Читать книгу Laila - Die Farben der Klänge & Verfluchte Liebe - Maxi Hill - Страница 4

Die Farbe Blau

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Ich, Matthias Braun, schreibe dieses Buch für Laila. Bei den ersten zwanzig Seiten würde sie erröten. Sie würde jede Zeile abscheulich finden. Sie würde mich abscheulich finden. Verzeih mir, Laila.

Die ganze Welt begann mit einem Urknall. Auch ich will bei der Eruption in meinem Wesen beginnen, will meine Verdorbenheit nicht beschönigen. Natürlich könnte ich sie auch in kleinen Tröpfchen untermogeln. Doch sind nicht viele kleine Tropfen auch ein tosendes Meer? Sind nicht viele kleine Bosheiten eine große Boshaftigkeit? Ich bereue. Aber ich schwöre, die Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit.

Meine Mutter verteidigte mich oft vor meinem Vater: Wer erfolgreich sein will, müsse pausenlos seine Übernatur zur Schau stellen. Ich besaß nur eine Übernatur. Die Verkommenheit. Die Entartung der Seele. Die Gier nach Sex. Was wusste ich über Schuld, was über Unschuld? Unschuld bezog ich allenfalls auf den Körper einer unberührten Frau – also war das Einlassen auf die Unschuld zutiefst abenteuerlich. Schuld war etwas, was nur die anderen betraf - und diese Meinung teilte ich mit den meisten Menschen. Von der Geschlagenheit durch Schuld ahnte ich nichts. Von wahrer Liebe wusste ich nichts. Ich gehörte dieser Clique an, dieser Bonobo-Gemeinschaft, von der sich unser Freund, der Kulturjournalist Sigmund Waas, an diesem denkwürdigen Tag als erster abwandte. Denkwürdig war der Tag dennoch nur, weil Laila in mein Leben trat.

Sigmund war nicht zu überzeugen. Nicht einmal unser Advokat in spe, Ingo Barthels, konnte es mit seinen Sprüchen: »Treue funktioniert nur bis zum vierten Jahr. Maximal. Das sagt die neueste Scheidungs-Statistik, und die ist untrüglich. Und überhaupt: Die fleischlichen Laster toben auch vor und hinter den Kirchenmauern.«

Ingo musste so etwas wissen, auch wenn sein unbenutzter Talar noch den Geruch des Färbebottichs trug. »Der Schöpfer hat die animalischen Triebe in uns nicht unterbunden. Im Gegenteil - er hat sie gefördert. In der Natur befähigt Untreue zum sichersten Blick auf frisches genetisches Material. Treue ist die Erfindung des Abendlandes. Gottes Sohn selbst ist in Wahrheit ein Produkt der Untreue.«

Wenn ich ihn richtig verstand, kam es vor Gott und der Welt auf die Sichtweise an, um als unschuldig zu gelten.

Nun ist es ein schweres Los, der Sohn eines Apostels sozialer Gerechtigkeit und Jüngers Äskulaps zu sein. Andererseits ein angenehmer Trost, meinen Vater für all meine Sünden schuldig zu befinden. Übung macht den Meister, das hatte er mir viele Jahre gepredigt. Nur meine Promiskuität, die nichts anderes als unermüdliche Übung war, verurteilte er mit nervigen Standpauken über Verantwortung, die ich erst verstehen würde, wenn ich einst eigene Kinder hätte.

Ich hasste Kinder; sogar mich selbst, als ich noch eines war. Kinder rauben ihren Vätern den Schlaf und Müttern die Libido. Es gibt keinen Beweis, dass Kinder ein Produkt der Liebe sind? Ein Rückstand sind sie. Ein Kopulationsrückstand. Für Kopulation ist Liebe nicht nötig, auch wenn die halbe Menschheit es Liebe machen nennt. Für mich war Liebemachen der genialste Spaß meines Lebens. Eine andere Erfahrung war mir fremd. Die kam erst viel später. Mit Laila. Aber schön der Reihe nach …

Dieser Tag wurde - was ich nicht voraussehen konnte - der wichtigste meines Lebens, wenn ich meine Geburt mal ausnehmen darf. (Sogar meine Zeugung schien unwichtiger als meine Geburt, es hätte noch so viel dazwischen kommen können. Ich weiß jetzt, wovon ich spreche, damals wusste ich es nicht. Weshalb ich bis dahin den Paarungsakt für das Wichtigste hielt.)

In unserer Stammkneipe «Harmonika» ging es an diesem Samstag zu, wie es immer zuging. Unsere Clique traf sich, in der es - wie die Bonobos - jeder mit jedem trieb. Nur Lizzy war theoretisch außen vor. An ihr hatte Leo sein Vorrecht vergoldet. Lizzy erfüllte alle Merkmale der modernen Ikonographie von Schönheit. Ich liebte lange Beine und dralle Busen und ich bevorzugte Blondinen. Immerhin war die helle Freude angenehmer als der graue Alltag. Auf unserem zufällig gemeinsamen Weg verfiel ich Lizzys handfestem Hilfeschrei, weil Leo im Ring stand. Und wenn er dann komme, sei er ständig fix und fertig.

Ich spürte, wie alles in mir den Aufstand probte und ich wäre ein schlechter Freund, hätte ich Lizzy nicht gegeben, was sie so flehentlich einforderte. Sofort. In der Clique musste es ja keiner wissen.

Als wir verspätet in der «Harmonika» ankamen, waren alle anderen schon da. Adi, Ingo, Sigi, Jupp, Cora, Stella, Conny. Es war aus zwei Gründen ein denkwürdiger Samstag. Zum einen, weil Sigmund Waas beschlossen hatte, der Clique endgültig den Rücken zu kehren. Zum anderen, weil ihm dafür ein seltsamer Gast den Anlass gab.

Meine Gedanken rotierten noch, mit wem ich die Nacht verbringen würde, als eine fremde Frau zur Tür herein trat. Nicht nur ihr Haar, das schwer und dunkel an ihr herab fiel, verlieh ihr einen Hauch von Exotik. Ihre Haut erinnerte an Muskat und aus den schwarzen Augen unter den dichten aber wohlgezeichneten Brauen blitzten winzige helle Punkte, als hätte sie soeben noch geweint. In Wahrheit lächelte sie scheu und winkte Lizzy zu, die mit abfallenden Mundwinkeln behäbig von ihrem Barhocker rutschte und zur Tür lief, wo die Fremde artig stehen geblieben war. Erst als Lizzy ohne Eile ihren halbleeren Drink zu Ende lutschte, erfuhren wir, dass Leo die Fremde gebeten hatte, Lizzy am Abend abzuholen.

Alles feixte hämisch. Ich war in diesem Moment stolz auf mich und auf mein Leben, das nur mir gehörte. Ich hatte niemandem Rechenschaft abzulegen, was ich tat, wann ich nach Hause ging oder auf wen ich gerade Lust verspürte. Nein. Niemals wollte ich irgendein Versprechen abgeben und schon gar nicht heiraten. Die Welt war sowieso überbevölkert.

Ich hörte nicht, was Ingo in seinem Delirium zu der Fremden von sich gab, sah aber, dass ihr seine Worte wie auch unsere Kneipe nicht behagten. Ihre Augen verengten sich, die Mundwinkel zuckten, doch das schien Ingo gar nicht zu bemerken. Mit ruhiger, klarer Stimme sagte sie:

»Amerika hat dem Irak gerade den Krieg erklärt.«

»Tatsächlich? Wie gemein!«

Inzwischen wussten wir von Lizzy: Die Fremde hieß Laila und hatte eine merkwürdige Eigenart.

Ich schaute sie mir genauer an und musste feststellen, so paranoid sah sie gar nicht aus. Sie war nicht hässlich; irgendwie rein, so ohne Schminke und Silikon. Überdies strahlte sie Ruhe aus und schien mit einer Besonnenheit ausgestattet, wie man sie selten bei Frauen findet.

