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Ein Abend in Baden – Baden
ОглавлениеAdrian von Reusser liebt dieses Gefühl der Anspannung, die seinen Körper durchzieht wie eine schwingende Saite, liebt es im Ledersitz seines Jagurars zu sitzen und dahinzurasen auf dem unsichtbaren Grat zwischen Leben und Tod und er glaubt zu wissen, dass ihm nichts geschehen kann, denn der Erfolg klebt an seinen Fersen im Geschäft, bei den Frauen und im Spiel und er wagt hohe Einsätze und er gewinnt. So wie er heute gewonnen hat bei dem Abschluss in Heidelberg, und die Amerikaner geschlagen hat auf dem Schlachtfeld um Geld und um Macht, mit ihren eigenen Waffen.
Der Verkehr wird dichter und Adrian reiht sich ein. Die Luft vor seinen Augen flimmert, Schweiss perlt auf seiner Stirn. Die Finger in Kalbslederhandschuhen trommeln auf das Steuer. Staus machen ihn nervös und schnüren ihn ein, lassen Zweifel aufkommen, ganz sacht und kaum bewusst, an seinem Glauben über die Machbarkeit der Dinge und an seine Unfehlbarkeit. Zeit für eine Pause.
Aber noch sonnt Adrian von Reusser sich im Gefühl des Triumphs über den Sieg an diesem Nachmittag in den gediegnen Räumen des alten Palais. Wenn dann doch Zweifel hochkommen,dann und wann, in seltenen Augenblicken der Müdigkeit und der Schwäche, und ihn daran erinnern, dass er in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren nicht immer nur erfolgreich war auf seiner Jagd nach Erfolg und Anerkennung, dann verdrängt er diese ungeliebten Mahnungen in Visionen einer glorreiche Zukunft.
Im langsamen Fahren lässt seine Konzentration nach, schweifen seinen Gedanken ab auf Nebensächliches, und von Reusser bemerkt, dass sein Hemd am Rückenpolster klebt und der Stoff seiner Hose an den Schenkeln.Trotz Klimaanlage, die er wohl vergessen hat richtig einzustellen, und er nimmt, etwas ungehalten, zur Kenntnis, dass er hungrig ist und die Blase voll. Soweit es den Hunger betrifft, hätte er durchfahren können, aber die zwei Stunden nach Luzern, wo sich der Sitz seiner Firma befindet in zwei weiträumigen Wohnungen mit hohen Stukkaturdecken und Blick auf den See, die Bucht und die Berge dahinter, würden die Blase nicht durchstehen.
Während er noch hin und her überlegt, bemerkt Adrian das Hinweisschild nach Baden – Baden und schlagartig wird ihm klar, was er tun wird. Er zieht seinen Wagen auf die rechte Fahrspur, etwas das bei ihm nur selten vorkommt, und reiht sich ein in die Kolonne der Langsamfahrer. Dass er nicht früher daran gedacht hat, erstaunt ihn und er führt es auf seine euphorische Stimmung und die Hitze zurück. Denn es ist für ihn schon zum Ritual geworden, in Baden – Baden einen Halt einzulegen, wenn er auf der A5 südwärts fährt , zurück von seinen Kunden, die er berät und zu neuen Erfolgen führt. Er mag diese kleine Stadt an der Oos, schätzt einige ihrer Lokale, in denen er schon so ausgezeichnet gegessen hat, liebt die erholsame Kühle im schattigen Park und liebt – und dies vor allem – das Casino.
Adrian von Reusser ist kein Spieler aus Leidenschaft, verliert nie das Kalkül, nie die Beherrschung. Aber er liebt die Atmospäre im Casino, das Klappern der Kugeln, die ruhigen Stimmen der Croupiers, das Raunen und Geflüstere, die eleganten Kleider der Frauen, ihren erlesenen Schmuck, den Duft ihres Parfüms und die Erregung die in ihm wächst, wenn eine ihm besonders gefällt. Und er liebt die Spannung wenn die Kugel langsamer rollt und hüpfend endlich zum Stehen kommt. Er setzt geschickt auf Manque und Passe, Pair, Impair, Rouge und Noir, auf das erste Dutzend, das zweite oder das dritte oder, mit Bedacht und Intention, auf eine der sechsunddreissig Zahlen. Wichtig für Adrian von Reusser ist nicht der Gewinn, wichtig ist die Herausforderung. Aber nie, das hat er sich geschworen, verlässt er das Casino ohne nicht mindestens zehn Prozent seines Einsatzes gewonnen zu haben, denn das käme einer Niederlage gleich im Kampf gegen das herausgeforderte Schicksal. Und jetzt, am späten Nachmittag dieses erfolgreichen Tages, fühlt er sich unschlagbar und er weiss, dass er den Roulett–Tisch bald wieder verlassen wird – als Sieger im spielerischen Ringen um die Herrschaft über sein Glück.
Er stellt den Jaguar in das Parkhaus, streift die Handschuhe ab, rückt sich mit Blick in den Außenspiegel die Krawatte zurecht und zieht das Jackett seines Nadelanzugs über. Zum Spielen ist es noch zu früh. Er weiss, das zu dieser Zeit nur Anfänger und alte Damen an den wenigen geöffneten Tischen sitzen würden. Der Gang zur Toilette, ein kurzer Bummel durch die Stadt , um sich die Beine nach dem langen Sitzen zu vertreten, und ein leichtes Essen, etwas Lachs vielleicht und ein halbes Dutzend Schnecken mit Kräutersauce überbacken und ein kühler Rosé ist das, wonach er jetzt Lust hat. Nach der wohltuenden Erleichterung im gekachelten Pissoir, wo es nach Kampfer riecht und Fichtennadeln, taucht er an die Oberfläche empor aus dem Labyrinth der Unterwelt, geht mit zügigen Schritten – denn langsames Gehen kennt er nicht – an den teuren Auslagen der exclusiven Boutiquen in den Jugenstilpavillons am Kurpark vorbei, überquert die Oos auf der Reinhard Fieser Brücke und schaut, mehr zufällig als gewollt, in das Schaufenster der alten Hofbuchhandlung und bleibt stehen. Er bleibt nicht stehen, weil er einen neuen Roman entdeckt hätte oder gar ein Buch, das er schon lange suchte. Denn für das Lesen von Belletristik hat er seit bald drei Jahrzehnten nichts mehr übrig, weil er damals zum Schluss gekommen war, dass es wichtigeres gäbe, als untätig herumzusitzen und seine Zeit mit dem Lesen ersonnener Geschichten zu vertun. Doch jetzt bleibt er stehen, weil ihm der rot-schwarze Hochglanzumschlag eines Bildbandes in die Augen sticht mit einem vierarmigen fernöstlichen Gott darauf abgebildet und einer nackten schmuckbehangenen Frau, in in Ekstase ineinander verschmelzen. Das große Buch des Tantra. Das interessiert ihn. Adrian von Reusser hält sich für einen guten Liebhaber – sportlich, phantasievoll, ledig und reich. Aber über Frauen kann man nie genug wissen, und über ihre verschlungenen Wege der Liebe, die ihm ein ewiges Geheimnis sind, denkt er, während er in den Laden tritt um sich das Buch näher anzuschauen. Er findet es in einem der hohen mit Intarsien verzierten Holzregale, verloren fast zwischen Anleitungen zur glücklichen Ehe in Wort und Bild, Wiehalteichmichfitbüchlein und Interpretationen von Frauenträumen. Blätternd betrachtet er die Federzeichnungen und es trifft ihn schmerzlich, sich eingestehen zu müssen, dass er für die meisten der vorgeschlagenen Positionen die zur Vollendung der Lust empfohlen werden, doch zu ungelenk und wohl auch zu alt ist. Trotzdem erregen ihn die Zeichnungen. Er beschliesst das Buch zu kaufen und geht damit zur Kasse.
