redete von lustigen Malerfahrten beider Herzen in ein weltumarmendes Glück.

Die enganliegende Lebensart im Frühlingshause, die das Werk der Tante Veronika war, fand sich bei Maria Reh nicht. Sie war ein blondes, schlankes Mädchen mit einem Teutoburgerwaldgesicht und einem freien Hals, an dem über dem Blusenausschnitt unter dem Nacken der erste Rückenwirbel kräftig hervortrat; denn er hatte zu tun, den Kopf mit dem klingenden Haar und dem klaren, kühnen Gesicht zu tragen.

Natürlich behauptete Maria, sie wäre viel grösser als Jockele. Als sie einander aber mit entschuhten Füssen und aufgelegtem Skizzenbuch an einem Waldstamme massen, war zwischen den beiden Strichen gerade nur so viel Raum, dass ein Sonnenstrahl hindurchkriechen konnte.

Diese Messung fand auf dem Wege zu dem Berge der Frau Venus statt. Und weil es eine so sonnevolle Waldfahrt war, gelangten sie erst im roten Lichte des Spätnachmittags in das Forsthaus und standen beide über und über in Blüte. Deshalb läutete das prinzliche Paar gleich mit allen Glocken, und das Lachen schoss als goldene Raketen in die Waldnacht vor dem traulichen alten Jägerhause. Dabei wurde festgestellt, dass der Jockele in sechs Wochen um sechs Jahre älter und ritterlicher geworden sei, und er, dem das Haar so wellig und schwarz um die Stirne wehte, hatte die Augen voll feuchten Glanzes.

Das Zinzilein schaute fast erschrocken in dies heisse Licht, das aus einem tiefen Himmel kam. Aber der Jockele sagte: daran wäre die Sonne schuld, die über Tag hineingeronnen, und daran wäre schuld, dass diese Augen nun Dinge zu suchen und zu sehen hätten, von denen das Zinzilein samt seinem jungen Herrn Förster gar nichts ahnte. Er sagte das aus einem gläubigen Jungenherzen heraus; aber das Zinzilein musste doch auf der Hut vor sich selber sein, dass sie ihn nicht für ganz erwachsen nahm und ein bisschen an ihm herumklopfte ... denn auch das Zinzilein war in diesen sechs Wochen gelehrig gewesen und verstand sich auf Männeraugen.

Sie blieben in dieser Nacht im Forsthaus, und am Morgen wusste der Jockele, warum ihn das Zinzilein manchmal mit so rätselhafter Lustigkeit ansah, hinter der immer ein sehr grosses und sehr leuchtendes Ausrufezeichen stand. Sie schliefen in den Zimmern im oberen Stockwerk, und ihre Betten standen Wand an Wand. Der Hochwald hauchte die Kraft durch die weiche Nacht, die die Kerzen zur Frühlingsfeier aus den schwarzen Tannen treibt, und irgendwo unter den Fenstern brach ein Brunnen aus dem schwarzen Stein und flüsterte der Nacht wunderliche heimliche Reden ins Ohr. Als Jakobus an das Fenster trat, hauchte ihn die Südwand des Zimmers mit einer süssen Schwüle an, dass er erschrak; denn es war, als legte Maria Reh die Arme um ihn.

Er löschte das Licht, das ihm das Zinzilein aufs Zimmer gebracht hatte. Die blaue warme Finsternis tat ihm wohl — und da merkte er, das Zinzilein hatte die Rätsel seiner Augen schon erraten, ehe er noch wusste, dass sie darin waren. Aber nun, in der Stille dieser Waldnacht, nun war das Wunder da: er sah in der Finsternis! Es stand ein hohes blondes Frauenbild vor ihm, reif wie ein Aehrenfeld im Sommer, wenn der Duft von gebackenem Brote über die wogenden Halme zu schwimmen beginnt, und Maria Reh war schön wie eine Königin. Er blieb immer in der Nähe der Wand, in die des Tages die Sonne gesickert war, und fühlte den warmen fremden Odem ... Mitten darin stand Maria Reh in ihrer leuchtenden Ueberlegenheit und zog ihn an sich und küsste ihn mit ihren roten Lippen auf den Mund. „Was bist Du für ein lieber stolzer Junge,“ sagte sie. — „Stolz?“ fragte er. „Wissen Sie denn nicht, dass ich immer so vor Ihnen knien möchte wie heute an dem warmen Waldhange, wo der Wachtelweizen in tausend blauen Lichtern brannte? Und wissen Sie denn nicht, dass ich Ihr Edelknabe bin, Sie liebe, liebe blonde Königin?“ Da hörte er ihr klingendes Lachen, und sie nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände und küsste ihn auf die Stirn ...

