Читать книгу Berliner Sittenbilder. Polizeiberichte. Zweiseelenmenschen - Max Kretzer - Страница 5

Polizeiberichte

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Polizeibericht. In der Nacht vom 10. zum 11. stürzte sich ein Mädchen vom Louisenufer aus in das Engelbecken. Die herrschende Dunkelheit veranlasste, dass es durch den sich gerade in der Nähe befindlichen Wächter im Verein mit mehreren Schiffern nur als Leiche ans Ufer gebracht werden konnte. In den Taschen fand man ausser einem Portemonnaie mit drei Talern Inhalt einen einfachen Ring mit dem eingravierten Namen Emmy. Die Leiche wurde nach dem Obduktionshause befördert.

In allen Strassen hatte er sie gesucht. An jeder Ecke fragte er, ob man nicht ein blondes Mädchen von auffallender Schönheit gesehen habe, und immer, immer nur waren ein kurzes Kopfschütteln und ein mitleidiges Lächeln die einzige Antwort.

Wenn die Morgensonne ihr goldenes Licht in sein ärmliches Zimmer warf, dann war sein erster Gedanke bei ihr; wenn sie abends blutrot hinter dem Häusermeer verschwand, dann war sie es, zu welcher der letzte Strahl die Grüsse eines einsamen Mannes trug. Wenn in der Nacht alles zur Ruhe gegangen, kein Laut im Hause sich regte und nur hoch oben im vierten Stock beim matten Lampenschein wie schon seit Jahren er, über seine Bücher gebeugt, dem Geiste neue Nahrung gab, — dann war sie allein es, für die sein heisses Gebet sich den Lippen entrang, als er das Fenster öffnete und seinen Blick zum hellen Sternenhimmel emporschweifen liess. Dann überkam ihn jene unendliche Sehnsucht, die jeder von uns mindestens einmal im Leben empfunden hat, der in lautloser Nacht, das Herz voll zum Überströmen, im Gefühle seiner Einsamkeit Trost bei den Sternen gesucht hat. Dann wünschte er sich Flügel, sie zu suchen; kein Mensch sollte es mehr wagen, sie mit begehrlichen Blicken anzusehen. Nur er allein, er, ihr Bruder, der um sie gelitten, für sie gearbeitet und gedarbt hatte, wollte sie wieder haben. Dann aber trat die Wirklichkeit wie zum Hohn wieder in ihre Rechte, und halblaut murmelte er das Lied von Rückert vor sich hin:

Um Mitternacht

Hab’ ich gewacht

Und aufgeblickt zum Himmel;

Kein Stern vom Sterngewimmel

Hat mir gelacht

Um Mitternacht.

Um Mitternacht

Hab’ ich gedacht

Hinaus in dunkle Schranken;

Es hat kein Lichtgedanken

Mir Trost gebracht

Um Mitternacht.

Er war ein armer Student der Medizin und wohnte in einer elenden Gasse. Alle Tage, wenn er nach dem Kolleg ging, machte er einen weiten Umweg, nur um bei einer Bettlerin nicht vorübergehen zu brauchen, der er nichts geben konnte, weil er selbst nichts hatte.

Als er vor vier Jahren mit seiner Schwester von seinem kleinen Heimatstädtchen Abschied nahm, da konnte er weiter nichts auf den Weg mitnehmen, als den Segen seines alten Vaters und die Liebe zu seiner Schwester.

„Sorge für sie, beschütze sie, Reinhard,“ sagte der Alte. „Arbeitet, Kinder, denn Arbeit schändet nicht. Du willst studieren, Junge? Nun gut, — des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Es wird dir aber sauer werden, ich meine das Leben, nicht das Studium, denn das wirst du überwältigen, du hast was gelernt. Und nun behüte euch Gott, Kinder, und wenn ihr eines Tages erfahren solltet, dass euer Vater nicht mehr lebt, dann grämt euch nicht, aber ehrt sein Andenken, wie ihr das eurer Mutter geehrt habt.“

Damit hatte er ihnen den Rücken gewandt, denn er wollte seine Tränen verbergen.

Wie verlassen hatten sie sich gefühlt, als sie in Berlin ankamen und das hundertfältige Gewirr einer Weltstadt sie bereits auf dem Bahnhof umfing. Wie neugierig all die Blicke waren, die die Leute auf seine Schwester gerichtet hatten!

„Sieh doch diesen wunderschönen Blondkopf, — allerdings noch etwas kindlich.“

„Je jünger, desto schneller ihr Glück; sie wird bald seidene Kleider tragen,“ drang es an sein Ohr. Das Blut stieg ihm in die Wangen, er drehte sich um, denn diese Stimme kam ihm bekannt vor. Aber lächerlich. Wen sollte er hier auch kennen? Wie hatte sie sich an ihn geschmiegt und wie stolz war er in dem Bewusstsein, als sie jetzt die Strassen durchfuhren, in all dem brausenden Gewirr des Daseins, das um sie wogte, ihr ein Fels zu sein, der sie beschütze. Wie hatte er in der ersten Zeit um seine Existenz gekämpft, — aber immer stand ihm das Wort des Dichters vor Augen: Mensch sein heisst ein Kämpfer sein. — Emmy war es bald gelungen, in einem grösseren Geschäft als Verkäuferin einen Platz zu bekommen. Ihre gute Bildung, ihre Schönheit, ihre Bescheidenheit machten sie bei jedermann beliebt, so dass der Gehalt, den sie bezog, bald gross genug wurde, die Ansprüche beider zu befriedigen. Jetzt konnte sich Reinhard mit aller Kraft auf das Studium der Medizin werfen. Privatstunden, die er in einigen Familien erteilte, brachten ihm so viel ein, um seine kleinen Nebenausgaben an Büchern usw. bestreiten zu können. Er bewohnte mit seiner Schwester zwei kleine Zimmer in einer abgelegenen stillen Gasse.

Als er eines Tages wie gewöhnlich vor Eröffnung des Kollegs im Vorgarten der Universität auf- und abging, klopfte ihm jemand auf die Schulter, und eine bekannte Stimme redete ihn an. Im Nu durchzuckte es ihn: Das ist dieselbe Stimme, die damals auf dem Bahnhof gesagt hat: Wird bald seidene Kleider tragen. Er drehte sich um. Ein ehemaliger Schulkamerad stand vor ihm, der Sohn eines reichen Fabrikbesitzers seiner Vaterstadt. Fritz Brand studierte ebenfalls Medizin. Er war ganz dazu geschaffen, jedem Weibe den Kopf zu verdrehen. Von der Natur verschwenderisch ausgestattet, besass er die elegantesten Manieren und jenes einschmeichelnde Wesen, das in derselben Weise abstossen kann, wie es anzieht. Reinhard hatte sich vorgenommen, sich während seines Studiums soviel als möglich isoliert zu halten, schon seiner geringen Mittel wegen; er war daher wenig erbaut von dieser neuen Bekanntschaft. Aber er kannte Fritz Brand noch schlecht. Eines Sonntags, als die Geschwister zu Hause waren, machte Fritz Brand seinen Besuch, um sich nach dem Befinden seiner schönen „Landsmännin“ zu erkundigen, und — Emmy war gefangen.

