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Blumenkorso

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Kommerzienrat Meusel sass in seinem Privatkontor und hatte sich eben eine Upmann angezündet, als er sich erhob und auf seinen kurzen Beinen etwas unruhig in dem grossen Raume auf- und abging. Dann rückte er nervös an seinem gestreiften Reisekäppchen, das er auch hier zu tragen pflegte, trat an das eine Fenster und blickte spähend über die Vorsetzer nach dem Fabrikgebäude hinüber, das sich mit seinen schwarzen Fenstern wie ein grosses, vieläugiges Ungeheuer ausnahm, in dem der gähnende Torweg das klaffende Maul bildete. Er führte das goldene Pincenez der Nase zu, liess das Auge unruhig über das kleine Hintergärtchen schweifen, den breiten, gepflasterten Weg entlang, der von der Fabrik direkt nach der Strasse führte und auf dem gerade einige Packträger geschäftig hin- und hergingen. Und nachdem er dann die Kapsel seiner goldenen Uhr hatte springen lassen, schritt er ärgerlich nach der kleinen, mit matten Scheiben versehenen Tür, die in das Hauptkontor führte, öffnete sie und wiederholte etwas unwirsch den Befehl, den er bereits vor zehn Minuten erteilt hatte. Zugleich klopfte es an der Flügeltür, durch die man direkt auf den Korridor gelangte, und herein trat ein junger, etwas schmächtiger Mann, der nahe den Dreissigern sein mochte und in seinem Äusseren entschieden eine künstlerische Veranlagung zeigte.

„Ah, da sind Sie ja, lieber Herr Oswald. Sie haben mich warten lassen. Ich habe dreimal angeklingelt und eben war Schubart sogar drüben.“ (So hiess der Kontorbote.)

Um diesem versteckten Vorwurf der Unpünktlichkeit den gehörigen Nachdruck zu verleihen, reckte er den kurzen Hals nach dem Regulator an der Wand und liess zum Überfluss nochmals die Kapsel der Goldenen springen.

Oswald entschuldigte sich damit, dass er gerade im Lichtsaal der Fabrik zu tun gehabt habe, wo er dabei gewesen sei, die Farben zu einem neuen Muster anzugeben. Meusel war schnell beruhigt. Sobald er die Gewissheit hatte, dass ein Angestellter seine Zeit im Dienste des Geschäfts verbrachte, hielt er sich nicht mehr für berechtigt, sich über persönliche Vernachlässigung zu beklagen. Überdies verdarb er es auch nicht gern mit Oswald. Dieser junge Herr, der stets tadellos gekleidet ging und niemals den Mann von guter Erziehung verleugnete, hatte eine bestimmte Art des Auftretens, gegen die man überhaupt nicht ankommen konnte. Seine Höflichkeit war bezaubernd, und wenn er lächelnd die weissen, tadellosen Zähne zeigte, so schienen auch die braunen Augen mitzulachen, die er selten niederzuschlagen pflegte.

„Dann will ich Ihnen doch gleich meinen Wunsch vortragen. Nehmen Sie doch einen Augenblick Platz,“ sagte der Kommerzienrat wieder und wies mit der Hand auf den Sessel auf der anderen Seite des freistehenden Diplomatentisches. Als beide Platz genommen hatten, Oswald nach seinem Vorgesetzten, faltete dieser die fleischigen Hände über den feisten Leib und fuhr fort, etwas kurzatmig, weil er seit einiger Zeit stark zum Asthma neigte: „Am nächsten Mittwoch ist grosser Blumenkorso auf Westend ... Sie werden wohl schon davon gelesen haben. Meine Damen wollen ihn gern mitmachen. Das ist überhaupt selbstverständlich, dass sie ihn mitmachen ... selbstverständlich! Ich möchte nun ganz etwas Apartes in der Dekoration von Wagen und Pferden haben. Die Kaiserin hat ihr Erscheinen zugesagt, — Sie können sich also denken! Als erster Zeichner und Maler meiner Teppichfabrik werden Sie wohl imstande sein, mir einen kleinen Farbenentwurf dazu zu machen. Zeigen Sie mal, was Sie können. Machen Sie etwas Grossartiges, etwas Geniales, was alles andere totschlägt. Das Geld soll keine Rolle spielen. Nur Schick muss die Sache haben, einen vornehmen Eindruck muss sie machen. Entwerfen Sie gleich mehrere Farbenskizzen, darauf kommt es ja nicht an ... Damit Sie gleich orientiert sind: wir nehmen die Victoria und die Rappen. Meine Damen werden sich ganz in Weiss zeigen. Ich werde natürlich auch dabei sein ... Weshalb lächeln Sie denn?“ unterbrach er sich plötzlich und liess die kleinen, durch den Rauch der Importierten etwas vernebelt erscheinenden Augen forschend auf seinem Angestellten ruhen. Oswald hatte allerdings gelächelt, in der Weise eines Menschen, der seine humoristische Ader schwellen fühlt. Sofort aber lagerte wieder Ernst auf seinen Zügen, als er mit geradem Blicke fragte: „Werden der Herr Kommerzienrat auch ganz in Weiss gehen?“

