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Johann Sebastian Stenzel stand vor dem Geschäftshaus der Schwedisch-Baltischen Schiffahrtsgesellschaft vormals Wiedemann und Hopf und blickte angelegentlich an dessen Fassade empor. Er stand mitten in der totenstillen Straße, deren geräumige Beischläge nur eine schmale Rinne für den Verkehr freiließen. Es war freilich auch von Verkehr straßauf, straßab nicht das geringste zu bemerken. Der Generalkonsul konnte sich ungestört seinen Beobachtungen hingeben. Neben ihm oder eigentlich ein wenig hinter ihm, mit Wahrung einer gewissen Respektgrenze, standen zwei andere Männer, ebenfalls mit zurückgebogenen Hälsen und emporgebreiteten Handflächen, und hefteten ihre Blicke auf das gleiche Ziel.

Das Haus, mit seinem geschweiften Zopfgiebel und seiner nüchternen Fassade, gehörte einer jüngeren Bauperiode an und zählte keineswegs zu den Sehenswürdigkeiten dieser sonst mit baulicher Schönheit so verschwenderisch aufwartenden Stadt. Was gegenüber den zeitgeschwärzten Nachbarhäusern zunächst ins Auge fiel, war ein sanft leuchtendes Zitronengelb, das dem Antlitz des Hauses sichtlich erst vor kurzem verliehen worden war. Man konnte an einen braven Bürgersmann denken, der in einer plötzlichen Verwirrung zum Schminktopf gegriffen hat, um sich interessant zu machen.

„Bemerken Sie die weißgrauen und grünlichen Streifen, meine Herren, die sich über die ganze Giebelpartie bis zum dritten Stock hinunterziehen?“ fragte der Generalkonsul, das feierliche Schweigen der in Betrachtung versunkenen Gruppe unterbrechend.

„Ja, es ist kein Zweifel, es ist Vogelmist!“ bestätigte Herr Zürner, der weitaus größere der beiden andern Männer, eine noch jugendliche Erscheinung, auf deren rundem, rosigem Knabengesicht ein buschiger, brauner Schnurrbart wie angeklebt saß. Es war der stellvertretende Direktor eben des Geschäftshauses, dessen durch höhere Mächte verunzierter Anstrich Gegenstand der Beratung war.

Der Generalkonsul schüttelte ärgerlich den Kopf.

„Mehr Präzision, meine Herren! Mehr Präzision in Ihren Feststellungen, wenn ich bitten darf! Was fangen wir mit Vogelmist so im allgemeinen an? Vogelmist ist ein weiter Begriff! Wir müssen wissen, welch eine Art von Vogelmist es ist, wenn wir dem Übel auf den Leib rücken wollen! Und wissen wir es denn nicht? Es handelt sich um Taubendreck, meine Herren!“

„Wohl möglich, daß es Taubendreck ist!“ bestätigte Zürner. Er hatte die Gewohnheit, öfters an seinem Schnurrbart zu kauen.

In diesem Augenblick knatterte es hoch über ihnen. Alle drei blickten gleichzeitig in die Höhe. Ein großer Taubenschwarm hatte sich hinter dem Dachgiebel des Geschäftshauses wie auf Kommando erhoben und steuerte als eine die Luft verdunkelnde Wolke nach der steilen Zipfelhaube eines nahen Torturmes hinüber, um sich nun drüben niederzulassen.

„Da haben wir den Salat!“ rief Stenzel und wies aufgeregt gen Himmel. „Ist es jetzt Taubendreck, meine Herren, oder nicht? Läßt sich an einer so eindeutigen und unbestreitbaren Tatsache noch rütteln? Ich sehe den Vorgang folgendermaßen: Die Tauben setzen sich oben aufs Dach und verrichten hinter dem Giebel ihre Notdurft. Wenn es dann regnet, so fließt die Jauche nach allen Seiten über, läuft am Hause herunter und bildet diese grünlichen und weißlichen Streifen, die wir auf unserm neuen Anstrich sehen.“

Er klemmte sein Monokel fester ins Auge und sah beifallheischend in die Runde. Direktor Zürner glaubte den Ausführungen des Generalkonsuls beipflichten zu sollen. Aber was mit dieser Feststellung gewonnen sei, und wie man dem Übel steuern könne?