Die Besuche wiederholten sich, mehr als es Reinhard lieb war; er baute jedoch auf die Vernunft seiner Schwester. Vernunft, auch du trügst!

Ein Jahr war vergangen. Reinhard war ebenso fleissig als vordem: ein glänzendes Talent, vor dem seine Kommilitonen, die ihn seiner Solidität wegen in der ersten Zeit als Philister verschrien hatten, zuletzt den grössten Respekt hatten. Und Emmy? Der Strudel des Lebens hatte sie ergriffen. Der Hexenkessel, den man Berlin nennt, fing auch für sie an zu brodeln, und der Genuss des Inhalts war zu berauschend, um nicht zu verführen. Heute reich, morgen arm, heute ehrlich, morgen Zuchthaus, heute ein unschuldiger Engel, morgen ein gefallener, — das ist das Kaleidoskop, das man Weltstadt nennt.

Immer später kam Emmy des Abends nach Hause, bis sie eines Nachts ganz ausblieb. Ein kurzer Brief, den er vorfand, sagte Reinhard, dass sie für ihn verloren sei, — immer und ewig: ein Opfer ihrer Schönheit und ihres Leichtsinns.

„... Einziger Reinhard, nach wie vor werde ich Dich in Deinem Studium unterstützen. Jeden Monat werde ich Dir die Hälfte meines Gehalts senden. Bitte, schreibe mir ein paar Zeilen poste restante, dass Du mir verzeihst. Deine unglückliche Schwester.“

Einen Augenblick war es ihm, als müsste er irrsinnig werden; er fasste sich an seinen glühenden Kopf, — dann lachte er hart auf. „Jeden Monat werde ich dir die Hälfte meines Gehalts schicken! Und du denkst, ich könnte ...“ Er fühlte, dass brennendes Rot in sein Antlitz trat. Dann wurde er ruhiger, er war nicht umsonst Mediziner. Sie war doch nur eigentlich das verführte Objekt eines erbärmlichen Subjekts, deshalb nicht zu verurteilen, — aber wehe! Wenn seine Ahnung sich bewahrheitete, wenn sein eleganter Kommilitone es war, der sein Glück zertreten hatte, er wollte Gericht halten. Sogleich wollte er ihn aufsuchen. Aber hatte er Beweise? Wie, wenn er ihm ins Gesicht lachte? Er überlegte. Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch und schrieb an die Schwester unter der angegebenen Chiffre:

„Kehre zurück. Wenn auch alle Menschen Dich verurteilen, Du weisst doch, dass die Brust Deines Bruders der Ort ist, wo Du Dich satt weinen kannst. Einen Fehltritt gutmachen, ist eine Wohltat, die man sich selbst, die man der Menschheit erweist; ihn vergrössern, ein Verbrechen. Ich kann nicht leben mit dem Bewusstsein, Dein Herz bluten zu sehen, — komm zurück, geliebte Emmy. Denke an Deinen alten Vater und den Schmerz Deines Bruders. Wer es wagen sollte, auch nur einen Stein auf Dich zu werfen, den überlasse mir und jener Hand der Vergeltung, die jeden seinem Schicksal zuführt. Konntest Du wirklich Deinem Bruder das zutrauen: von Deinem Gelde zu leben, ohne Dich zu sehen, Deine Stimme zu hören? Komm, Emmy!“

Noch spät am Abend trug er den Brief zur Post. Am andern Tage versäumte er zum ersten Male die Vorlesung. Es liess ihn keine Ruhe; er musste sie selbst sprechen. Er stellte sich gegenüber der Post auf und wollte warten, bis sie käme, den Brief zu holen. Vergebens wartete er den ganzen Vormittag; sie kam nicht. Er ging zum Schalter und frug, ob noch ein Brief an Emmy S. da wäre. „Nein“, lautete die Antwort. Sie hatte ihn also durch eine fremde Person abholen lassen. O, Weiberlist!

Niedergeschlagen ging er nach Hause, doch nur, um die Wahrheit des alten Sprichworts, dass ein Unglück nie allein komme, in ihrer ganzen Grösse kennen zu lernen. Ein Brief sagte ihm, dass sein Vater plötzlich gestorben sei. Ein unnennbares Weh beschlich ihn. Er setzte sich hin und weinte. Er war noch kein praktischer Arzt, der mit der Zeit durch die Leiden seiner Patienten seine eigenen vergisst, — er konnte noch weinen. Er rief laut den Namen Emmy, er ging in ihr Zimmer und besah all die Kleinigkeiten, die sie stehen gelassen hatte. „Wenn sie vom Tode ihres Vaters wüsste, sie würde gewiss kommen, so hart könnte sie nicht sein! Weshalb musste ich auch schon so schnell schreiben!“ Dann wurde er wieder ruhiger; er wollte abwarten, vielleicht kam sie doch. Es wurde aber Abend, sie kam nicht. Plötzlich zeigte sich ihm ein Weg, und er musste selbst lächeln, dass er noch nicht daran gedacht hatte.

Er nahm seinen Hut und ging nach ihrem Geschäft. Vor einem Monat schon hatte sie ihre Entlassung genommen. Dieser Schlag war vernichtend. So hatte sie ihn also schon lange hintergangen! Eine tiefe Bitterkeit zog in sein Herz ein. Er haderte mit sich selbst und wusste nicht warum. Stundenlang irrte er noch in den Strassen umher; dann ging er nach Hause. Am nächsten Tag fuhr er nach der Heimat, um seinem Vater die letzte Ehre zu geben. Der war gestorben, ohne eine Ahnung von der Schande seiner Tochter zu haben; dies war der einzige Trost. Er ordnete den Nachlass und kehrte nach Berlin zurück. Wie, wenn sie ihm auf der Schwelle entgegenträte? Täuschung! Kein Brief, — nichts als die schwüle Luft des Zimmers empfing ihn.

Wochen, Monate, endlich drei lange Jahre waren seit dem Verschwinden Emmys vergangen, — alle Nachforschungen waren vergebens. Die Polizei kannte keine Emmy S. Reinhard erliess Aufrufe in den Zeitungen, bat, flehte, drohte, — kein Lebenszeichen kam. Die Jagd nach ihr war eine fieberhafte. Endlich schien er selbst zu verzweifeln. Und was sollte er denn auch noch tun? Hatte er nicht alles getan, was ein Mensch tun konnte? Heute jährte sich zum vierten Male der Tag, an dem sie gemeinschaftlich diese Wohnung bezogen hatten.