»Ist das wahr?« Mit ernster Miene gesellte sich Sigmund Waas dazu.

»Sie haben es vorhin auf allen Sendern gebracht. Es wird wohl stimmen.«

Ihr ebenförmiges Gesicht passte zur erhabenen Haltung. Eigentlich war es nur ihr grauer Mantel, der sie zu diesem unbedeutenden Mäuschen gemacht hatte. Vermutlich waren unsere Augen durch Kunst am Körper von der Normalität entwöhnt.

»Das ist ja ungeheuerlich! «, rief Adi grinsend. Er gab gerne mal den Clown. Laila blieb ruhig, ihre Stimme sanft: »Ungeheuerlicher als dieser Herrscher über die Welt mit seinem janusgesichtigen Wesen ist wohl nichts.«

Das Gemurmel im Raum verstummte. Ich wusste nicht, was es bedeutet, ein Janusgesicht zu haben, aber so, wie sie aussah und wie sie es ausgesprochen hatte, musste es etwas aus ihrem fremden Glauben sein und das reizte mich. Ich drehte die Musik leiser, ehe auch ich näher trat: »Du liest den Koran. Hier liest man die Bibel.«

Ingo kam Lailas Antwort zuvor: »Das ist Matti. Wenn der von der Bibel spricht, denkt er, sie handelt ausschließlich vom Sündenfall.«

Aus irgendeinem Grund ignorierte Laila Ingos Worte. Ganz ruhig und mit geradem Blick ließ sie sich auf meine Frage ein.

»Ist es nicht egal, woran man glaubt? Was zählt, ist die Menschlichkeit.«

Lailas kühle Ruhe verstieß deutlich gegen unser Ritual samstäglichen Übermutes. Ihre schreckliche Nachricht interessierte niemanden. Vielleicht, weil eine solche über kurz oder lang zu erwarten war. Wenn man voraussagen kann, was geschehen wird, dann ist ein Unheil nur halb so schlimm. Sind wir nicht alle paranoid?

»Was verstehen Sie unter Menschlichkeit?«, fragte ich. »Ist es nicht der Mensch, der all die Unmenschlichkeiten verübt? «

»Ja. Weil ihm die Kleinen nicht so wichtig sind wie die Großen. Weil wir nicht zu den Armen halten und die Bescheidenen übersehen. Weil wir den Mühseligen nicht helfen und den Beleidigten nicht beistehen. «

Kein Vorwurf lag in ihrer Stimme. Sie erschien ganz ruhig, nur ihr Blick huschte für einen Moment von Ingo zu Lizzy. Unmerklich zog sie die Schultern nach oben, als entschuldige sie sich für ihre Worte. »Es ist schwer, immer gut und gerecht zu sein. Es ist leichter, einen Lehrmeister zu befragen, egal ob die Bibel, die Thora oder den Koran. «

Soviel Worte auf einmal und noch dazu akzentfrei hätte ich der Fremden mit dem dunklen Fleck auf der Stirn nicht zugetraut. Dieser Fleck hob sie ab von uns und unserer Welt, in der wir anderen Göttern huldigten. Den Göttern des Überflusses, des Spaßes, des ungebremsten Konsums und der schamlosen Lust. Das alles war uns heilig geworden und unverzichtbar.

»Und du selbst? Hast du einen Nutzen davon?«, stotterte Ingo, der von Höflichkeit nichts hielt. Laila antwortete nicht, strich nur über die Knopfleiste ihres Mantels. Die dunklen Augen schienen jenen Glanz verloren zu haben, der mich für einen winzigen Moment so gefesselt hatte. Beinahe unbemerkt gab sie Lizzy ein Zeichen. Sie wischte mit dem Handrücken über die Stirn und drehte sich um. Dabei raunte sie ungezielt in den Raum: »Alles hat einen Nutzen. Alles bedingt einander. Sogar Leben und Tod. «

»Laila, warte noch einen Moment«, rief Lizzy, die zur Unterhaltung kein Wort beigesteuert, aber Laila auch nicht beigestanden hatte. Nur ihre feuchten Augen und ihr offen stehender Mund verrieten ein Staunen.

»Nein Lizzy, diese Musik …«

Lailas Gesicht zeigte eine undeutliche Anstrengung. Bis dahin glaubte ich, der dichte Qualm war der Grund für Lailas Rückzug.

Mich überkam der abstruse Gedanke, diesem Inbegriff eines Mauerblümchens beistehen zu müssen. Heute weiß ich, ich inszenierte mich um meiner selbst willen. Es ist die Unberührtheit der Natur, das unbekannte Terrain, die gefährliche, undurchdringliche Wildnis, die unerforschte Tiefe der Meere. All das lässt einen Forscher fanatisch werden, wenn es Neuland zu erforschen gibt.

Noch ehe Laila endgültig die Tür aufstieß, hörte ich meine eigene Stimme krächzen: »Mir gefällt diese Musik genau so wenig wie dir.«

Sie schaute mich an, als wollte sie eine gewichtige Antwort geben. Nur wenige Worte wurden daraus. »Sie ist so abscheulich indigo.« Unhörbar klickte die schwere Tür in das Schloss und dämmte das donnernde Gelächter zwischen ihr und denen, die damals meine Freunde waren.

»Indigo heißt blau, nicht wahr?« Ingo schien verunsichert. »Die hat doch ΄ne Meise. Die ist total durchgeknallt? Die Musik ist abscheulich indigo … Indigo …«

Dieses Wort klang wie sein Name und das behagte ihm nicht. Ob Laila so gerissen war, die Musik indigo zu nennen, weil der, der sie offenbar erniedrigt hatte, so ähnlich hieß? Ob sie sich mit Farben so gut auskannte? Warum hatte sie der Musik eine Farbe gegeben?

Ich spürte einen unbekannten Druck unter meinem Rippenbogen. Es war jener Druck, der mich in meinem Leben nur ein einziges Mal gequält hatte. Damals war Oma Hannah gestorben. Ab diesem Tag wusste ich, dass der Tod etwas Endgültiges ist, dass er mir nehmen konnte, was ihm beliebte, auch wenn es das Liebste war, wie Oma Hannahs Wärme und Güte.

Laila war gegangen, ohne großes Aufsehen. Vermutlich das erste Mal in ihrem Leben war Lizzy vor Ehrfurcht verstummt. Mit einem wütenden Blick auf Ingo schnappte sie die Imitation einer Gucci-Tasche und stöckelte hinter Laila her, und es gab keinen in der Runde, der die Szenerie normal fand.

»Wer hier blöd ist, seid eindeutig ihr! « Wie Schwertschläge kamen diese Worte von Sigmund Waas. Gewöhnlich zollte man Sigmund Respekt, heute zog er das Gelächter sofort auf sich. Ich mochte ihn nicht, das hieß aber nicht, dass ich seine Vorzüge nicht kannte. Seinen Mut, seine Schläue, seine Schönheit, seine untadeligen Umgangsformen, die er trotz großer Leichtigkeit, mit der er Ironie einsetzen konnte, niemals vergaß.

Ich weiß nicht mehr genau, wie ich damals über den Vorfall dachte, ich weiß nur eines. Seit dieser Szene wollte kein Spaß bei mir aufkommen. Immer wieder blitzten fremde, traurige Augen aus der rauchgeschwängerten, stickigen Luft jener Kneipe, in die Laila nicht passte. Diese Augen aber hatten mich verhext und auch der Fleck auf ihrer Stirn musste einen Brandfleck auf meiner sündigen Haut hinterlassen haben. Ein flüchtiger Gedanke packte mich. Wie würde sich dieses Mädchen in Hingabe gebärden? Sie hatte ein hübsches Gesicht, in ihrer Zurückhaltung schien sie jedoch für die Männerwelt verloren.

Im Vergleich zu Sigmund waren meine Gedanken mal wieder pikant. Das ärgerte mich. Einmal gab es die Chance, nicht an Sex zu denken, und nun?

