Читать книгу Die Begegnung. Vier Erzählungen - Max Herrmann-Neisse - Страница 4
Die Begegnung
ОглавлениеMan weiß, wie solche zufälligen Bekanntschaften zustande kommen. In der Hauptstadt sehnten sich viele danach, dem vorbildlichen Künstler die Hand reichen zu dürfen; man spazierte auf dem Korso, ahnungslos, plötzlich raunte wer: »Das war Hermann Karst!«, da wurde flugs umgekehrt, zurückgerannt, dann wieder langsam herangepirscht und versucht, möglichst unbefangen des Meisters Züge zu erspähen. Natürlich sah man vor lauter Erregung nicht einmal genau. In diesem gottverlorenen Provinznest aber mußte ausgerechnet der Klempnermeister Worbs mit Hermann Karst an einem Tische sitzen und fast bis zur Bruderschaft gedeihen. Worbs war früh von Hause fort, ein geschäftlicher Gang, jeder kennt das, die Frau brummt hinter einem her: »Ausreden sind wohlfeil!« Man muß notgedrungen mit einer Grobheit auftrumpfen, lächelt aber innerlich, und kaum, daß sich das Haustor hinter einem schließt, wird die Zigarre angesteckt, vielleicht sogar ein leichtfertiges Lied gepfiffen, jedenfalls mit unternehmungslustigem Wiegeschritt in den freien Tag hineingestelzt. Worbs trat noch in den Wurstladen und kaufte ein großes Stück Polnische, die gerade frisch in der Mulde hereingebracht wurde, schäkerte dabei mit den Verkäuferinnen, man muß ein bißchen mit ihnen schmusen, dann wiegen sie besser ab, kurz vor der Brücke stand der Spediteur Exner bei seinen Möbelwagen und gab den Kutschern Anweisungen, da mußte doch haltgemacht und die Lage besprochen werden, was die Kerle einem die Pferde ruinieren, wie rabiat heutzutage die Packer sind. Am Wehr hockte wieder mal der Rentier Beyer beim Angeln; der weiß nicht, wie er dem Herrgott die Zeit totschlagen soll. Worbs guckt schnell auf die entgegengesetzte Seite, kommt da im Galopp der Rittmeister von Jeltsch angeprescht, heidi, wie der Hut vom Kopfe gerissen und mit unbändiger Kurve gedienert wird, übern ganzen Damm weg: »Habe die Ehre«, daß der Staub nur so ins offene Maul ballert, ach Gott, und dabei ist die Rechnung schon seit undenklichen Zeiten nicht bezahlt und wegen so eines kleinen Betrages möchte man sich die Sohlen von den Schuhen laufen. Worbs pfeift nicht mehr, und auch die Zigarre ist kalt geworden. Richtig muß doch an der Eisenbahnüberführung wieder dieser ekelhafte Krüppel den Gutdummen auflauern, der immer so widerlich seine Wunden zur Schau stellt, sich geradezu damit brüstet. Längst hätte er in einem Spital untergebracht sein können, wenn er nur seine Einnahmen darauf verwenden wollte, der hat gewiß manchen Tag eine bessere Kasse als ich, denkt Worbs, und ich muß den Kerl miternähren. Den Ausdruck »ekelhafter Krüppel« hat er übrigens vom Herrn Gewerberat; Worbs hatte damals im Schützenhause gesessen, sie waren von der Wallfahrt nach Sankt Rochus hier eingekehrt, der Tag war heiß gewesen, und als erst der Kürschnermeister eine Runde bezahlt hatte und der Bäcker eine andere, konnte man nicht zurückstehn, die Martha, das Biest, hatte gerade den Kunstgriff mit dem Geldstück vorgemacht, eine verfluchte Schweinerei übrigens, da war rot wie ein Puter der Herr Gewerberat hereingestürzt, ran ans Telefon und hineingemeckert, es solle doch mal die Polizei nach der Eisenbahnüberführung geschickt werden, um dem Skandal mit dem ekelhaften Krüppel ein Ende zu bereiten. Hinterher hatten die drei freilich über seine Wichtigtuerei gelacht und dem Bettler einen Schoppen hinausgeschickt mit der Warnung, zu verduften; aber eigentlich war Gewerberat doch ein reputables Amt, eine Autorität, das kann man schon sagen! Das könnte sein Artur vielleicht auch mal werden, der alte Worbs hatte sich damals gleich die Karriere erklären lassen, wenn er nur erst einmal das Abiturium bestanden hätte, kommt Zeit, kommt Rat. Jura soll er auf jeden Fall studieren, das ist und bleibt doch halt das vornehmste Studium! Der alte Worbs bekam immer noch einen ehrfürchtigen Schauder, wenn er mal als Zeuge das Amtsgericht betreten mußte. Am besten, man hat nichts damit zu tun. Aber wenn mir einer meine Ware schlecht macht, glatt verklagen! Und an seiner Tür stand »Mitglied des Vereins gegen Bettelei«. Ordnung muß sein, alles was recht ist! Es ist nur ein langwieriges Studium, dem Glöckner Kunze seiner geht nun schon ins vierzehnte Semester; der sitzt freilich von morgens bis andern Tag morgens im Bahnhofshotel und sauft seinen Stiefel, ein Verhältnis soll er auch haben, und immer noch dieselbe aus der Primanerzeit her; unglückliche Eltern! Sein Artur war damit wohl nicht zu vergleichen. Saufen tut der nicht, und die Mädels guckt er erst gar nicht an, wollt’s ihm auch anstreichen, nu da! Aber, weiß der Himmel, der Junge, der liest zuviel. Immer hockt er über den Schwarten, wo er was Gedrucktes sieht, schon hat er’s in den Krallen, was soll man machen, ungebildet will man auch nicht scheinen, und die Mutter, die unterstützt den Bengel noch, läßt sich von ihm vorlesen, kommt der Alte unversehens ins Zimmer, schwapp, wie abgehackt, kein Laut mehr, und die beiden schweigen indigniert über die leidige Störung. Dabei ist man doch der Ernährer! Oder etwa nicht? War ihm nicht gleich damals, vor zwanzig Jahren, abgeraten worden, sich mit der Zahlmeistertochter einzulassen? Geld hängt da nicht raus, aber Ansprüche zu machen verstehen die Zierpuppen. Dabei war sie das einzige Kind gewesen, verwöhnt bis dorthin und kein bißchen wirtschaftlich erzogen. Woher hätte sie’s auch haben sollen; von der Mutter erzählte man sich schöne Dinge, einer hatte