Es war abends gegen 10 Uhr, als Reinhard von der Wohnung eines Bekannten, eines braven Holsteiners, heimkehrte. Es war der einzige Studiengenosse, zu dem er wirkliches Vertrauen besass. Als er die Strassen durchschritt, befand er sich plötzlich vor der hellerleuchteten Türe des Orpheums, eines jener eleganten Ballokale, wo das Laster seine nächtlichen Orgien feiert.

Eine Droschke war vorgefahren. Zwei Frauenzimmer stiegen aus; die eine, mittelgross, brünett, ging voran, die andere, schlank, mit hellblonden Locken, ganz in rosa Seide gekleidet, blieb zurück und bezahlte den Kutscher. Sie hatte ihr Gesicht abgewendet; er ging vorüber.

„Aber so komm doch, Emmy, sonst kapere ich dir den Doktor weg,“ klang es plötzlich von heiserer Stimme an sein Ohr.

Er fühlte, wie zwei Bleiklumpen sich an seine Füsse hingen, — er konnte nicht weiter. Er wollte ausrechnen, wie lange es her sei, seit er den Namen Emmy nicht mehr von fremder Stimme gehört, es gelang ihm nicht, er konnte die Ziffern nicht behalten. Dann drehte er sich um, hörte ein übermütiges Lachen, das ihm bis tief in die Seele drang, und hatte in dem weissen Licht der Laternen, das jetzt hell und voll auf die Blondine fiel, seine Schwester erkannt. Er wollte schreien, aber er konnte nicht; es war ihm trocken in der Kehle.

Er fühlte, wie seine Pulse zu jagen begannen und wie das Herz ihm gegen die Brustwand schlug. Einige Sekunden lang hörte er noch jenes eigentümliche Geräusch, das das Knistern und Rauschen der Seide hervorbringt, dann klappte die Glastür zu, und Emmy war verschwunden.

„Wird bald seidene Kleider tragen!“ Er lachte wild auf, so dass die Vorübergehenden ihn gross ansahen. Wieso kam es, dass er jetzt gerade an den dachte, der damals auf dem Bahnhof diese Worte gesagt? Und woher kam es, dass plötzlich der Gedanke bei ihm Raum fand, dieser Doktor, den die Kleine „wegkapern“ wollte, sei kein anderer als Fritz Brand? Er wusste es selbst nicht. Nie ist der Mensch dem Misstrauen zugänglicher als in dem Augenblick, wo seine Vernunft betrogen wird. Er musste Gewissheit haben. Und wehe, zehnmal wehe, wenn er es war, der sein Glück zertrümmert hatte! Bei den Haaren wollte er ihn aus dem Ameisenhaufen der Menschheit zerren und Rechenschaft fordern. Auge um Auge, Zahn um Zahn, und wenn nötig, — dann auch Blut um Blut.

Er suchte in seinen Taschen, er hatte nur wenige Groschen bei sich; sie reichten nicht zum Entree. Aber er musste dort hinein in jenen Saal, den er noch nie betreten hatte, und koste es, was es wolle. Er fühlte nach seiner Uhr, er wollte sie an der Kasse versetzen bis zum andern Tage, aber die Scham hielt ihn davon ab. Da gedachte er seines Freundes, des Holsteiners, und eilte von dannen. Dieser konnte helfen.

Als er vor dem Hause anlangte, war die Türe schon geschlossen. Er rief den Wächter herbei und tappte im Finstern die Treppen hinauf. Der Holsteiner, eine Hüne von Gestalt, war noch auf. In fieberhafter Hast trug ihm Reinhard sein Anliegen vor.

„Machen Sie mich nicht noch unglücklicher dadurch, dass Sie jetzt Fragen stellen. Sie werden dasselbe erfahren, was auch die Welt erfahren wird. Aber wollen Sie mir einen Gefallen tun, dann begleiten Sie mich.“ Der Holsteiner sagte kein Wort; er drückte seinem Freunde die Hand, drückte sie ihm so herzlich, dass Reinhard ihn verstehen konnte. Dann machte er schnell Toilette, und die beiden Freunde schritten stumm und schnellen Schrittes jenem Paradiese zu, wo die Halbwelt die Schlange ist und die Gemeinheit die Frucht am Baume der Erkenntnis. Hier leuchtet die Sonne nur in der Nacht.

Blendende Nacken und weisse Arme, gerötete Wangen und blitzende Augen, freche Blicke und trunkene Lippen, schamlose Bewegungen und gemeine Reden, geborgte Kleider und falsches Geschmeide, — das sind die Aushängeschilder am Marktplatz der Hetären.

Berauschende Musik hält die Sinne gefangen und verhindert das Nachdenken; Hunderte von Kerzen ersetzen das Tageslicht und werfen ihren Reflex in den vergoldeten Stuck der Decken und Säulen. Wie ein erweitertes Panorama wirft das Spiegelglas der Wände das bunte Bild zurück. Die Blattpflanzen strömen ihren Duft aus, und hinter ihnen ertönt rohes Gelächter. Die Springbrunnen plätschern in den Grotten, und nebenan in der Nische knallen die Pfropfen und klirren die Gläser, — sie klirren so hart aneinander, dass eins davon zerbricht und der strömende Champagner sich über die elegante Robe aus rosa Seide vergiesst.

„Da trafen sich die Gläser, des Dritten Glas zersprang,“ singt eine lallende Männerstimme und macht einen schwachen Versuch, das Lied weiter zu trällern.

„Emmy, du hast dir ’n Fleck gemacht,“ ertönt eine weibliche heisere Stimme.

„Pah, — Fritz kauft mir ein neues Kleid; was, — kleiner Schäker, süsser Junge?“

„Alles, was du willst,“ lallt die männliche Stimme weiter. „Komm auf meinen Schoss, liebes Kind.“ —

„Das Vergnügen kannst du haben, du weisst doch, wie’s im Liede heisst: ‚Wer nicht liebt Wein, Weib, Gesang, — der spart viel Geld sein Leben lang‘.“

„Da hast du recht, Mädchen, aber deshalb keine Feindschaft. Schenkt ein. Noch ‚keiner starb in der Jugend, der bis zum Alter gezecht‘.“

„Du bist und bleibst doch der einzige vernünftige Mensch auf dieser Welt, Doktor,“ sagte die heisere Brünette. „Prosit, Kinder, es lebe der Leichtsinn und sein Gevatter, der schöne Brand!“

Hinter einer Säule stand Reinhard und hörte jedes Wort. Seine Wissenschaft hatte ihn gelehrt, dass das Herz nichts weiter als ein Muskel sei, der das Blut in Bewegung setzt. Von Sekunde zu Sekunde fühlte er, wie dieser Muskel sich immer mehr anspannte, wie das Blut ihm glühend heiss in die Wangen stieg und den Schweiss aus seinen Poren trieb. Er sah durch die halb geöffnete Portiere in das vom Wein glühende Gesicht seiner Schwester, er sah, wie sie sich auf Brands Schoss setzte und, den Champagnerkelch in der Hand, den Arm um seinen Hals legte: eine Phryne. Er sah, wie Brand den feinen Körper an sich presste und wie sie sich nicht wehrte. Dann wurde die Portiere plötzlich zugezogen.