„Dem Übel steuern?“ rief der Generalkonsul und fuchtelte heftig mit dem rechten Arm herum. „Nichts einfacher als das, wenn man erst einmal den Grund des Übels erkannt hat! Vogelmist als Allgemeinbegriff, das hätte uns nicht viel geholfen. Aber jetzt wissen wir, daß es Taubendreck ist, und daß es also die Tauben sind, denen unser Kampf zu gelten hat!“

Auf welche Weise aber dieser Kampf zu bewerkstelligen sei, drängte Direktor Zürner, der von beharrlicher Sinnesart zu sein schien. Vielleicht empfehle es sich, vergifteten Weizen hinter dem Dachgiebel zu streuen. Die Tauben würden ihn fressen, und so werde man ihren Mist am sichersten loswerden. Denn von toten Tauben seien ja keine Exkremente mehr zu befürchten.

„Sie sind ein gescheiter Mann, mein lieber Direktor!“ lobte Stenzel und machte gegen Zürner, der zwei Köpfe größer war als er, eine andeutende Bewegung des Schulterklopfens. Dann drehte er sich gegen den um, der bisher noch geschwiegen hatte.

„Und was ist Ihre Meinung, Herr Aßmus? Stimmen Sie bei?“

Aßmus, ein winziges, schmales, graubärtiges Männchen, mit einem Gesicht, weiß wie Kalk, war der Besitzer einer Desinfektionsanstalt und Fabrikant von Giftpräparaten.

Nein, er bedaure, nicht beistimmen zu können, entgegnete Aßmus, aus seiner bisherigen Reserve heraustretend. Tauben seien nicht Mäuse. Es sei hundert gegen eins zu wetten, daß sie den vergifteten Weizen nicht fressen würden.

„Tiere sind in der Tat oft klüger als Menschen,“ schaltete der Generalkonsul ein und nickte beifällig. „Aber was dann? Wir können doch nicht ständig einen Wächter aufs Dach setzen? Aber dieser Guanofabrik muß ein Ende gemacht werden! Das Menschengeschlecht hat doch schon schwierigere Probleme gelöst!“

Es gebe nur eines, erklärte der Chemiker mit seiner zirpenden Stimme. Einen Gasangriff!

Der Generalkonsul klopfte sich vor die Stirn. Ein Gasangriff! In der Tat! Ein Radikalmittel! Aber als solches doch wohl nur im äußersten Fall verwendbar! Ob denn derartige Gasangriffe gegen Tauben neuerdings gebräuchlich seien? Doch wie auch immer, er werde den Fall im Auge behalten und sehe genauest gestellten Preisangeboten für Gasangriffe in Bälde entgegen. Damit verabschiedete er die beiden Herren, und man trennte sich, nicht ohne noch einen letzten sachverständigen Blick auf das von der Vogelschar bevorzugte, gelbgrüngesprenkelte Geschäftshaus geworfen zu haben.

Den Generalkonsul hatte der kleine Vorfall sichtlich belebt und erfrischt. War das nicht auch wieder Arbeit, Tätigkeit, Betrieb, so fragte er sich, also das einzig Menschenwürdige, was es auf Erden gibt? Kampf mit dem Objekt! Mit der Materie! Gewiß! Ein winziges Objekt! Eine niedere Art von Materie! Taubendreck! Aber sind es nicht oft gerade die kleinen Dinge des Lebens, die unsere Tatkraft, unsere Energie, unsere Ausdauer am schwersten auf die Probe stellen? Und wirkt nicht selbst das Kleinste, wie in diesem Falle Taubendreck, sich schließlich im großen und allgemeinen, nämlich in der Verunzierung des Stadtbildes, aus? Also gemeinnützige Arbeit im Dienste des Volksganzen! Das ist es! Er pochte bestätigend mit dem Zeigefinger gegen seine Brust und war mit sich zufrieden!

Sein Kraftwagen hielt in einer schmalen Seitengasse, in die kaum je ein Sonnenstrahl hineinschien. Er wollte den Chauffeur fortschicken und zu Fuß durch den warmen Maivormittag nach Hause gehen. Aber dann fiel ihm ein, daß das doch eigentlich Zeitverschwendung sei. Auch wartete wohl schon sein Neffe, den er vorgestern zu einer dringenden Besprechung in die Stadt bestellt hatte. Jan Wilhelm hatte sich bis heute Zeit gelassen. Er schien es mit den Anweisungen seines Onkels nicht gerade eilig zu haben.