Meusel verbiss sich seinen Ärger, trotzdem er den Stich wohl fühlte. Aber als Mann, der sich eine gewisse Welterfahrung angeeignet hatte, bewahrte er krampfhaft seine Überlegenheit, die er seiner Meinung nach unstreitig einem Angestellten gegenüber besitzen musste, an dem schon der blosse Gedanke, er könnte sich über seinen Brotherrn lustig machen, strafbar sein würde.

„Es ist nur wegen der Farbenharmonie,“ fügte der Mustermaler rasch hinzu, während Meusel die Frage mit einem energischen Kopfschütteln verneinte.

„Ich werde in Schwarz gehen.“

„Das wird dann auch besser zu den Rappen passen,“ warf Oswald wieder ein.

Einen Augenblick wurde der Kommerzienrat an der richtigen Bedeutung dieses Einwurfs wieder irre, dann aber nickte er eifrig. „Ich sehe, Sie haben immer gleich Verständnis für meine Ideen.“ Und er begann diese „Ideen“, auf den vorliegenden Fall angewandt, eifrig weiter zu entwickeln. „Versuchen Sie es mal, wie es sich mit einem Arrangement von roten und gelben Rosen ausnehmen wird. Evi liebt ja die gelben Rosen so sehr.“ Oswald hatte ihn ruhig ausreden lassen, dann aber entfaltete er eine Rolle, die er mitgebracht hatte, welche aber dem Kommerzienrat nicht weiter aufgefallen war, weil Zeichner ja stets mit einer Rolle in der Hand in der Fabrik herumzulaufen pflegen. Und als Meusel einen Blick darauf geworfen hatte, rief er vergnügt aus: „Sie haben ja schon was, Teufelskerl Sie! Sie riechen wohl meine Wünsche? und gleich drei Entwürfe, — das lasse ich mir gefallen. Sie werden mich noch zwingen, auf Lebenszeit mit Ihnen Kontrakt zu machen.“

Ein plötzlicher, schriller Husten Oswalds schnitt dem Sprecher das Wort ab. Er erschien dem Kommerzienrat wie eine Satire auf den „lebenslänglichen Kontrakt“. Etwas betreten blickte Meusel beiseite. Schade, dass dieser talentierte junge Mann „etwas schwach auf der Brust“ war, wie man in der Fabrik sagte. Schade, recht schade! Um diesen unangenehmen Eindruck aber schnell wieder zu verwischen, fuhr er fort: „Sagen Sie mal, — wie sind Sie denn so — so ohne weiteres ... darauf — —, ich meine auf die Entwürfe gekommen?“

„Ihr gnädiges Fräulein Tochter hatte die Güte, mir bereits vor einigen Tagen ihre Wünsche in dieser Beziehung zu übermitteln,“ gab Oswald, diesmal etwas zögernd, zurück. Zum erstenmal richtete er die Augen nach unten, als befürchtete er, sein Gegenüber könnte ihm im anderen Falle die Verwirrung anmerken.

„Meine Tochter, Ihnen? Ja, wie kommt denn meine Tochter dazu? Wo? Wie und Wann? Davon weiss ich ja gar nichts.“ Mit seiner guten Laune war es vorbei. Drohend hefteten sich seine Augen über das Pincenez hinweg auf das blasse, nur auf den Wangen sanft gerötete Gesicht seines Malers, als wollte er aus ihm alles weitere dieser merkwürdigen Enthüllung lesen.

„Das gnädige Fräulein tauchte vorgestern vormittag ganz plötzlich drüben in meinem Atelier auf und sprach ihre Bitte aus. Ich war selbst überrascht davon. Der Herr Kommerzienrat wissen ja, dass ich eine Zeitlang die Blumenstücke des gnädigen Fräulein korrigiert habe.“

„Nun, ja — ja!“ Der Kommerzienrat wollte entschieden noch mehr hinzufügen, hatte aber im Augenblick keine weiteren Worte für seine Wallung inneren Zornes. Dann erhob er sich, so schnell es ihm seine Beleibtheit gestattete, und trat wieder ans Fenster.