Das also war seine Schwester! Dasselbe Mädchen, für das er gebetet, gehungert und gedarbt hatte, für das er drei Jahre lang die Strassen durchirrt, nur um noch einmal ihre Stimme zu hören; das so oft ihn süss beim Namen genannt und sich an ihn geschmiegt hatte, wenn er ihr sagte, wie stolz er sei, ihr Beschützer zu sein, — dasselbe Mädchen! „Ewige Gerechtigkeit, du bist ja auch nur ein Weib, das — Launen hat wie alle anderen! Wenn dem nicht so ist, dann lass die Säulen bersten, dass krachend in tausend Stücken das Dach uns begräbt: mich, sie, ihre Schande und ihren Buhler!“ Die Säulen barsten nicht, und das Dach stürzte nicht. Aus dem Tanzsaal schallte die Musik nach wie vor in leisen Rhythmen herein; der Springbrunnen plätscherte wie immer, und im Nebenzimmer fing man jetzt auch an, die Pfropfen schiessen zu lassen.

Die dunkle Gestalt löste sich von der Säule, und im nächsten Augenblick stand Reinhard vor seiner Schwester.

Es gibt keinen Menschen, und wäre er der moralisch und physisch verkommenste, bei dem nicht einmal im Leben der Pendelschlag seines Gewerbes die Schwingungen einstellt und ihm mindestens eine Minute lässt, in der das Bild vergangener Tage vor seiner Seele steht. So auch bei Emmy. Der Pendelschlag ihres Gewerbes, der sich immer gleich blieb, hielt an, und in dieser einen Minute stand alles vor ihrer Seele: Jugend Ehre, Glück und Liebe. Sie sah das kleine Zimmer ihres Bruders, ihn selbst beim matten Lampenschein, wie er die Wissenschaft Schritt für Schritt sich dienstbar machte. Sie selbst sass an seiner Seite mit einer Handarbeit beschäftigt und lauschte seinen Worten, wenn er von seinen Plänen sprach. Dann kam er und warf sein Netz aus. Immer fester zogen sich die Schnüre zu, bis sie gefangen sass, betrogen wurde und das wurde, was sie heute war. Und doch konnte sie nicht von ihm lassen.

Sie wagte nicht aufzublicken, und doch las sie auf Reinhards Stirn all die kummervollen Nächte, die er durchwacht, all das namenlose Elend, das sie über ihn gebracht hatte. Sie presste die Lippen fest aufeinander, als er jetzt krampfhaft ihren Arm umspannte, so krampfhaft, dass sie hätte aufschreien mögen vor Schmerz. Sie fühlte seinen heissen Atem auf ihrem Gesicht und sah im Geiste seine brennenden Augen, als er hervorstiess:

„Wenn du einst in der letzten Minute deines Lebens vor deinem Richter stehst, dann möge noch einmal die Röte der Scham dir ins Gesicht schlagen, und dann denke an mich, dem du den Glauben an eine Menschheit aus der Brust gerissen, Dirne!“

„Reinhard, — bei Gott —“

„Missbrauche das Wort nicht, Elende! ... Dirne, Dirne!“

Fritz Brand begann nüchtern zu werden. Er hatte Reinhard von jeher gehasst und nur Freundschaft geheuchelt seiner Schwester wegen. Jetzt hatte er ihre Reize gehörig durchkostet; sie war ihm eigentlich nie mehr gewesen, als was ihm ein Patient gewesen wäre: ein Objekt. Aber dieses Objekt hatte er sich teuer genug erkauft, erst durch Schwüre, dann durch Heuchelei und Versprechungen, zuletzt durch Geld. Es war also sein Eigentum. Er wollte doch sehen, wer ihm, dem einzigen Erben einer halben Million, dieses Objekt streitig machen wollte!

Schwer war seine Zunge immer noch, als er sich nun erhob und begann:

„Sie waren so frech, diese Dame zu beleidigen. Sie werden so gut sein, die Beleidigung auf der Stelle zurückzunehmen, sonst können Sie erwarten, dass ich Sie züchtige, — züchtige mit dem Recht, das jedem zu Gebote steht, der seine Maitresse — — —“

Er kam nicht weiter. Ein schallender Schlag ins Gesicht war die Antwort Reinhards. Dann fiel der Marmortisch um, so dass die Gläser am Boden rollten. Brand ergriff eine Champagnerflasche und schwang sie in der Luft, das Gesicht fahl, die Lippen fahl, nur die Wange von der Ohrfeige gerötet.

Emmy sah die erhobene Flasche. Sie wusste, dass Brand ihrem Bruder an Kräften überlegen war, und sofort die Gefahr ahnend, stellte sie sich vor Reinhard, um so den Schlag zu parieren. Der Tod wäre ihr in diesem Augenblick eine Wohltat gewesen. Aber Reinhard hatte seinen Gegner nicht aus den Augen gelassen. Blitzschnell umspannte er das Armgelenk, das die Flasche hielt, so eisern, dass Brand mit einem erstickten Wutschrei zurückprallte. Jetzt hatte Reinhard Spielraum, und er wollte ihn benutzen. Er umklammerte den Hals seines Gegners und wollte ihn erwürgen. Jetzt oder nie! Auge um Auge, Zahn um Zahn!

Soll er ihn töten? Nein, nein.

Er sah, wie Brand die Farbe wechselte, wie erst Rot und dann fahles Grau sein Gesicht überzog, und er wollte die Finger öffnen, aber er konnte es nicht. Eine dämonische Gewalt hatte ihn umstrickt, versuchte ihn zum Mörder zu machen.

Aber er hatte einen guten Genius zur Seite, und dieser Genius war eine Dirne, — seine Schwester. Es klang so bittend, als sie sagte:

„Reinhard erwürge mich, statt seiner.“

Nicht diese Worte waren es, die ihn zur Besinnung brachten, sondern der Ton, in dem sie gesprochen wurden. Die Finger lösten sich.

Das war wieder dieselbe Stimme der Unschuld, wie er sie früher so oft vernommen hatte, und ein Wonneschauer durchrieselte ihn bei dem Gedanken, dass er sie doch vielleicht noch retten könnte. Aber er musste jetzt mehr an sich denken als an sie.

Denn kaum fühlte sich Fritz Brand befreit, als er laut um Hilfe schrie.

„Hilfe! Mörder? Kellner!“ ertönte seine matte Stimme, und im Nu war alles vor der Nische versammelt.

Reinhard wollte sich Bahn brechen, aber Brand hatte wieder Oberwasser bekommen.

„Hundert Flaschen Sekt gebe ich zum besten, Mädels, wenn ihr dem die Augen auskratzt.“

„Bravo, Kleiner, das nenne ich noch eine Idee,“ sagte eine aus dem Haufen.