sie noch als Büfettdame gekannt, das Pack von Sergeanten fragt nicht, woher der Zaster kommt, und dann war’s wie gewonnen, so zerronnen. Was brauchte eine Zahlmeistertochter auf die höhere Schule zu gehn, besser, sie lernte Kochen und Nähen, aber nein, ’s muß partout übern Stand sein! Und die hatte sich der Worbs in den Kopf gesetzt. Sie war nicht einmal von hier; bleibe im Lande und eheliche, was in Betracht kommt! Nein, der Balg hatte ’s ihm angetan! Arm und unpraktisch, das ist nichts für einen Handwerker. Damals hatte er sie justament genommen. Und sie hatte sich noch gesperrt, Sperrenzen gemacht, und schließlich, als sei’s eine Gnade, sich herabgelassen. Warum war er eigentlich gerade auf die verfallen? Er wußte es im Augenblick selber nicht mehr. Am Ende war’s doch nicht zum Schaden ausgeschlagen. Das Geschäft ging; daß die Frau nichts davon verstand, war eher ein Vorteil, da konnte sie ihm auch nicht dreinreden, zu einem Ladenfräulein langte es wohl Gott sei Dank, und einen Sohn hatte sie ihm auch geboren, und manche beneideten ihn um die gebildete Frau. Er war jetzt an der Franziskanerkirche und überlegte: sollte er hineingehn oder nicht? Die Brüder hatten schon was von ihm geschluckt, das heißt, daran war auch die Frau schuld, die lud sie zum Kaffee ein, dann blieben sie immer gleich oben und kriegten wer weiß was eingepackt und gingen weg, als ob das Geschäft wieder mal geflutscht hätte. Verdammt, warum waren in der letzten Zeit häufig solche Andeutungen gefallen: »Ihr Herr Sohn hat recht gute Anlagen . . . Die katholische Wissenschaft braucht solche Köpfe . . . «, was sollte das heißen, umsonst war das doch nicht gesagt, einen Hintergedanken haben die immer – »Gelobt sei Jesus Christus!« eben strich einer so harmlos wie möglich vorbei, auf leisen Sohlen und den Kopf eingeknickt, ganz Weltabgewandtsein, aber im Augenwinkel gleißte der Triumph: »Wir haben euch alle!« und das »In Ewigkeit, Amen!« kam wie eine Quittung zurück über pflichtgemäß beglichene Schuld. Man konnte nie wissen. Worbs hatte schon unwillkürlich den Kurs zum Kloster genommen, ärgerte sich über die eigenen Füße, die ihn so selbstverständlich ins Gehege der Mönche führten, machte automatisch die Geschichte mit dem Weihwasser, sah sich um. Richtig, man konnte kommen, wann man wollte, diese alten Schachteln hockten immer in den Kirchenbänken, und, aha, er pfiff durch die Zähne, seh ich recht, klebte da nicht am Beichtstuhl die Friseurstochter, die am Schluß der Theatersaison mit dem Heldenspieler ausgerückt war, soso, war die wieder zurückgekehrt und tat nun Buße in Sack und Asche, recht so, recht so. Das Geld war wohl verbraucht, das sie dem Alten aus der Kasse geklaut hatte, und der Herr Galan hatte nun weiter keine Verwendung mehr für sie gehabt, eine saubere Bagage, diese Komödianten, na, nun hatte es wohl Senge gesetzt zu Hause, ihm wurde ordentlich wohl bei der Vorstellung. Und er war wahrscheinlich der erste, der sie wieder gesichtet hatte; da konnte er doch seiner Frau eine Neuigkeit mitbringen, das macht Laune. Ja, wenn das seine Tochter wäre, der wollte er zeigen, was eine Harke ist, es pfiff ihm angenehm kitzlig in den Ohren, und die Haare hatte sich das Luder auch abschneiden lassen, die verrückte Person, das soll so was heißen. Das kommt davon, wenn der Vater Theaterfriseur ist, ihm konnte natürlich so was überhaupt nicht passieren mit seinen Kindern! – Halt, was heißt: konnte nicht, wie stand’s um Artur, den Schlingel, irgend was stimmte da doch nicht ganz, kleine Marotten, gottlob, nichts Schlimmes, etwas Lesefieber . . . Aber Worbs betete doch rasend in sich hinein: »Lieber Gott, laß den Artur Jurist werden, alle Examina beizeiten bestehen, laß ihn den Sohn vom Professor Wiedemann überflügeln, krank ärgern sollen sich alle darüber, was aus meinem Sohne wird, laß ihn Staatsanwalt werden, gib ihm einen schönen Sensationsprozeß, laß ihn einen auf den Tod bringen, daß er avanciert!« Dann machte er mit einem Ruck kehrt, wie um dem lieben Gott erst keine Zeit zu einem Nein zu lassen, erledigte die Weihwasserpantomime beim Austritt ganz flüchtig und schöpfte, wieder auf der Straße draußen, tief Atem, als entrönne er eben einer unendlichen Strapaze. Und in einer Art Aberglauben vermied er es, von nun an noch einmal an das Thema Sohn zu rühren. Ohnehin war das Vorhergehende so anstrengend für ihn gewesen, daß es ihm zunächst einmal sehr gelegen kam, eine Weile überhaupt an nichts zu denken. Auch hatte er sich jetzt wohl einen kleinen Imbiß verdient. Er zog also die Wurst aus der Tasche und eine halbe Semmel und biß mit schmatzendem Behagen zu. Am Zaun der halbverfallenen Baracke, die zur Ziegelei gehörte, watschelte ein halbnacktes Kind herum, hielt inne, als es des Klempnermeisters ansichtig wurde, und bewegte sich, ohne einen Blick von seinen Kinnbacken zu lassen, auf den Kauenden zu. Worbs bekam eine fabelhafte Leichtigkeit in seinen Schritt, bloß schnell vorbei, man soll erst kein Herzeleid machen; zu Hause hatte er’s auch nicht gern, wenn sein Sohn merkte, daß dem Vater etwas Besonderes gebraten wurde, »Kinder müssen frühzeitig verzichten lernen«, pflegte er zu sagen. Nun war er sowieso mit der Wurst fertig, Semmel war halt immer zuviel da, von der halben blieb noch ein gut Teil übrig, da er gerade an der Cholerakapelle war, legte er das Stück, es Gott zurückzugeben, in ihre Nische, die für Kinder und Tiere unerreichbar war, und wo schon eine ganze Menge ähnlicher Gaben schimmelte. Eigentlich könnte man mal bei der Gelegenheit