„Was ist denn da los?“ rief er aus. Ein Vorgang draussen hatte ihn sofort auf andere Gedanken gebracht. Mehrere Arbeiterinnen führten eine Kollegin, ein schwächliches Ding, der Strasse zu.

„Es ist eine von den Spannerinnen, die kleine Milly. Sie leidet häufig an Ohnmachtsanfällen, die schon beinahe chronisch geworden sind,“ erwiderte der Maler, der neugierig hinter seinen Chef getreten war. „Man wird sie wohl in einer Droschke nach Hause bringen.“

„Recht bedauernswert,“ fiel Meusel ein. „Man hätte doch gleich den Krankenwagen holen sollen. Vielleicht hat sie ein Herzleiden.“

„Sie ist hochgradig bleichsüchtig und kann das Stehen nicht vertragen,“ sagte Oswald wieder, der die Kleine ihres stillen Wesens wegen lieb gewonnen hatte und nun mit seinem Blick die Gruppe so lange verfolgte, bis sie unsichtbar wurde.

„Dann soll sie heiraten,“ sagte Meusel und lachte breit auf, als hätte er einen guten Witz gemacht.

„Wenn das nur immer gleich so ginge, Herr Kommerzienrat,“ warf Oswald lächelnd ein, der in diesem Augenblicke daran dachte, dass Meusels Tochter ebenfalls eine gewisse gelbliche Blässe nicht verleugnen konnte.

Der Kommerzienrat schien denselben Gedanken zu haben, denn, wieder die Farbenskizzen in der Hand, sagte er: „Wissen Sie, das sieht hier auch nicht schlecht aus, — die Dekorierung des Rücksitzes mit Laub. Das gibt sozusagen einen rötlichen Reflex. Evi würde doch vielleicht sonst ein bisschen zu weiss aussehen ... Ja, ja — das behalten Sie nur bei.“ Und während der Maler verständnisvoll nickte, hatte Meusel wieder die alten selbstsüchtigen Gedanken. Sein stiller Traum war ein Schwiegersohn in Uniform, natürlich ein „Aktiver“ und womöglich von Adel. Die Kavallerie selbstverständlich bevorzugt und die „Garde“ erst recht. Zu was hatte man denn die Millionen zusammengescharrt, um sich nicht wenigstens diesen Stolz leisten zu können. Überdies war es auch Zeit, dass Evi unter Haube kaum. Sie hatte bereits die Zweiundzwanzig hinter sich, und der alte Sanitätsrat hatte gelegentlich einmal ungefähr dieselbe Äusserung getan, die er, Meusel, vorhin auf die junge Arbeiterin angewandt hatte. Also musste man sehen, ob man nicht am nächsten Mittwoch den Vogel abschösse. In die Augen fallen, das war die Hauptsache! Etwas von sich machen, dass alle Welt neidisch die Köpfe zusammensteckte, neugierig fragte und sich dabei zuraunte: „Das ist Kommerzienrat Meusel mit Frau und Tochter.“ Leutnant von Sidelmann mit seinem Tandem war sicher draussen, und der hätte ihm schon gefallen als Freier. Die Damen hatten ihn bei einem Wohltätigkeitsfest kennen gelernt, und er schien sich für Evi stark zu interessieren. Na, und wenn der’s nicht sein sollte, dann würde es gewiss ein anderer sein. Schliesslich blieb immer noch Baron Nassen übrig. Der hatte sich zwar die Haare schon ganz bedenklich wegamüsiert und hatte ein besonderes Talent zum Querüberschreiben, aber das machte nichts. Dafür spielte er eine grosse Rolle in der Gesellschaft, war ein schneidiger Kerl und hatte sich bei den Weibern schon gehörig die Hörner abgelaufen. Er würde gewiss noch einmal als ganz solider Ehemann enden. Man brauchte nur seine zahlreichen Wechsel aufzukaufen, und man hätte ihn. Na, und was Evi persönlich anbetraf, die in dieser Beziehung ihre kleinen Mucken hatte, die merkwürdigerweise ganz bürgerlicher Natur waren, so würden sich die schon austreiben lassen.