Vor ihm stehen noch zwei junge Männer die plaudernd warten und eine Frau, und Adrian von Reusser spürt, wie die Ungeduld in ihm hochsteigt, denn warten ist verlorene Zeit, und er schaut sich um nach einer zweiten Kasse oder einer zweiten Verkäuferin. Doch es ist eine kleine Buchhandlung und eine gemütliche und die Leute verspüren keine Eile. Er betrachtet also die Regale, vermisst das moderne Outfit, die Übersicht und Effizienz, und er betrachtet die Frau die einen halben Schritt vor ihm steht, so wie er alle Frauen betrachtet, prüfend und abschätzend. Sie mochte ungefähr in seinem Alter sein, ein wenig älter vielleicht, so gegen fünfzig, mit langen kastanienbrauen Haaren, Silberfäden durchwirkt, die sie, erstaunlich für ihr Alter, zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden trägt. Sie ist dünn und drahtig, mit einer nur schwachen Andeutung von Busen, hat große Augen unter schmalen Brauen, hervorstehende Backenknochen und eingefallene Wangen. Ihre dünne Figur wird unterstrichen durch einen langen buntbemalten Faltenrock, einer schwarzen Bluse und einem großen Dreieckstuch, das hinten bis zur Taille fällt, in den gleichen warmen Farben, von ocker bis gelb-orange, wie am Rock. Ihre sehnigen Füsse stecken in Sandalen, die mit ledrigen Riemen gebunden sind. Adrian hat sie kurz zur Kenntnis genommen, bestaunt als exotischen Schmetterling, wendet sich jetzt wieder ab und schaut hinaus auf den Platz, wo sich die letzten Sonnenstrahlen in der Glasfassade der Bank gegenüber spiegeln, bevor sie hinter den Bäume auf dem Klinikhügel über dem Kurpark versinken.
Grusslos gehen die beiden jungen Männer an ihm vorbei und hinaus in den kühler werdenden Abend, und Adrian von Reusser dreht sich um und fragt sich, wie lang er wohl noch warten müsse. Von der Kasse her hört er die Stimmen der Verkäuferin und der Frau in Bunt, die mit leicht fremdländischen Akzent ein Buch bestellt. Amerikanerin, denkt er, oder Engländerin. Vielleicht Kanadierin. Oder Australierin oder Neuseeländerin. Südafrikanerin. Er wundert sich, wie viele Länder ihm einfallen, in denen weisse Frauen englisch sprechen, und gleichzeitig weiss er auch, dass es ihn gar nicht interessiert.
"Denise Zimmermann-Hopcroft", hört er die Frau ihren Namen nennen. Er hört es nicht sehr deutlich und ungewollt. Aber wie ein Bannstrahl treffen die Worte ihn und schnell, ja hektisch fast, macht er den einen Schritt neben sie und schaut ihr in die Augen – Mein Gott. – Denise? – und sucht in dem verhärmten Gesicht ihre gemeinsame Vergangenheit.
Sie war seine erste Liebe. Vielleicht seine einzige wirkliche Liebe. Bis heute. Er hatte in der vordersten Reihe des Stadttheaters gesessen, in Orpheus in der Unterwelt. Da hatte er sie gesehen. Eines der Mädchen im Corps de Ballett, auf Spitzen, mit bebänderten Schuhen und weißem Tutu, und sie hatte ihm den Schlaf geraubt in der Nacht und den Seelenfrieden am Tag. Knappe achtzehn Jahre war er damals alt. Es war jene Zeit, in der er noch las, noch Musse hatte ins Kino zu gehen, zum Tanzen und ins Theater, alleine manchmal, oder mit Mädchen, in die er verliebt war, ohne zu wissen, was die Liebe ist, mit denen er schmuste in dunklen Hauseingängen oder auf Bänken im Schutze riesiger Kastanien im alten Friedhof, an deren Blusen er linkisch nestelte oder ihnen drängend zwischen die Beine griff, ohne je zu erfahren, wie das nun war, wovon er all die vulgären Namen kannte, wonach er sich verzehrte in quälenden Träumen, ohne es sich jedoch genau vorstellen zu können. Es war die Zeit, in der er brillierte an Feten und bei Diskussionen mit Witz und mit Chamre und er stolz darauf war, Lessing gelesen zu haben und Kloppstock und Gewinner zu sein eines Wettbewerbes, in dem es darum ging, sämtliche sechsunddreissig Shakespearetitel zu einer einzigen Geschichte zu verweben.
Nach diesem Abend aber vergass er all seine Gespielinnen, die unbefriedigenden Flirts und besessen von Denises Bild, dass sich tief eingebrannt hatte in seine Seele, streifte er um das Theater, wie ein läufiger Rüde, immer in der Hoffnung, sie zu sehen, immer entschlossen, sie anzusprechen, sie einzuladen auf einen Drink oder einen Kaffee ins Dézalay, einem gemütlichen Lokal dem Theater gegenüber in dem es nach geschmolzenem Käse roch und Bohnerwachs. Er stand ungezählte Stunden in einer windgeschützten Nische neben dem dem Künstlereingang und wartete auf das Ende der Vorstellung und liess sich anwehen von der Abluft aus dem vergitterten Lüftungsschacht, einem Duftgemisch von Schminke, Staub und Schweiss, die ihm ein wenig Wärme brachte in bissig kalten Winternächten. Er sog diesen geheimnissvollen Geruch in sich hinein und wußte, dass er zu dieser Welt hinzugehören wollte. Und ein paar Monate lang lebte er tatsächlich mit der lächerlichen Vorstellung, Schauspieler werden zu wollen. Doch Abend für Abend kam sie heraus, eingehüllt in wollene Schals und bedeckt mit einem weiten Poncho, Abend für Abend mit der Schar ihrer Kolleginnen – einem lachenden und schwatzenden Haufen junger Frauen, der begleitet wurde von einigen Musikern und Schauspielern auch, die sich, geil und einsam die einen, geil und der Ehe überdrüssig die andern, eine süsse Nacht erhofften im Bett einer der Tänzerinnen. Adrian von Reusser war eifersüchtig auf jeden Einzelnen, denn er wußte nicht, dass sie vergebens hofften und hatte nicht den Mut, sich an sie heranzumachen, sich vor all den Fremden der Lächerlichkeit preis zu geben.
Dann – er weiss es noch, als wäre es nur Wochen her – es war nach einer Aufführung der La Traviata, am einem Donnerstag im November, kräftige Winde bliesen aus Norden und brachten Schnee schon bis in die Niederungen und er selbst war in der Vorstellung, zum dritten Mal, in seiner flaschengrünen Samtjacke, dem senfgelben Hemd und dunkelbrauner Fliege, um ihre Taleraugen zu suchen zwischen all den Paaren die sich wiegten im Licht aus dem Proszenuim, um zu sehen wie sie tanzte am grossen Ball, in langer Robe entlang der Rampe schwebte, wie ein Engel, und dann verschwand hinter den Säulen aus Steropur, getragen von den furiosen Klängen von Verdis Musik. Auch an diesem Abend wartete er auf sie nach der Vorstellung beim Lüftungsschacht, auch an diesem Abend kam die Gruppe heraus, laut und aufgekratzt, doch diesmal war sie nicht dabei, und er fragte sich, was wohl geschehen war, wo sie bleibe und fühlte neue Hoffnung keimen. Und er wartete. Und die Kälte des eisigen Boden stieg durch seine dünnen Ledersohlen hindurch den Beinen entlang hinauf und breitete sich aus über seinen ganzen Körper. Aber er wartete. Zitternd, die Arme eng um sich geschlungen, mit den Händen an die Oberarme klatschend und mit den Zähnen klappernd.