»Die Kleine ist sehr intelligent«, hörte ich Sigmund in sein Glas brummen. Und damit entfachte er ungewollt die Diskussion über die Hirne der Geschlechter, die das Fass bei ihm endgültig zum Überlaufen brachte und er der Clique für immer entsagte.

Zum ersten Mal blieb eine völlig unbedeutende Kneipenszene für Tage in meinem Kopf. Alles bedingt einander, alles hat einen Nutzen, das hatte Laila gesagt, und ich fragte mich, was ihr Erscheinen für einen Nutzen haben konnte. Ich rief mir ins Gedächtnis, warum ich dunkelhaarige Frauen bisher gemieden hatte. Blonde Frauen haben einen höheren Östrogenspiegel, sind fruchtbarer und deswegen geiler als dunkle. Wohl deshalb fehlt ihnen die Zeit, sich mit der nötigen Schläue auszustatten. Dunkle Frauen haben eine starke Körperbehaarung und sind wegen ihres höheren Intellekts streitsüchtig. Keine Frage, was einem Mann mehr gefällt.

So sehr ich mich auch mit meinen Weisheiten beimpfte, immer wieder wanderten meine Gedanken zu diesem scheinbar unscheinbaren Mädchen. Irgendwo in meiner Brust drückte eine nie gestellte Frage: Kann Matti Braun Empathie empfinden? Das zumindest war mir in meinem bisherigen Leben nicht annähernd geglückt.

Den Speicherplatz meiner Empathie füllte gleich am Montagmorgen mein Chef Galle, Inhaber der Werbeagentur G.U.T – was so viel hieß wie: Galle und Tarrach.

Meine Arbeitsstelle glich einem paramilitärischen Krisengebiet, in dem mich besonders Galle ständig attackierte. Erst tags zuvor hatte er getobt und war bei seiner Schimpfkanonade ganz grün geworden.

»Kein Mitleid, Conny. Bitte halten Sie sich zurück! «

Er tobte und warf mit den Akten um sich, die auf meinem Schreibtisch und um denselben herum seit Monaten niemanden gestört hatten. Ich bemühte mich ernsthaft um mein angeborenes Phlegma und ich fragte mich, warum er mich eingestellt hatte, wenn ich schon seit dem ersten Tage meiner Anstellung um Galles Anfeindungen nicht umhin kam. Zum Glück war ich dafür bekannt, auf dem Gebiet der selbstschützenden Komik einen erwähnenswerten Eindruck zu hinterlassen.

»Es wird Regen geben, die Akten fliegen heute ziemlich tief« Ich grinste in Connys Richtung, verfehlte aber an diesem Tag mein Ziel gehörig. Galle polterte zurück: »Wenn wir schon vom Fliegen reden. Wie lange sind sie jetzt bei uns? «

»Fünf Jahre und zehn Monate, elf Tage und …«, griente ich und schaute zur Uhr.

»Es werden keine zwölf, fürchte ich. «

Auf diese Weise deutete mir Galle unmissverständlich an, sofort Ordnung zu machen oder zu ihm zu kommen, um die längst fällige Kündigung zu unterschreiben.

»Das Genie braucht das Chaos - ohne Chaos keine Idee«, schrie ich. Mit noch lauterem Getöse verschwand Galle in seinem Reich, von wo er so schnell seinen Kopf nicht wieder heraus stecken würde.

Ich will es mal so ausdrücken: Mein Chef nahm mir den Schneid übel, den ich Frauen gegenüber entwickelte. Er selbst war kein Mann, den Frauen anhimmelten. Er war untersetzt, kurzbeinig und mit bulligem Schädel auf seinen kantigen Schultern. Manchmal wunderte ich mich, mit welchem Trotz er von seinen sportlichen Aktionen erzählte. In meinen Augen glich jede seiner Bewegungen einer Massenhysterie. Kein Mann müsste Galle als Rivalen fürchten, wenn allein die Natur der Entscheidungsfaktor wäre und weder Geltung noch Geld eine Rolle spielten. Meine heimliche Bewunderung für sein Können behielt ich für mich. Galle hatte zwei entscheidende Vorzüge. Er kleidete sich stets außerordentlich korrekt und blieb nie eine Erklärung schuldig. Weiß der Teufel wie er es anstellte, so viel zu wissen.

Wieder allein mit Conny, fühlte ich mich genötigt, eine ungerührte Miene aufzusetzen und platzierte mich gelangweilt, aber sehr dekorativ, auf Connys Schreibtisch.

Conny -eigentlich hieß sie Constanze - war die einzige unter den Frauen der Clique, mit der ich auch dienstlich zu tun hatte. Nicht nur dienstlich, aber auch dienstlich.

Manchmal tat sie mir leid. Besonders montags, wenn ich ihr in allen Einzelheiten von meinen Eroberungen erzählte. Das war nicht fair, aber es machte den abscheulichsten Tag der Woche ein wenig leichter.

»Dieser diktatorische Spießer. Nicht mit mir …«, schimpfte ich inzwischen betont leiser.

»Kein Diktator weiß, dass er einer ist, auch kein Spießer weiß das, nicht einmal ein Chaot …«, belehrte mich Conny und traf damit den Nagel auf den Kopf. »Wenn du dieses Chaos für deine Kreativität wirklich brauchst, müsste dein Er-Sie-Es-Konzept schon längst wieder aus der Mode gekommen sein.« Ich konnte nichts darauf antworten. Manchmal hat auch ein Genie seine Denkblockade. »Galle hat ΄ne Stinkwut auf dich. Was ist denn los mit euch? «

Conny beugte sich herunter und griff nach einem der eben noch fliegenden Ordner. Dann blickten mich ihre treuen Augen an, dass mir sofort klar war, woran sie gerade dachte. Sie stand auf, und während ihre Finger an meinem ungepflegten Drei-Tage-Bart zupften und eine viel zu lang geratene Haarsträhne aus meinem offensichtlich verklärten Blick schoben, lächelte sie versöhnlich: »Na komm, ich ahne es längst. Bei dir zu Hause wird es aussehen wie hier.« Sie schob ihr Gesicht in Richtung meines Schreibtisches und lächelte. »Du bist und bleibst ein Chaot. «

»Jeder hier kennt mich nicht anders«, sagte ich, aber plötzlich fiel mir ein, warum Galle so wütend war. Ich war nie anders und wollte mich auch nicht ändern. Tabus machen das Leben grau.

Die Story mit Galles Frau, die ich Conny dann ausführlich erzählte, lag Wochen zurück. Warum also hatte Galle erst heute seinen Wutanfall?

Am späten Nachmittag, nachdem ich die fliegenden Akten mit Connys Hilfe wahllos in einem der Schränke verstaut hatte, konnte ich wieder an das Weib an sich denken. Urplötzlich war meine Welt wieder normal. Ich kramte in meinem unverzichtbaren, privaten Chaos nach Telefonnummern und erwischte Lizzys Visitenkarte.

Der Tag zog sich hin. Gegen achtzehn Uhr ging ich mit meiner Last an Lust den kurzen Weg durch die menschenüberfüllte Stadt. Feierabend. Alles rannte nach Hause. Ich hatte keins. Meine Bude war kein Zuhause, es war ein Schlupfloch, ein Asyl. Manchmal glaubte ich sogar, es wäre ein Exil, ein Versteck vor dem lästigen Leben.