auf den Kirchhof gehen, sehen, was das Grab von der Else macht, ob die Gärtner sich auch wirklich darum kümmern, Geld genug lassen sie sich geben. Das war sein erstes Kind gewesen und nach ein paar Wochen wieder gestorben, wie hatte die Frau sich gebarmt und gerungen, Tag und Nacht auf der Erde gelegen und von Gott ein Wunder gefordert, ’s war schon ein exzentrisches Wesen seine Therese, immerhin, warum verzweifeln, man war doch noch jung, hatte sie so wenig Zutraun zu ihm? Das Kind hatte man doch kaum gekannt, es war überhaupt noch kein richtiger Mensch, und Schmerzen hat’s Gott sei Dank auch nicht gehabt, es schlief sich so allmählich hinüber, und nächstes Jahr war der Junge schon da, man muß nur nicht gleich die Büchse ins Korn werfen! Dem Embryo einen Grabstein zu setzen, das war auch so eine Marotte von ihr, aber sie hatte darauf bestanden, kenne sich wer in den Weibern aus, wenn’s nach ihm ginge, würde auch Jahr für Jahr längst nicht mehr die teure Grabpflege bezahlt, aber darin ist Therese komisch, und sie hat einen harten Schädel, was sie sich einbildet, setzt sie auch durch. Er wunderte sich eigentlich immer wieder, nun doch der Junge groß geworden war und sich so gut mit ihr verstand und an ihr hing, leider mehr als an ihm, trieb sie noch weiter den Kult mit dem Grabe. Er schob mit dem Stock den Efeu vom Denkmal, das ein aufgeschlagenes Gebetbuch darstellte, ein paar Käfer trippelten hastig davon, einen erwischte des Mannes Fuß noch: »Verdammtes Ungeziefer!«, dann erinnerte sich Worbs, was die Lage erfordert, nahm seinen Hut ab und stand eine Weile so, jetzt wäre sie sechzehn, siebzehn Jahre, wer weiß, was sie einem für Sorge machen würde, vielleicht auch so eine wie die Friseurstochter, und dann die Plage mit dem Verheiraten, am Ende blieb sie einem auf dem Halse – so ist es schon besser, »Sondern erlöse uns von dem Übel, Amen!«, er setzte den Hut wieder auf. Wie er den Gang zur Pforte zurückgeht, fällt sein Blick auf das Grabmal für den Theaterdirektor, unwillkürlich muß er lachen, das war eine fidele Nudel, ihm fällt ein, wie er im »Weißen Rössl« immer zu sagen hatte: »Det Jeschäft is richtig!«, er hört ordentlich die Komikerstimme, und Zoten wußte der, da war man die reine Waise dagegen, f reilich, so einer hat es leicht, jede Schauspielerin kann er haben, beneidenswerter Knabe das! der hatte doch wenigstens was vom Leben! Worbs bekommt richtig ein schnelleres Tempo, die Sonne meint es auch heut gut, auf der Wiese ergehen sich Hühner, und der Hahn schmettert einen richtigen Juchzer in die Luft. Zeit, daß man was zu trinken kriegt; eine Droschke hält vor »Weidmanns Heil«, dem Klempnermeister ist’s wie eine gute Vorbedeutung. Komisch, daß er den Unsinn nicht vergessen hat, es war doch wirklich gar nichts Besonderes passiert! Es war leider überhaupt nichts passiert, und doch stand ihm die Episode noch leibhaftig vor Augen. Das war jetzt gut seine fünfundzwanzig Jahre her, mindestens fünfundzwanzig Jahre, er war damals noch beim Vater Geselle und hatte sich mal einen freien Nachmittag gemacht. Er und der Langer Gustav – du lieber Gott, wo mochte der Gustel wohl jetzt stecken? Dessen Eltern waren plötzlich gestorben, da zog er fort und blieb verschollen. Man sagt, er wäre ins Ausland gegangen. Ob der sich wohl auch noch daran erinnerte? Also, er und der Langer Gustav, die waren nach den Schießständen spaziert, genau denselben Weg wie heute. Das heißt, damals sah das ganz anders aus, von all den Villen stand damals noch keine, und die Klosterbrüder waren auch noch nicht da gewesen. Man war mitsachten so hingeschlendert wie junge Leute, die selten frei haben, mit allerlei Gespaß und Gedalber, hatte dort den Stock am Zaune entlang gezogen, um den Hofhund zum Rasen zu bringen, einer Katze, die im Graben schlich, einen Stein nachgefeuert, einem fünfjährigen Hosenmatz den Apfel aus der Hand genommen, getan, als wollte man ihn essen, und als die Jöhre gehörig plärrte, ihr unter Gelächter die unversehrte Frucht wieder in die schmutzigen Pfoten gedrückt. Dann hatte man vom Fahrrad gesprochen, weil dies Vehikel gerade damals mehr in Gebrauch genommen wurde, und just kam eine Kutsche vorüber, in der saß ein schönes, junges Mädchen. Sie kannten doch sonst jedes Gesicht, aber das mußte wohl eine Fremde sein. Und das Mädchen hatte ihm zugelächelt. Ihm ganz allein, dem Erich Worbs, obwohl sich auch Gustav getroffen fühlte. Aber Worbs wußte, es galt nur ihm, das Wissen rann ihm durch den ganzen Körper. Er hatte seinen Hut abgenommen und die Lippen gespitzt. Und als der Wagen zufällig so dicht unter einem Baum der Allee hindurchfuhr, daß dessen Äste den Wagen streiften, da hatte das Mädchen einen blühenden Zweig abgebrochen und mit einer Kußhand ihm zugeworfen. Gustav war gleich losgerannt, ihn zu erwischen, sie waren um die Wette gelaufen, schließlich hatte ihn Worbs doch erjagt, es gab eine kleine Rauferei, aber er ließ sich die Beute nicht nehmen, und als sie nun beide aufgesehen hatten, war die Kutsche um die Ecke verschwunden und im Wäldchen nicht mehr weiter zu verfolgen. Trotzdem hatten sie den beabsichtigten Gasthausbesuch aufgegeben und dem Wege nachgespürt, den das Gefährt genommen haben mußte, und obwohl sie sich nach Kräften geeilt hatten, war keine Spur mehr zu finden gewesen, und schließlich hatte die hereinbrechende Dunkelheit ihre Umkehr erzwungen. Als dann Worbs für seinen Vater einen Geschäftsbrief, der noch mit dem letzten Zuge befördert werden sollte, gegen Mitternacht zum Bahnhof trug, hatte die Kutsche