Die Zuschauer hatten das Theater schon seit geraumer Zeit verlassen und die Musiker und die letzten Sänger waren beim Pförtner längst vorbeigegangen und hatten gute Nacht gewünscht, die Uhr der nahen Jesuitenkirche halb zwölf geschlagen, als sie endlich kam, an der Seite eines andern Mädchens aus dem Corps, schlendernd, schwatzend, die Schritte aus der Hüfte setzend und an ihm vorbei ging, ein weiteres Mal, ohne ihn zu beachten. Als sie auf seiner Höhe war, sprach er sie an, sagte, was er in endlosen Selbstgesprächen geübt hatte ihr zu sagen, und lud sie ein. Die beiden Frauen warfen sich rasche Blicke zu, die Freundin lächelte verständnisvoll, sagte etwas auf englisch, was Adrian nicht verstand und sie – das unbekannte Wesen, das ihn nicht mehr schlafen liess, das durch seine Träume ging und durch seine Gedanken – sagte zu, liess ihre Freundin ziehen, schaute ihr kurz nach, wie sie in die Bahnhofstraße einbog und verschwand und liess sich von Adrian ins Dézalay führen, wo er ihr einen Tee – a tea if you don`t mind – und sich selbst einen Grog bestellte.
Sie war ziemlich scheu, so als schäme sie sich der fremden Sprache, so als wolle sie ein Geheimnis für ihn bleiben, nickte freundlich wenn er sprach, lächelte ihn an, aus grossen, wenn auch müden wunderschönen Augen und hörte zu und verstand nur wenig, wie er später erst begriff. Immerhin erfuhr er, dass sie Denise Hopcroft hiess, ihr Vater Lehrer war an einer private School und dass sie aus Hastings in East Sussex stammte, im Süden Englands, wo die Bäume in den Himmel wachsen und das Gras der Weiden grüner grünt als anderswo. Kurz vor halb eins, als das Personal anfing, die leeren Stühle um sie herum aufzustuhlen und mit dem grossen Besen unter den Tischen kehrte, da zahlte er, schaute Denise zu, wie sie sich in ihre Schals wickelte und hielt ihr den Poncho, in den sie hineinschlof wie in eine Rüstung und ihren Körper versteckte unter einer Mauer von fussliger Wolle und zusammen gingen sie hinaus, am Theater vorbei, über den Reusssteg, auf die andere Seite des Flusses, über den Kornmarkt in die Furrengasse, wo sie vor einer Tür unter einer schummrigen Lampe, die dort schon seit mehr als hundert Jahren hing, stehen blieb und sagte "Thank you very much. It was nice to meet you! Hope to see you again, some time. By!"
Damit öffnete sie die Tür, schlängelte sich durch den schmalen Spalt und verschwand. Hope to see you again. Some time. Das hatte er verstanden, so weit war er in seinen schulischen Bemühungen, Englisch zu lernen schon gediehen, dass er das verstehen konnte und jetzt, da er wußte, dass sie nichts dagegen hatte, ihn wiederzusehen, jetzt, da er ihren Geruch wahrgenommen hatte, ihre Stimme vernommen, ihre Augen ihn angeschaut hatten und ihre Lippen zu ihm gesprochen, jetzt wurde seine Liebe zu ihr zur Bessenheit.
Sein Leben auf der Bank, wo er als Lehrling im Tresor tief unter der Erde bei künstlichem Licht und gefilterter Luft kleine Coupons aus grossen Bögen schneiden musste und Nummern aufschreiben und Bordereaux ausfüllen, war seine Hölle, in der er Stunde um Stunde für all seine Sünden, die vergangenen und die zukünftigen büsste. Er dachte an nichts anderes als an Denise, er dachte an keine Weihnachtsgeschenke, die er hätte besorgen müssen, an keine Aufgaben , die er zu lösen hatte für die Berufsschule, er sehnte sich nur nach ihrem Körper, den er sich vorzustellen suchte, Tag und Nacht, jede seiner Poren und den Duft ihrer Haut und die seidige Weichheit des Haares. Nach jeder ihrer Vorstellungen stand er bei der Pforte und wartete, wurde mit einem Lächeln begrüsst und aufgenommen in die Runde und mitgenommen, in die Lokale, in denen sie verkehrten, oder zu einer Kollegin nach Hause oder einem Musiker. Sie genoss seine harmlosen Zärtlichkeiten und sie entspannte sich dabei von den Anstrengungen ihres Tanzens. Anschliessend durfte er sie nach Hause begleiten, vor die grosse Tür aus Eichenholz an der Furrengasse und immer, Nacht für Nacht, ging er neben ihr her, den Arm in ihrem Poncho vegraben, immer mit der Hoffnung im Herzen und in den Lenden, mit ihr die steile Treppe zu ihrer Eineinhalbzimmer-Wohnung unter dem Dach mit Blick auf den Fluss und die Kapellbrücke, hinaufsteigen zu dürfen, um das grosse Geheimnis Frau endlich zu enträtseln. Doch Denise, freundlich aber bestimmt, lächelte sybillisch, hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und verschwand in der Dunkelheit des Treppenhauses.
Dann wurde es Heilig Abend. Lieblos hatte Adrian im letzten Augenblick noch die vergessenen Geschenke gekauft und unter den Baum gelegt. Wie immer, solang er sich zurückerinnern konnte, wurde,wenn es eindunkelte, Kaffee getrunken bei Kerzenlicht, und wie immer wurden die Lichter am Baum entfacht und wie immer las Vater von Reusser verhallten, aber mit pathetischem Tremolo in der Stimme: "Es begab sich aber in jenen Tagen, dass von Kaiser Augustus ein Befehl erging..."Aber Adrian hörte nicht zu. Seine Gedanken waren nicht bei der Familie in Bethlehem. Er dachte an das Mädchen aus Sussex, das jetzt alleine war, wie er vermutete, in der schmerzenden Einsamkeit ihrer Wohnung, unter einem Mistelzweig, der verloren an der Lampe hing. Langsam brannten die Kerzen bei den von Reussers und langsam vergingen die Stunden. Adrian wickelte die Geschenke aus dem Papier, ohne sie richtig wahrzunehmen, und dachte dabei nur an das eine Päckchen, das noch in seinem Zimmer lag, das einzige, an das er rechtzeitig gedacht und mit viel Liebe ausgesucht hatte.
Er hielt es nicht länger aus in der bürgerlichen Verlogenheit seiner Familie. Nach dem Essen schlich er sich davon und eilte durch die Altstadt mit wehendem Mantel und rasendem Puls, hinunter zur Furrengasse und klingelte. Endlos schienen die Sekunden die er wartete. Zweifel kamen auf, steigerten sich zur Selbstanklage und Verzweiflung. Was für ein Idiot er doch war! Er wußte es, sah es ganz deutlich wie sie in den Armen eines Anderen lag und sich trösten liess. Warum nur, fragte er sich, bin ich ein solcher Schwachkopf? Warum nur habe ich mich nicht einfach eingeschlichen in ihre Wohnung und sie genommen, wie es jetzt ein anderer tut, in dieser stillen, heiligen Nacht? Dann hörte er Schritte und wie der Schlüssel sich drehte im schmiedeeisernen Schloss und Denise stand vor ihm und lächelte ihn an mit wundervollem Lächeln. Ihr Haar fiel offen auf die Schultern und aus ihre Augen strahlte sie ihn voll Wärme an.
"Merry Christmas!"
sagte sie, küsste ihn, zum ersten Mal, auf den Mund, nahm ihn bei der Hand und führte ihn hinauf in ihre Wohnung, ging mit ihm den Weg, den er in seinen Träumen so oft gegangen war. Sie öffnete das Päckchen das er ihr gab, riss das Papier auf, von Neugier getrieben wie ein Kind, und stiess einen leisen Schrei des Entzückens aus, als sie das schwarze Negligé vor sich sah und es entfalltete und an sich hielt.