Mit einem Hintergedanken kaufte ich im Blumenshop am Stadttor eine einzelne Rose, die ich unter mein großkariertes Jackett schob. Einzelne Rosen, so sagt man, zeigen einer Frau, wie einzigartig sie ist. Einzigartig heißt laut Duden auch erregend, auffallend, beachtlich, frappant, … Ich hörte auf, die Synonyme in mein Gedächtnis zu rufen. Gerade kam jemand aus der Tür und ich schlüpfte rasch in das schmale Mietshaus, in dem Lizzy lebte. Zu klingeln hatte ich mir verboten, mein Erscheinen sollte schließlich eine Überraschung werden. Hurtig stieg ich die engen Treppen hinauf. Es roch muffig nach faulem Holz und Terpentin und von den Wänden rieselte Kalk. Auf den Zwischenabsätzen gab es noch schmale Fenster mit bunten Scheiben, wie ich sie vom Haus meiner geliebten Großmutter kannte. Auf den Geländerpfosten thronte jeweils eine dicke Holzkugel mit einem kleinen, gedrechselten Knauf. Ich hielt mich, wie früher als kleiner Junge, mit der Hand an der Kugel fest und schwang meinen Körper behände um die Biegung herum. Doch das Gefühl des kleinen Jungens auf Omas Wendeltreppe wollte sich nicht einstellen. Das Leben recycelt auch Gefühle, ersetzt sie durch die Verdorbenheit eines Wüstlings, der selbst die Gattin seines Chefs nicht verschmäht.

Mein Schritt wurde mit jedem Stockwerk langsamer, mein Atem keuchender. Ich nahm mir mehr Zeit, um nicht vor Erschöpfung mein Vorhaben zu vermasseln. Oben angekommen drückte ich keuchend die Klingel. Nichts. Verdammt.

Ich setzte mich auf den Treppenabsatz, wartete und schloss die Augen, um meiner Begierde den Anblick der wollüstigen Kugeln zu ersparen. Einmal musste Lizzy ja kommen. Im Treppenhaus knarrte es leise. Ich drückte mich fester gegen das Geländer. So würden mich die Leute von der Nachbarwohnung nicht sehen können. Ich wusste von daheim, wie beliebt es war, Nachbarschaftsbesucher zu inspizieren.

»Wollen Sie zu Lizzy?« hörte ich eine angenehme Stimme, die ich zu kennen glaubte. Vor Lizzys Tür stand ein schmächtiges Mädchen mit großen Kopfhörern auf den Ohren und einer dunklen Brille auf der Nase. Sie lächelte mir zu.

»Sie ist noch in ihrem Fußpflegesalon. Wenn Sie wollen, können sie drinnen warten.«

Ich begriff noch immer nicht, wen ich vor mir hatte, staunte nur über die Worte.

»Ich denke, Lizzy besitzt ein Nagelstudio. « Ich stotterte und fühlte mich wie der letzte Idiot.

»Sagt sie das?«

»Aber hallo!«, entfuhr es mir.

»Auch Füße haben Nägel …« Die Kleine lächelte und ihre Augen blitzten wie funkelnde Steine. Sie hatte die Brille und auch das Monster von Kopfhörer abgenommen und wies nickend zur Tür, die noch immer offen stand.

»Laila?«

Ich hatte sie wirklich nicht erkannt. Sie trug ausgewaschene, hautenge Jeans und einen ebenso engen Pulli, bei dessen Anblick mir der Atem stockte. Ihre langen Haare waren mit einem großen Kneifer locker nach oben gesteckt. Wie eine Krone ragten die Spitzen über den wohlgeformten Kopf. Ihr Alter zu schätzen oder die Herkunft zu erraten, gelang mir auch diesmal nicht. Sie wirkte wie ein großes, kluges Kind, dem vorzeitig ansehnliche Brüste gewachsen waren. Matti Braun folgte dem großen Kind staunend.

Den schmalen Flur trennte ein blauer Vorhang, der in üppigen Falten gerafft, den Blick auf eine blaue Bodenvase frei gab, deren rostrote Sanddornzweige einen trocken-süßlichen Duft verströmten, der mich taumelig machte. Unsere Schritte dämpfte ein Kelim-Teppich, ebenso rostrot wie der Sanddorn. An der Wand hingen zwei Bilder, deren Motive aus naher Distanz nicht zu deuten waren. Zugegeben, ich hatte zum Leidwesen meines Vize-Chefs Tarrach kein Kunstverständnis. Sein Standardspruch: Wer nichts von Kunst versteht, sollte nicht in der Werbung arbeiten, kränkte mich zutiefst. Manchmal wusste ich selbst nicht, was mich in diese Branche verschlagen hatte.

Laila öffnete eine der Türen, die vom Flur abging und war für kurze Zeit verschwunden. Es war die Küche, aus der ein anderer, ein heißer Mandelduft entwich und den Geruch vom Sanddorn in den dunkelsten Schatten der Geruchlosigkeit verbannte.

Kuchen? Sollte es in meiner Generation Frauen geben, die backen können?

»Wer wohnt noch hier?«, rief ich ins Nichts.

»Lizzy«, rief Laila zurück. »Sonst niemand.«

Verlegen lächelnd trat sie wieder in den Flur, über den schmalen Händen filzige Topflappen gestülpt. »Noch mal gut gegangen. Wenn Sie nicht geläutet hätten …«

Sie wies mit der Hand in Richtung Küche und ich wagte einen Blick hinein. Auf dem Herd stand ein dampfender Gugelhupf. Vor Staunen blieb mir der Mund offen stehen, beinahe wäre mir der Sabber aus dem Mund gelaufen, der vor lauter Appetit in Strömen geflossen kam.

Die Küche war blitzblank. Helle, freundliche Farben atmeten Gemütlichkeit. Nichts verriet, dass hier noch vor kurzem gebacken wurde. Ich dachte an meine Oma und irgendwie rührte sich etwas in meiner Brust. In dieser Minute konnte ich nichts anderes glauben, als dass mein Interesse an Laila der Sehnsucht nach meiner geliebten Oma entsprungen war, die ich schon vor einigen Jahren an den Sensenmann abtreten musste. Jeder Verlust tut weh, aber dieser …

Damals brauchte ich einen Ersatz für Omas Streicheleinheiten, den mein unsensibler Vater prompt als anrüchiges Laster bezeichnete.

Wie ich so im Flur stand, kam ich mir unnütz vor, unbeachtet wie selten von Frauen. Ich trat gelangweilt einen Schritt zurück und legte meinen Kopf schräg, um eines der Bilder besser betrachten zu können. Es war kein Bild wie ich Bilder kannte. Es war ein Blick in eine sonderbar verwirrende Welt, die einerseits entschwebte, andererseits ebenso exzentrisch wie sinnlich anmutete und meinen Blick fesselte. Meine Phantasie entdeckte ein erregendes Türchen in herrliche Abgründe, jenseits des Alltags. Diese verschlungenen, spiegelsymmetrischen Farbverläufe muteten wie eine innige Vereinigung an, welche, das blieb der Phantasie überlassen. Die Vorstellung, Laila könnte mir erklären, wie das Bild zu verstehen wäre, belustigte mich ebenso wie der Kampf meiner beiden Hirnhälften.

»Gefällt es Ihnen? «

Sie war lautlos neben mich getreten, schwebend, distanziert. Ihre Haltung ähnelte einer zarten Blume, die sich kerzengerade der Sonne zuwendet. In ihr lag eine sonderbare Mischung aus Verletzlichkeit und Eigenwillen. Das ebenmäßige Gesicht hatte den Ausdruck von Erhabenheit, doch ihre Augen blickten, wie schon an jenem Abend in der Harmonika, scheu, verunsichert, beschämt?

Ich antwortete nicht, tat so, als betörten mich die Farben und Muster. Laila trug den Kuchen zum Tisch vor dem Fenster und winkte mir zu. Hätte sie gewusst, wie ich in Wahrheit mit mir rang, mit meinem Trieb, sie hätte sich nie auf das Gespräch eingelassen. »Was ist das?«, presste ich heraus.