Ein üppiges Frauenzimmer, in hechtgrauen Atlas gekleidet, der das Laster auf der Stirn geschrieben stand, und die von Brand wahrscheinlich einmal beleidigt worden war, fand es an der Zeit, ihren lange verborgenen Trumpf auszuspielen.

„Feiger Herr Doktor, man kratzt keinem Menschen die Augen aus, der so schön ist wie dieser Herr.“ Dabei versuchte sie sich an Reinhards Arm zu hängen.

Mit einem Ruck hatte Emmy sie zurückgerissen.

„Besudle ihn nicht, freches Geschöpf.“

„Was sagst du, dummes Ding ...“ Sie wollte auf Emmy los, aber von Reinhards Hand getroffen, taumelte sie zurück. Ein eleganter Kerl mit verlebtem Gesichtsausdruck, wahrscheinlich der Zuhälter der Dirne, wollte sich auf Reinhard stürzen. Aber schon winkte Brand einen Kellner zu sich heran und raunte ihm zu:

„Fünf Taler gebe ich Ihnen, Richard, — werfen Sie diesen Menschen hinaus.“ Nichts war dem Kellner, der Brands gute Trinkgelder kannte, erwünschter als dies. Deshalb wandte er sich an Reinhard.

„Sie haben Krakehl gesucht, verlassen Sie das Lokal.“

„Ja, werft den Kerl ’raus,“ rief der Zuhälter.

Wenn auch die Kluft, die Emmy von der menschlichen Gesellschaft trennte, ein bodenloser Abgrund war, — der eine Augenblick, in dem sie jetzt mit flammendem Antlitz vor Reinhard hintrat, hätte alles gesühnt.

„Wehe dem, der ihn anrührt!“

„Sie sollen das Lokal verlassen, hören Sie nicht?“ sagte der Kellner aufs neue. Reinhard rührte sich nicht, sondern sah ihn nur verächtlich an.

„Machen Sie doch nicht so viel Umstände,“ bemerkte der Zuhälter der Dirne im hechtgrauen Kleide. „Ich werde Ihnen zeigen, wie man das macht.“ Er packte Reinhard an der Brust und versuchte ihn wegzudrängen, aber in demselben Augenblick fühlte er, wie eine Faust von Eisen sich in sein Genick grub und ihn so kräftig zurückriss, dass er taumelte und zu Boden fiel. Die Hünengestalt des Holsteiners stand vor Reinhard und verdeckte ihn wie ein Wall.

Der Sohn des meerumschlungenen Ländchens sah den Zusammenprall zwar kommen, wollte aber erst im entscheidenden Augenblick dazwischentreten. Es blieb ihm und seinem Kollegen jetzt weiter nichts übrig, als so schnell als möglich diesen Ort zu verlassen, wenn nicht noch ein allgemeiner Skandal herbeigeführt werden sollte. Deshalb nahm er Reinhard am Arm und zog ihn mit sich fort. Noch einmal drehte sich Reinhard um. Seine Augen suchten Emmy, aber sie war aus der Nische verschwunden.

Es gibt Seelenzustände, wo jedes Wort der Teilnahme, das wir spenden sollten, als Beleidigung erscheinen würde. Das wusste der brave Holsteiner, und so handelte er darnach, als die frische Nachtluft ihnen auf der Strasse entgegenschlug. Er drückte seinem Freunde stumm die Hand und wollte sich verabschieden. Reinhard hielt ihn zurück.

„Ich bin Ihnen noch eine Erklärung schuldig —“

„Nein, nein. Ich hätte ebenso gehandelt.“

„Sie wussten also, dass jene Dirne meine Schwester ist?“

„Ich ahnte es. Sie ist besser als ihr Ruf. Gute Nacht.“

„Noch eins.“ Reinhard rief ihn zurück.

„Und?“

„Wenn ich eines Tages einen Sekundanten brauche, wollen Sie —?“

„Sie können noch fragen —“

„Und wenn ich fallen sollte, wollen Sie mir versprechen, mich zu rächen? Denn wenn ich nicht mehr lebe, darf er auch nicht mehr leben.“

„Mein Ehrenwort.“

„Ich danke Ihnen. Gute Nacht.“

Damit trennten sich die Freunde.

Wie Reinhard nach Hause kam, wusste er nicht. Er wusste nur, dass er plötzlich an dem offenen Fenster seines Zimmers stand und in die Nacht hinausblickte. Er sah in die Tiefe und stellte Betrachtungen an, wie viel Schläge sein Puls wohl noch machen würde, ehe er da unten zerschmettert ankäme. Eigentlich war der Tod ja doch nur die letzte Komödie im Leben, und er hätte dann die Genugtuung gehabt, der einzige Narr in dieser Komödie gewesen zu sein. Wie, wenn er es wagen würde? Wer würde denn um ihn weinen? Niemand. Der wahre Philosoph sagt, dass derjenige einen beneidenswerten Tod sterbe, der sich rühmen dürfe, ausser dem reinsten Glück auch die Unreinheit des Lebens durchkostet zu haben. Hatte er dieses Glück nicht genossen im Bewusstsein seiner Schwesterliebe? Hatte er nicht soeben den elendesten Auswurf der Menschkeit kennen gelernt, dort, wo ihm das Weib nur als feile Ware vor Augen getreten war? Aber im Grunde genommen ist doch noch kein Philosoph gestorben, der sich rühmen durfte, er sei frei von allen Zweifeln gewesen. „Erbärmliche Welt, in der schliesslich doch nur jeder sein eigener Narr ist, und wäre er der grösste Philosoph.“ Er warf das Fenster zu, dass die Scheiben klirrten. Aber horch, was war das? Rief da unten nicht eben jemand seinen Namen? Er lauschte.

„Reinhard!“ tönte es jetzt deutlich zu ihm herauf. War das wieder eine jener Täuschungen, die schon so oft sein Ohr betrogen hatten?

„Reinhard!“ hallte es nochmals. Er öffnete das Fenster wieder, und seine Augen versuchten das Dunkel der engen Gasse zu durchdringen.

„Reinhard, lebe wohl!“ tönte es aufs neue mit matter Stimme. Es war ihm, als stünde da unten eine dunkle Gestalt und schaute zu ihm empor. Erhielt den Atem an.

„Emmy,“ flüsterte er leise. Keine Antwort kam. „Emmy, komm, ich habe dich noch immer lieb.“ Es war ihm, als hörte er ein Schluchzen.

„Reinhard, lebe wohl.“ Das Rauschen eines Kleides drang an sein Ohr, dann war die Gestalt verschwunden. Litt er wirklich an Halluzinationen? Er musste Gewissheit haben. Er ergriff seinen Hut und eilte die vier Treppen hinab. Der Mond trat gerade hinter einer Wolke hervor und beleuchtete hell die enge Gasse.

Er blickte rechts, er blickte links: nirgends eine menschliche Seele ausser ihm. Also war es doch Täuschung. Aber es konnte ja nicht sein! Emmy war es doch, eine innere Stimme sagte es ihm. Qualvolle Angst befiel ihn; er musste sich Luft machen.