Sie zündete eine Kerze an und schenkte Sherry ein. Von einem Mistelzweig war nichts zu sehen, nur der Ast einer Fichte zwischen dem diese Kerze stand, lag auf dem kleinen Rattlantisch. Er hatte sich neben sie gesetzt und sie stiessen wortlos an. Dann küssten sie sich, zärtlich zuerst und vorsichtig, jeder nahm den Geruch des andern in sich auf, prüfend und wägend. Adrian wußte nicht, wieviel Zeit verstrichen war als Denise sich aus seinen Armen wand und hinüberging zu ihrer Plattensammlung mit Balletmusik – Tschaikowskji und Delibes vorwiegend, aber auch kühneres war dabei von Debussy und Saint-Saens und englisches von Sullivan und Elgar und einiges zum Träumen. Sie legte eine Platte auf. Dancing by candlelight. Mantovanis schmelzendes Vibrato ertönte, leise klirrend, während Denise hinter der Tür zum Badezimmer verschwand. Adrian schaute ihr nach, lehnte sich dann zurück, befangen plötzlich und unsicher geworden vor dem ihm Unbekannten das jetzt geschehen mochte. Und dann stand sie vor ihm, in ihrem neuen Negligé und Adrians atmete flacher und sein Herz schlug schneller, und er liess sich hochziehen von ihr. aus der Sicherheit seines Sessels. Sie legte ihre Arme und seinen Nacken. Schwerelos drehten sie über das Parkett in langsamem Dreivierteltakt von Charmaine, Fascinationund Ich tanze mit Dir in den Himmel hinein. Denise roch nach Make up, Amaraige de Givenchy und süsslichem Schweiss. Unter dem dünn gewobenen Stoff sah er ihre kleinen, festen Tänzerinnenbrüste, wie sie hüpften und sich verformten bei ihren Bewegungen aus dem Schultergürtel. Mit laszivem Biegen presste sie ihren Körper an den seinen, liess ihn jeden ihrer Knochen spüren, im drängednem Verlangen eins zu werden – wie ihre Schatten an der Wand über dem Bett mit der Patchworkdecke. Adrians Hände zitterten als sie unter die seidigen Falten drangen, sich der Wirbelsäule entlang tasteten, hinauf und hinunter bis zu den festen Backen. Mit trockenen Lippen küsste er ihren Nacken, die Augen, die Ohren. Im Geiste redete er sich gut zu, nahm all seinen Mut zusammen und streifte ihr die Träger von den fleischlosen Schultern und den Ellenbogen. Sie liess es geschehen, streckte ihre Arme dem Himmel entgegen, wiegend wie ein Röhricht im Wind und fordernd kreiste ihr Becken, als er den Hauch von Stoff über ihre Hüften rollte, im Dreivierteltakt, auf seine Knie sank, ihr den Bauch und die Schenkel küsste. Muskulöse Nackheit! Erregende Schönheit! Herbeigesehnt in seinen nassen Träumen. Er liess sich die Knöpfe öffnen, fühlte ihre langen, rotlackierten Nägel über seine Haut gleiten und weisse Spuren ziehen und spürte, wie Denise seinen Schwanz befreite aus der Enge der gesäumten Nähte. Sie sprang an ihm hoch, leicht und gelenkig, umschlang ihn wie eine Pyton und ihre sirrpenden Schreie erschreckten ihn, als er in ihre nasse Spalte drang, tanzend, immer noch tanzend im Dreivierteltakt. Ihr Kampf um die Lust, jede Nacht millionenfach gefochten auf der Welt, dauerte bis zum frühen Morgen. Dann hatten sie Erlösung gefunden und Ruhe von ihren so lange unerfüllten Wünschen und als der Weihnachtsmorgen heraufdämmerte, stellten sie sich unter die Dusche und seiften sich ein und spülten das Blut von sich und den Schweiss und das Sperma. Und wie neu geboren, als Mann und als Frau, tranken sie Kaffee und schauten hinaus in den stillen Morgen und auf den Fluss mit seinen über der Strömung tanzenden Nebeln.
"Mein Gott – Denise?"
Sie dreht sich zu ihm, überrascht und etwas verwirrt, so unerwartet angesprochen zu werden von einem Fremden, der ihren Namen kannte.Ihr Blick streift von seinen Ballyschuhen über den tadellos sitzenden Anzug hinauf zu seinem Gesicht, trifft, die Vergangenheit langsam erkennend, seine Augen und lächelt das nichtssagende Lächelnd der Verlegenheit.
"Oh – "
sagt sie und greift nach ihrer Handtasche, "Adrian. – Nett Dich zu sehen. Geht es Dir gut? – Was frage ich. Natürlich geht es Dir gut. Das sieht man."
Adrian erwidert nichts. Schaut sie nur an. Ihm fällt nichts sein, was er hätte sagen können. Ihr Lächeln erlischt und sie denkt zurück an ihre gemeinsame Zeit und sie fragt sich, ob es ihr heute besser ginge, wäre sie damals bei ihm geblieben und weiss doch, dass sie nicht hatte bleiben können, denn er war ihr zu jung, zu ungestüm und zu lächerlich in seinem Drängen nach Heirat. Er hatte keine Zukunft, er war noch ein Niemand, verborgen hinter dem undurchdringbaren Schleier der Jugend, während sie doch eine Tänzerin war, schön und begabt, auf dem Weg zu einer grösseren Bühne und weiter, immer weiter hinauf in Richtung Erfolg der vor ihr lag, wenn sie nur daran glaubte, und von dem sie heute weiss, dass sie ihn damals hätte gehen können.
Hinter seiner perfekten Fassade aus Eleganz, seiner weltmännischer Gelassenheit und seinem Charme – einem Charme allerdings der in den letzten Jahren brüchig geworden ist, nur hat sich noch niemand gefunden, der sich traute es ihm zu sagen – kämpfen seine Gefühle, wirbeln und pendeln zwischen Neugier, was aus der Frau geworden ist die vor ihm steht, und leisem Entsetzen über ihren dünn gewordenen Körper, über dieses Gesicht, das es so sehr geliebt hatte, und aus dem jetzt die Verzweiflung spricht, die Qual vergeblichen Bemühens. Aber die Augen, aus deren brauner Tiefe ihn das Mädchen von einst anschaut, sind noch immer wunderschön, wenn auch glanzloser geworden und resigniert.
"Was machst Du in Baden-Baden?", ist alles was ihm einfällt und ein längst vergessener Schmerz würgt in ihm hoch, überbrückt die Zeit und den Verfall und erinnert ihn an sein Leiden in jenem Frühsommer, als die Theatersaison zu Ende ging, und an seine Verzweiflung.
Oft noch hatten sie sich in ihrer kleinen Wohnung getroffen, hoch über der Fluss mit dem Pilatus vor dem Fenster, der sie beschützte in den guten Tagen und bedrohte in den schlechten, hatten sich geliebt und verzehrt im Streben nach vollkommener Vereinigung ihrer Leiber und ihrer Seelen und das Mädchen, selbst zur Frau geworden, hatte aus ihm einen Mann gemacht. Doch nach und nach fiel ihm auf, dass sie immer weniger Zeit für ihn hatte, immer häufiger über Rückenschmerzen klagte nach den Vorstellungen, ihre Tage immer länger dauerten. Und dann, Ende Mai, die letzten Premieren waren vorüber und die ersten Schauspieler abgereist, hatte Denise sich aufgelöst. wie zarte Nebel in der Septembersonne, war sie, plötzlich und unerwartet, zum Phantom geworden. Sie erschien nicht mehr an der Pförtnerloge, die Tür zu ihrer Wohnung blieb verriegelt, die Lichter erloschen und ihre Kolleginnen aus dem Corps de Ballett behandelten ihn wie Luft. Als Adrian von Reusser begriff, dass er sie verloren hatte, ging er in trostloser Einsamkeit all die Wege, die sie oft gegangen waren, suchte sie in den Lokalen die sie voll überschäumender Lebensfreude gemeinsam besucht hatten, ging über die Brücke, immer wieder, hin und zurück, hindurch zwischen fotografierenden Touristen, Ausschau haltend nach der Frau, ohne die zu leben er sich nicht vorstellen konnte.