Übrigens, — wie wär’s mit weissen Marguérites und Flieder?“ nahm der Kommerzienrat den alten Faden wieder auf. „Das habe ich einmal vor Jahren gesehen und machte sich prächtig. Womöglich grüne Bänder dazwischen. Das gibt dann dem Ganzen die Weihe.“

„Dieses Arrangement soll Rother bereits getroffen haben, ich hörte es durch Zufall von einem Kollegen dort,“ warf Oswald ein.

Meusel fuhr ärgerlich auf. Rother war ein Konkurrent von ihm, der in letzter Zeit seine Fabrik zur hohen Blüte gebracht hatte und mit seinem sechzehnjährigen Ding von Tochter überall dabei war, wo es galt, ins Vordertreffen zu rücken. Er war noch nicht einmal Kommerzienrat geworden wie sein verstorbener Alter, und masste sich an, dieselben Einfälle zu haben! Aber wenigstens gut, dass man von seinem Vorhaben unterrichtet war; man konnte also den Versuch machen, ihn noch zu übertrumpfen.

„Oder wie wär’s mit Vergissmeinnicht und Maréschal-Niel-Rosen, he? Muss sich auch ganz nett ausnehmen. Auch die Orange-Chrysanthemen hier auf Ihrem Entwurf wirken ganz brillant. Machen Sie noch ein paar Skizzen. Strengen Sie mal Ihre Phantasie an. Erfinden Sie etwas Grandioses, machen Sie unserer Firma Ehre.“

Oswald schob ihm die dritte Skizze zu, mit dem Bemerken, dass sich das „gnädige. Fräulein“ bereits dafür entschieden habe, nur Guirlanden aus gelben Rosen zu wählen.

Sofort stieg der Ärger in Meusel wieder auf. Richtig, er hatte ja ganz das sonderbare Benehmen seiner Tochter vergessen. Sollte dieser junge Mann es vielleicht wagen ...? Sollte sich da hinter seinem Rücken etwas angesponnen haben, was sich wie ein schlechter Roman ausnähme? Aber lächerlich, einfach lächerlich! Es war eigentlich zu dumm, das auch nur im Ernste anzunehmen.

„Meine Tochter ist in dieser Beziehung gar nicht ausschlaggebend, lassen Sie sich das, bitte, gesagt sein,“ sagte er kurz. „Nur ich habe in dieser Beziehung zu bestimmen. Ich will nicht hoffen, dass Sie mein Vertrauen in irgend welcher Art missbrauchen. Meine Tochter gehört nicht hinten in die Fabrik, ich werde ihr das in aller Höflichkeit sagen.“ Und als Oswald darauf nichts erwiderte, sondern mit einer stummen Verbeugung die Zeichnungen wieder zusammenrollte, glaubte er daraus erst recht etwas zu vernehmen, was seinen Verdacht bestärkte. Sein Ärger drängte ihn, sich Luft zu machen. Es brauchte ja auch bloss ein kleiner Stich zu sein.

Die grossen Künstlerknoten, die der Maler trug, hatten schon längst seine Aufmerksamkeit erregt. Und so sagte er denn unter sichtlichem Spott: „Sie sind wohl etwas sehr eitel, lieber Herr Oswald. So oft ich Sie sehe, tragen Sie eine neue Krawatte.“

„Nur, um auch in dieser Beziehung Ihre Firma würdig zu vertreten, Herr Kommerzienrat,“ gab der Maler durchaus ernst zurück und empfahl sich.

Meusel verschluckte seinen neuen Ärger und zeigte nur ein erzwungenes Lächeln. An diesen jungen Herrn war wirklich nicht heranzukommen, er fand immer die richtige Antwort.

„Evi, — hör mal, ich habe ein ernstes Wort mit dir zu reden,“ sagte der Kommerzienrat eifrig kauend am Abend, als er mit Frau und Tochter im Speisezimmer seiner Villa, draussen in der Tiergartenstrasse, sass und dabei den unempfänglichen Blick durch die offene Glastüre der Veranda über das prächtige Blumenparterre des Vorgartens schweifen liess. „Unterlass das gefälligst künftighin, — Bestellungen hinter meinen Rücken an meine Angestellten auszuüben. Fabrikluft kann dir nur schädlich sein.“

„Sie wird aber von so vielen Menschen geatmet, Papa, die dich zum reichen Mann gemacht haben.“

Meusel lachte breit auf. „Du scheinst ja meine Intelligenz sehr zu unterschätzen. Was wäre alle Arbeit, wenn die leitende Hand fehlte, die sie dirigiert.“

Evi warf das wohlfrisierte Köpfchen in den Nacken und verzog den Mund. „Wenn man viel Geld hat, lässt sich leicht dirigieren.“

„Evi, von wem hast du denn diese Weisheit? Ich will doch nicht hoffen, dass dieser Oswald dir sie eingeträufelt hat. Nochmals: es schickt sich nicht, dass du da die schmutzigen Steintreppen hinaufflatterst und selbständig Konferenzen mit einem Maler abhältst. So etwas macht sich am besten in meinem Kontor.“ Das Misstrauen gegen seine Tochter verleidete ihm den Bissen des saftigen Hummers, den er gerade seinem Munde zugeführt hatte.