Ueber dem Kusse schloss er die Augen und fühlte ihn hinabrinnen als ein wundersames himmelfremdes Glück bis in sein Herz.

Und er ward durstig nach dem blutroten Leben ihres Mundes — aber er dachte nicht daran, sie zu küssen, sondern sie musste es sein, die sich über ihn beugte und ihm aus der Gnade ihres Königinnentums reichte, wonach er so sehnsüchtig war ...

So sahen die Verheerungen aus, die dieser jubilierende Maitag in Jakobus Sinsheimer angerichtet hatte. Weit über die Mitternacht hin schwamm er in einem rosenroten Meere von Seligkeit ... Auf einmal wachte er auf — der Morgenhahn warf seinen Ruf wie eine goldene Lanze durch das Fenster! Jockele erwachte sehr nüchtern; er hatte sich in den Schlaf gefreut; denn er dachte, der Traum würde die Fäden noch viel schöner weiterspinnen, die er ihm in die Hand gegeben. Nun hatte ihn die Nacht darum betrogen.

Aber die falterleichte Jugend, als sie die Wipfel so voll klingender Sonne sah, brachte sein Herz gleich wieder zum Fliegen.

Er schritt leise die Treppe hinab und fand Zinzilein und Matthias schon draussen beim Morgenkaffee unter der grossen Buche. Im Zimmer Marias war der Vorhang noch vor das Fenster gezogen.

Jockele hatte nichts dagegen, dass Matthias gleich donach das Gewehr umhängte und in den Wald ging; denn nun nahm er des Schwagers Platz ein, weil er von da aus das Fenster an Marias Zimmer immer im Auge haben konnte.

Das Zinzilein belustigte sich in aller Heimlichkeit ganz ungemein.

Es war ein blanker Morgentisch gedeckt, wie es zu den hellen Herzen und der Welt voll Licht passte, und als Maria Reh — schon fix und fertig — endlich den Vorhang zur Seite zog, flogen ihr die sehnsüchtigen Augen des Jungen ans Herz. „Na, da ist sie ja!“ jubelte das Zinzilein, und Jockele wurde ganz stolz, weil sie seine Schwärmerei gemerkt hatte und doch in der Ordnung zu finden schien. Man plätscherte noch eine Viertelstunde in Lachen und Sonne, dann segelten die beiden auf ihrem glückhaften Schiffe davon.

Jakobus war nach dem Erlebnisse vom Abend zuvor wie verwandelt, gestern war er ein Malschüler gewesen, heute war er ein glückseliger Page.

Maria Reh liess sich seine scheue Liebe gefallen und hätte nicht das geringste einzuwenden gehabt, wenn sie etwas weniger ungefährlich gewesen wäre. Sie war nun auch viel sanfter zu ihm; denn sie sah, der Junge war ganz von sich, und diese erste Jugendschwärmerei fiel über sie wie der Duft einer Blume, die ohne Gift ist.

Mittags, als sie wieder an dem Hange ruhten, über dem der Wachtelweizen mit den himmelblauen Spitzen seiner Stengel als ein sonnenstiller See blühte, strich Maria mit ihrer Hand über sein Gesicht; da lehnte er den Kopf an die Erde und liess ihre Stirn so über sich kommen und sah seinem Glücke tief in die Augen. Dann sagte er: „Ich bin sehr froh, dass Sie so lieb zu mir sind!“

„Sind das Zinzilein und Fräulein Veronika nie so gewesen?“ fragte sie aus ihrem wissenden Herzen heraus.

„Aber das ist doch etwas ganz anderes, Fräulein Maria!“ Und er erfasste ihre Hand und legte sie über seine Augen.

Weiter geschah auf diesem langen, langen Frühlingsgange nichts, aber als sie in der Dämmerung nach Hause kamen, waren sie beide ganz still geworden, und Maria sagte sehr weich und mitleidvoll zu ihm: „Auf morgen — nicht wahr?“

Da küsste ihr der Junge die Hand und ging mit gefährlich feuchten Augen von dannen.

Sie sahen sich nun an jedem Tage. Jockele sass neben ihr im Walde und zeichnete, was sie ihm aufgab. Des Morgens suchte er sie stets mit scheuer Freude: denn vor Nacht war sie immer in so königlichen Bildern um ihn, und dann liess er sich von ihren sachten Händen in den Schlaf streicheln.

Sie fühlte auch, was sie ihm war, und war darum auf der Hut vor sich selber, damit der Glanz nicht von ihr abfiel, den seine erwachenden Sinne um sie träumten.