„Emmy, Emmy!“ rief er in die stille Nacht hinein, und „Emmy, Emmy!“ wiederholte er. Kein anderer Laut als seine eigene Stimme. Wie ein abgelegener Kirchhof kam ihm die Gasse vor. Er musste fort. Er lief den Hauptstrassen zu, die noch Leben zeigten. Über eine Stunde irrte er umher, wie ein halb dem Wahnsinn Verfallener, ohne eine Spur von ihr zu entdecken. Endlich kehrte er müde und abgespannt nach seiner Wohnung zurück. Das Fenster war noch offen. Der Mond stand jetzt voll am Himmel und warf sein Licht auch in sein kleines Zimmer. Und wieder dachte er an Rückert, als er noch einen Blick zum Himmel emporsandte:

Um Mitternacht

Nahm ich in acht

Die Schläge meines Herzens.

Ein einziger Puls des Schmerzens

War angefacht

Um Mitternacht.

Dann legte er sich nieder.

Der Tag ist das belebende Element, das uns die Schauer und Einsamkeit der Nacht vergessen lässt und neue Hoffnungen in unserer Brust erweckt. Als Reinhard sich erhob, fühlte er sich gestärkt, und nur ein Gedanke stand vor seiner Seele: Du wirst sie retten. Jetzt hatte er ihre Spur. Er wollte Emmy in ihrer Wohnung aufsuchen und sie mit Gewalt aus ihrem Sumpf reissen.

Er dachte nicht daran, was die Menschen dazu sagen würden; er dachte auch nicht daran, dass die nie ruhende Lästerzunge unseres Nächsten stets nur das Gemeine hervorkehrt, jede gute Handlung aber übersieht, — er wollte der Welt ins Gesicht schlagen und ihr zurufen: Wer frei von aller Schuld, der werfe den ersten Stein.

Reinhard war eine heroische Natur. Was kümmerte ihn überhaupt die Welt! Er war sein eigener Richter und auch der seiner Schwester.

Er überlegte, welche Schritte er einzuschlagen habe, um ihre Wohnung zu erfahren. Der Schurke Brand musste es wissen. Zu ihm gehen? Dann müsste er zu gleicher Zeit für einen Pistolenkasten sorgen; aber ohne Zeugen, — das wollte er nicht. Er war einmal nahe daran gewesen, zum Mörder zu werden, einmal, nie wieder. Die Kugel, die er für ihn im Laufe hatte, blieb ihm sicher. Er ging nach dem Einwohnermeldeamt, wie er es so oft getan, um sich nach Emmy S. zu erkundigen

„Waisengasse Nr. ... vier Treppen“, erhielt er zur Antwort wie stets. Da hatte sie mit ihm zusammen gewohnt; das wusste er. Also wieder vergebens. Es blieb ihm nur eine Annahme: sie musste sich einen anderen Namen beigelegt haben. Er ging zu seinem Freund, dem Holsteiner, um sich Rat zu holen. Sie forschten beide.

Der Holsteiner ging am Abend nochmals ins Orpheum, fand aber keine Emmy, wohl aber sah er Brand, der sich mit der Dame im hechtgrauen Kleide wieder vertragen hatte und schon im Sektrausch war. Als er des Holsteiners ansichtig wurde, lud er ihn ein, Platz zu nehmen. Der Holsteiner zuckte verächtlich mit den Achseln und drehte ihm den Rücken.

Brand zitterte vor Wut, aber er musste sich zähmen; er wusste, dass der junge Riese der beste Schläger der Universität war und das Herz aus dem Coeur-Ass geschossen hatte.

„Holsteiner Bauernjunge“, murmelte er, aber so leise, dass er allein es nur hören konnte. Die kleine Brünette mit der heiseren Stimme sprang dem Holsteiner jetzt entgegen und fasste ihn unter; sie ging ihm gerade bis zur Hüfte.

„Sie kleiner starker Mann von gestern, wollen wir nicht eine Flasche Sekt trinken, — dort hinten?“ krächzte sie heraus.

„Nein, das nicht; aber einen Taler schenke ich dir, wenn du mir sagst, wo die blonde Emmy wohnt.“

Er hatte dabei seine Börse hervorgeholt und hielt dem Mädchen das blanke Geldstück hin. Im Nu hatte die Dirne ihm den Taler weggerissen.

„Oranienstrasse Nr. ... eine Treppe rechts, vorn heraus, zwei Zimmer, sehr elegant, Plüschsofa, Seidengardinen, separater Eingang. Emmy Braun steht auf der Visitenkarte“, schnarrte sie herunter und entfernte sich eilig, als befürchtete sie, der Taler könnte ihr verloren gehen.

Der Holsteiner wusste genug. Er ging zu Reinhard und benachrichtigte ihn. Also Braun nannte sie sich. Am andern Tage in aller Frühe war Reinhards erster Gang nach der Oranienstrasse. Bald stand er an der Tür der Wohnung und klingelte. Eine Frau öffnete.

„Bis jetzt noch nicht nach Hause gekommen, wird wohl wieder wo anders schlafen.“ Damit warf sie die Tür zu. Reinhard stieg das Blut nach dem Kopfe. Er wollte noch einmal klingeln und der Frau sagen, dass Emmy Braun seine Schwester sei; dann fiel ihm ein, dass sie ja für eine Dirne galt, und zum ersten Male in seinem Leben schämte er sich. Er nahm sich vor, am Nachmittag noch einmal vorzusprechen und ging.

Einen Tag und zwei Nächte nicht nach Hause gekommen! Wo war sie denn?

Unterwegs tauchte ein furchtbarer Verdacht in ihm auf, so dass er wie gebannt auf der Strasse stehen blieb. Wie, wenn sie es doch in jener Nacht gewesen wäre, die ihm Lebewohl zugerufen hatte? Allmächtiger, wenn dies Lebewohl für ewig gegolten hätte und sie Hand an sich gelegt? Er wollte nicht daran denken, aber der Gedanke verliess ihn nicht mehr.

Als er in die Prinzenstrasse einbog, stiess sein Fuss an ein kleines in Zeitungspapier gewickeltes Paket. Er hob es auf und schaute sich um, wer es verloren haben könne. Niemand schien darauf Anspruch zu machen. Er steckte es zu sich, um es bei der Polizei abzugeben.

Er wollte in die Klinik gehen, wo er seit einiger Zeit praktisch tätig war, aber als er nach der Uhr sah, schien es ihm noch zu früh zu sein. Er kehrte daher nach seiner Wohnung zurück. Der Gedanke, dass seine Schwester nicht mehr unter den Lebenden weilen könnte, wollte ihm nicht aus dem Sinn. Er legte das gefundene Päckchen vor sich auf den Tisch und stützte den Kopf in die Hand.