Evi lachte vergnügt auf, so dass rötlicher Schimmer ihre zarte Gesichtsfarbe durchzog. „Aber Papa, ich bin doch als selbständiges Mädchen erzogen. Du hast dich doch oft selbst darüber gefreut ... Übrigens ist Herr Oswald durchaus Gentleman.“

„Nur etwas schwach auf der Brust,“ platzte es ihm wieder heraus, da dieses Lob ihn stark ärgerte. „Schade, dass er dieses Leiden hat, er wird auf die Dauer keine Frau beglücken können.“ Er freute sich, seiner Tochter diesen Dämpfer aufsetzen zu können, und so ass er nun mit doppeltem Appetit.

„Er kennt seinen Zustand ganz genau, deshalb will er auch niemals heiraten,“ sagte Evi wieder etwas verschlagen, nun verstärkte Röte in den Wangen.

„So? Hat er’s dir schon anvertraut? Merkwürdige Intimität.“ Die letzte Hummerscheere, die Meusel aufbrach, knackte förmlich unter seinen Fingern.

„Mein Gott, Papa, wenn man bei jemand Malunterricht genommen hat, dann hat man doch Vertrauen zu ihm.“

„Köstliche Naivität.“

„Streitet euch doch nicht über solche nichtige Dinge,“ warf die Kommerzienrätin endlich ein, die bisher würdevoll dagesessen und pagodenhaft nach den Speisen gelangt hatte.

Lautlos trat der Diener herein und reichte auf einer silbernen Platte Brathuhn und junges Gemüse herum.

„Etwas weniger Emanzipation könnte dir auch nichts schaden, liebe Evi,“ fuhr sie dann fort, als sie wieder allein waren. „Papa hat recht —: die Fabrik ist nichts für dich.“

„Mir wurde auch ganz schlimm, als ich in der grossen Hitze die vielen Arbeiterinnen hantieren sah. Es war keine angenehme Atmosphäre. Eine wurde sogar in meiner Gegenwart ohnmächtig. Sie hatte Fäden auf die Trommel zu spannen und leidet an hochgradiger Bleichsucht. Wenn ich mir so vorstelle, dass ich diese Arbeit verrichten sollte, — ich glaube, ich wäre jeden Tag mehr tot als lebendig.“

„Aber Kind, auf was für Gedanken kommst du!“

„Es ist wahr, Mama. Ich natürlich kann jeden Sommer ins Bad gehen und mir wieder frisches Blut holen. Aber so ein armes Ding —“

„Natürlich hat dich Oswald in der Fabrik herumgeführt,“ unterbrach Meusel sie, diesmal mit offenem Ärger. „Ich werde mir doch erlauben, ihn morgen darauf aufmerksam zu machen, dass das über seine Befugnisse hinausgehe.“

„Auch wenn er nur meine Bitte erfüllt hätte, Papa?“

„Auch dann nicht. Ohnmachtsanfälle in der Fabrik brauchst du nicht mit anzusehen. Übrigens, — es kann auch vorkommen, dass ganz gesunde Menschen in Ohnmacht fallen.“ Er spielte den Duckmäuser und tat so, als wüsste er nicht, um was für eine Arbeiterin es sich handelte, nahm sich aber vor, dafür zu sorgen, dass sie entlassen würde. Seine Tochter sollte doch derartige betrübende Schauspiele nicht mehr geniessen.

Ein starker und angenehmer Luftzug wehte vom Tiergarten herüber und brachte den Duft von Chrysanthemen und Flieder in das Zimmer hinein. Und das brachte das Gespräch wieder auf den Blumenkorso, um den sich während der letzten Tage alles gedreht hatte. Oswald hatte sich gleich an die Arbeit gemacht und den Wunsch seines Chefs erfüllt, und so hatte denn dieser schon am Abend die Farbenskizzen mit nach Hause nehmen können.