Erst am Abend der letzten Aufführung der Saison hatte eines der Mädchen Mitleid mit der traurigen abgemagerten Gestalt, zu der er geworden war, die an der Hinterseite des Theaters stand, ohne Hoffnung, sich aber noch immer an diese Hoffnung klammerte wie ein Ertrinkender an ein Stück Treibholz in der Uferlosigkeit des Meeres – Claudine hiess sie – er wird den Namen dieser Nymphe nie vergessen – ging auf ihn zu und fragte ihn, mit unschuldigem Augenaufschlag, ob er noch immer auf Denise warte, ob er denn nicht gehört habe, dass sie aus dem Vertrag ausgestiegen sei, ihn nicht mehr habe erfüllen können, aus gesundheitlichen Gründen wie es heisse, ihre Wirbelsäule, er wisse schon, und mit dem Contrabassisten weggezogen sei, in irgendeine Stadt im Ruhrgebiet. Nein, er hatte es nicht gehört. Und wenn er es gehört hätte, er hätte es nicht geglaubt. Ihre Wirbelsäule! Das Lachen blieb ihm in der Kehle stecken. Ihre Wirbelsäule war so elastisch und biegsam wie eine Stahlfeder! Mit dem Bassisten! Ausgerechnet mit diesem farblosen Langweiler namens Zimmermann, ein lebendiger Leichnam mit schütterem Haar und zu grossen, abgetragenen Kleidern der nur für die Musik und ständig auf Pump lebte. Denise also hatte entschieden, hatte diesen Weg gewählt aus einer unendlichen Anzahl von Möglichkeiten, unbewusst und doch überzeugt, das Richtige zu tun für sich und ihre Karriere. Adrian von Reusser schlenderte davon an diesem Abend in die Leere hinein, auf einem Boden den er unter seinen Füssen nicht mehr spürte, weil Denise ihn weggezogen hatte, machte einen grossen Bogen um die Altstadt, um sich der quälenden Erinnerung zu entziehen und sehnte sich nach der wärmenden Sanftheit einer weiblichen Haut.
Ihre Blicke messen sich, krallen sich fest jeder im Andern, suchen in der glänzenden Iris nach dem, was sie einst geliebt hatten. Doch das Feuer ist erloschen aus ihren Augen – bei ihr der Resignation gewichen und bei ihm der ausdruckslosen Kälte. Adrian kommt es vor, als starrten sie sich schon seit Stunden an, unfähig sich zu lösen aus dem Sog gemeinsamer Erinnerung. Doch jetzt wendet Denise sich ab, dem Ausgang zu, und Adrian erkennt, dass dies Treffen ihrer Augen, ihr gegenseitiges Erkennen und die Sturzflut der Gefühle nur eine Sekunde war. Sie tritt hinaus auf den Platz und in die engen Straßen, in deren Schatten sich die Kühle senkt. Den wiegenden Schritt der Tänzin hat sie noch nicht verloren. Er geht neben ihr her, begierig mehr zu wissen über sie, endlich zu erfahren, warum sie ihn verlassen hatte vor dreissig Jahren, ihn allein gelassen mit den Qualen unerfüllter Liebe und ob sie wenigstens das Glück, von dem sie gemeinsam geträumt in ihren lustvollen Nächten, gefunden habe. Obwohl, gesteht er sich ein, sie nicht aussieht wie eine Frau, deren Leben Erfüllung fand. Und wie er so neben ihr geht, nimmt er überrascht zur Kenntnis, dass die Begierde in ihm wächst, mit ihr zu schlafen. Es ist nicht ihr verwelkender Körper, der ihn anzieht, es ist ein aus dem Dunkel auftauchendes Verlangen nach ihrer Seele, die er in der Vereinigung wieder zu finden hofft.
"Komm, lass uns Essen gehen! Ich lade Dich ein. Ich nehem an, Du kennst ein hübsches Lokal, wo wir ungestört sind, denn ich brenne darauf, zu erfahren, wie es Dir ergangen ist in all den Jahren!"
Denise bleibt stehen und schaut ihn an.
"Du willst wirklich wissen, wie es mir ergangen ist?"
Der bittere Ton, in dem sie diese Frage stellt, überrascht ihn. Sie erscheint ihm nicht ungewöhnlich, seine Frage, eher selbstverständlich.
"Aber sicher! Wir hatten doch eine schöne Zeit zusammen. Für mich ist es, als ob ein Film gerissen wäre, den ich jetzt zusammenfügen möchte."
Denise lächelt nicht, obwohl er ein Lächeln der Zustimmung, des Einverständnisses erwartet hat. Ein Lächeln, das hätte besagen können – jetzt nach dem sich unsere Wege wieder kreuzen, legen wir die Karten auf den Tisch, um zu prüfen, wer die besseren gezogen hat.
"Dann komm zu mir! Ich lade Dich ein. Dann siehst Du, wie es mir ergangen ist!"
Es stellt sich heraus, dass sie kein Auto hat, hinter dem er hätte herfahren können, dass dies auch gar nicht nötig ist, weil sie eine Wohnung hat, mitten in der Altstadt. Adrian von Reusser stellt sich dabei eine Wohnung vor aus der Gründerzeit, mit hohen Decken und Fenstern, Parkettböden in den weiten Räumen und einem breiten Treppenhaus in das farbiges Licht durch die bemalten Fenster fällt. Eine Wohnung nicht unähnlich der seinen, bevor er sie aufgegeben hatte und in die Villa etwas ausserhalb der Stadt gezogen war. Denise führt ihn durch die Lange Straße, an Mc Donald vorbei und an Läden für Kunden mit viel Geld und mit wenig Zeit, biegt rechts ab in die steile, gepflasterte Hirschenstra?e. Sie steigen an einer Buchbinderei vorbei, einem Goldschmiedatelier und einer Boutique für ausgefallene Wünsche. Es ist still in der Gasse. Sie gehen und schweigen und Adrian von Reusser schaut sich um nach den Jugenstilhäusern und kann keine finden. Es sind kleine Rokokohäuser, pitoresk und verbaut, mit Rissen in den Fassaden und Eternitdächern aus der Nachkriegszeit. Vor einer Tür aus Stahlblech bleibt Denise stehen, sucht nach ihrem Schlüssel, öffnet endlich und geht voraus, in das enge Treppenhaus mit den abgetretenen Stufen. Vom Keller her riecht es nach Schimmel und Feuchtigkeit. Und Moder.
Adrian von Reusser ist unangenehm betroffen, als ihm klar wird, dass er in eine einfache Dachwohnung geführt wird. Schon wieder. Wie damals. Und er fragt sich, wie das möglich sei, ein Leben lang zu wirken, als Frau, als Tänzerin , nach Ruhm zu streben nach Wohlstand und Liebe vielleicht um dann endlich doch wieder so zu enden, wie man begonnen hat – mittellos und einsam. An diesem Ende jedoch ohne Illusionen. Er schaut ihr zu, wie sie die Wohnungstür öffnet und ihn hereinbittet, ihre Tasche auf eine kleine Kommode legt. Er schaut sich um, rasch und unauffällig und er weiss in diesem Augenblick, dass sie ihre Seele umsonst geopfert und ihren Körper umsonst geschunden hat.
"Nimm Platz", sagt sie und deutet dabei auf die Sitzgruppe mit einem Sofa und zwei Sesseln, überzogen mit buntem Stoff, und einem Schaukelstuhl, auf dem ein heruntergerutschtes Schaffell liegt. Der Raum wirkt behaglich. Aber an den Wänden hängen Batiktücher und einige angegilbte Kunstdrucke statt Bilder in Rahmen. Alles wirkt spontan, prunklos und handgemacht, geprägt von einer weiblichen Hand, und Adrian wundert sich, wo der Mann geblieben sein mag, um dessentwillen sie ihn verlassen hatte. Manuskripte liegen auf dem Boden herum und gestapelte Bücher neben den Regalen aus Holz – do it your self – ein voller Aschenbecher und einige nicht gespülte Gläser auf der Anrichte. Adrian setzt sich, schlägt die Beine übereinander um Lässigkeit vorzutäuschen und und fühlt sich doch unbehaglich dabei – fühlt sich zurückversetzt in eine Zeit und eine Welt, von der er bis zu diesem Augenblick glaubte, sie weit hinter sich gelassen zu haben, die ihm fremd geworden ist, und über deren Reize er heute nur noch lächeln kann. Jetzt, da er zurückblickt auf ihren gemeinsamen Start, findet er ganz entschieden, dass er den richtigen Weg gewählt hat.