»Mozart«, sagte sie. »Ein Klavierstück. «

Meine lüsternen Gedanken waren vergessen, mein Mutterwitz purzelte sofort auf den rostroten Teppich der Realität. In meiner Verdutztheit musste ich saublöd ausgesehen haben, doch was hatte ich erwartet? Man sagte schließlich, sie sei durchgeknallt. Ungläubig starrte ich auf das Bild und sah in der rechten Ecke: Laila El Sahib 2001. Bei meinem beklagenswerten Verständnis von Kunst stellte das, was ich sah, ein Kunstwerk dar – technisch gesehen – doch es berührte mich eigenartig. Einerseits regte es meine fleischliche Phantasie an, andererseits machte es mich befangen. Der Name in der Ecke stimmte mich zudem traurig. Ich beschloss, einfach zu glauben, dieses Mädchen träumt in ihren Bildern. Sie vergisst auf diesem Wege die wahre Welt. Sie benutzt ihre Phantasie, um glücklich zu sein. Andererseits schien das Bild einer übersensiblen Gefühlswelt zu entspringen. Jeder Maler nimmt sich ein Vorbild, eine Inspiration, oder er hat eine Erleuchtung. Ob das Motiv eine ihrer Wahnvorstellungen widergibt?

»Wollen Sie lieber Kaffee?« Sie schien ganz bei sich, ganz klar. Ihre Stimme klang wie eine konsequente Aufforderung, mich nicht länger bitten zu lassen.

»Ja gerne«, erwiderte ich schnell, ohne bemerkt zu haben, dass sie bereits Tee serviert hatte.

Wir saßen in dieser gemütlichen Küche und warteten auf Lizzy. Die Abendsonne fiel durch das Fenster und zauberte rote Schatten auf Lailas dunkles Haar. Ihr muskatfarbener Teint färbte sich intensiv. Indianer-Rot. Ich rührte in meinem Kaffee herum und begann über den Abend in der «Harmonika» zu reden. Irgendetwas sollte mir den Beweis erbringen, wie viel klare Vernunft in dieser Frau verblieben war. Doch Laila saß da, so jung, so verletzlich, und sie redete in vernünftigen, klaren Sätzen über die arabische Welt nach diesen schrecklichen Ereignissen, und über die Unberechenbarkeit, die jetzt folgen würde. Jedes Wort von ihr drückte eine unbestimmte Vorahnung aus. Wenn mich ihre Blicke trafen, spürte ich eine traurige, machtlose Wut. Laila schien an diesem fernen Flecken der Erde sehr interessiert zu sein und ich glaubte, die Grundfrage über Huhn und Ei herauszuhören, nur sehr viel intelligenter. Sie sprach davon, wie sie sich einst gegen die freie Welt verschworen hätten und nun verschwöre sich die freie Welt gegen sie. Wen Laila auch meinte, sie sprach nur von den Menschen allgemein und von der Menschlichkeit. Alles schien intelligent, ihre Worte, ihre sparsamen Gesten, ihre erhabene Haltung. Schade um so eine, dachte ich. Welches Gen hat ihr wohl einen Defekt vererbt. Welchen? Ob sie in Behandlung ist?

»Sind Sie aus Nahost?«, fragte ich, um Konkretes zu vermeiden. Immerhin hatte ich mich rechtzeitig meiner anerzogenen Höflichkeit gegenüber fremden Personen erinnert.

»Ich bin Deutsche. «

Das hörte sich resolut an, gar nicht unsicher aber auch nicht befreiend. Einmal legte sie beim Nachdenken ihren Finger auf die Lippen, die sich in der Farbe nicht sehr von ihrer Haut unterschieden. Eine Nuance dunkler vielleicht, aber nicht rot, wie bei den meisten Frauen. In dieser einen Sekunde sah ich meine Großmutter leibhaftig vor mir. Wenn ich mich je an etwas aus meiner Kindheit mit innerer Rührung erinnerte, dann war es die Güte meiner Oma Hannah, die mir noch heute viel bedeutete. Wie habe ich sie vermisst, unsere kleine, listige Verschwörung gegen den Rest der Familie, die oft von dieser Geste begleitet wurde, die Laila so unbedarft wiederholte.

Bis zu jenem denkwürdigen Tag, der noch kommen sollte, wusste niemand von meinen heimlichen Zwiegesprächen an Omas Grab, zweimal im Jahr. Meine Freunde hätten mich einen sentimentalen Spießer geschimpft. Sie wissen nichts vom einzigen Schmerz, den ich je in meinem Leben empfunden hatte, den Schmerz des Verlustes gütiger Hände, einer wärmenden Stimme. Ich war es gewohnt, von Omas weichen Armen umfangen zu werden. Nichts tröstete mich mehr, als ihre sanften Worte und der Geruch ihrer Schürze nach würzigem Kohl und gebratenem Fleisch. Oma hatte immer ein Lächeln, war niemals böse.

Jetzt saß ein ebenbürtiges Wesen leibhaftig vor mir, ein Trugbild gar, mit ähnlich dichten Brauen, mit gleichem Glanz in ihren Augen und mit winzigen Härchen, die sich von den Ohren über das Kiefernbein entlang zogen und ihrem Gesicht den Ausdruck von Samt und Seide verliehen. Ein entscheidendes Moment aber unterschied die beiden grundsätzlich. Oma Hannah war nicht dunkel. Dieser Umstand schien den Ausschlag gegeben zu haben, warum ich so sehr auf blonde Frauen fixiert war. In meinem Grübeln stellte ich mir vor, wie Laila aussehen würde, wenn sie siebzig oder achtzig Jahre wäre. Sie würde schneeweiß aussehen wie Oma, ganz sicher. Und jetzt bemerkte ich es, sie war schön. Natürlich schön. Warum war das in der Harmonika niemandem aufgefallen?

Mir war nicht klar, warum ich mich plötzlich an das kleine vergilbte Foto erinnerte, das seit Menschengedenken in einer morschen Zigarrenschachtel lag. Omas Hochzeitsfoto. Das Paar stand auf der Wiese. Oma trug keinen Schleier. Zu ihren Füßen hatte man das viel zu lange und schon einmal getragene Brautkleid im Gras drapiert. Vom Rosenstrauß - man konnte nicht erkennen, dass es gelbe Rosen waren, aber Oma meinte immer, es seien Teerosen gewesen - hingen zwei weiße Bänder herunter, an denen überdimensionale Ringe baumelten. Auf dem Kopf in ihrem wunderschönen Haar trug sie eine winzige Krone.

Mir stockte das Blut in den Adern. … In ihrem wunderschönen Haar … ? Ja, Oma hatte wunderschönes Haar, aber auf dem Foto war es dunkel. Dunkel wie Lailas Haar.

Oma Hannah muss sehr früh schneeweiß geworden sein. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, sie je mit schwarzem Haar gesehen zu haben. Ich musste mich irren. Was sonst sollte mich so kompromisslos auf blond geprägt haben, wenn nicht die Liebe zu meiner Großmutter. Ich gelobte, noch am selben Abend die Schachtel hervorzukramen, egal wie lange ich bei meiner Ordnung danach suchen müsste.

»Was sind Sie von Beruf«, wollte Laila wissen und ich fiel mental ziemlich hart zurück in die Welt der Laila El … sowieso … wie immer sie heißen mochte, diese Deutsche.

»Äh … Werbedesigner«, stammelte ich.

»Toll.«

Sie lächelte verlegen und schaute versonnen auf einen unbestimmten Punkt zwischen uns.