vom Nachmittag am Stationsgebäude gestanden. Aber der Kutscher hatte ihm auch nicht sagen können, wer die Dame gewesen sei, sie wäre mittags von auswärts angekommen, hätte sich dann die ganze Zeit über im Wäldchen herumfahren lassen und sei nun eben in den Zug gestiegen, um ihre Reise fortzusetzen. Worbs war gleich zur Sperre gerannt, da fuhr die Bahn ab, aber ob das Gesicht, das er an dem einen Coupéfenster zu erkennen glaubte, wirklich das ersehnte war, konnte er selber nicht mit Sicherheit beschwören. Er hatte damals schon manche Liebschaft hinter sich und hielt bei einer ernsthaften Sache mit einer Papierhändlerwitwe. Dennoch erregte ihn dies unbedeutende Abenteuer ziemlich tief, und er hatte noch lange mit jeder Post sich ein mysteriöses Lebenszeichen von der Unbekannten erhofft, bis der Vorfall im Gewimmel neuer Alltagsereignisse unterging. Aber in seiner Hochzeitsnacht verwunderlicherweise war das Bild jenes fremden Mädchens mit einem Male wieder vor seinem inneren Auge aufgetaucht, so daß er fast erschrocken war, und es war ihm in dem Moment, der sonst für den Mann der glücklichste sein soll, als wüßte er schmerzlich genau, jene Unbekannte sei seine eigentliche Braut gewesen, die er nun mit einem sehr viel minderwertigeren Ersatz betröge. Den Zweig, der ihm damals zugeworfen worden war, hatte er heimlich aufbewahrt, halb sich selbst verspottend, halb mit einem abergläubischen Vorbehalt, und heut brachte ihn die harmlose Droschke vor dem Lokal mitten in die überlebte und vergangene Episode hinein. Stand ihm, ein neues Wunder bevor? »Wieso denn Wunder?« prustete er selbst heraus, »ein wohlbestallter Klempnermeister und Wunder? Beim Hochzeitsfest werde ich einen übern Durst getrunken haben!« Aber irgend etwas in ihm wußte es besser und hatte die Versicherung, daß dieses eine Mal damals sein Dasein erhobener und aus einer schöneren Welt gewesen war. Und noch ein wenig stolz darüber, schritt er steifbeinig durch den Wirtshausgarten, ohne die Kaffeeschwestern, die da im Freien saßen, des üblichen devoten Grußes zu würdigen, der einer so guten Kundschaft zukam. Er ging trotz des schönen Wetters hinein ins Gastzimmer und setzte sich an das kleine Tischchen direkt am Büfett, das mehr eine Art Privatbleibe für den Wirt und seine Familie war. Die Frau Restaurateur Kaps, eine rundliche, adrette Person, stand gerade hinterm Schanktisch und fertigte die Kellnerin ab, das heißt eine Kutscherfrau, die Bedienung zu machen pflegte und während der Sommernachmittage hier zur Aushilfe beschäftigt war. »Weidmanns Heil« war ein stilles Geschäft, im Winter ließ sich manchmal tagelang kein Gast blicken, nur im Sommer sprachen an bestimmten Terminen der Woche die verschiedenen Kaffeegesellschaften vor, gaben sich abends Liebespaare ein Stelldichein, und machten Ausflügler ins nahe Wäldchen die erste oder letzte Station. Bisweilen kehrten auch Soldaten auf dem Wege zu den Schießständen ein, vor allem solche besserer Herkunft, die sich in der Kantine des Übungsplatzes nicht wohlfühlten, aber hier unbelästigt von der Gegenwart ihrer Vorgesetzten wieder Mensch dünken durften. Frau Kaps war die einzige Tochter des verwitweten Besitzers von »Weidmanns Heil«, Kaps, ein Bauernsohn aus dem nächsten Dorfe, hatte, wenn er von der Jagd kam, immer da verkehrt, ein so prompter Gast war des Vertrauens würdig erschienen, auch sparte man gern an Petroleum und machte so spät als möglich Licht, kurzum: als sein Aufgebot mit der Gastwirtstochter erfolgte, soll es die höchste Zeit gewesen sein. Schließlich hatte er keinen schlechten Handel dabei gemacht, den Bauernhof erbt doch sein älterer Bruder, nun war er hier weich und wohl gebettet. Um den Restaurationsbetrieb kümmerte er sich so gut wie gar nicht, Schwiegervater und Frau besorgten Geschäft und Wirtschaft, so konnte Kaps noch besser als früher seinen Jagdgelüsten frönen und hatte überdies Gelegenheit, einen stets bereiten Kreis von Gefährten nach vollbrachtem Pirschgang durch freigebige Gelage an sich zu fesseln. Auch der Name »Weidmanns Heil« stammte von ihm, und er hatte ihn erfolgreich gegen die, wie ihm schien, farblose frühere Firma »Tobschirbels Garten-Restaurant« durchgesetzt. Freilich war seine Jägerei ein kostspieliges Vergnügen, und der alte Tobschirbel und seine Tochter hatten zu tun, den so schwer belasteten Etat allemal wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Worbs schätzte die tüchtige Frau und hatte sich deshalb dazu verstanden, für eine größere Reparaturrechnung einen Wechsel in Zahlung zu nehmen, seiner Therese aber wagte er das nicht einzugestehn, weil er im allgemeinen auf Barzahlung drängte. Auch war er sich bewußt, so gehandelt zu haben aus einem ihm nicht ganz klaren Motiv, an dem das Gefühl beteiligt war, und dessen er sich eigentlich schämen sollte. Jetzt war der Wechsel bald fällig, und Worbs kam also, die Sache ins reine zu bringen. Frau Kaps hatte der Kellnerin die gewünschten Portionen Kuchen und Gläser Wasser, wovon draußen die Kaffeetanten immer noch nachverlangten, ausgehändigt und begrüßte nun den Worbs mit den Worten: »Na, Meister, lassen Sie sich auch mal wieder bei uns hier draußen sehen?« »Ich käme schon öfter, wenn ich bloß könnte. Sie wissen ja, wie’s uns Geschäftsleuten geht; Sie kommen ja selber nicht raus aus Ihrer Tretmühle!« »Ihre Frau hat aber doch Zeit, die könnte uns auch mal das Vergnügen machen . . . « »Ich glaube, der ist das ein bissei zu weit. Die hat ihr Kränzel in der ›Erholung‹. Bis dorthin kann man’s sogar im Winter bringen; da bleiben sie dem Lokal auch im Sommer treu.