„Prächtig, prächtig, — er hat doch was los,“ rief die Kommerzienrätin aus und empfahl, Vergissmeinnicht mit Maréschal-Niel-Rosen zu nehmen. Evi aber blieb dabei: dass sie nur mitmachen würde, wenn man weiter nichts wie gelbe Rosen wählte.

„Das passt auch gerade zu deinem Teint, ich verstehe dich nicht,“ wandte Meusel bissig ein.

Sie aber zog die Schultern in die Höhe und blieb dabei. „Herr Oswald ist anderer Ansicht und der ist Maler, versteht also etwas davon. Gerade das feurige Gelb wird meinen Teint hervorheben.“

Die Blumenausstattung wurde also bestellt.

Zwei Tage vor dem Korso wurde Oswald wieder durch ihren Besuch überrascht. Sie hatte nun einmal ihren Kopf für sich und wollte dem gestrengen Herrn Papa beweisen, dass sie sich durchaus nichts vergäbe, wenn ihr Kleiderrauschen über die Steintreppen der Fabrik ginge. Nach erledigten Einkäufen bei Hertzog hatten Mutter und Tochter im Wagen einen Abstecher nach dem Kontor gemacht, und so fand, während die beiden Alten sich über wichtige Dinge unterhielten, Evi Gelegenheit, auf kurze Zeit zu verschwinden. Es war vormittags, als alles in der Fabrik noch in Tätigkeit war.

„Sie werden uns doch gewiss auch bewundern wollen, Herr Oswald,“ sagte sie, nachdem er rasch verschiedene Papierrollen von einem Stuhl geworfen hatte und ihr denselben zuschob, „deshalb komme ich heute mit einem Tribünenbillett zu Ihnen.“

„Zu viel Ehre, gnädiges Fräulein. Aber es wird nicht gehen.“

„Lassen Sie mich das mit meinem Papa ausmachen. Ihre Arbeit muss belohnt werden. Sie müssen doch sehen, wie Ihr Entwurf sich in Wirklichkeit ausnimmt. Waren Sie überhaupt schon auf einem Blumenkorso?“

„Noch niemals, gnädiges Fräulein.“

„Dann wird es aber Zeit, dass Sie sich einmal eine derartige rollende Farbensinfonie anschauen.“

„Ich befürchte, es wird für mich eine Trauersinfonie sein.“

Sie verstand ihn nicht gleich, da aber sein böser Husten sich wieder bemerkbar machte, brachte sie seine Anspielung damit zusammen, und so sagte sie milde: „Sie müssen nicht immer solche Gedanken haben, Herr Oswald. Es wird schon noch alles gut werden.“

Er ahnte, was sie meine, schüttelte aber stumm mit dem Kopf und lächelte nur trübe. Sie waren allein in dem grossen zweifenstrigen Raum, den er sich durch Verstellen des unteren Teiles der Scheiben vermittelst Papptafeln zu einer Art Atelier umgewandelt hatte. Die grosse künstlerische Unordnung wies auf die rege Tätigkeit hin, deren er sich in der Einsamkeit des Tages hier hingab. Stossweise vernahm man das Gehen der grossen Dampfmaschine, die tausend Räder in Bewegung setzte und den ganzen Steinkoloss in andauerndes Erzittern brachte.

Er gab die nötige Aufklärung. Die kleine Arbeiterin, die so häufig an Ohnmachtsanfällen gelitten habe, sei heute in der Frühe gestorben. Herzkrämpfe hätten sich eingestellt und so sei sie dabei weggeblieben. Gerade am Mittwoch finde die Beerdigung statt und da könne er doch unmöglich — —. Wahrscheinlich ginge die halbe Fabrik mit, und er habe die Absicht, sich nicht auszuschliessen, denn die Kleine sei gewissermassen sein Modell gewesen; er habe sie mehrfach in seinen Mussestunden gezeichnet, ihrer wunderschönen Augen wegen.

Er kramte in einer Mappe und holte einige leichtgetönte Farbenzeichnungen hervor, die er vor ihr ausbreitete. Sie war von seiner Mitteilung sehr betroffen, denn plötzlich dämmerte es ihr, dass es nun mit der Korsofahrt nichts werden könnte.