»Ich mag kreative Menschen. Sie sind … gefühlvoller als andere Menschen … sensibler. Die meisten schaffen still in der Tiefe ihres Ichs Einzigartiges. «

Sie sprach leise, beinahe monoton und ich nickte, als würde ich ihr zustimmen, als würde genau dieses für mich zutreffen. Mir war schon lange aufgefallen, dass es in dieser Wohnung mucksmäuschenstill war, eigentlich unheimlich, nichts für mich, der ständig einen Background brauchte. Und prompt sagte Laila:

»Menschen, die ständig unterhalten werden wollen, fehlt es an eigener Schöpferkraft. Nicht, dass sie nicht klug genug denken könnten. Das Eigene macht den Reiz, aber es braucht Durchdringung.«

Hatte sie meine Gedanken erraten? Ihre Worte zischten wie Öl in der noch glimmenden Flamme meines ausgebrannten Egos. Fast hörte ich die Worte meiner Chefs der G.U.T, sah aber ein himmlisches Wesen leibhaftig vor mir. Wie kann ein Mensch mit dieser Anmut die gleichen dämlichen Worte sagen wie Tarrach und Galle? Ich wollte Laila sagen, dass es schon zwei Menschen gibt, die ständig auf meiner Ehre herum trampelten. Ich kniff. Dieses überbelichtete Pflänzchen würde mein Vokabular nicht verstehen. Vielleicht würde sie sogar in Tobsuchtsanfälle ausbrechen. Ich gab mich kleinlaut:

»Manchmal bleibt schon etwas Eigenes hängen. «

»Woran arbeiten Sie gerade?«

Es machte mich krank, immerzu Sie sagen zu müssen, doch so sanft und nett Laila sich auch gab, ich spürte eine kühle Verschlossenheit, die Laila niemals aufbrechen würde. Ich bemühte mich zu lächeln und betonte das Sie in meiner Antwort:

»Er – Sie – Es heißt das Produkt. Eine kombinierte Anlageform. Familiensparen.«

Sie nickte, beugte sich ein wenig nach vorn und legte ihren Ellenbogen auf den Tisch. Mit gespreizten Fingern strich sie ihre Haare aus der Stirn und schien zu überlegen.

»Für wen machen Sie das?«

»Unser Auftraggeber ist die Bank.«

Sie nickte nur, mit ihrem Handrücken aber prüfte sie, ob das Kuchenstück auf ihrem Teller genug abgekühlt war. Wortlos schob sie mir einen Teller zu, zog noch zwei Servietten aus dem Spender und legte eine davon neben ihr Gedeck, von dem sie aber nicht zu essen begann. Während ich mich nicht lange bitten ließ, kritzelte sie versonnen auf ihrer Serviette herum. Wir schwiegen und ich schielte unbemerkt auf ihre schlanken Hände. Links zwischen Ring- und Mittelfinger hielt sie den Stift. Sie malte eine Parkbank, wie es schien, doch die brachte ihr offensichtlich auch keinen geistigen Impuls. Ich bemerkte die Anstrengung ihrer Augen, während die Lippen schelmisch zuckten. In mir kam nur Schadenfreude auf. So einfach ist es nicht, kreativ zu sein. Auch nicht in der Tiefe des Ichs? Auch nicht mit Durchdringung.

Ich sagte es nicht, konzentrierte mich nur auf die Köstlichkeit aus Mandel und Vanille.

»Zuwachssparen? «, fragte sie beiläufig, was ich mit Augenzwinkern bestätigte, ohne von meinem Kuchen abzulassen. Jetzt gab es Wichtigeres, als sich klug zu unterhalten. Jetzt war kein Fünkchen Muse überzählig und schon gar nicht für die G.U.T.

Laila aß nicht. Sie kritzelte und legte ihren Kopf schräg, genau wie ich selbst noch kürzlich vor dem Bild im Flur. Nach ein paar Strichen gab sie auf. »Sie sind der Kreative.«

Sie zog verschämt die Schultern an und ich sah im abendlichen Gegenlicht, wie die winzigen Härchen an ihren Wangenknochen den Aufstand probten. Nach meinem heimlichen Blick auf die Serviette begriff ich. Auf das Einfachste war ich nicht gekommen. Mit zwei winzigen Strichen, einem senkrechten und einem waagerechten, hatte die schüchterne Idee von einer schüchternen Frau das Licht der Welt erblickt.

»Er + Sie = Es« Ich griff die Serviette. Etwas hastig vielleicht.

»Wenn das keine Formel für Zuwachs ist?“

»Man muss ja nicht immer vom Sparen reden. Zuwachs ist an sich etwas Positives«, sagte sie, errötete aber ein wenig dabei, angesichts der Zweideutigkeit.

»Das ist es. « Es war die einfachste Formel für Zuwachs und sie würde sich wundervoll grafisch umsetzen lassen. Ich sah das Plakat schon vor mir. Wohl ein wenig zu impulsiv küsste ich Laila auf die Stirn. Es war nichts als Dankbarkeit. Sie hatte mir schließlich in einer angespannten Situation, in der ich mich total verrannt hatte, aus der Patsche geholfen. Der winzige schwarze Fleck auf Lailas Stirn war übrigens echt, diese Erkenntnis war das Nebenprodukt meiner stürmischen Freude. Ich wusste sofort, dass Lailas Idee auch Tarrach begeistern würde. Nur Laila saß wie erstarrt da. Aus ihrem Blick las ich das blanke Entsetzen. Meine Impulsivität musste sie sehr erschreckt haben. Sie stand auf und schlich aus der Küche. Eine Tür knarrte leise, dann war es ruhig. Ich saß da wie bedeppert und wartete, immer mit der Befürchtung im Bauch, sie könne einen Anfall bekommen und wie eine Furie auf mich los gehen. Vorsichtig schaute ich mich um. Bei Verrückten ist nichts sicher, dachte ich. Das galt für Vasen genauso wie für Küchenmesser. Auch mit ihren eigenen Ungereimtheiten schienen die Hypersensiblen um sich zu werfen.

An diesem Abend habe ich jene Laila erlebt, die mir noch sehr viel später immer wieder einen Schrecken einjagen sollte.

Ich trat in den Flur und klopfte vorsichtig an eine der Türen. Nichts. Kein Mucks. Ich brachte es nicht fertig, einfach zu gehen und drückte lautlos die Klinke herunter. Nichts rührte sich. Mein Kopf sagte mir, hau ab Matti, doch von irgendwo aus der Magengegend grummelte es – schau nach, sie ist verrückt und könnte wer weiß was tun. Behutsam drückte ich gegen das Holz. Einen Spalt breit konnte ich in das Zimmer sehen. Es passte so gar nicht in die anheimelnde Gemütlichkeit, die mir über eine Stunde lang außerordentlich behagt hatte, dennoch fühlte ich mich irgendwie Zuhause. Es herrschte ungefähr das gleiche Chaos wie in meiner Bude, nur Laila war nicht da drin. Also musste es das Zimmer von Lizzy sein, wenn sonst niemand hier wohnte. In mir grollte der Zorn über meine Blödheit, dem Kitzel einer ungewöhnlichen Erfahrung nachgehangen zu haben. Das hatte ich nun davon. Warum ich dennoch all meinen Mannesmut zusammennahm und schnurstracks auf die Tür neben der Küche zuging, weiß ich nicht mehr. Ich drückte vorsichtig die Tür von mir weg und merkte sofort, hier herrschte wieder Ordnung.

Etwas mutiger schob ich meinen Kopf um die Ecke. Die letzten glutroten Strahlen der untergehenden Sonne zwängten sich durch die Jalousie und malten ein gespenstisches Muster auf die helle Couch, die in der Nische an der schmalen Wand stand. Auf dem Boden davor hockte Laila. Den Kopf auf die Knien gepresst, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen, schaukelte ihr schmächtiger Körper im Takt zu jener Melodie, die sie summte. Ich kannte das Lied: Es waren zwei Königskinder … Ihr Geist war in einer anderen Zeit. An einem anderen Ort?

»Laila, es tut mir leid«, heuchelte ich, dabei kämpfte gerade meine Wut gegen das größte Glücksgefühl in meinem Bauch, das ich seit meinem Lottogewinn von 450,- Mark vor sechs Monaten je wieder verspürt hatte. Ehrlich, ich wollte nicht kneifen, aber mich zog es regelrecht nach Hause, um die Idee von Er + Sie = Es noch auszubauen. So tatenlos herumzustehen behagte mir nicht, außerdem musste ich fürchten, dass Lizzy bald hereingeschneit kam.

»Lassen Sie mich allein«, unterbrach Laila ihr Summen, hob aber nicht einmal den Kopf. Ich verschwand lautlos. Das hatte noch keine Frau zu mir gesagt.