« »Aber Sonntags könnten Sie doch ’ne Ausnahme machen und mal mit Frau und Sohn bis zu uns gehn. Jetzt ist das doch ein schöner Spaziergang.« »Sonntags fahren wir meistens aus. Nach Österreich in die Berge hinüber. Das tun wir schon unserm Jungen zuliebe. Der hockt sowieso zuviel in der Stube.« »In welcher Klasse ist er denn jetzt?« »In Sekunda, gottlob, ’s geht aufs Ende zu.« »Ja, ja, die Kinder wachsen heran. Er lernt wohl gut?« »Immer der Erste!« »Da gratulier’ ich.« »Nur nicht zu früh krähn! Das Schwierigste kommt erst noch: das Examen. Und dann fängt er erst recht an, Geld zu kosten. Das lange Studium . . . « »Was soll er denn werden?« »Ich möchte gern, daß er Jura studiert.« »Na und warum nicht?« »Ich glaube, meine Frau säh’s lieber, wenn er mal Pfarrer würde.« »Das hat der Sohn vom Herrn Worbs doch nicht nötig. Das ist was für armer Leute Kinder!« »Die Franziskaner reden ihr’s ein; es stecken doch immer welche bei ihr.« »Meister, da nehmen Sie sich nur in acht! . . . « »Nee, liebe Frau Kaps, so wie Sie meinen, nicht! Dazu ist die doch viel zu stolz!« »Den Kutten, den trau ich alles zu!« »Kapsen, Sie lästern ja wie’n Ketzer!« »Unsereiner läßt sich nicht dumm machen, dazu sieht und hört man zuviel. Wenn ich reden wollte . . . « »Reden Sie doch mal!« »Die mischen sich in lauter Sachen, die sie nicht für’n Sechser angehn. Damals zum Beispiel bei meiner Heirat, wollten sie mir partout was am Zeuge flicken. Bloß auf das Gerede der Leute hin. Mit allen Klatschbasen sind sie ja immer gut Freund! Beinah hätt’ ich keinen Kranz tragen dürfen. Dann stänkerten sie mir ins Geschäft: ich veranstalte zu viele Tanzvergnügen, da würden die jungen Leute verleitet. Wo ich mir den Sommer doch wahrnehmen muß, lang ist er wahrhaftig sowieso nicht! Die werden die Steuern für mich nicht bezahlen! Sie sollen beten und sich kastein und nicht danach schielen, was andere tun. Und haben Sie schon das Neueste gehört? Jetzt predigen sie gegen den Alkohol, auf einmal soll der an allem schuld sein. Verrückt sind die Kerle, die würden sich wundern, wenn sie alle ernähren sollten, die bisher von Brauereien und Gasthöfen lebten!« Worbs mußte lächeln, wie sie sich so ereiferte. »Wie wär’s, wenn wir ihnen einen Schabernack spielten und den Wasserköpfen zum Possen einen Allasch zusammen tränken?« sagte er jovial und getraute sich, sie dabei begütigend auf den Rükken zu klopfen. Gleich wurde sie sachlich: »Also zwei Allasch. Kleine oder große?« »Zweistöckige natürlich! Wie wir gebaut sind, uns werden die wohl nicht gleich umschmeißen!« Sie stießen an. »Auf Ihren Herrn Sohn, daß er mal ein ganz berühmter Jurist wird!« »Machen Sie’s halbweg! Ich war schon zufrieden, wenn er nur erst mal Jura studierte!« »Das werden Sie doch wohl durchsetzen, Meister! Sie sind doch der Herr im Hause, dächt’ ich!« »’s müßte eigentlich so sein! Aber in Wahrheit – du lieber Gott . . . ! Für meine Frau und für den Jungen, da bin ich so eine Art Störenfried. Gut dazu, ihnen das Geld zu verdienen, aber im übrigen doch bloß ein simpler Handwerker und den feinen Herrschaften lästig!« »Das kann ich gar nicht glauben. So borniert werden doch Ihre Leute nicht sein. Wie ich bin, ich ziehe mir jeden soliden Geschäftsmann einem Beamten vor.« »Meine Therese kann halt noch heut nicht vergessen, daß ihr Mann keinen Titel besitzt. Sie hatte sich was Besonderes erhofft . . . « »Sie soll doch froh sein, daß sie Sie hat! So eine günstige Position hätte ihr keiner sonst bieten können. Solche Mädel sind immer zu anspruchsvoll. Einen Akademiker oder höheren Beamten hätte sie ihrem Stande nach und ohne Mitgift doch nicht bekommen, und die mittleren oder Militäranwärter sind doch Hungerleider gegen Sie!« »Reden Sie ihr das mal ein, Frau Kaps! – Ach was, bringen Sie lieber zwei Allasch!« »Ich dachte, Sie wären der glücklichste Mensch.« »Es hat wohl jeder sein Päckchen zu tragen. Sie sind eben eine vernünftige Frau, eine Geschäftsfrau, die weiß, wie’s im Leben zugeht. Man hat sich manches anders gedacht . . . « Er trank den zweiten Schnaps hastig herunter und seufzte. Die Sorge wegen des Sohnes, die ihn schon unterwegs gequält hatte und die er doch nach dem Gebet in der Klosterkirche abgetan wissen wollte, umdunkelte ihn wieder riesengroß. Er trank nun hastig immer einen Allasch nach dem andern weiter, ohne daß die Gastwirtin noch mit ihm Schritt hielt. »Und nicht einmal mit dem Sohn stehn Sie gut?« fragte sie. »Gar nicht stehe ich mit ihm! Weil ich immer in der Werkstatt und im Laden war, blieb er seine ganze Kindheit über hauptsächlich auf die Mutter angewiesen. Die hatte es auch leicht, stets freundlich zu sein. Ich, wenn ich abends nach Geschäftsschlüß endlich mich den Meinen widmen konnte, war abgespannt, der Ärger des ganzen Tages wirkte in mir nach, und so gab ich natürlich einen schlechten Gesellschafter her. Ich glaube, der Knabe hatte schon immer Angst, wenn ich nach Hause kam, daß ich ihnen die gute Stimmung verderben würde. Ich erinnere mich noch ganz genau einer Enttäuschung, die mir unvergeßlich sein wird. Ich hatte an jenem Tage ein besonders gutes Geschäft gemacht und daher den Laden eher als sonst verlassen. Stillvergnügt dachte ich: wirst den beiden eine freudige Überraschung machen; und kaufte unterwegs für Therese Pralinés und für den Jungen eine Schachtel Bleisoldaten. Leise schließ’ ich das Entree auf, häng’ den Mantel ab und drücke vorsichtig die Tür zur Wohnstube auf. Da steht mein Artur mitten im Zimmer und deklamiert was, hat sich mit einem Federhute meiner Frau und einer Tischdecke kostümiert und spielt Theater, seine Mutter sitzt als Publikum auf dem Sofa und hört ergriffen zu. Ich bleibe mäuschenstill an der Tür stehen, um ihn zu Ende kommen zu lassen, aber wie er mich erblickt, kriegt er einen Wutanfall, reißt sich Hut und Decke herunter und kreischt: ›Gerade war ich im besten Zuge!