Sie schweigen noch immer. Er aus Beklommenheit und sie, weil sie sich fragt, wie sie dazu komme, diesen fremd gewordenen Mann in ihre Wohnung einzuladen, wo sie doch genau weiss, wie es enden wird, ob ihr Verlangen nach Zärtlichkeit denn schon so stark geworden sei, dass sie sich einlasse mit jemand, der durch nichts legitimiert ist als durch eine dreissig Jahre zurückliegende Liebe und dessen Ausstrahlung sie ängstig und dessen Anzug und Schuhe und Hemd und Krawatte für all das steht, was sie so abgrundtief verachtet. Denise bringt zwei Gläser, kleine, mit kunstvoll geschliffenem Glas und rosenumrankten Stielen aus Silber und stellt sie, zusammen mit einer Flasche Cointreau auf das Tischchen zwischen ihnen. Adrain von Reusser staunt – solche Gläser hat er bei ihr nicht erwartet, die hätten eher bei ihm stehen können – und er staunt über den Cointreau und über ihre Art, ihm dieses, wie er es in seinen Gedanken nennt, Weibergesöff, anzubieten, ohne ihn zu fragen, wonach denn seine Gelüste stünden. Die Idee, dass sie vielleicht nichts anderes mehr im HHH ause hat das sie ihm anzubieten wagt, denn Tee und Kaffee sind wohl kaum die richtigen Getränke für einen Aperitif, diese Idee liegt jenseits seiner Erfahrungen. Jetzt, nachdem sie in ihrem Vorratsschrank noch ein Säckchen mit gerösteten Erdnüssen aus Georgia gefunden, auf einen Unterteller geleert und mitgebracht hat, setzt sie sich ihm gegenüber, zündet sich eine Zigarette an aus einem Päckchen, das sie aus der tiefen Tasche ihres weiten Rockes holte, rückt das Kissen zurecht hinter ihrem Rücken, das ihr Halt geben soll und bläst den Rauch genussvoll gegen die niedrige Decke über ihnen. Endlich setzt er zu der Frage an, auf die sie wartet, seit sich ihre Augen in der Buchhandlung begegnet sind, und auf deren Antwort er ein Recht zu haben glaubt.
"Wir haben uns doch geliebt damals, Denise. Warum hast Du mich sitzen lassen"
- sorgfälltig wägt er die Worte, um ihr nicht zu zeigen, wie sehr er damals gelitten hat, dass er aber nicht der Mann ist, der, auch nach dreissig Jahren nicht, einfach zur Tagesordnung übergehen kann, nach allem was geschen ist –
"abgelegt, wie einen alten Hut, mich alleingelassen in einer Flut von Gefühlen, mit denen es nicht leicht war fertig zu werden. Ich habe nie verstanden, bis zum heutigen Tag nicht, wie Du mir das hast antun können!"
"Geliebt? – Antun können? – Was sind das für Worte, Adrian? Ich habe Dich nicht geliebt. Nie. Aber ich war verliebt in Dich, in Deinen jungen Körper, stark und vital, in Deine feurigen Phantasien und Deine Verwegenheit. Aber Liebe? Nein. Liebe war es nicht. Ein Leben gemeinsam mit Dir habe ich mir nie vorstellen können. Dazu warst Du doch zu oberflächlich, zu unstet und – vor allem – zu egoistisch. Und darum auch habe ich Dich verlassen. Ich habe Dich nicht weggeschmissen wie einen alten Hut, ich habe mich wehren müssen vor Deinen Ansprüchen und vor Deiner Interesselosigkeit mir gegenüber für alles, was ausserhalb des Bettes geschah!"
Adrian von Reusser spürt, wie sein Solarplexus sich zusammenzieht, wie das Adrinalin die die Adern schiesst und seine Nackenmuskeln sich spannen.
"Interesselosigkeit?" –
Seine Stimme ist lauter als er beabsichtigt und seine Empörung tiefer als er es gewohnt ist.
"Wie kannst Du soetwas sagen? Ich habe nur für Dich gelebt und es verging keine Stunde am Tag, in der ich nicht an Dich gedacht hätte! Und unsere Nächte?! – Habe ich mich nicht immer darum bemüht, dass auch Du auf Deine Kosten kamst? Du hast immer gesagt, ich sei ein wundervoller Liebehaber!"
"Ja, das habe ich Adrian".
Ihre Stimme ist leise und ausdruckslos und der englishe Akzent ist stärker geworden, in den letzten Minuten.
"Aber ich habe Dir auch gesagt, dass Du rücksichtslos bist. Du hast meine Rückenschmerzen nie zur Kenntnis genommen. Und wenn, dann hast Du darüber gelacht und gesagt ich solle mir ein neues Bett kaufen! Und als das Tanzen mir zur Qual wurde und ich oft weinte, morgens, wenn Du noch schliefst, aus Angst vor den Schmerzen des kommenden Tages, und Du es dann doch bemerktest hin und wieder sagtest Du – ich solle mich entspannen, mich nicht so gehen lassen. Es sei so unenglisch! Du hast mir kein Wort geglaubt, in all den Wochen, mich nie ernst genommen! Und das, Adrian, hat mir mehr weh getan als die Schmerzen in der Wirbelsäule. Darum habe ich Dich verlassen. Nicht weil Du kein guter Liebhaber gewesen wärst. "
Sie trank ihr Glas mit einem Schluck leer und füllte nach.
Adrian versucht ruhig zu bleiben, das leichte Zittern in seiner Stimme, hervorgerufen aus einer Mischung von Beleidigtsein und gekränkter Männlichkeit, nimmt das Glas, erhebt es mit süffisantem Lächeln gegen Denis – auf uns – denkt er, betrachtet wie sich das letzte Tageslicht in der dunkelbraunen Flüssigkeit im Glas brechen und sagt:
"Dann hattest Du mich die ganze Zeit belogen. Eigenartig. Du hast gesagt, dass Du mich liebst. Hast es gekeucht, geflüstert, gestöhnt, gewimmert und ich habe es Dir geglaubt!"
"Was weiss ein Mädchen, eine junge Frau, vom Unterschied zwischen Liebe und Verliebtsein! Ja, ich habe Dir gesagt, dass ich Dich liebe. Aber ich wußte es nicht besser! Was Liebe ist, habe ich erst erfahren, als ich Oskar Zimmermann näher kennenlernte, Du weisst schon, den Bassisten."
„Du hast mich schon während unserer Zeit mit dem Bassiten betrogen?! Du gütiger Himmel, wo hast Du denn die Zeit hergenommen?"
"Nein Adrian, ich habe Dich nicht betrogen! Dazu hättest Du mir gar keine Gelegenheit gelassen, auch wenn ich gewollt hätte!" Denise drückt den Rest ihrer Zigarette in einem Aschenbecher mit handbemalten Blümchen aus und nimmt den nächsten Schluck, während Adrian das Glas noch immer in der Hand hält und es sanft schwenkt ohne daraus zu trinken.
"Aber getroffen haben wir uns dann und wann, im Konversationszimmer, in Pausen während den Proben, oder in der Kantine bei Vorstellungen. Das hast Du nie erfahren. Mit ihm konnte man so wunderbar reden. Er hat zugehört und er hat verstanden! Ja, Adrian. Während Du mit mir schlafen wolltest, hat er mir zugehört, Mitleid empfunden und sich bei der Direktion dafür eingesetzt, dass ich aus dem Vertrag entlassen wurde. Ich habe mich bei ihm versteckt die letzten Tage vor unserer Abreise. Vor Dir und Deinen Ansprüchen. Und weil ich nicht nach England zurück wollte und an Tanzen nicht mehr zu denken war, bin ich mit ihm gezogen."