Stenzel runzelte die Stirn und stieg in den Wagen. Es mußte in den engen Gassen, deren Pflaster zum Teil aufgerissen war, vorsichtig und mit manchen Umwegen gefahren werden. So kam man nur langsam vorwärts. Stenzel war es recht. Seine Stimmung, eben noch beschwingt und selbstzufrieden, verschlechterte sich schnell. Er schloß die Augen und hatte plötzlich wieder das Bild dieser zitronengelben Hauswand mit den graugrünen und kreidigen Streifen vor sich. War sie nicht ein Gleichnis des Lebens selbst? Man kann noch so sehr auf Ordnung und Sauberkeit bedacht sein: es kommen Dreck und Gemeinheit, und alles wird eine üble Sauce! Aber ist das, was wir dagegen anwenden, so folgerte er, vielleicht eine weniger große Gemeinheit? Vergifteter Weizen! Gasangriffe gegen unschuldige Vögel, nur weil ihr Stoffwechsel uns nicht paßt! Und der unsere? Steht uns ein größeres Recht auf ihn zu? Wenn nun irgendeine höhere Macht uns mit gleicher Münze heimzahlen würde? Will denn nicht alles, was Kreatur heißt, nur leben und wieder leben, um jeden Preis?

Johann Sebastian Stenzel wischte sich mit der Hand über die Stirn. Da war wieder der Stachel, der seit vorgestern sein Hirn marterte. Man konnte ihn für Augenblicke einschläfern, beschwichtigen, betäuben, aber man konnte ihn nicht wegwischen oder auslöschen. Nur noch ein Jahr zu leben! Nein! Nicht einmal das! Zwei Tage weniger als ein Jahr! Vorgestern hatte er den Traum gehabt. Zwei volle Kalendertage waren vorbei! Oder nicht? Mein Gott! Fing er denn an verrückt zu werden? Das drehte sich wie ein Feuerrad um eine glühende Achse! Funken sprühten! Jeder Funke brannte ein kleines, winziges Loch ins Gehirn, bis eine Art von Sieb daraus wurde. Durch jedes Loch dieses Siebs tropfte, sickerte, schwitzte es: Kein Jahr mehr zu leben!

Stenzel trommelte sich mit den Fäusten vor die Stirn. Fort damit! Er befahl es sich, er, Johann Sebastian Stenzel, der sich so viele Jahre tagaus, tagein Befehle gegeben hatte, dies zu tun oder jenes zu unterlassen! Und hatte nicht das Tier in ihm, die Bestie da innen, der Untermensch im Sonnengeflecht, den es zu bändigen galt, noch stets gehorcht? Woher mit einemmal diese Rebellion?

Er schnellte in die Höhe. Haltung! Welch ein Glück, daß er im geschlossenen Wagen fuhr! Wenn jemand wahrgenommen hätte, daß Generalkonsul Stenzel sich mit den Fäusten gegen die Stirnhöhle trommelte! Wie ein Bankrotteur! Das Wort zischte ihm wie eine Peitschenschnur um die Ohren. War er das nicht in der Tat? Ein Bankrotteur des Lebens! Warum nur dieser Esel, dieser Dombrowski, in solchem Leichentrott fuhr? Er schob mit einem heftigen Ruck die Vorderscheibe zurück.

„Tempo, Dombrowski! Tempo! Schlafen Sie denn?“

Dombrowski gehorchte. Der Wagen machte einen Satz. Stenzel flog in die Polster zurück. Tempo! Das Wort tat ihm wohl. Es war die Parole seines Lebens gewesen. Tempo und Arbeit! Arbeit und Tempo! Er fühlte sich plötzlich ruhiger geworden. Was für eine geheime Kraft doch in solch einem Wort steckt! Wie eine Zauberformel hatte das Wörtchen Tempo die bösen Geister der Tiefe beschworen. War es nicht eben das, was ihm schon vorgestern Trost gebracht hatte? Sollte man nicht, was einem an Zeit genommen wird, durch Tempo wieder einbringen können? In einem Jahr zehnfach gelebt, ist das nicht ebensoviel wie zehn Jahre normal gelebt? Zehnmal eins oder einmal zehn: die Summe ist gleich.

„Ein Stenzel hat Haltung zu bewahren!“ murmelte Stenzel, und seine Sehnen strafften sich. Der Schweiß rann ihm von der Stirn. Er merkte es kaum. Jene vielfach gesprenkelte Hauswand tauchte wieder vor ihm auf. Er hatte sie als ein Sinnbild des Lebens empfunden. Erst jetzt begriff er, welch ein Tiefsinn in dem Gedanken steckte. Er lachte so laut, daß Dombrowski vorn sich einen Augenblick umdrehte. Stenzel kümmerte sich nicht darum. Er dachte an den alten Scherz von der Hühnerleiter und dem Leben und worin sie sich gleichen. Er erinnerte sich, daß er in seiner Schülerzeit sehr über den Witz gelacht hatte. Und so gymnasiastenhaft es auch war, er mußte von neuem über die Ideeverbindung lachen, obwohl ihm eine Stimme sagte, daß er im Grunde über sich selbst lache. Dombrowski hörte ihn in sich hineinkichern und kam zu dem Schluß, das längst Erwartete sei endlich eingetreten: der Generalkonsul habe den Verstand verloren.

