Читать книгу Im Riesennest - Max Kretzer - Страница 4
I.
ОглавлениеDie beiden Kleinen.
Es liegt in der menschlichen Seele eine versteckte Falte, in der der Same der Zwietracht verborgen schlummert. Die leiseste Befruchtung genügt, um ihn emporschiessen und üppig wuchern zu lassen. Wer da ganz ergründen könnte, aus welchen Kleinigkeiten des Lebens oft der bitterste Hass seinen Ausgang findet, der würde dann wissen, dass der Hass weiter nichts als verletzte Eigenliebe ist, die über die edelsten Regungen in unserer Brust triumphiert. Ferdinand Leineweber mied seinen Bruder Johannes Leineweber der bunten Toilette seiner Frau wegen. Das war so gekommen: Die Leinewebers hatten in Gesellschaft ihnen befreundeter Vorstadtfamilien eine Landpartie per Kremser nach dem reizend gelegenen Grünau unternommen. Die Damen waren gerade bei der sechsten Tasse Kaffee angelangt, als es Frau Susanne, der Gattin des Hutmachers Herrn Johannes Leineweber, einfiel, den neben ihr sitzenden Bürgerinnen höchst liebenswürdige Bemerkungen ins Ohr zu tuscheln: Du lieber Himmel, ihre Frau Schwägerin hätte es ja dazu! Wenn man erster Buchhalter der berühmten Firma Müller, Schulze und Kompanie sei und ein festes Einkommen von jährlich fünfzehnhundert Talern habe, dann könne man sich in dieser Beziehung bei einem einzigen Kinde schon etwas leisten, aber — — —. Dieses „Aber“ war insofern vielbedeutend genug, als sich daran ausserordentlich lebhafte Betrachtungen knüpften, die alle in dem Endsatze wurzelten: „Ich bleibe nun einmal dabei, meine Lieben, wem’s nicht sitzt und kleidet, der kann sich über und über mit Sammet und Seide behängen, er wird doch stets ‚nach nichts‘ aussehen.“
O, und diese Hüte der lieben Frau Schwägerin! Madame Susanne verstand sich ganz besonders darauf, nicht nur als Gattin eines viel in Anspruch genommenen Hutfabrikanten, der in der belebten Oranienstrasse ein offenes Geschäft betrieb, sondern auch als Putzmacherin von Fach, die sich rühmen durfte, die honorabelsten Damen der südöstlichen Luisenstadt zu ihren Kundinnen zu zählen.
„Nicht wahr, meine Lieben, wenn man schon einmal Hüte für zwanzig Mark trägt, dann sollte man doch auch das bunte Gemüse in der Garnitur nicht dulden. Ja, ja, aber ich bleibe dabei, wo’s nicht drin liegt, da kommt der Geschmack nie.“
O, tadelt die Kleidung eines Weibes, sagt, dass sie hässlich sei, und sie wird euch das nie vergeben können. Madame Juliens Ohr wurde unangenehm von diesen Bemerkungen berührt, und der Riss zwischen den beiden Schwägerinnen war fertig.
Die beiden Leineweber wohnten in einem Hause in zwei verschiedenen Etagen. Erst fand es der Buchhalter eines Mannes unwürdig, eine Weiberklatscherei ernst zu nehmen und sich in seinem bisherigen friedlichen Verkehr mit Herrn Johannes Leineweber stören zu lassen; schliesslich aber bildete er sich selbst ein, seine Frau sei wirklich beleidigt worden, und dies erfordere die nötige Sühne.