"Warum hast Du mir das alles nicht gesagt? Ich hätte Dich auf Händen getragen, hätte Dir ein Leben bieten können, wovon die meisten Mädchen nur träumen!"
"Ich habe es Dir gesagt! Aber Du hast mir nicht geglaubt! Du hast mir keineWahl gelassen! Darum bin ich mit ihm gezogen. Während der Sommermonate spielte er hier in Baden Baden. Im Kurorchester. Und ob Du es glaubst oder nicht, ich habe bis zu dem Tag, an dem wir hier unsere gemeinsame kleine Wohnung bezogen, nicht ein einziges Mal mit ihm geschlafen. Er hat den Menschen in mir gesucht und nicht die Frau. Er war soetwas wie ein Vater zu mir. Aber als wir dann miteinander geschlafen haben – ich habe ihn verführt, mit Deinem Negligé – war es wunderbar. So ganz anders als mit Dir. Dich habe ich ertragen – ihn habe ich nicht mehr missen wollen. Da war kein Kampf. Da war kein Besitzen müssen, keine Angst vor dem Versagen. Da war nur Zärtlichkeit. Ein sanftes hineingleiten in die Extase. Die Zeit ist dann still gestanden und die Liebe fassbar geworden in Form von einem grenzelosen Vertrauen."
Adrian setzt das Glas an und trinkt die klebrige Süsse mit geschlossenen Augen. Ihn schaudert und was er sagt, klingt höhnisch.
"Du scheinst Dir ja einen Engel angelacht zu haben. Einen weichen, schwammigen, profillosen Engel mit einem goldigen Schwanz!"
"Er war nicht profilos. Er war stark. Er war so stark, dass er es nach aussen hin nicht zeigen musste. Und er war die Güte in Person."
"Dann scheinst Du Dein Glück ja gefunden zu haben, nach dem die ganze Welt jagt und rennt!"
"Oh ja, wir waren glücklich. Wir ergänzten uns auf wunderbare Weise. Er war so lebensfremd, aber er war da, als ich nach der Rückenoperation aufwachte aus der Narkose, und ich war seine Fee. Obwohl der Traum vom Tanzen ausgeträumt war, und ich nicht wusste, was ich tun sollte, war ich glücklich in diesen Tagen, weil er keine Angst aufkommen liess und soviel Zuversicht ausstrahlte!"
Wieder giesst sie nach, will auch ihm einschenken, doch er hält die Hand über das Glas.
"Warum eigentlich sprichst Du immer in der Vergangenheit von ihm?"
"Er bekam ein Angebot vom Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks. So hatte sich Eines zum Andern gefügt. Oskar hatte nie den Ehrgeiz Karriere zu machen, er hatte nur den Ehrgeiz, ein guter Musiker zu sein. Kubilik hatte ihn gehört in der Sinfonie von Ditterdorf und ihn zu einem zu einem Vorspielen eingeladen. Und so ist er hingefahren, nach München, und er wußte, dass er mit dem Herzen spielen musste, wenn er wollte, dass die andern im zuhören und Oskar hatte ein grosses Herz aber leider auch ein krankes. Er starb ungefähr eine Woche nachdem ihm der Vertrag aus München zugestellt worden war, an einem Stromschlag, als er unsere Ständerlampe zu reparieren versuchte."
Denise steht auf mit ausdrucklosem Gesicht und vermeidet es, Adrian in die Augen zu blicken.
"Ich werde uns jetzt etwas zu Essen machen", sagt sie und schlängelt sich zwischen dem Tischchen, dem Sessel und den Staplen von Büchern am Boden vorbei zur Küchennische.
"Hast Du Kinder?"
fragt Andrian sie in ihren Rücken hinein.
"Nein", sagt Denise, ohne sich umzudrehen, "der Arzt meinte, ich sei zu eng gebaut – ich könne ein Kinder nur mit einem Kaiserschnitt- zur Welt bringen. Das aber wollte ich nicht. Dann, als ich doch ein Kind wollte, und wir beschlossen zu heiraten – in München – da war es spät."
Ihre Stimme ist leise geworden und jetzt, da sie anfängt mit Töpfen zu hantieren und Geschirr, kann er sie kaum mehr verstehen.
"Kann ich Dir etwas helfen?"
fragt er, mehr als Anstand als aus Überzeugung, denn hätte sie ja gesagt, er hätte eine erschreckend hilflose Figur abgegeben. Er steht auf, tritt hinter sie, hebt ihren Pferdeschwanz hoch und haucht ihr einen Kuss auf den Nacken.
"Du?!"
Sie lacht kurz auf, das erste Mal seit sie zusammen sind, über soviel heuchlerische Selbstverleumdung.
"Du siehst nicht aus wie ein Mann der in der Küche hilft!"
Adrian sehnt sich nach Stärkerem zu trinken, geht an ihr vorbei, zurück ins Wohnzimmer und lässt seinen Blick über die Regale schweifen auf der Suche nach einem Kästchen oder Schränkchen, das eine Bar hätte sein können. Doch er findet nichts dergleichen. Er findet nur Bücher mit einem dicken Staubfilm bedeckt, Schachteln mit Räucherstäbchen, Kerzen und Dosen, wahllos durcheinander gestapelt, Körbe mit Wollknäueln und Stricksachen, angefangen aber nie zu Ende gebracht, eine angerissene Stange Zigaretten aber keine Flaschen, keine grossen jedenfalls, dafür umso mehr kleine, leere, halbgeleerte und noch nicht angebrauchte, gefüllt mit Klosterfrauen Melissengeist und, wie ihm erst jetzt auffällt, keine Fotografien, nicht an den Wänden, nicht in Stehrahmen – nichts das an die Vergangnenheit erinnert. Er macht das halb geöffnete Fenster ganz auf, setzt sich auf das Fensterbrett und schaut hinüber zu Denise, betrachtet ihre Figur, die sich über die Anrichte beugt, versucht sich an die Details ihrer langen Beine unter dem Rock zu erinnern und an ihre Brüste hinter der Bluse, die ihn damals durch ihre Mädchenhaftigkeit schon so erregt hatten, und er schaut auf ihre schlanken Hände, dünn und von Adern durchwirkt, die das Gemüse rüsten und die Zwiebeln schneiden. Gemüse denkt er, warum kriege ich Gemüse, wenn ich von Crevettencoctail und kalter Suppe träume?
"Was machst Du eigentlich? Ich meine, wovon lebst Du? Hier, in Baden Baden. Was, um Gotteswillen, macht man in Baden Baden?"
Von der Straße her steigt der Lärm feierabendlicher Geschäftigkeit zu ihnen herauf und bricht sich an den nahen Fassaden der gegenüberstehenden Häuser.
"Ich bin Souffleuse", sagt Denise, ohne die Arbeit zu unterbrechen, "und ich bin froh, dass mir das geblieben ist, at least".
"Nichts mehr mit Tanzen?"
"Tanzen? Stop speaking about dancing! I can`t stand it!"
Sie schiebt die Auflaufform mit dem Gemüsegratin in das Backrohr und schlägt die Ofentür zu, dass das Geschirr auf der Anrichte klirrt. Die Hände an der Schürze trockenreibend, kommt sie auf ihn zu, stellt sich neben ihn ans Fenster und schaut hinaus, sehnsüchtig, wie eine Gefangene hinter unsichtbaren Gitterstäben.
"I tried. I tried hard – oh, sorry, ich tanzte beim Fernsehballett – zwei Monate lang. Aber es ging nicht. Mein Körper machte nicht mehr mit."