Sein Blick hastete unwillkürlich auf dem Zeitungsumschlag des Pakets, und so las er mechanisch das Wort: Polizeibericht. Seine Augen suchten weiter, und er las folgenden Satz: „In der Nacht vom 10. zum 11. stürzte sich ein Mädchen vom Louisenufer aus in das Engelbecken. Die herrschende Dunkelheit veranlasste, dass es durch den sich gerade in der Nähe befindlichen Wächter im Verein mit mehreren Schiffern nur als Leiche ans User gebracht werden konnte. In den Taschen fand man ausser einem Portemonnaie mit drei Talern Inhalt einen einfachen Ring mit dem eingravierten Namen Emmy. Die Leiche wurde nach dem Obduktionshause befördert“.

In fieberhafter Angst wickelte er das Paket auf und sah nach dem Datum der Zeitung; sie war vom heutigen Tag, vom 12. Oktober. Also doch. O, er wahnsinniger Tor! Weshalb war er nicht in jener Nacht die vier Stockwerke zerschmettert zu ihren Füssen niedergefallen. Dann hätte er sie doch im Tode noch einmal an seine Brust drücken können, ihr alles das sagen können, was er um sie gelitten, wie oft er um sie geweint, wie oft für sie gebetet hatte. Dann hätte er doch wenigstens noch einmal seine Lippen auf die ihrigen pressen, ihr sagen können, dass er ihr alles vergebe und verzeihe. Sie hätte weiter gelebt, Hütte aufgehört, eine Dirne zu sein, und er, — er hätte im letzten Augenblick das höchste Glück genossen, eine geliebte Seele gerettet zu haben. Er wollte weinen, aber er fand keine Träne mehr. Sein Herz war hart, trotzdem es doch so sanft, so weich war. Dann fiel sein Blick wieder auf den Satz: „Die Leiche wurde nach dem Obduktionshause befördert“, und die traurige Wirklichkeit gewann wieder Herrschaft über ihn.

Wenn er seine Schwester noch einmal sehen wollte, dann musste er sich beeilen. Er war Mediziner und wusste, was in den meisten Fällen mit den unbekannten Leichen geschah und wie wenig Umstände man machte. Und wer sollte sie denn als bekannt rekognosziert haben? Niemand. Emmys Wirtin musste daran gewöhnt sein, dass ihre Mieterin Tage lang ausblieb; sie dachte also gewiss nicht an ihren Tod. Also blieb nur einer, der Anspruch erheben konnte, und der war er. Die Leiche musste nach dem Gesetze drei Tage ausgestellt bleiben, also war noch Zeit.

Er steckte seine kleinen Ersparnisse und seine Legitimation zu sich und stieg in eine Droschke. Er überlegte, ob es nicht besser wäre, seinen Freund, den Holsteiner, abzuholen, aber das erforderte aufs neue Zeit.

Als er am Obduktionshause anlangte, schlug es gerade zehn Uhr. Sein Herz schlug hörbar und verursachte ihm eine unendliche Bangigkeit, denn ihn schauderte vor der nächsten Minute. Er betrat den unheimlichen Raum der Leichenschau und liess seinen Blick umherschweifen. Ausser dem aufgedunsenen Gesicht einer Mannesleiche und den Leichen zweier älteren Frauenspersonen bemerkte er weiter keinen Toten. Der Anblick von Leichen schreckte ihn sonst nicht, als er aber jetzt die starren Körper sah, da beschlich ihn eine tiefe Wehmut, wenn er daran dachte, dass niemand diesen Armen eine Träne nachweinen würde.

Ein Schauer durchrieselte ihn bei dem Gedanken, dass seiner Schwester dasselbe Schicksal harren könnte.

Es blieb ihm nur noch eine Möglichkeit; sie musste sich im Obduktionssaal befinden. Er entsann sich, dass ein älterer Studiengenosse von ihm seit einiger Zeit dem dirigierenden Arzt als Assistent beigegeben war. Er frug einen der Wärter nach Dr. K. und erfuhr, dass dieser allein im Saale anwesend und gerade beim „Schneiden“ sei. Wenige Minuten später stand er vor ihm.

„Ah, sieh da, lieber S., wie geht’s, sieht man Sie auch mal wieder? Was führt Sie her? Wollen Sie Präparate von Selbstmördern haben oder haben Sie einen reichen Onkel vergiftet und fürchten jetzt der Eumeniden Macht? Was haben Sie ihm gegeben, Strychnin oder — Bittersalz?“ begrüsste er Reinhard in einem Anflug von Galgenhumor.

Reinhard kannte den Humor des Doktors und wusste ihn zu jeder anderen Zeit auch zu schätzen; heute aber war er ihm nichts weniger als willkommen. Er blickte sich in dem geräumigen Saal um. Auf den Seziertischen lagen drei grosse, mit Leinwandplänen zugedeckte unförmliche Klumpen. Er wusste: darunter lagen die Objekte der Obduktion, — lag vielleicht auch seine Schwester. Ein Zittern überkam ihn, so dass er sich an der Lehne des Stuhles festhalten musste.

„Waren Sie denn heute noch nicht im Klinikum?“ fuhr der redselige Doktor fort, der keine Ahnung hatte, was Reinhard eigentlich hierher geführt, indem er sich an der Leitung die Hände wusch.

Reinhard verneinte.

„Ich sage Ihnen, Sie werden Ihr blaues Wunder haben, wenn Sie hinkommen. Der dicke Professor B. hat uns gestern abend wieder in einem Anfall von Schneide- und Sägewut in seiner bekannten Gesetzesignorierung einen Kadaver weggekapert, bei dessen blossem Anblick jedem Mediziner das Herz im Leibe lachen muss. Ich sage Ihnen, schön wie die Sünde. Denken Sie sich den schwellenden Körper einer Juno mit Ebenmass der Venus von Milo vereint; denken Sie sich eine Haut von der Weisse des Alabasters, die noch im Tode ihren Glanz behalten hat, — und dazu denken Sie sich noch einen von goldblonden Locken umrahmten Kopf — — — ... Aber um Himmelswillen,“ unterbrach er sich, — „was fehlt Ihnen denn? Sie sehen ja kreideweiss aus. Setzen Sie sich, trinken Sie ein Glas Wasser, schnell.“

Reinhard hatte während der letzten Zeit so unbarmherzige Schläge des Schicksal empfangen, dass er in diesem Augenblick willenlos wie ein Kind war.

„Ich danke Ihnen, es wird vorübergehen ... ein plötzlicher Schwindel —“, presste er mühsam hervor. Aber er setzte sich doch, nahm mechanisch das Glas Wasser und leerte es in einem Zuge.