Wenn man sich jetzt zufälligerweise auf der Treppe begegnete, blickte man zur Seite und ging vorüber, als wäre man sich vollständig fremd und hätte keine Ahnung, wer eins oder das andere sei. Und diese zur Schau getragenen äusserlichen Anzeichen eines anscheinend tödlichen Hasses versuchte man beiderseits, auf die Dauer durch allerhand kleine schadenfrohe Neckereien, durch welche der eine Teil sich den Ärger des anderen versprach, ganz besonders zu würzen. Herr Ferdinand Leineweber gebrauchte plötzlich alle vier Wochen einen neuen Hut. Beim Einkauf desselben passte er die Gelegenheit ab, bis der behäbige Herr Johannes Leineweber in der geöffneten Ladentür stand und wie ein zufriedener Kleinbürger, behaglich seine Zigarre rauchend, das bunte Leben auf der endlosen Strasse beobachtete. Dann schritt der etwas hagere Herr Ferdinand gravitätisch über den Damm und verschwand im Laden eines Konkurrenten seines Bruders, um nach zehn Minuten, das Haupt bedeckt mit einem neuen Chapeau, in der Rechten den sauber kartonnierten alten haltend, wieder zurückzukehren. Das rechte Auge machte dann Anstrengung, nach der ersten Etage, das linke, nach einer gewissen Glastür zu schielen, die soeben klirrend ins Schloss gefallen war, nicht bevor noch ein überaus höhnisches Lachen sein Ohr berührt hätte. Herr Ferdinand wusste nicht umsonst, dass besagter Konkurrent seines Bruders in den Augen des letzteren zu den unausstehlichsten Menschen der ganzen Gegend gehörte. Trafen sich die beiden Brüder am Schluss des Quartals zufälligerweise beim Hauswirt im Parterregeschoss, um die Wohnungsmiete zu entrichten, so kehrte der zuletzt gekommene sofort um und verschwand mit den Worten: „Ich komme wieder, Herr Lehmann, ich habe nicht nötig, gewisser Leute wegen zu warten“; und erfuhr der eine, dass in der Wohnung des anderen von seiten des ausnahmsweise aufmerksamen Wirtes irgendeine Veränderung oder Verbesserung vorgenommen wurde, so hatte Herr Lehmann sich auch sofort des Besuches des anderen zu erfreuen, der ihm ungefähr folgendes sagte: „Die Tapete meines Wohnzimmers ist wirklich schon überaus schadhaft. Sie wissen, ich wollte schon längst ziehen. Ich habe es nicht nötig zu sehen, wie man gewissen Leuten immer mehr entgegenkommt als mir.“
Diese indirekten Plänkeleien wurden in gleichem Masse von den beiden Frauen vollführt; suchte jetzt die Frau des Hutmachers ihre ganze Würde darin zu finden, besonders an den Markttagen, gefolgt von ihrem Mädchen, so einfach wie nur möglich gekleidet zu erscheinen, so fand die Frau Buchhalter ein besonderes Vergnügen darin, in ihrer schwersten Robe bei ihren Einkäufen die Marktweiber zu beglücken.
Eines Tages las Herr Ferdinand Leineweber in der „Vossischen Zeitung“ folgendes sehr auffallend gedrucktes Inserat: „Ich suche für meine Hutfabrik einen tüchtigen, soliden Buchhalter. Gehalt per anno fünfzehnhundert Taler. Allmonatlich einen neuen Hut, Fasson nach Belieben, gratis. Nur ledige Leute, oder wenn verheiratet, nur solche, die nicht unter dem Pantoffel stehen, werden berücksichtigt. Gefällige Adressen postlagernd Postamt Oranienstrasse.“
Es war im Juni und ganz besonders heiss an diesem Tage. Der erste Buchhalter der Firma Müller, Schulze und Kompanie war vor wenigen Minuten erst schweisstriefend aus dem Kontor angelangt und hatte es sich einstweilen auf dem Sofa bequem gemacht, während seine liebe Frau, Madame Julie, damit beschäftigt war, das Mittagessen aufzutragen. Herr Ferdinand brauchte das Inserat nicht erst zum zweiten und dritten Male zu lesen, um zu wissen, dass es nur auf ihn gemünzt sei und von seinem liebenswürdigen Bruder unten im Laden ausginge. Der Buchhalter brach zuvörderst in ein schallendes Gelächter aus, so dass Frau Julie vor Schreck den Suppenlöffel klirrend auf einen Teller fallen liess. Aber ihr Mann lachte unbändig weiter. Dieser Filzkrämer da unten, dessen ganze Geschäftsbücher in einer einzigen Schmierkladde bestanden, masste sich an, einen Buchhalter gebrauchen zu können. Was der für eine Ahnung von einem wirklichen Kaufmann hatte!
Dass man sich auch gerade an einem Tage, wo man sein Leibgericht vor Augen hatte, den Appetit verderben musste! Das kam aber davon, wenn die gegenseitige Übereinstimmung der Familiengewohnheiten sich bis auf das Lesen derselben Zeitung erstreckte. Madame Julie befand sich wieder in der Küche.
Der Herr Buchhalter wurde dann wütend. „Julie!“ rief er laut mit ersichtlichem Zorne durch die geöffneten Türen, „ich habe dir doch bereits am vergangenen Ersten gesagt, dass das Abonnement der „Vossischen Zeitung“ uns zu teuer wird, und habe dich gebeten, die Zeitung des Morgens abzubestellen, du vergisst auch alles.“
„Soo — meinst du?“ kam die Angeredete erwidernd zurückgerauscht; „ich soll wohl nun dafür können, dass dein ‚so liebenswürdiger, ausgezeichneter, aufrichtiger‘ Bruder so gering von dir denkt, dass er sich öffentlich über dich lustig macht. Man liest doch auch seine Zeitung,“ fügte sie etwas selbstbewusst hinzu und schloss dann: „Die drei Hüte, die dort hängen, hättest du überhaupt auch sparen können. Es wird eine Ewigkeit vergehen, ehe du sie ganz aufträgst.“
Herr Ferdinand schwieg natürlich. Weshalb hatte die „Vossische Zeitung“ auch so viele Verlobungs- und Verehelichungsanzeigen, die jede Frau zum eifrigen Studium des Inseratenteils drängten.