Als sie längere Zeit schwieg, und er ihre Gedanken zu erraten glaubte, begann er: „Deshalb brauchen Sie sich aber in Ihrem Vergnügen nicht stören zu lassen, gnädiges Fräulein. Das Kontor wird dadurch natürlich nicht berührt, und Ihre Eltern auch nicht. Sie war ja auch noch nicht lange hier. Mich aber treibt’s hinaus, ihr die letzte Ehre zu geben ... Denn sehen Sie, gnädiges Fräulein, manchmal, — da habe ich wirklich solche schwarze Gedanken, die Sie vorhin andeuteten. Und da denke ich daran, wer mich wohl auf dem letzten Wege begleiten wird. Sie müssen nämlich wissen, dass ich ganz allein dastehe.“

Er wandte sich ab und unterdrückte mit Gewalt den neuen Hustenanfall, der sich Luft zu machen drängte. Im Augenblick erschüttert von seinen Worten, wurde sie weich. Und so sagte sie sanft: „Sehr edel von Ihnen gedacht, aber sie sollten sich nicht mit Gewalt Schmerzen bereiten. Kommen Sie nach Westend, erfreuen Sie sich an dem Blumenregen und dem hellen Sonnenlicht. Das wird Ihnen besser tun, als der stille Kirchhof. Ich würde mich jedenfalls herzlich freuen, wenn ich wüsste, dass Sie da wären.“

Überrascht blickte er sie gross an, denn er hatte erwartet, dass sie auf das Vergnügen verzichten würde, sobald sie erführe, dass er bessere Absichten hege, als sie. Seit langem eine stille, tiefe Neigung für sie im Herzen, die er wohlweise verschlossen mit sich herumgetragen hatte, fühlte er sich unangenehm berührt, sie überschätzt zu haben. Er hatte die Empfindung, als wären plötzlich alle seine Ideale in ein dunkles Nichts versunken.

„Es geht nicht, wirklich nicht, gnädiges Fräulein,“ sagte er verbindlich. „Aber wenn Sie von Blumen überschüttet werden, und auch ich ein paar als letzten Gruss der Toten widmen werde, dann werde ich an Sie denken. Verlassen Sie sich darauf.“

Sie fühlte den Stich, und so regte sich in ihr Trotz. Sie, die verwöhnte Tochter aus reichem Hause, die einer Kaprice willen zum zweitenmal diesen Weg nach hier gemacht hatte, sollte sich einen Korb holen, einer armseligen, verblichenen Kreatur wegen, die ihn doch eigentlich nichts anging? Nimmermehr!

„Sie ziehen wohl die Toten den Lebenden vor?“ fragte sie spöttisch. „Wissen Sie, dass ich an jedem Finger meiner Hand einen Grafen haben könnte?“

„Ich weiss es, gnädiges Fräulein,“ gab er höflich zurück.

Diese Gleichgültigkeit trieb ihr das Blut in die Wangen. „Sie werden kommen, Herr Oswald, ich wünsche es!“ brachte sie befehlend mit ihren bebenden Lippen hervor.

Wahrhaftig, in dieser Verfassung, gerötet von Zorn, mit blitzenden Augen, erschien sie ihm begehrenswerter als sonst. Aber wie ein Etwas, das allmählich Besitz von ihm erriff, stieg langsam der Widerwillen gegen sie in ihm auf. Auch er hatte seinen Trotz und Stolz, den keine Macht des Geldes beugen konnte.

„Ich weiss in der Tat nicht, gnädiges Fräulein —“

„Ich werde sehen, zwischen wem sie wählen,“ sagte sie mit einem seltsamen, verzerrten Lächeln, aus dem ebensoviel Neigung wie Drohung sprach. Damit legte sie die Karte auf den Tisch und verschwand, begleitet von seinem schlimmen Husten als letztem Gruss.

„Unangenehm, sehr unangenehm,“ sagte der Kommerzienrat zu seiner Frau, als er erfahren hatte, dass gerade am Korsotage die Hälfte seines Fabrikpersonals nach dem Kirchhof gehen wollte. Dieses kleine Ding schien also sehr beliebt gewesen zu sein. Nur gut, dass nicht einer von den älteren Arbeitern oder gar ein Werkführer gestorben war, denn dann hätte man mit im Trauerzuge sein müssen, und aus dem Vergnügen auf Westend wäre nichts geworden. So aber konnten die drei Säle die traurige Angelegenheit unter sich abmachen.