»Lassen Sie mich allein …«, flötete ich, während ich polternd die Treppen herunter sauste, immer drei Stufen auf einmal überspringend. Doch es war Galgenhumor. Ich wusste natürlich, dass ich etwas falsch gemacht hatte, doch das begriff ich erst viel später.

Auf meinem Weg durch die Stadt summte ich Lailas Lied weiter. Ich probierte, ob ich den Text noch zusammenbrachte, den mir Oma Hannah so herrlich piepsend vor … was weiß ich … vor hundert Jahren … beigebracht hatte.

» … sie hatten einander so lieb, sie konnten zusammen nicht kommen …« Irgendwie fiel mir nicht mehr ein, warum die zwei Königskinder nicht zusammenkommen konnten.

Zu Hause in meiner Bude erfasste mich das Grauen. Immer wenn ich aus einem ordentlichen Haushalt in meine vier Wände zurückkam, wusste ich wieder, wie recht Mama hatte. Leider hatte ich mir ihre Hilfe völlig verscherzt. Sie würde nie mehr kommen und bei mir Ordnung schaffen. Ich beförderte Berge von Papier und Klamotten in alle Ecken, um wenigstens Platz für einen Zeichenblock und einen Aschenbecher frei zu bekommen, doch schon die Serviette mit dem so wertvollen Gekritzel katapultierte meine Gedanken zurück zu Laila.

Was, wenn sie sich was antut? Wie konnte ich nur gehen, ohne auf Lizzy gewartet zu haben. Mir wurde heiß. Die Schweißtropfen auf meiner Stirn begannen mit den winzigen Pusteln einer Gänsehaut zu konkurrierten. So wie mein Blick über das zerknüllte Papier streifte, sah ich die traurigen Augen dieses Mädchens, das mich noch um den Verstand bringen sollte. Versonnen malte ich weiter nichts als zwei Mandelaugen unter einem winzigen schwarzen Fleck. Ich konnte mich nicht auf den Slogan konzentrieren und ließ es nach mehrmaligen Versuchen einfach wieder bleiben. Morgen sei auch noch Zeit, tröstete ich mich, öffnete ein Bier und trank den letzten Raki aus der Flasche, die Ottmar von seinem Türkei-Urlaub mitgebracht hatte. Dieses Teufelszeug war nichts für empfindsame Kehlen. Es wütete gewöhnlich wie ein Brandbeschleuniger in meinem Rachen und setzte etwas in Gang, was sich abwärts durchzufressen begann und mich aus dem Zustand der Lustlosigkeit weckte. Heute nicht!

Stöhnend erhob ich mich, schaltete den Fernseher ein und lehnte mich zurück in der Hoffnung, mein Gleichmut erstarke im Kontext der Erschlaffung meiner Muskeln.

Es lief ein Krimi – irgendwo in einer Wohnung lag eine Frauenleiche, verdächtigt wurde der junge Mann, der sie zuletzt besucht hatte.

Ich stürmte aus der Wohnung. Bier und Raki hatte ich vergessen. Die umlackierte Merkwürdigkeit meines Alfa-Romeo stand im Parkverbot genau vor der Tür – hier draußen im nördlichen Wohngebiet konnte man sich das trauen – vor Lailas Haus sah es anders aus. Nicht die kleinste Lücke. Ich kurbelte dreimal um das Karree ehrwürdiger Bürgerhäuser, bis mich mein Naturell besiegte. Schließlich gab es für Notfälle die Warnblinkanlage.

Die Fenster der obersten Wohnung verloren sich in der Dunkelheit. Ich stellte mir vor, wie Laila noch immer auf dem Boden hockte und vor sich hin summte – oder schlimmer? Wohnte sie eigentlich mit Blick zur Straße heraus? Ich bemühte meinen vom Raki vernebelten Kopf. Die Sonne schien am Abend ins Fenster. Also musste sie gen Westen wohnen, zum Innenhof also. Ich stürzte zur Tür – kein Hineinkommen möglich. Mit verschränkten Armen und wütend auf mich und die Welt und noch viel mehr auf diese Laila da oben, stapfte ich auf der Marktstraße umher. Sollte ich die paar Schritte zur Mauerstraße gehen und die Polizei hierher bitten? Zuerst fiel mir Ottmar ein. Ich verwarf den Gedanken, er war dumm, denn ich war feige. Das jahrelange Gelächter über meine Blödheit wäre mir sicher gewesen. Ich leuchtete mit meinem Feuerzeug die Klingelknöpfe ab. Ganz oben der Name Winter, das Namensschild daneben jungfräulich weiß. Dort läutete ich Sturm. Noch einmal. Nichts. Das muss nichts bedeuten, tröstete ich mich, und drückte noch ein- oder zweimal. Jetzt knackte es in der Sprechanlage, gesprochen wurde aber nicht. Der Türöffner wurde auch nicht betätigt. Nach längerem Warten schlug ich mit der Faust zweimal dagegen, um endlich zu gehen.

»Lizzy, bist du es?«, lösten sich die Worte aus dem Blech, beinahe flüsternd, doch es war Lailas Stimme, unbedingt.

Matti, du bist ein Idiot, maulte ich mit mir selbst und verschwand endgültig im Chaos meines Lebens, dem Laila noch einen gehörigen Schub geben sollte.

Von meinem Bildschirm prangte die verblüffende Lösung. Schemenhaft im Hintergrund drei Menschen. Die Worte: Er -Sie – Es dominierten fett und hoffungsvoll grün, nur die kleinen Zeichen, die alles zu einer Formel machten, hoben sich rot ab, wie mit dem Pinsel hin gewischt. Darüber prangte der rote Slogan in Pinselschrift:

»Viele Banken reden vom Sparen – Wir reden von Zuwachs«

Zugegeben, der Text war eine Adaption, nicht ganz neu, aber neu war die Grundidee.

Auf meinem noch immer aufgeräumten Schreibtisch lagen wie zufällig die Blätter mit Variationen des Entwurfes herum. Ich war nun mal für Galle der Chaot, dieses Image sollte mir jetzt von Vorteil sein. Galle würde niemals vermuten, wie ich mich inszenierte, wie ich den Beifall des Betrachters provozierte. Würde mein Draft nicht ankommen - so müsste ich zumindest den Entwurf bezeichnen, wenn ich mit Galle darüber sprechen würde, denn meine Chefs waren auf dem Höhepunkt der Anglizismensucht angekommen - also, würde der Entwurf nur müdes Achselzucken auslösen, könnte ich immer noch behaupten, es sei lediglich die Secound-Best-Lösung.

»Na bitte, es geht doch«, sagte Galle tatsächlich im Vorbeigehen, blieb aber dann doch stehen und zog ein Blatt heraus und gleich noch eins. Lange, jedenfalls länger als die obligatorische Sekunde, betrachtete er die Blätter, klopfte mir auf die Schulter und befahl mittels schwungvollen Rücktransportes eines der Blätter vor meine erstaunten Blicke: »Daraus machen Sie eine Serie.«

Conny und Tarrach gesellten sich in ungewohnter Vertraulichkeit dazu und fanden meine Arbeit unisono nicht schlecht, was immer das heißen sollte. Und irgendwie kam ich mir vor, als würde ich zu Hause bei Mama in der Küche sitzen.

»Ein Bums wirkt manchmal Wunder«, flötete Conny, himmelte dabei jedoch Tarrach an, wie ich es noch nie von ihr gesehen hatte. Während ich mich noch in geistige Unkosten stürzte, was mit den beiden geschehen sein könnte, knallte die Tür zum Chefbüro mit lautem Getöse zu. Galle war verschwunden. Er musste Conny völlig missverstanden haben. Nicht meinen Ausrutscher mit Galles Frau konnte Conny gemeint haben, eher Galles Wutanfall wegen meines chaotischen Arbeitsstils. Tarrach quittierte die Marotte des Chefs mit einem Grinsen, rümpfte die Nase und tätschelte Connys Arm, die dafür beinahe in Ohnmacht zu fallen schien.