Zwei Tage später hatte Herr Ferdinand sich weidlich gerächt, denn als nun unten, eine Treppe tiefer, Herr Johannes Leineweber die Spalten der „Vossischen Zeitung“ überflog, las er folgenden Herzenserguss, der wie der hämische Gruss eines engen Verwandten klang: „Für Hutmacher, die in beschränkten Verhältnissen leben! Alte und dicke Filze werden von einem erfahrenen Buchhalter einer der ersten Firmen (die letzten vier Worte waren gesperrt gedruckt) nach Noten gegerbt. Auf Wunsch auch gratis. Dickwämse vorgezogen. Offerten Postamt Oranienstrasse.“ Es war wohl nur ein leidiger Zufall, dass Herr Johannes Leineweber an diesem Tage genau die Zeit abpasste, wo sein Bruder an seiner Ladentür vorübergehen musste; wie ein Schild hielt er das „Berliner Tageblatt“ vor das halbgesenkte Haupt, so dass jedermann den Titel des Journals beim Vorübergehen lesen musste. Herr Ferdinand Leineweber aber schien seine Pappenheimer zu kennen. „Ha, ha, ha,“ lachte er ganz laut, „wer gestern noch die ‚Vossische Zeitung‘ gelesen hat, liest sie heut auch noch. Man ist doch nicht aus Dummsdorf.“ Dann hatte der Buchhalter die Genugtuung zu hören, wie sein Bruder wütend die Ladentür ins Schloss warf. Beim Weiterschreiten murmelte Herr Ferdinand vergnügt vor sich hin: „Na — die Filzgerberei wird er aber wohl verstanden haben. Ha, ha, ha!“
Wo die Eltern im Hader liegen, da haben die Kinder am meisten zu leiden. Klein Fritzchen und Lottchen wussten davon zu erzählen. Frau Julie bemerkte eines Tages vom Küchenfenster aus, wie ihre Schwägerin unten auf dem Hof sich so weit verstieg, ihrem Kleinen das Haar aus der Stirn zu streichen und dem rosigen Buben schliesslich einen Kuss zu geben. Die Gattin des Buchhalters war empört. „Lene!“ rief sie ganz laut zu ihrem Mädchen herunter, „komm sofort mit dem Jungen herauf, hörst du?“ Oben gab es dann eine Flut von Vorwürfen. „Wenn du noch einmal erlaubst, dass diese Person da unten mein Kind küsst, dann bist du sofort aus dem Dienst entlassen, hast du verstanden?“ Lene war eine echte Berlinerin, die, wenn sie sich keines Unrechts bewusst war, nicht ohne weiteres Vorwürfe hinnahm. „Jotte doch, Madamken, nun soll ich wohl noch dafor können, wenn die Herrschaften sich meilenweit aus dem Wege gehen. Ihr Mann hat gestern erst im Hausflur das kleine Lottchen geküsst, und da dachte ich, es würde wohl nichts schaden, wenn Ihre Frau Schwägerin auch mal wieder unser Fritzchen küsst. Das war doch früher so. Die armen Würmer die, — nun sollen die noch for die Sünden ihrer Eltern aufkommen.“
Die Frau Buchhalter unterbrach sie sofort: „Mein Mann hat das getan?“ Frau Julie schien das Unerhörte nicht begreifen zu können, als ihr Lene den Kelch noch voller machte: „Gewiss, Madamken, sogar auf den Arm hat er Lottchen genommen und sie ‚seine kleine liebe Prinzessin‘ genannt. Sie wird jetzt auch wirklich zu reizend, die kleine Jöre.“ Frau Julie hätte weinen mögen vor Zorn, wenn sie nur im Augenblick die üblichen Tränen gefunden hätte.
So trug der Baum der Zwietracht also allgemach die giftigsten Früchte: Die Eltern versuchten die beiden Kleinen sich gegenseitig zu entfremden und die frommen Kindergemüter im zartesten Alter zu trüben. Wenn nun die Dienstmädchen der beiden Leineweber des Nachmittags wie gewöhnlich, jedes das Kindchen seiner Herrschaft auf dem Arme, den nahegelegenen Mariannenplatz aufsuchten, wo inmitten schöner Parkanlagen unter grünenden Bäumen und Sträuchern während Stunden hindurch Hunderte von kleinen Weltbürgern unter der Aufsicht ihrer Mütter und Wärterinnen sich gar ergötzlich belustigten und mit strahlenden Gesichtern so fröhlich dreinschauten, als sendete der blaue Himmelsdom hoch oben nur ihretwegen die Sonnenstrahlen hernieder, — dann war es Fritzchen und Lottchen nicht mehr vergönnt, wie sonst, Händchen an Händchen des Weges zu schreiten, drollige Dinge zu plappern, so dass die Leute zuweilen stehen blieben und den beiden Liliputanern mit einem Lächeln nachblickten, als wollten sie laut ausrufen: Seht doch nur diese kleinen Rangen, wie reizend sie gekleidet gehen, was für wunderschöne Gesichtchen sie haben, wie altklug sie tun, als wären sie Braut und Bräutigam, das ist ja köstlich. O, die Eltern sind zu beneiden, die sie besitzen.