‹ Mir wurde eiskalt, wie er gar zu weinen anfing, ich versuchte ihn zu begütigen, er könnte ja noch einmal von vorn beginnen, nun hätte er doch einen Zuhörer mehr, und ich würde ganz andächtig aufpassen, aber er kauerte sich verstockt in einen Winkel, und meine Frau machte mir auch noch Vorwürfe: jedes harmlose Vergnügen müßte ich verderben, und was ich denn schon wolle, ob was passiert sei, ich lege es ordentlich darauf an, sie immer zu erschrecken! Da habe ich erst gar nicht das Abendessen abgewartet, bin ins ›Sängerheim‹ hinübergegangen, hab’ der Kellnerin die Pralinés gegeben und einem barfüßigen Jungen, der mit Streichhölzern hausieren kam, die Bleisoldaten und mich sternhagelmäßig betrunken.« »Sie haben eben beide von vornherein zu sehr verwöhnt, Sie sind eben ’n viel zu gutmütiger Charakter, Herr Worbs!« »Ach Gott, Artur ist ja sonst ein Sohn, an dem man Freude haben könnte. Immer bringt er die besten Zensuren mit. Unter uns gesagt, er ist mir ein wenig zu solide! Als ich in den Flegeljahren war . . . Jungens müssen eigentlich austoben. Ich wünschte, er verübte mal ’nen richtigen Streich, das Leder vollhaun wollt’ ich ihm schon darüber, aber innerlich freuen würde ich mich doch darüber. So sitzt er nur immer und liest und liest. Da kriegt man ja ganz verschrobene Ansichten vom Leben!« »Da ist mein Oskar ein anderer Kerl! Der ist wieder ganz nach dem Vater geschlagen und treibt sich bis abends spät draußen herum. Jeden Tag stiftet er was Neues. Eh’ ich den Lümmel dazu bringe, die notwendigsten Schulaufgaben zu machen, muß ich wirklich erst jedesmal handgreiflich werden. Ich bin froh, daß er zu Ostern freikommt!« »Aufs Gymnasium mochten Sie ihn nicht schicken?« »Er wollte ja nicht. Und wozu denn auch! Er soll doch bloß das Lokal übernehmen. Mein Marin war übrigens gar mal auf Schule: er sollte zumindest das Einjährige kriegen. Zweimal blieb er gleich in Sexta sitzen; da hat ihn der Alte doch abgemeldet.« »Ich hatte mir steif und fest vorgenommen: mein Sohn soll’s weiter bringen als ich! Ist er mal soweit, verkauf ich’s Geschäft, für uns beiden Alten langen die Zinsen, und Artur ist nicht an das Nest hier gebunden.« Als der Klempnermeister schon ziemlich in Rage ist, kehrt der Gastwirt Kaps heim. Er kommt wieder einmal von der Jagd und liefert erst draußen in der Küche das Wildbret ab, ehe er sich’s bequem macht. In seiner Begleitung ist ein fremder Herr mit einem merkwürdigen Gesicht, halb wie ein Bauer, halb wie ein Schauspieler, und Kaps stellt ihn vor, nennt irgendeinen Namen mit A, natürlich nimmt man den genauen Wortlaut nicht recht ins Bewußtsein auf. »Der Herr ist Besuch in der Villa Gaschin, beim Herrn Oberamtmann, und da der heute nicht selber mitkonnte, hat er mir seinen Gast geschickt.« Worbs ärgert sich, daß er so im besten Fahrwasser seiner Herzensbeichte von den Beiden unterbrochen wurde, aber er schwingt sich doch zu der höflichen Anfrage auf: »Und wie lange gedenken Sie hier zu bleiben?« »Morgen früh muß ich schon wieder fort«, erwidert der Fremde, »ich war nur ein und einen halben Tag hier.« »Das lohnt sich ja kaum.« »Der Amtmann und ich, wir waren früher zusammen auf Schule. Da ich jetzt grad durch die Gegend kam, wollte ich ihn doch einmal umstoßen.« »Schatz, laß uns ’nen ordentlichen Happen braten! Die Jagd macht hungrig«, ruft der Gastwirt. Der Fremde bestellt eine Flasche Wein. »Und vier Gläser dazu, wenn ich bitten darf. Herr . . . « »Worbs«, beeilt sich der Klempner zu helfen. » . . . Herr Worbs, Sie machen mir doch das Vergnügen?« »Dann trinken wir aber erst noch vier Allasch.« »Wie das Leben doch merkwürdig spielt«, beginnt nun wieder der fremde Herr, »hätte ich mir doch vorgestern abend noch nicht träumen lassen, daß ich heute würde hier auf die Jagd gehn!« »Von woher kommen Sie, wenn ich fragen darf?« »Aus Berlin.« »Kennen Sie da die Firma Hecht und Giller? Mit der steh’ ich geschäftlich in Korrespondenz.« »Bedaure, nein. – Die schönsten Erlebnisse sind eigentlich immer die gewesen, die einen ganz unvorhergesehen überraschten. Ich hatte die meiste Freude an Ereignissen, die gar nicht vorbereitet waren, so wie heut an der improvisierten Jagd.« Der Klempnermeister fühlt, er darf jetzt auch mitreden, und er gibt sein Jugenderlebnis mit dem unbekannten Mädchen zum besten. Dröhnend lacht der Gastwirt: »So eine unschuldige Liebesgeschichte hab’ ich mein Lebtag nicht gehört!« Aber der fremde Herr bekundet ein regeres Interesse für die Erzählung. »Haben Sie Kinder?« fragt er dann. »Einen Sohn. Er geht grad in Sekunda. Wir sprachen vorhin eben von ihm. Er hockt mir zuviel zu Hause und schmökert.« Der fremde Herr lächelt unmerklich. »Was liest er denn?« »Das weiß ich eben nicht! Ich verstehe doch nichts von derlei Dingen.« Und plötzlich, wider seinen Willen fast, sprudelt Worbs noch einmal alles heraus, was ihn bedrückt, und legt vor dem Fremden seine Umstände bloß, mehr als er eigentlich erst zu sagen beabsichtigt hatte. Und wundert sich über seine eigene Stimme, mit der er sich gierig fragen hört: »Und was soll ich nun tun?