„Seit wann haben Sie denn schwache Nerven? Sind Sie verliebt?“ fragte der Assistenzarzt. Reinhard hörte nicht auf die Scherzworte des Kollegen, denn er fühlte, wie ihm allmählich besser wurde. Noch immer hatte er die drei unheimlichen, verdeckten Kadaver dort vor sich, und mit jener letzten Hoffnung, die der Ertrinkende auf einen Strohhalm setzt, sagte er sich, dass der Zufall eine seiner Schwester ähnliche Leiche in die Klinik überführt haben könne. Deshalb begann er gefasst:

„Lieber Kollege, ich bin eigentlich hierher gekommen, um eine Leiche zu rekognoszieren.“

„Wa—as? Sie wollen rekognoszieren?“ Er drehte sich erstaunt um.

„Ja, eine Leiche, und zwar eine weibliche.“

„Waren Sie denn schon unten im Gewölbe?“

„Jawohl, da ist sie nicht.“

„Aber mein Gott, ausser diesen beiden alten Weibern haben wir überhaupt keine weibliche Leiche hier.“

„Auch nicht unterm Messer?“

„Nein, auch nicht unterm Messer. Überzeugen Sie sich gefälligst selbst.“

„Hier —“

Er hielt plötzlich inne und sah in das verstörte Gesicht Reinhards, aus dem jeder Bluttropfen gewichen war. Etwas wie Ahnung dämmerte ihm. Er rief sein Gedächtnis zu Hilfe, und vor seinen Augen tauchte ein reizender Blondkopf auf, den er einst an der Seite Reinhards gesehen. Aber wo? Halt, das war vor vier Jahren auf dein Potsdamer Bahnhof, als er seinen ehemaligen Freund Brand auf das hübsche Gesicht aufmerksam machte. Nachher hatte er denselben Blondkopf in steter Begleitung Brands gesehen. Jetzt wusste er genug.

Reinhard sah, wie sein Kollege sich plötzlich, ohne ein Wort zu sagen, seinen Paletot anzog und dann dem Faktotum im Nebenzimmer einige Instruktionen erteilte.

„Kommen Sie schnell, lieber S., ich lese in Ihrer Seele. Wenn noch was zu retten ist, dann müssen wir machen, dass wir nach der Klinik kommen.“

So schnell war noch keine Berliner Droschke ihrem Ziel zugesteuert, wie diejenige, welche die beiden Kollegen benutzten.

„Ist Professor B. schon hier?“

„Ja, schon oben“, gab der Portier kurz zur Antwort.

Reinhard eilte mit seinem Freunde zunächst in den Keller, wo die Leichen der besseren Erhaltung wegen aufbewahrt wurden. Ein Wärter war eben im Begriff, einen Sarg zu schliessen.

„Wo ist die weibliche Leiche, die gestern von dem Obduktionshause nach hier überführt wurde?“ fragte Dr. K. in atemloser Hast.

„Sie meinen die mit den Locken, Herr Doktor —“

„Ja, ja, nur schnell!“

„Bereits oben in Arbeit. Die Flechten hat der Herr Professor mir vermacht,“ gab der Alte trocken zur Antwort.

Eine Minute später riss Reinhard, gefolgt von K., die Tür zum Seziersaal auf und stürzte hinein. Der Holsteiner war noch nicht anwesend. Reinhard war jetzt nur ein halber Mensch. Vor sich sah er den Menschenknäuel, den die jungen Hörer um den Seziertisch bildeten. Deutlich vernahm er die Worte des kleinen Professors:

„Sie sehen also, meine Herren, dass der Organismus eines Weibes —.“ Dann hatte er sich auch schon mit der Kraft der Verzweiflung Bahn gebrochen, stand an der Leiche und sah, dass die Brust bereits aufgedeckt war. Ein einziger wilder Schrei entrang sich seiner Brust: „Meine Schwester!“ Es war ein Schrei, so jäh, so grell, so aus den Tiefen der Seele kommend, dass alle Umstehenden entsetzt zurückwichen und jeder das Gefühl hatte, als müsste etwas in seiner eigenen Brust zersprungen sein. Dann herrschte eine Weile Totenstille im Zimmer. Das Gesicht mit den Händen bedeckt, stand Reinhard schluchzend vor der Toten. Dr. K. wollte den Anwesenden eine Erklärung geben, aber er kam nicht dazu. Die Tür hatte sich geöffnet, und Brand trat ein. Dicht hinter ihm kam der Holsteiner. Brand sah seinen Todfeind, hatte im Augenblick den Vorgang überschaut und wollte sich schnell wieder entfernen, aber der Holsteiner stand ihm im Wege, und so vermochte er die Tür nicht mehr zu erreichen.

Als Reinhard des Mannes ansichtig wurde, der ihn so erbärmlich elend gemacht, der unter der Maske des Freundes das Herz seiner Schwester gebrochen, sie dann zur Dirne erniedrigt hatte, — da kochte es noch einmal siedend in ihm auf. In seinen Augen loderte ein unheimliches Feuer, dann hatte seine Vernunft ein Ende.

Wie ein Tier stürzte er sich auf den Feind und zerrte ihn zu der Leiche. Brand wollte sich losmachen, aber vermochte es nicht.

„Helfen Sie mir, meine Herren, — ein Wahnsinniger!“ stiess er hervor, aber keine Hand regte sich.

Da ergriff er blitzschnell eins der auf dem Seziertisch liegenden Messer und versuchte seinem Gegner die Kniesehnen zu durchschneiden. Mit einem Satz hatte der Holsteiner seinen Platz verlassen, entriss Brand das Messer und trennte die beiden. Als er sich wieder umblickte, war Brand verschwunden.

Dann sahen die Anwesenden noch, wie ein armer, bleicher Mann, dem das Haar wirr ins Gesicht hing, sich über die Leiche beugte, das Antlitz fortwährend streichelte und wirre Worte dabei hervorstiess. Dann kniete er nieder, band sich das Haar der Toten wie ein Tuch um den Hals und stierte jeden an, wobei er still vor sich hinlächelte. Alle wussten es, und doch wagte es niemand zu sagen: sie hatten einen Wahnsinnigen vor sich.

Der alte Professor wischte sich die Augen und sagte halblaut: „Fatum. Niemand wird jenem Irrsinnigen dort, der einst mein bester und liebster Schüler war, seinen Verstand wiedergeben können. Und wissen Sie auch warum? Ich werde es Ihnen sagen, meine Herren: Weil niemand von uns weiss, was das Innerste seiner Seele bewegt hat und wo die Saiten liegen, die dieser Seele zersprungen sind. Unser Wissen ist eben Stückwerk, meine Herren“.

Polizeibericht. Am Vormittag des 12. wurde der Mediziner S. in der Grossen Klinik aus bisher unbekannten Ursachen plötzlich vom Irrsinn befallen und musste Aufnahme in einer Privatheilanstalt finden.

Polizeibericht. Am Morgen des 20. fand in der Jungfernheide zwischen dem Mediziner Brand und dem Mediziner Jensen aus Holstein ein Pistolenduell statt, wobei Jensen seinem Gegner durchs Herz schoss. Der Tod erfolgte auf der. Stelle.

Berliner Sittenbilder. Polizeiberichte. Zweiseelenmenschen

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