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Erzählung des Goliard
ОглавлениеIch armseliger Goliard, elender Pfaff, der ich in den Wäldern und auf den Landstrassen umherstreife, um im Namen unseres Heilandes mein tägliches Brot zu erbetteln, ich habe ein frommes Schauspiel gesehen und die Worte der kleinen Kinder gehört. Ich weiss, mein Leben ist nicht sehr heilig und ich habe den Versuchungen unter den Linden am Wege nicht widerstanden. Die Brüder, die mir Wein geben, sehen wohl, dass ich kaum gewöhnt bin, ihn zu trinken. Aber ich gehöre nicht zur Sekte derer, die verstümmeln. Es gibt böse Menschen, die den Kleinen die Augen ausstechen, ihnen die Beine absägen und die Hände binden, um sie auszustellen und Mitleid mit ihnen zu erwecken. Und deshalb habe ich Furcht, wenn ich alle diese Rinder sehe. Sicher wird sie unser Heiland beschützen. Ich rede in den Tag hinein, denn Freude erfüllt mich. Ich freue mich über den Frühling und über alles, was ich gesehen habe. Mein Geist ist nicht sehr stark. Ich erhielt die Tonsur, als ich zehn Jahre alt war und habe die lateinischen Worte vergessen. Ich bin wie die Heuschrecke; denn ich springe hierhin und dorthin und summe, und manchmal öffne ich bunte Flügel, und mein kleiner Kopf ist durchsichtig und leer. Man sagt, dass St. Johannes sich in der Wüste von Heuschrecken nährte. Man müsste viel davon essen. Aber St. Johannes war nicht ein Mensch wie wir.
Ich bewundere St. Johannes, denn er irrte umher und redete ohne Unterlass. Mir scheint, seine Worte hätten milder sein sollen. Auch der Frühling ist mild in diesem Jahr. Niemals hat es so viele weisse und rote Blumen gegeben. Die Wiesen sind frisch gewaschen. Überall auf den Hecken glänzt das Blut unseres Heilandes. Unser Herr Jesus ist weiss wie eine Lilie, aber sein Blut ist rot. Warum¿ Ich weiss nicht. Auf irgendeinem Pergament muss es geschrieben stehen. Wenn ich Schreiben gelernt hätte, würde ich Pergament haben und würde darauf schreiben. Dann könnte ich jeden Abend sehr gut essen. Ich ginge in die Klöster und betete für die toten Brüder und schriebe ihre Namen auf meine Rolle. Ich würde meine Totenrolle von einer Abtei zur anderen tragen. Das ist etwas, was unseren Brüdern gefällt. Aber ich kenne die Namen meiner toten Brüder nicht; vielleicht sorgt sich unser Heiland auch nicht darum, sie zu erfahren. Mir schien, als ob alle diese Kinder keine Namen hätten. Und es ist sicher, dass unser Herr Jesus sie liebt. Sie erfüllten die Landstrasse wie ein Schwarm weisser Bienen. Ich weiss nicht, woher sie kamen. Es waren ganz kleine Pilger. Als Pilgerstäbe hatten sie Hasel- und Birkenstöcke. Auf den Schultern trugen sie das Kreuz; und alle diese Kreuze hatten andere Farben. Ich sah grüne, die wohl aus aufgenähten Blättern gemacht waren. Es sind wilde, unwissende Kinder. Ich weiss nicht, wohin sie irren. Sie glauben an Jerusalem. Ich denke, Jerusalem muss weit sein und unser Heiland muss näher bei uns sein. Sie werden nicht nach Jerusalem kommen. Aber Jerusalem wird zu ihnen kommen. Wie zu mir auch. Das Ziel aller heiligen Dinge liegt in der Freude. Unser Heiland ist hier, auf diesem Rotdorn, auf meinem Munde und in meiner armen Rede. Denn ich denke an ihn, und seine Grabstätte ist in meinen Gedanken. Amen. Ich will hier in der Sonne schlafen gehen. Dies ist eine heilige Stätte. Die Füsse unseres Heilandes haben alle Orte geheiligt. Ich will schlafen. Jesus, lass am Abend alle diese kleinen weissen Kinder schlafen, die das Kreuz tragen. Wahrhaftig, ich sage es ihm. Ich bin sehr schläfrig. Ich sage es ihm wirklich, denn vielleicht hat er sie gar nicht gesehen und er muss doch über die kleinen Kinder wachen. Die Mittagsstunde drückt auf mich. Alle Dinge sind weiss. Amen.