« Der Gastwirt macht seine Witze dazu, Frau Kaps begütigt jovial, und schon will eine neue Woge Trunkenheit des Klempnermeisters Kummer wegschwemmen und ihn auf einer glücklicheren Insel landen lassen, wo alles ein annehmbareres Aussehen hat. Aber aus dem Fremden ringt sich ein Ruf, der auch diese Leute hier innehalten läßt, man weiß nicht, ist es eine Anklage gegen die eigne Unzulänglichkeit oder gegen andere: »Das hat mich noch niemand gefragt!« Da geht in dem Klempnermeister etwas Merkwürdiges vor, er begreift, daß es sich für ihn gar nicht mehr um den einen besonderen Fall der Berufswahl seines Sohnes handelt, auch nicht nur um das Verhältnis zu seiner Frau, sondern daß jetzt sein ganzes Leben in Frage gestellt ist, und er fühlt, daß das mit dem Fremden zusammenhängt. Er redet sich in immer Unverantwortlicheres hinein und rückt dem Herrn dringlicher auf den Leib: »Sie müssen sich das einmal selbst ansehen kommen bei uns . . . Sie müssen mich besuchen . . . Vielleicht merken Sie, woran’s liegt . . . Jetzt haben Sie gehört, was ich erzählt habe, Sie müssen auch hören, was meine Frau sagt. Dann werden Sie sich ein Bild machen können. Lassen Sie sich zeigen, was der Junge liest, der hat schon ’ne reine Bibliothek, und dann zeige ich Ihnen auch den Zweig, den mir damals die aus der Droschke zuwarf, das gehört ja alles doch zusammen!« Der Fremde raffte sich auf. »Ich habe heut allerlei nicht erwartet, aber das vor allen Dingen nicht: daß mich ausgerechnet hier einer meistert! Sehn Sie, ich bin doch in Berlin mit soundso vielen Menschen zusammen, den interessantesten und schwierigsten, ich bin nämlich dort ein bekannter Mann – aber so tief hat mich noch keiner erschüttert, wie Sie mit Ihrer Frage vorhin. Man hat also die verdammte Pflicht, jedem darauf antworten zu können, jedem, auch dem Fremdesten noch! Und ich neunmal Weiser wußte sie immer nicht einmal für mich selber zu lösen!« Er nahm einen Schluck Wein wie zur Stärkung. Der Klempner verstand kein Wort davon, dennoch kam ihm, was der Fremde sagte, wie eine große Tröstung vor. Er schüttelte ihm herzlich die Hand. Draußen im Garten gingen die letzten Gäste. Die Kellnerin räumte die Tische ab und kam ans Büfett, um Kasse zu machen. Der Fremde beglich seine Rechnung. Worbs bat um nochmalige Angabe des Namens und erhielt eine Visitenkarte, die er in die Tasche steckte. Dann zahlte er auch. Der Fremde sagte noch: »Für einen so kurzfristigen Abstecher habe ich mehr als genug erlebt! Herr Kaps, haben Sie nochmals Dank für die Jagd! Guten Abend, Frau Wirtin, lassen Sie sich’s gut gehn!« »Danke. Gleichfalls!« Man komplimentiert ihn zur Tür. »Jedenfalls für morgen: Recht glückliche Reise! Und weht Sie der Wind wieder mal in die Gegend, vergessen Sie bitte nicht, uns zu beehren! Nochmals einen recht guten Abend wünsch’ ich. Empfehlen Sie uns dem Herrn Oberamtmann!« Der Klempnermeister ging mit dem Fremden. »Kommen Sie gut heim!« rief Frau Kaps ihm noch nach. Dann schloß Kaps die Läden mit der Feststellung: »Der hat aber heut einen Ordentlichen sitzen!« Dann warteten sie, daß der Bube sich einfände, und schwiegen sich an. Worbs und der Fremde gingen noch bis zur Villa Gaschin zusammen. Keiner von beiden redet ein Wort mehr: aber der Klempner fühlt sich geborgen. Am Tore der Villa sagte der Fremde mit nüchternem, ja gewöhnlichem Tonfall: »Alles gibt sich im Leben. Morgen, bei Licht besehn, wird sich auch Ihr Tag wieder leidlich ausnehmen. Gute Nacht!« Worbs brachte keine Silbe heraus, verbeugte sich nur. Dann schrillte die Klingel, Hunde bellten drin im Hofe, Schritte nahn, es wird aufgesperrt, und der Fremde war verschwunden. Worbs machte sich jetzt Vorwürfe, die Gelegenheit nicht besser genutzt zu haben. Das Wichtigste hatte er gar nicht gesagt, meinte er nun, er wußte genau, was er alles versäumt hatte. Er ging übrigens in der Dunkelheit der Allee ziemlich unsicher, rannte gegen einen Baum, später gegen einen Briefkasten und hatte Angst vor einem Licht, das auf ihn zukam, sich in der Nähe aber als die friedliche Laterne eines zum Dienst gehenden Eisenbahners entpuppte. In ihm jubelte trotzdem das Bewußtsein, daß er einen Freund hatte. Einen, dem er gerade das sagen konnte, was er vor den andern Freunden immer hatte verheimlichen müssen. Als er wieder auf die Brücke kam, blieb er eine Weile am Geländer stehen und starrte, hinab in die Fluten, die über das Wehr flössen. Das hell erleuchtete Wasserwerk spiegelte sich wie ein Märchenschloß im Flusse, Worbs wollte sich schon in eine Phantasie verlieren, die ihm ein zauberhaftes Dasein mit der unbekannten Geliebten in dieser Fabelwohnung vorgaukelte, da brachte ihn das surrende Geräusch der arbeitenden Turbinen zur unliebsamen Wirklichkeit zurück. Und es hatte sogar etwas Humoristisches für ihn, daß er an den Wasserwerksinspektor denken mußte, einen schweren Alkoholiker, dem jüngst die Gattin mit einem blutjungen Pharmazeuten durchgegangen war. Das Grinsen, das hierbei in des Klempners Gesicht kam, wurde noch toller, als er ein Liebespaar eng umschlungen in die dunklen Anlagen der Flußpromenade taumeln sah. Vor einem Hause der Kochstraße pfiff ein Monstrum hartnäckig immer wieder dasselbe Signal, klopfte auf das Regenblech der Parterrewohnung und jaulte zwischendurch langgezogen »Ma . . . thil . . . de . . . !