O gewiss, die Leute hatten recht. Wer könnte auch grosse blaue Kinderaugen sehen, wer könnte das in seiner unklaren Aussprache ebenso komisch wie rührend wirkende Geplapper kleiner, noch halb hilfloser Seelen hören, ginge ihm das Herz dabei nicht auf? Nun war das anders wie sonst. Da sass auf der einen Bank Herrn Johannes Leinewebers Küchenfee und getrennt von ihr auf einer anderen Herrn Ferdinand Leinewebers Lene, jede sorgsam bemüht, die Kinder voneinander fernzuhalten. Das war nun einmal der Befehl ihrer Herrschaften, und den suchte man zu befolgen. Und während ringsherum das laute Jubeln der Kinderscharen ertönte, endloses Schreien, helles Jubilieren die Luft erfüllte, diese ganze kleine, rosige Welt im Genuss der Freiheit schwelgte, suchten über die Köpfe hinweg stumm zwei Augenpaare sich, als wollte eins dem anderen zurufen: Was habe ich dir getan, dass ich hier nicht herunter darf, um mit dir zusammen, wie die anderen Kinder dort drüben, im Sande Kuchen zu backen und ein Schloss zu bauen? Und was diese stummen Blicke nicht noch alles weiter erzählten!
Vier Wochen hindurch hatten die beiden Kleinen ihr unverschuldetes Schicksal zu ertragen, als eines Nachmittags die gute Fee für sie auftauchte, die nun einmal im Leben der Kinder eine grosse Rolle spielt. Es war wieder auf dem Spielplatz. Die beiden dienenden Geister der beiden Brüder sassen sich in dem breiten, schattenbedeckten Wege gegenüber, jedes krampfhaft bemüht, der beiden Leinewebersprösslinge geheime Sehnsucht durch möglichstes Kneifen in die Arme und nicht gerade zarte Äusserungen zu besänftigen; dabei ergingen sie sich in einer höchst bedeutsamen Küchenphilosophie, die darin gipfelte, ob es für ihre eigene Ruhe nicht schliesslich vorteilhafter wäre, einmal von den Befehlen der Herrschaft abzugehen und den „unnützen Rangen“ den Willen zu lassen. „Es ist gar nicht mehr zum Aushalten mit diesem Bengel!“ sagte Herrn Ferdinand Leinewebers Lene mit entschieden zorniger Miene; und ihr Gegenüber fiel sogleich ein: „Ist das möglich? Nun sehn Sie mal, die will zu dem Jungen rüber. Is nich, Lotte! Sei ruhig und schrei nicht, sonst gibt’s einen Klaps.“ Die armen Kleinen fingen nun laut an zu weinen und erzürnten dadurch ihre sorgsamen Hüterinnen noch mehr. Plötzlich schrieen sie ganz laut durch ihr Weinen hindurch: „Gomama, Gomama!“ wandten ihre grossen Augen nach der Mitte des Weges und machten nun ganz unbändige Anstalten, vom Schoss der würdigen Dienstboten zu gelangen. Nun zeigte sich auch den Blicken der beiden Wärterinnen die würdige Frau Henriette Leineweber, Witwe des weiland pflichtgetreuen Bankbeamten Leineweber, die Mutter des hageren Buchhalters und des korpulenten Hutmachers. Frau Henriette war am Morgen erst nach zweimonatlicher Abwesenheit von Berlin vom Besuche einer Schwester zurückgekehrt, und ihr erster Gang sollte ihren Söhnen gelten. O, und was musste sie nun erleben! Nach einer Minute bereits sass sie auf der Bank zwischen den beiden Dienstboten, in jedem Arme eins der beiden Kinder. Über diese gottvergessene Zeit, die nur Hass und Zwietracht sät und unschuldige Wesen darunter leiden lässt! Madame Henriette genierte sich vor den Dienstboten ihrer Kinder nicht; sie würde den beiden grossen Jungen, die sich wie die kleinen Kinder benähmen, ganz gehörig die Köpfe zurechtsetzen, dass ihnen Hören und Sehen verginge. Während sie bei den Erzählungen der beiden Küchenfeen ihrer Entrüstung immer erneuerten Ausdruck gab, strich sie den beiden Kleinen sorgsam das Haar aus der Stirn und überschüttete sie mit Liebkosungen aller Art. „Ja, du mein Herzblättchen, mein süsses Zuckerpüppchen, das soll jetzt anders werden; ich werde euch jetzt nicht mehr aus den Augen lassen, ihr werdet jetzt immer zu mir kommen und eure Spielstube bei mir aufschlagen.“ Die Kleinen lebten auf; es begann ein Geplapper, ein gar drollig anzuschauendes Bewegen, Rumoren und Gemisch ergötzlicher Gesprächsweise, das auf den Kinderfreund rührend wirkte. Nun strahlten die Augen wieder in lichter Bläue wie der Himmel dort oben, nun röteten sich die Wangen, zeigten sich die Grübchen im pausbackigen Gesicht von Fritzchen und beim herzigen Lachen die kleinen Zähne Lottchens.