Stenzels Haus stand unfern der Promenade, die jenseits der Bahngeleise und des ehemaligen Stadtgrabens am Saum der die Stadt überhöhenden Hügelkette als eine Art von Aussichtsterrasse sich ein Stück weit hinzieht. Man erblickt von dem höchsten Punkt dieses einstigen Festungsglacis die türmereiche Stadt, gleichsam zu einer Faust zusammengeballt, die gebieterisch sich aus dem Sumpfboden über Land und See hinausreckt und selbst dem vom Element des Meeres getränkten Himmel zu trotzen scheint. Der Generalkonsul hatte einen Platz unweit dieses Punktes gewählt, als er vor langen Jahren darangegangen war, sich eine Wohnstätte zu erbauen, die seiner würdig wäre. Es war ein Platz zum Hinunterschauen auf alle jene, die in der Tiefe geblieben waren, weil sie sich allzuviel Zeit im Leben gelassen und Arbeit nicht mit jenen drei r geschrieben hatten! Ein Platz in der Fremdenloge gleichsam, wo einem niemand mehr auf die Füße tritt und das ehrerbietige Gemurmel aus dem Stehparterre wie Musik in die Ohren klingt. Von diesem Platz pflegt man den besten Überblick über die Bühne zu haben. Für den Generalkonsul und Hauptinhaber der seegewaltigen Schifffahrtsgesellschaft war die alte, wehrhafte Stadt solch ein Bühnenschauplatz, an dem sein Herz sich stärkte, sooft er hinuntersah. Sie hatte unermüdlich geschafft, gewagt, getrotzt, gepflanzt, gebaut, gearbeitet, diese stachlige Stadt! Ganz wie er selbst! Auch in diesem Sinne gehörten sie beide zusammen, er hier oben in seinem Kontor und sie dort unten mit ihrem Hintergrund von Hafen und See.

Zu diesem Selbstgefühl des merkwürdigen Mannes stand das Haus, das er sich erbaut hatte, in einem absonderlichen Gegensatz. Es wirkte mit seinen engen, niedrigen Zimmern, mit seinen aufs genaueste errechneten Ausmaßen, mit der peinlich eingehaltenen Raumausnützung wie eine in viele kleine Kojen abgeteilte Schiffskajüte. Auf dem Grundstück, zu dem auch ein verwilderter Park gehörte, wäre Platz genug gewesen, um einen Palast für den ungekrönten König der Stadt zu errichten. Aber wie wenig hätte das zu der in allem Selbstbewußtsein sich bekundenden Schlichtheit des Dorfschulmeistersohnes gepaßt! Nichts wäre ihm verdrießlicher gewesen, als wenn man ihm Dünkel, Anmaßung, Überhebung, Emporkömmlingstum vorgeworfen hätte. Mit den herausfordernden Lebensformen des neuen Reichtums, den man allenthalben sich brüsten sah, wünschte ein Johann Sebastian Stenzel in keinen Vergleich zu treten. So kam es, daß die Behausung des Seebeherrschers auf der Höhe über der Promenade eher wie ein Zwergenhäuschen sich ausnahm und angesichts der in der Tiefe daliegenden Stadt sich gleichsam niederzukauern schien.

Dabei gab es im Innern viel Bequemlichkeit, wenn auch in einem schon älteren Zeitgeschmack. Den besonderen Stolz des Generalkonsuls bildeten die zahlreichen Klubsessel, Sofas, Polsterstühle, Ottomanen und türkischen Diwane, die überall in den Zimmerchen oder Kabinen herumstanden und eigentlich zu fortgesetzter Faulenzerei einluden. Auch das gehörte zu den vielen seltsamen Widersprüchen in Stenzeis Charakterbild, so daß Besucher schon gefragt hatten, wie denn eigentlich diese Attribute des Müßigganges sich mit der stadtbekannten Unermüdlichkeit ihres Inhabers vereinbaren ließen. Der kleine, quecksilberne Mann hatte darauf die schon geläufige Antwort, daß alles dies nur für seine Gäste da sei. Ihm selbst fehle es leider für die Benutzung seiner Sofas und Sessel an Zeit.

Generalkonsul Stenzel und sein gefährliches Ich

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