«, ohne Gehör und Einlaß zu finden. Worbs vergewisserte sich schadenfroh, daß er seine Schlüssel in der Tasche trug. Mit einem Male ernüchterte ihn das Schuldgefühl, über dem ganzen Gerede in »Weidmanns Heil« den eigentlichen Zweck seines Besuches, die Erledigung der Wechselangelegenheit, vergessen zu haben. Kleinlaut geworden, wagte er nicht einmal, sich in die »Goldene Wiege«, aus der eben verstohlen ein Häuflein Nachtschwärmer entlassen wurde, Einschlupf zu verschaffen, obwohl er gerade einen brennenden Durst auf ein abschließendes Glas Pilsner verspürte. Er wußte nun gar nicht, was er den Vorwürfen seiner Frau entgegnen sollte – daß er sie ja überhaupt in die Wechselsache nicht eingeweiht hatte, konnte er sich jetzt nicht vorstellen. Aber als er das gemeinsame Schlafzimmer betrat, blieb der erwartete peinliche Empfang aus. Seine Therese lag ganz friedlich im Bett und las in einem Buche. Sein schüchterner Gruß wurde voller Gleichgültigkeit erwidert, so verschlug es ihm die weitere Rede. Dieses Nichtbeachtetwerden kränkte ihn tiefer als je eine zornige Beschuldigung vermocht hätte; er kam sich aus der Welt verstoßen, wie tot vor. Der noch nicht sichere Wert dessen, was er heut so unerwartet geschenkt erhalten hatte, sank nun vor dem bekannten Werte des Besitzes, den er eben jetzt als völlig verloren glaubte buchen zu müssen. Er hätte weinen mögen, zog sich schweigend aus, in seiner Nervosität verhedderte er sich dabei, und es dauerte länger als gewöhnlich. Die Frau klappte das Buch zu, löschte das Licht und drehte sich auf die andre Seite. Sein »Gute Nacht« gab sie ihm tonlos zurück und schnarchte schon mit regelmäßigen, geruhigen Takten. Er hätte gerade jetzt furchtbar zärtlich werden wollen, getraute sich aber nicht, sie zu stören. Er verglich seinen jetzigen Zustand mit einer schlaflosen Nacht seiner Kindheit: damals hatte er gebangt, durch ein schlechtes Schulzeugnis, das er am andern Morgen unterschreiben lassen mußte, seines Vaters Obhut zu verlieren. Er bemitleidete sich selbst unbändig, kam dabei ganz von seinem zärtlichen Betätigungsdrange ab, erschöpfte sich an der eignen Wehleidigkeit, entschlummerte und hatte bis zum Morgen einen ununterbrochen gesunden und traumlosen Schlaf. Am Frühstückstisch kramte er seine Begegnung mit der Friseurstochter aus, ohne damit Anklang zu finden. Da unterließ er es, von dem übrigen auch nur andeutungsweise etwas verlauten zu lassen.
Er lebte nun so automatisch dahin, war noch eifriger als früher im Geschäft tätig, so daß er abends immer wie tot ins Bett sank. An die Entscheidung über seinen Sohn zu rühren, vermied er geflissentlich. Lange nachher fiel ihm zufällig einmal die Visitenkarte des fremden Herrn aus der Tasche. Der Sohn hob sie auf, las sie und fragte schroff: »Wie kommst du zu dieser Karte?« Worbs behandelte den Fall ganz nebensächlich: »Eine gelegentliche Wirtshausbekahntschaft.« Da brauste der Jüngling unerwartetermaßen auf: »Und das sagst du mir erst heut? Hermann Karst war also hier in unsrer Stadt! Und du hast ihn sogar persönlich kennengelernt. Und hast mir nicht einmal was erzählt! Konntest du mich ihm denn nicht vorstellen? Sagen, was für ein begeisterter Verehrer von ihm ich bin!« Und er schrie erbost: »Mutti, Mutti, Papa hat Hermann Karst kennengelernt, Karst war hier, und Papa hat’s uns verschwiegen!« Die Mutter kam erregt dazu. Worbs hatte keine Ahnung, was er davon halten sollte. »Wer ist denn das eigentlich?« »Das weißt du nicht? Wo wir sämtliche Werke von Karst besitzen, gerade vor der Nase stehn sie dir! Gott, hätte ich das bloß geahnt! So eine Gelegenheit kommt nie wieder!« »Mit so was verheiratet zu sein, ist doch wahrhaftig ein Unglück! Hast du denn nie in der Zeitung von Karst was gelesen?« »Ich habe doch wirklich anderes zu tun.« »Wann war er denn da? Vielleicht blieb er noch –« »Er ist gleich am nächsten Tag weitergefahren. Mittwoch vor sieben Wochen war es.« »Aha, als du so bockig heimkamst und nicht ein Wort über die Lippen brachtest! Deine Hinterhältigkeit kennen wir ja.« »Wie soll man denn zu etwas kommen, wenn man so einen Vater hat!« Worbs hätte sich damit rechtfertigen können, daß er den Karst gebeten hatte, sie zu besuchen: aber nach der Aufklärung, die er nun über den Fremden empfangen hatte, war ihm der ganze Mann verdächtig, die Begegnung mit ihm entweiht und alles, was er sich damals daraus gefolgert hatte, hinfällig.
Nach vier Jahren setzte des Klempnermeisters Sohn ohne Kampf durch, daß er weder Jura noch Theologie zu studieren brauchte, sondern in die Deutsche Bank als Volontär eintrat. Er verachtete Vater wie Mutter gründlich, wurde aber jeden Sonntagabend von den beiden als der Stolz der Familie ins Stadthauscafé mitgenommen, wo er so viel Courtoisie für die alten Herrschaften an den Tag legte, daß man sie allgemein um den wohlerzogenen Sprößling beneidete. Aus Mädchen machte er sich nichts, sondern hatte kostspielige Sportleidenschaften.
Die Mutter brachte den ganzen Tag in Kirchen und Klöstern zu, nahm an jeder Wallfahrt teil und ging jede Vesper hinaus auf den Rochuskirchhof zum Grabe der kurz nach der Geburt gestorbenen Tochter Else.
Der Klempnermeister Worbs hatte seit geraumer Zeit nun ein stadtbekanntes Verhältnis mit der Blumenladnerin Kutsche, der er im besten Viertel ein Geschäft eingerichtet hatte, war als stets fideler Stammtischkumpan allenthalben beliebt und als unübertrefflicher Erfinder neuer Vergnügungsmöglichkeiten und Festarrangeur angesehenes Mitglied fast all der vielen Vereine, die seine Vaterstadt aufwies. Als er zum Stadtverordneten gewählt wurde, besaß er nicht einen einzigen Gegner und erhielt das Theaterdezernat anvertraut. Nun beneidet er auch den toten Direktor nicht mehr, und wenn er mit den Schauspielern zusammenkommt, verfehlt er nicht zu erwähnen, daß er mit dem großen Dramatiker Hermann Karst befreundet sei.