Am Abend desselben Tages gab es in jeder Wohnung der beiden Brüder eine grosse Beratung. „Wir uns wieder vertragen?“ meinte Frau Julie und schien dabei sogar den Respekt vor ihrer Schwiegermama verloren zu haben. „Das hätte mir gerade gefehlt! Diese Person gönnt mir nicht einmal meine sauer erworbenen Kleider. — Nimmermehr! Ich sage dir, Ferdinand, es bleibt dabei: Ich lass mich von dir scheiden, wenn du zuerst nachgibst.“ Und als nun Frau Henriette, ganz und gar nur beflissen, dem unsinnigen Zanke ein Ende zu machen, zum dritten Male bereits den Weg eine Treppe tiefer machte, um hier ihr Heil von neuem zu versuchen, musste sie wiederum zu der Überzeugung kommen, dass sie abermals aus dem Regen in die Traufe käme. „Ich, ich soll zuerst nachgeben?“ sagte Frau Susanne mit ganz merkwürdiger Bestimmtheit; „nein, meine liebe Frau Schwiegermutter, ich habe nur die Wahrheit gesagt. Die Brücke zwischen uns beiden ist abgebrochen. Mein Mann hat es ja nicht gerade nötig, darauf zu warten, bis gewisse Leute kommen und sich bei uns Hüte kaufen, aber es ärgert einen doch, wenn man sieht, wie man gerade aus Bosheit zu einem Konkurrenten geht, der bereits dreimal Bankerott gemacht hat.“
O, diese Schwiegertöchter! Weshalb hatte Frau Henriette auch solche Söhne, die sich solche Frauen nehmen mussten?! Die alte Dame stieg also wieder zum zweiten Stockwerk hinauf, um im geheimen ihre Angriffe direkt beim Herrn Buchhalter, den sie immer für höchst vernünftig gehalten hatte, zu beginnen. Nach fünf Minuten war sie dann wieder unten und zog den Herrn Hutfabrikanten beiseite. Der hatte merkwürdig dasselbe Achselzucken gelernt wie Herr Ferdinand. „Liebe Mama, — meine Frau! — Ich kann dazu nichts machen.“
Frau Henriette war untröstlich. „Ihr wollt Männer sein?“ sagte sie schliesslich mit der grössten Entrüstung und gebrauchte dann einen Vergleich mit einem gewissen Küchenobjekt, das im nassen Zustand dazu dient, die Tische zu reinigen. Zu allerletzt führte sie das schwerste Geschütz in den Kampf: „Aber die beiden Kleinen, bedenkt doch die beiden Kleinen; sie werden die Sünden ihrer Väter vergelten.“ „Ach so, die Kinderchen! Hm, hm —.“ Der Herr Buchhalter kratzte sich hinterm Ohr, und dem Herrn Hutmacher ging dieser Gedanke im Kopfe herum. Die Grossmutter hatte allerdings recht, darin musste eine Wandlung geschaffen werden.
Nun begann für die beiden Kleinen ein neues Leben. Sie durften jetzt jeden Nachmittag zur Grossmutter, um wie früher gemeinschaftlich zu spielen und ein Herz und eine Seele zu sein. Wie sonst durften sie Hand in Hand, gar lieblich gekleidet, vor der Grossmutter einherstolzieren, die es sich nicht nehmen liess, das Enkelpärchen nach ihrer Wohnung zu geleiten und sie des Abends wieder den Eltern zuzuführen. Und wenn sie nun so im Schatten der Häuser die lange, abgelegene Vorstadtstrasse entlang trippelten, in der auf der anderen Seite die glühende Hitze des Sommers lagerte, die die lange Häuserreihe zu einer öden dumpfen Masse machte, die gleichsam den Dunst der Millionenstadt ausatmete, dann geschah es wiederum, dass die Leute sich nach ihnen umblickten und über die drolligen Wesen ihre besonderen Betrachtungen anstellten.