Er dreht sich hin zu ihr und schliesst sie in seine Arme. Aber es ist nicht sein Bedürnis sie zu trösten, auch nicht ein Verlangen nach Zärtlichkeit, es ist die günstige Gelegenheit des Spielers, sein Spiel zu beginnen. Sie lässt es mit sich geschehen. Sie ist nicht einmal überrascht das er das tut, aber überrrascht, dass sie sich nicht wehrt, und dass sie sich geborgen fühlt in der Wärme seiner Fitnesscenter gestärkten Arme. Sie ist sogar stolz in ihrer weiblichen Seele, dass er sie noch immer zu begehren scheint. Seine Finger gleiten ihrer Wirbelsäule entlang. Sie weiss was kommen wird. Sie hat in ihrem Leben mit nur zwei Männern geschlafen. Doch sie hat gelernt, dass Männer nie der Zärtlichkeit wegen zärtlich sind. Sanft aber bestimmt entwindet sie sich seinen Armen, wirft ihm einen kurzen Blick zu, entschuldigend fast, und geht an ihm vorbei, zurück in die Küche. Auf dem benachbarten Dachgiebel jubiliert eine Amsel in den Abend. Denise atmet einmal tief und erleichtert durch. Die Vorstellung, dass er sie jetzt ausziehen könnte, während im Ofen der Gratin bruzzelt, sich auf sie legen könnte, so schnell und lieblos zwischen Aperitif und Hauptgang, ist ihr zuwider und der Gedanke, dass sein Schweif in ihre ausgetrocknete Spalte dringen könnte, drängend und fordernd, macht ihr Angst. Alles ist schon so lange her und ihre Liebe verschüttet vom Sand zerbrochener Hoffnung.
Adrian von Reusser setzt sich auf einen der Stühle am kleinen Tisch vor dem Sofa, dem einzigen Tisch in diesem einzigen Raum, schlägt die Beine übereinader, im Bewusstsein, dass der Abend noch lange dauern und dass er die Katze und sie die Maus sein wird und blättert in einem Bildband über Harlekine im Laufe der Jahrhunderte, den er vom Boden hochgehoben hat. Denise schneidet Brot und legt Teller hin und Besteck und, zu Andrians grosser Überraschung, Weingläser und eine Flasche Kaiserstuhler Riesling die sie, was weiss er woher gezaubert hat, und den er nicht mag, weil er nicht teuer genug ist und nicht aus Frankreich stammt.
Während sie nach dem Essen den Kaffee trinken, den Denise in schwarzen Moccatässchen zusammen mit schon etwas trockenen Keksen aus einer Blechdose serviert hat, schägt Adrian vor ins Casino zu gehen. Sie habe nichts anzuziehen, entgegnet Denise und im Übrigen spiele sie nicht. Aber auf einen Spaziergang habe sie Lust, an so einem schönen Juniabend, und sie könnten ein Eis essen, draussen, irgendwo unter Leuten.
"Eis essen?!"
Adrian schaut sie ungläubig an.
"Wofür hälst Du mich? Führe mich in eine Bar und ich bin Dein Mann! Ich habe in Baden Baden nicht angehalten um unter Bäumen zu wandeln und Eis zu lutschen! "
"Sondern?"
"Um mein Glück im Spiel zufinden – oder"
Adrian erhebt sich aus seinem Stuhl, geht langsam auf das Sofa zu, auf dem Denise Platz genommen hat, ohne sie aus den Augen zu lassen, bleibt, sie überlegen musternd, hinter ihr stehen und lächelt auf sie herab.
"Oder?"
fragt sie und lächelt zurück.
"In der Liebe", sagt er, beugt sich vornüber, presst seinen Mund auf den ihren, plötzlich und unerwartet, fährt mit den Händen in den sommerlichen Ausschnitt ihrer Bluse und greift ihre Brüste, sucht mit kreisenden Fingern die Nippel.
"Don`t Adrian! Leave me alone!"
japst sie, sich windend und Befreiung suchend. Der oberste Knopf reisst auf, eröffnet ihm den Blick auf ihr weisses Fleisch. Das Blut in seinem Körper zieht sich aus Kopf und Herz zurück und schiesst in seine Lenden. Er lässt ab von ihrem Mund, küsst ihr den Hals, die Augen, fährt mit der Zunge in ihr Ohr, haucht heisse Luft hinein und Worte die sie nicht versteht, reist ihr die Bluse jetzt in Fetzten, streift den Stoff von ihren Schultern, sie wehrt sich, strampelt mit den Beinen, er hebt sie hoch mit seinem linken Arm über ihren Brüsten, sie ist so zierlich und so leicht, öffnet mit der Rechten den Knoten über ihrer Taille und der Rock gleitet, durch ihr Strampeln nur schwach gebremst zu Boden und auch der Slip den er zerreist, mit einem einzigen festen Griff, öffnet seine Hose, stemmt ihr Beine über die Sofalehne, lässt ihren Oberkörper nach rückwärtsfallen, wie ein Mädchen seine Puppe in der Hüfte knicken lässt, hört nicht ihr tonloses Jammern, sieht nicht ihre panisch geöffnet Augen die ins Leere starren, sieht nur die Brüste, die beim Aufprall munter hüpfen und das rosa Fleisch ihrer Vulva das ihm entgegenklafft und die Kaffeesahne in die er seine Finger taucht um sie zu netzten, spürt nicht ihr Herz, das Aussetzt für Sekunden aus Pein und Scham, spürt nur sein Verlangen und ihre Enge als er in sie einbricht wie ein Meissel in den Stein, ahnt nicht, dass ihr schwarz vor Augen wird vom Blut dass in dieser Stellung in ihren Torso wallt, er ahnt nur, dass es schnell vorüber geht und vielleicht auch, ganz tief innen, dass er sie büssen lässt, weil sie ihn leiden liess, vor dreissig Jahren, und für das Alleinsein mit dem Erfolg, seinem Geld und den schlaflosen Nächten, und er stösst zu, immer schneller, immer heftiger, Wut vereinigt sich mit Lust und Schmerz mit Triumph und er spritzt sie voll und lässt nicht ab und reisst sie hoch und geilt sich auf von neuem an dem willenslosen Körper und die Welt verschwimmt und schreit und versinkt in bodenlose Leere. Endlich lässt er ab, zieht seinen geröteten noch tropfenden Schwanz aus ihr und lässt sie rückwärts auf das Sofa gleiten, fährt sich mit dem Stoff ihrer zerfetzten Bluse zwischen seine Beine und wischt sich trocken, betrachtet ihre Nackheit wie eine Trophäe, und bemerkt wie Blut und Sperma aus ihrer Spalte fliessen, zieht seine Hose hoch, die Krawatte zurecht und die zum Essen abgelegte Jacke an und denkt dabei Ich hätte sie doch in ein Hotel führen sollen. Dort wäre wenigstens das Bett anständig breit gewesen. Denise liegt noch immer da, mit geschlossenen Augen und bewegungslos, den linken Arm zur Seite ausgestreckt, den rechten angewinkelt, den linken Busen halb verdeckend und die roten Flecke, die Beine geöffnet als warte sie auf ihn. Adrian entnimmt seinem Seidenfutter einen Kamm, fährt sich damit durch das schweissnasse Haar, steckt den Kamm wieder ein und stösst dabei an seine Brieftasche. Da fällt ihm ein, dass Denise als Souffleuse wohl nicht viel verdient, und dass sie Auslagen hatte, heut Abend, Gemüse, Brot und Wein. Vom Kaffee und den Keksen ganz zu schweigen. Er nimmt einen Check und seinen Füllfederhalter und setzt ein: Euro 500.- und: an Überbringer und Ort und Datum und legt das Stück Papier auf den Tisch, zwischen die Kaffeetassen und die Keksdose. Dann geht er hinaus und zieht die Tür hinter sich ins Schloss. Eine leichte Brise weht von den Höhen und umspielt seine Stirn als er aus auf die Straße tritt und es ist dunkel geworden im Tal des Rheins als die Scheinwerfer seines Jaguars den Weg nach Süden suchen.