Er hätte am liebsten gehört, wenn sie ihn „Du“ genannt hätte, aber die Scheu, sich lächerlich zu machen, hielt ihn davor zurück, es ihr zu sagen; wenn er in den heimlichen Stunden zwischen Schlaf und Wachen mit ihr allein war, musste sie es doch machen wie er wollte!

Ueber allem befiel ihn ein ruheloser Eifer, ihr mit seinen Zeichnungen zu gefallen. Sie lobte ihn leicht und oft; das hatte ihm zuerst wohlgetan; dann peinigte es ihn; denn er dachte, es wäre eine unverdiente Gefälligkeit. Er sagte ihr das auch einmal und verstimmte sie damit; das dauerte drei Tage, und am vierten ging sie zu einer Stelle im Walde malen, die sie ihm nicht verraten hatte. Da geriet er in eine qualvolle Unruhe, lief den ganzen Tag im Walde herum und war heilsfroh, als er sie gefunden hatte. Aber die Abende, in denen er sich ihr ans Herz träumte, waren seit einiger Zeit nicht mehr so wonnevoll wogend und rosenrot, und sie wurden es noch weniger, als sie eines Tages an ihrer Bluse auf dem Rücken einen Druckknopf nicht geschlossen hatte. Wenn sie vor der Staffelei stand und sich ein wenig zurückbeugte, sperrte sich diese Stelle des Verschlusses immer auf und liess ein Stück Spitze ihres Hemdes sehen.

Das peinigte ihn; denn es stimmte gar nicht zu den königlichen Bildern seiner Frühlingsträume. Er arbeitete mit heisserem Eifer, um Maria vor seinen törichten Augen zu schonen. Aber immer wieder blitzte das schmerzende Weiss in seine Arbeit — da nahm er den Feldstuhl und setzte ihn so, dass er ihre Rückseite nicht sehen konnte, und begann eine neue Zeichnung.

Einige Tage später war der Druckknopf wieder offen. Da sagte er zu ihr, er könne diese Bluse nicht leiden. Sie redeten eine Weile in scherzendem Ernste, und weil sie so überlegen tat, wehrte er sich —

„Jawohl, nicht leiden, weil immer ein Knopf daran offen ist!“

„O weh,“ sagte sie lachend, „und das haben Sie gesehen und haben ihn nicht zugedrückt?“

Sie fand also dabei gar nichts. Aber sie ahnte auch nicht, dass ihr grosses Licht in seinem Herzen darüber zu einer matten Sonnenscheibe geworden war. Dann knurrte er ein bisschen vor sich hin, und sie redeten danach einmal vom Wetter und dass der Herbst schon so unfreundlich durch das Gebirge kroch.

An ihrer Freundschaft änderte dieser Vorfall nichts, aber über die Vergänglichkeit des Rausches der Liebe begann Jockele in diesen Tagen der ersten Nebel doch nachzudenken ...

Er ging in die Reifkälte des Oktobers aufrechter und fertiger, als er durch die fallenden Blüten des jungen Jahres gegangen war.

Da sie sich wieder einmal massen, war er über Maria Reh hinausgewachsen, was ein wildes Siegesgeschrei zur Folge hatte, und seine Arme baumelten nicht mehr um ihn herum wie Schlaghölzer am Dreschflegel. Er hatte auch Fräulein Sinsheimer mit auffälliger Sicherheit erklärt, er wolle Maler werden und — vom Herbste des nächsten Jahres an — die Weimarische Kunstschule besuchen. Im Herbste des nächsten Jahres war er siebzehn vorbei.

Veronika, die mit Maria Reh mehrfach über sein Talent gesprochen hatte, gab ihr ruhevolles Einverständnis und war froh, dass die Dinge sich so fügten. Seine mancherlei Studien vor und in der Natur waren nun gewiss auch für seinen künftigen Beruf nicht zwecklos gewesen, und die alte Dame brauchte sich nicht zu sorgen, dass ihr der Junge dereinst den Vorwurf machte, sie hätte den Unterricht planlos betrieben — nein, nein, die Sache war ihr so in allen Stücken recht.

Als die Blätter gefallen waren, war Maria Reh fort. Die Freundschaft hatte gehalten — Jockele hatte ihr das Gepäck in das Wagenabteil gereicht und hatte ihr noch im Schreiten Lebwohl gesagt, als schon die Räder neben seinen Schuhen rollten.

Aber sie stand nun in seinen Gedanken in einer so rotbäckigen Menschlichkeit und kernigen deutschen Art, dass er sich wunderte, wie es ihm möglich gewesen wäre, das alles mit dem Glanze des Märchenkönigtums zu umdichten.

Jockele und die Mädchen

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