Den ganzen Sommer hindurch wurden diese täglichen Gänge zur Grossmutter gemacht; die Kinder fühlten sich über die Massen glücklich, so dass jedes von ihnen schliesslich traurig wurde, wenn eines Tages die alte Frau Leineweber nicht wie gewöhnlich ins Zimmer trat, oder schlechtes Wetter es nicht gestattete, die Sehnsucht der kleinen Herzen nach den Spielwinkeln in Grossmütterleins trautem Heim zu befriedigen. Dann wurden sie merkwürdig still, suchten die Fenster zu erreichen und lange Blicke auf die Strasse zu werfen, nach der Richtung hin, wo sonst immer zur bestimmten Stunde das grüne Kleid, der altfränkische Hut mit den breiten schwarzen Bändern und das grossgeblümte Schaltuch sichtbar wurden. Aber die Zwietracht zwischen ihren Eltern währte noch immer, — es schien fast, als hätte die Zeit den Riss erweitert. Herr Ferdinand Leineweber kaufte nach wie vor seine Hüte bei dem verhassten Konkurrenten seines Bruders; Herr Johannes Leineweber drehte wie gewöhnlich beim Anblick des Buchhalters den Rücken und warf verächtlich die Ladentür ins Schloss; und Frau Julie schwelgte in der gesteigerten Buntheit ihrer Toilette, während Frau Susanne sich die erdenklichste Mühe gab, bei jedesmaliger Begegnung eine Miene zu zeigen, als beneidete sie ihre Schwägerin nicht darum, machte sich aber im geheimen gründlich über sie lustig. Eines Nachmittags wollte es der Zufall, dass die Frau Hutmacher die Absicht hatte, gerade um dieselbe Zeit ihrer sorgsamen Schwiegermama einen Besuch zu machen, in der die Frau Buchhalter es sich vorgenommen hatte. Man musste doch einmal sich selbst davon überzeugen, was für nützliche Dinge die Kinder bei Frau Henriette trieben. Just ein paar Augenblicke danach, als Madame Susanne die Wohnung ihrer Schwiegermutter betreten hatte und gerade dabei war, um eine lange Sehnsucht zu befriedigen, das Söhnchen ihrer Todfeindin auf das innigste zu herzen und zu küssen, klingelte es, und Madame Julie kam hereingerauscht; sie warf sofort ihrer Schwägerin einen wütenden Blick zu, der energisch erwidert wurde. Dass man sich auch hier gerade treffen musste! Es fand sich ein Anknüpfungspunkt, der den Streit vom Zaune brechen liess und feurige Kohlen auf der Grossmutter ehrwürdiges Haupt häufte.
„Du hast schuld an allem,“ rief ausser sich Frau Julie ihr zu und: „Du hättest mir sagen können, dass dieses zanksüchtige, unausstehliche Weib heute bei dir einen Besuch machen würde,“ schleuderte Frau Susanne ihr höchst indigniert ins Gesicht. Dann drehten sich die beiden Frauen wie auf Kommando um und verliessen hintereinander mit den Worten: „Ich betrete deine Wohnung nicht mehr!“ entrüstet die Behausung. Zum Glück vergassen sie die Kinder.
„Oh, ihr werdet wiederkommen, aber anders,“ sagte die Grossmutter sanft, so dass sie es noch hören konnten. Dann beruhigte sie durch liebevolle Worte die Kleinen, die dicht aneinander geschmiegt immer noch laut weinend auf einer Hutsche im äussersten Winkel des Zimmers hockten.
Nun kam wieder eine traurige Zeit für Lottchen und Fritzchen, und mit dieser traurigen Zeit kam der Herbst mit seinen Regenschauern, nasskalten Winden und Stürmen. Seit Wochen schon blieben die Fragen der Kleinen: „Mama, kommt denn Gomama nicht?“ von den hartherzigen Müttern unbeantwortet. Und während jedes der Kinder wiederum seine neugierigen Blicke hinunter auf die jetzt so hässlich und unangenehm aussehende Strasse warf, dachte es an zwei herzige Augen, die roten Lippen und kleinen, weichen Händchen eine Treppe höher oder eine Treppe tiefer.
„Ich weiss nicht, was dem Kinde fehlt,“ meinte eines Morgens plötzlich der Herr Hutmacher zu seiner Frau; und der Herr Buchhalter in der höheren Etage konnte sich nicht enthalten, am Abend desselben Tages bedenklich den Kopf zu schütteln und etwas Ähnliches zu der teueren Hälfte seiner Ehe zu sagen, nur dass er noch hinzusetzte: „Der Junge ist so merkwürdig still, — das ist nicht ganz richtig.“
Nach Tagen fürchtete jedes der Ehepaare Leineweber wirklich das Ärgste um sein Kind. Das Fragen nach der Grossmutter, in dem für den stillen Beobachter sich auch die Sorge um den unentbehrlichen Spielgenossen barg, nahm zuletzt eine Art rührender Melancholie an, die für den Seelenarzt der Kinder von grossem Bedenken gewesen wäre. Es blieb weiter nichts übrig, als dass die Männer sich auf den Weg machten, um die Mutter für die ihr von den Frauen angetane Beleidigung um Verzeihung zu bitten und sie zu bewegen versuchen, ihre Schritte zu ihren Enkeln zu lenken. Diesmal brachte der Zufall die beiden Brüder in die Situation ihrer Frauen. Der Buchhalter hatte die Tür vom Korridor aus gerade geschlossen, als der Hutmacher pustend die Treppe heraufkam. Einen Augenblick standen sich beide lautlos gegenüber, und der Blick des einen traf den des anderen. Es schien, als ahnte jeder, was den anderen hierher geführt habe. Die Nähe der Mutter, der sie so viel zu verdanken hatten, eine gewisse wohlige Atmosphäre, die sie plötzlich zurückversetzte in jene Zeit, wo sie Jahre hindurch in bester Eintracht hier aus- und eingegangen waren und kein Wort der Zwietracht über ihre Lippen kam, stimmten sie weich. Und in dieser einen Sekunde des stummen Anschauens hatten beide die Empfindung, als dürften sie nicht vorübergehen, als wäre jetzt der geeignete Augenblick, sich hier die Hände entgegenzustrecken und durch einen herzigen Druck derselben allem Hader ein Ende zu bereiten. Aber keiner wollte den Anfang machen, der eine wartete auf das erste Wort des anderen, und als jeder seine Erwartung getäuscht sah, war die Minute der Empfindung vorüber.