„Was, Sie wollen auch mit zum Begräbnis?“ fragte er dann Oswald am Vormittag des wichtigen Tages, als der Maler ihm seine Absicht mitteilte. „Aber meine Tochter teilte Ihnen doch mit, dass Sie — —. Ich würde nichts dagegen gehabt haben. Wenn Evi sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat —.“ Plötzlich aber war ihm diese Wendung der Dinge sehr angenehm. „Wissen Sie, — da möchte ich Sie bitten, mich auf dem Kirchhof zu vertreten und in meinem Namen einen Kranz auf das Grab niederzulegen,“ fuhr er eifrig fort. „Dann braucht der Buchhalter es nicht zu tun. Das Kontor hat überdies einen grossen gespendet.“ Er hatte den Kranz schon bei der Hand, der, auffallend gross und prächtig, an dem Säulenknauf eines hohen Stuhles hing. Sofort fielen Oswald die gelben Rosen auf, mit denen er fast übersät war.

„Evi hat ihn bestellt. Sie sehen daraus, dass meine Tochter auch ein Herz für die Arbeiterinnen hat. Schade, schade, dass wir heute nicht mitgehen können. Aber wie die Umstände nun einmal liegen —. Sie wissen ja.“

Oswald lächelte kaum merklich, denn er nur allein glaubte die Symbolik dieser gelben Rosen zu verstehen. Sie sollten beweisen, dass ihre Spenderin im Innersten ihres Herzens seine edle Absicht doch begreiflich fand. Fast schien es ihm wie eine duftende Mahnung, ihren Wunsch zu erfüllen, die Tote die Tote sein zu lassen und dort hinauszufahren, wo lachendes buntes Treiben das Recht des Lebenden verkündete und wo ihm vielleicht etwas verheissen würde, woran er selbst in den Minuten höchster Einbildung nicht gedacht hatte. Aber er schwankte nicht lange.

„Ich danke für das Vertrauen, das Sie mir schenken, Herr Kommerzienrat,“ sagte er verbindlich, „ich werde nicht verfehlen, darauf hinzuweisen, dass Sie mit Ihrem ganzen Herzen an der Trauer teilnehmen.“ Er nahm den Kranz und ging.

Der Kommerzienrat blickte ihm misstrauisch nach, denn er glaubte wieder jenen leichten Spott vernommen zu haben, der von dem Wesen dieses seltsamen Menschen unzertrennbar war.

Am Nachmittage, als draussen auf herrlich geschmückter Bahn die bekränzte Wagenkette sich allmählich an den Tribünen vorbei zu entfalten begann, die sich wie emporsteigende, blühende Menschenbeete ausnahmen, fand Evi Zeit, den Blick suchend auf die Loge zu richten. Der Platz in der dritten Reihe war leer. Also war er wirklich nicht kommen! Einige Minuten lang hatte sie inmitten dieses Gewoges, das sinnbetörend die neidischen Götter herauszufordern schien, eine Art Vision. Sie glaubte einen langen Zug schwarzgekleideter Menschen zu sehen, die mit Grabesstille an ihr vorüberzogen und mit grossen, weit aufgerissenen Augen sie anstarrten, als wollten sie sie stumm anklagen. Dann trug man die kleine Arbeiterin, die wachsbleich aussah, frei in der Luft. Sie war ganz und gar mit gelben Rosen bedeckt, deren lange Stengel sich wie Ranken um ihren Körper schlossen und eine seltsame Dornenkrone bildeten, aus der grosse, helle Tropfen zur Erde fielen, die sich wie der Schweiss der Arbeit ausnahmen. Als letzter kam Oswald hinterdrein, gebückt und hohläugig, eine einzige, weisse Blume in der Hand ...

„Schrecklich, schrecklich,“ kam es stöhnend über ihre Lippen.

„Was denn?“ fragte der Kommerzienrat gemütlich, der sich nie in seinem Leben so gefühlt hatte, wie gerade heute.

„Ach, nichts.“

Unter hellem Gelächter der Damen, unter dem Jubel der Zuschauer begann die Blumenschlacht, die sich wie ein toller Wirbel von farbig beweglichen Luftkörpern ausnahm. Eine vollerblühte, rote Rose flog Evi ins Gesicht. Leutnant von Sidelmann führte gerade seinem Tandem vorüber und hatte sich erlaubt, mit leuchtenden Augen ihr diesen Gruss zu spenden. Die Vision war vorbei.

Ein dankbares, herziges Lachen belohnte den Liebesscherz. Dann flog als Antwort eine ganze Handvoll gelber Rosen hinüber. Der Kommerzienrat zog tief den Hut und seine Frau nickte mehr als gnädig. Beide schwammen in stiller Wonne.

„Was für ein Dummkopf, dieser Oswald,“ dachte Evi, halb erstickt vom Blumenregen. Dann suchten ihre Augen nur noch den Leutnant.

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