Herr Ferdinand Leineweber erhob trotzig den Kopf und ging kalt und kerzengerade wie ein wächsernes Licht die Treppe hinunter; und Herr Johannes Leineweber wand seinen beleibten Korpus mit ungewohnter Geschmeidigkeit um seinen hageren Herrn Bruder herum und zog mit einer Anstrengung an der Klingel, als müsste er sich durch diese Kraftprobe für die unangenehme Begegnung entschädigen.
„Ich bin alt und schwach, und meine Füsse sind morsch,“ meinte die Grossmutter; „ich kann den Weg zu euch nicht mehr oft machen; aber schickt die Kinder her, und sie werden wieder fröhlich und guter Dinge sein. Ihr seid also wie zwei Fremde an euch vorübergegangen? Oh, ihr werdet anders wiederkommen.“
Und wirklich, die Mutter sollte recht behalten. Als Gott den guten Engel der Kinder schuf, der sie während der Zeit ihrer Hilflosigkeit in unsichtbarer Gestalt umschweben solle, um sie vor Gefährnissen mancher Art zu bewahren, sie wie eine gute Mutter zu beschützen und zu beschirmen, sagte er: Nichts ist vollendet in der Welt. Das Gute würde nicht mehr gut erscheinen, wenn nicht auch das Böse vorhanden wäre. Also gebe ich euch auch einen bösen Engel mit auf den Weg eures zarten Daseins, der sich frühzeitig unter euch diejenigen aussuchen soll, die ich vom Herzen liebhabe, damit sie mit den Engeln im Himmel spielen sollen.
Und dieser böse Engel war der Würgeengel der Kinder, den man Diphteritis nennt. Oft unter den besten und schönsten suchte er seine Opfer aus, und ob er auch Schluchzen und schmerzdurchwühlte Worte vernahm, ihn rührte das nicht, — leise flüsterte er den Eltern zu: Ich weiss, Gott hat sie zu lieb, sie müssen scheiden. Und er wand sich weiter, unsichtbar, durch enge, schmutzige Gassen der Vorstadt bis zu den breiten, glänzenden Strassen der vornehmen Leute und berührte mit seinem giftigen Hauche zu gleicher Zeit das Kind des Armen und das des Reichen, denn Gott wollte nicht, dass er Unterschied machen sollte zwischen Glanz und Not. Der gute Engel wich machtlos zur Seite und liess traurig die Flügel hängen.
Gerade zu dieser Zeit ging der Würgeengel wieder unversöhnlich umher und überschüttete mit seiner Vernichtung die Häupter rosiger, unschuldiger Wesen. Und als klein Fritzchen und Lottchen nun wieder auf dem Wege zu der lieben guten Grossmutter waren, hatte sich der böse Engel gar hässliches, nasskaltes, ungesundes Wetter ausgesucht, das für des Herrn Ferdinand Leinewebers Söhnchen von üblen Folgen begleitet war.
Am Abend stellte sich plötzlich Heiserkeit bei dem Knaben ein, er wurde still, so dass die Grossmutter ganz besorgt wurde. „Ich lasse ihn so nicht fort, er bleibt die Nacht bei mir,“ sagte sie zu dem Mädchen, und als klein Lottchen nicht allein nach Hause wollte, musste es das Nachtlager an der Seite seines kleinen Cousins teilen. Nun dachte die Grossmutter, als sie ihre Lieblinge so friedlich nebeneinander schlummern sah und sie im stillen mit ihrem Segen begleitete, am andern Morgen würde ihr kleiner Enkel wohl wieder gesund und munter sein; aber während sie mit gefalteten Händen auf ihrem grossen Stuhl halb träumend eingenickt war, bemerkte sie den Würgeengel nicht, der leise bei ihr vorbeischlich und mit einem einzigen Flügelschlag den Keim des Todes in eine junge Menschenseele legte. Und nach bang durchwachten Stunden, am frühen Morgen bereits stand neben der weinenden Grossmutter der Arzt und sprach das Wort „Diphtheritis“ aus. Nun hatte klein Lottchen ungesehen den kleinen Patienten geküsst, und als es wiederum Nacht wurde und ein neuer Morgen kam, lag auch das kleine Mädchen krank und hilflos da. Jetzt wurde das sonst so einsame Wohnzimmerchen der alten Frau nicht leer von den Menschen, die sich vor kurzem kleinlicher Dinge wegen nicht sehen und begegnen mochten. Die Kinder dürfen nicht fort, sie müssen hierbleiben, hatte der Arzt gesagt, und während er immer aufs neue Anordnungen für die kleinen Patienten traf, konnte er nicht verhehlen, wie schlimm es stände.
Wer hilflose Kinder nicht sterben sah, der kennt den Schauer des Todes nicht, und wer nicht schwach wurde beim letzten Blicke ihrer brechenden Augen, der hätte sich seiner Stärke niemals zu rühmen brauchen. ... Es war still im Zimmer, denn der Engel des ewigen Friedens hatte seinen Einzug gehalten. Aufgebahrt harrten die beiden Kleinen, die im Leben nicht voneinander zu lassen vermochten, des Augenblicks, wo sie nun auch unter kühlem Rasen nebeneinander gebettet werden sollten. Ja, es war still, ergreifend still. Über all dem vielfältigen Spielzeug, das dort hinten in einer Ecke wie verlassen übereinander türmte, lag es wie ein schwermütiger Hauch, der stumm zum Herzen sprach. Und nun bei dieser Stille der Anblick der vor Gram gebeugten Grossmutter, die am Fenster, über das Gebetbuch geneigt, der Stunde zum letzten Gange entgegensah. Dann kam diese Stunde, und mit ihr die Eltern der kleinen entschlafenen Seelen, um zum allerletzten Male geröteten Auges auf die starren Züge ihrer Lieblinge zu schauen. Und kein Schluchzen, kein letztes Berühren der Stirn mit der weichen Hand rief sie zurück zum jungen Leben. Oh, die Grossmutter hatte recht gehabt: Anders waren sie wiedergekommen — ohne äusserlichen Unterschied, tief schwarz gekleidet, denselben Schmerz, dieselbe Trauer auf ihren Zügen.
Nun brauchte sich Madame Susanna Leineweber nicht mehr über die bunte Toilette ihrer Schwägerin zu beklagen, Frau Julie musste von selbst auf die teuren und geschmacklosen Hüte verzichten. Als sie nun alle vier gesenkten Hauptes die beiden Bahren umstanden, deren sterbliche Hüllen sie im Leben so tief beschämt hatten, sie, die vor innerem Gram kein Wort hervorzubringen imstande waren, da trat die Grossmutter leise hinzu, ergriff die Hände der beiden Brüder, dann auch die der Schwägerinnen, legte sie ineinander und sagte: „Es ist spät, aber noch Zeit, gebt euch den Kuss der Versöhnung, und sie werden wiederkommen, wenn auch in anderer Gestalt.“ Stumm taten sie es. Dann wurde der letzte Gang angetreten, weit hinaus über das Weichbild der Stadt, wo auf der endlosen, düster dreinschauenden Chaussee der rauhe Herbstwind die letzten Blätter von den Bäumen trieb
Zwei Jahre waren vergangen, da traf es sich, dass nun der Hutmacher Herr Johannes Leineweber durch die Geburt eines Knäbleins erfreut wurde und Frau Julie ihren Mann, den Buchhalter Herrn Ferdinand Leineweber, mit einem Töchterchen beschenkte. „Ihr werdet nicht vergessen, dass sie euch ewig an eine alte Schuld ermahnen,“ hatte die Grossmutter gemeint und nur damit die Gedanken der beiden Ehepaare ausgesprochen. Oh, wiederum hatte sie recht gehabt: Sie waren wirklich wiedergekommen, die beiden Kleinen, wenn auch in anderer Gestalt; nach Verlauf weiterer zwei Jahre wurden sie in ihrem ganzen Wesen, in ihrem Äusseren und in ihrer Drollerie das Abbild des Lottchen und Fritzchen von einst. Und nun ist es wieder Sommer geworden, nun lacht der blaue Himmel wieder, Bäume und Sträucher grünen und Hunderte von fröhlichen Kindern tummeln und ergötzen sich in den schattigen Wegen des Mariannenplatzes. Da kommen sie Hand in Hand einherstolziert, wie vor Jahren, hinter ihnen das sorgsame, alte, gebückte Grossmütterchen, emsig bemüht, über jede ihrer Bewegungen zu wachen.
Und als nun wieder die Leute stehen bleiben und laut sagen: „Seht doch die beiden Kleinen, wie sie einhergehen, wie Braut und Bräutigam“, — lächelt Frau Henriette überglücklich und denkt bei sich: Das kommt daher, weil Frau Julie sich jetzt sehr einfach und geschmackvoll kleidet und ihr Mann nach wie vor seine Hüte bei seinem Bruder kauft. Einen Augenblick wird sie ernst und denkt an einen bösen Engel, dann verscheucht der Sonnenschein, das laute Lachen ihrer Enkel den letzten trüben Gedanken.