»Hätscheln Sie diese Muse, es ist eine brauchbare.«

Tarrach ging zum Wandschrank, holte eine Flasche Sekt heraus, köpfte sie wortlos und tat sehr kollegial. Auch wenn seine Blicke weder mir noch der gelungenen Arbeit galten, schenkte er eigenhändig die Gläser voll.

»Es wird Zeit, etwas nachzuholen. «

Diese Worte hätten für mich schon als Sieg des Tages gelten können. Doch Tarrach ließ sich noch weiter herab. Zuerst reichte er Conny und dann sogar mir mit seiner eigenen, verschwitzten Pranke eines der Gläser.

»Ich heiße Bodo«, griente er und ehe ich mich versah, küsste er Conny und ich befürchtete schon, auch seine schwammig feuchten Lippen ertragen zu müssen, weil seine Gebaren keinen dienstlichen Siegestrunk sondern eine sehr persönliche Orgie erwarten ließen. Schließlich prostete er auch mir zu. Trotzdem begriff ich, dass mein Erfolg nicht der Auslöser freundlicher Chef-Gemüter war. Meinem Ego sollte die feuchte Anerkennung fürs Erste genügen. Ich hatte die richtige Muse geküsst, wie Tarrach es nannte.

Die richtige Muse geküsst … Laila. Der Gedanke an sie versetzte mir einen Hieb in die Magengegend und ich ahnte, dass es nicht allein mein schlechtes Gewissen war. Tarrach hatte inzwischen Conny vor sich her aus der Tür geschoben und ich hörte, wie sie kichernd im Serverraum verschwanden. Mir wurde schlecht. Ich muss einmal zum Arzt gehen, dachte ich, und setzte mich vor meinen Monitor, arbeitete aber nicht. Der Druck in meiner Brust wurde immer stärker. Es war, als wollte etwas aus mir heraus und klammerte sich doch fest wie eine Klette. Manchmal war mir das Gefühl auch angenehm und ich befürchtete schon, es könnte so etwas Sentimentales wie Liebe sein. Wenn es ein Reglement gäbe, das die Männer danach beurteilt, wie sie in der Lagen sind, Liebe zeigen zu können, wäre ich in der Kategorie total unterentwickelt eingestuft worden. Damals.

Und woran lag das? An der Interpretation meiner Umwelt. Für meinen Vater schien die Liebe das perfekte Imperfekt zu sein. So wie Mutter redete, konnte ich daraus schließen, dass ihre Liebe im Plusquamperfekt existierte. Meine Kumpels redeten, wenn überhaupt, über Liebe immer im Futur 2. Warum also sollte meine Liebe im Präsens vorkommen? Und bitte, wen oder was sollte ich lieben?

Laila. Warum fiel mir immer wieder Laila ein? Die unvollständige Sinfonie meiner Gefühle hatte Untertöne bekommen. Laila war ein Halbton, der sich in meinem Gehör eingenistet hatte. Physikalisch betrachtet war sie eher ein Magnet. Sie zog mich an, doch näherte ich mich von der falschen Seite - stieß sie mich ab.

Ich nahm mir vor, ihr wenigstens das Resultat unserer gemeinsamen Idee zukommen zu lassen. Zu dieser Fassung jedenfalls hatte ich mich immerhin vor mir selbst – und nur für mich selbst - herabgelassen. Wen würde es auch interessieren, welche Muse mich geküsst hat. Sie hat, und basta. Nein, verdammt, sie hat nicht. Ich hatte versucht sie zu küssen … und alles versaut. Mehr noch, ich habe die Muse geküsst und bin von selbiger verstoßen worden. Verstoßen!

Matti Braun ist verstoßen worden! Von einer Frau! Von einer unscheinbaren, kleinen Frau ist Matti ins Schlittern gebracht worden. Aquaplaning?

Wenn zwischen mir und jedem beliebigen Mädchen einmal die Bodenhaftung verloren ging, schlitterte ich zur nächsten.

Nicht bei einem Mädchen wie Laila, das wurde mir klar, als Conny und Tarrach mit hochroten Köpfen wieder zu ihren Arbeitsplätzen schlichen. Ich verstand Conny nicht, aber musste man alles verstehen? Inzwischen beherrschte mich selbst der absurde Gedanke, einmal im Leben mit einem unschuldigen, reinen Wesen schlafen zu wollen - Liebe zu machen. Selbst wenn dabei ein Salto vorwärts vom Präsens zum Plusquamperfekt heraus käme. Ein Mann muss alles einmal erlebt haben.

Laila. Ich werde sie herumkriegen, wie ich noch jede herumgekriegt habe. Sie wird glauben, sich frei entschieden zu haben. Aber sie wird dem Zwang der Neugier nicht widerstehen können. Auch sie wird ausprobieren wollen, was andere vor ihr so verzückte. So, wie ich Laila erlebt hatte, war nicht anzunehmen, Lizzy habe ihr von meinen Qualitäten erzählt.

Ich musste dieses unberührte Stück Natur erobern, meine Augen darauf spazieren lassen, erforschend in sie dringen. Ich würde … nein, ich würde vorerst nur mit ihr reden, nur reden, ich schwor es beim Dornröschenschlaf meiner Libido.

Die Clique traf sich diesmal in der «Eule». Das Kino-Café lag zentral, für alle in Kürze erreichbar. Die rustikale Atmosphäre entsprach haargenau unseren Temperamenten. Auf den dicken Holztischen lagen ebensolche bunt karierten Tischläufer, wie die Kissen auf den Bänken aussahen. Auf dem blank polierten Holz durfte ruhig einmal etwas danebengehen, was bei unseren Feten zur Tagesordnung gehörte. Heute war es anders als sonst. Heute war es ein von Tarrach inszenierter Umtrunk, mit dem er sich in unsere Clique einkaufen wollte. Conny hatte die Idee und wie sie sagte, sollte besonders ich Tarrach dankbar sein. Mein Erfolg wäre ohne ihn nicht denkbar gewesen, schließlich habe Tarrach die Bank als Großkunden an Land gezogen. Nur mir raunte sie zu, wie spendabel unser Vize-Chef sei, was unserem Ansehen in der Clique schließlich nicht schaden könne.

Ottmar, Sigmund und sogar Jupp, der unauffälligste von uns, konnten sich für diesen Spätnachmittag frei machen und von den Mädchen kam außer Conny und Cora auch Stella, die sich sonst eher mit Ausreden fernhielt. Lizzy kam nicht. Ich fluchte vor mich hin. Nur um mit Lizzy zu reden, hatte ich gute Miene zum Spiel des Kollegen Tarrach gemacht. Ich wollte Lizzy ein wenig ausfragen, über Laila natürlich. Vielleicht käme die auch wieder, um Lizzy abzuholen. Nun aber war Lizzy nicht hier und ich stellte mich mental darauf ein, Laila nicht so schnell wiederzusehen. Widerwillig widmete ich meine Aufmerksamkeit dem schmierigen Getue von Tarrach.

Der war genau genommen durch und durch scheußlich. Daran hätte auch eine schöne Hülle nichts geändert. Verdeckte Vorzüge, wie Galle sie hatte, gab es bei Tarrach nicht. Dennoch sollte Conny Recht behalten. Tarrach zeigte sich außerordentlich spendabel und alle waren zufrieden.

Zu fortgeschrittener Stunde wurde es immer lauter in der «Eule». Die Kneipenzeit hatte noch nicht wirklich begonnen, aber wir füllten den schwach besuchten Raum abwechselnd mit donnerndem Gelächter und kreischendem Gezeter, je nachdem, von welchem Geschlecht.

Der Barkeeper, ein behäbiger Mann Anfang fünfzig, meinte es gut mit uns, nur die Serviererin in ihrer neckischen Kaffeehaus-Montur meckerte über die zu vollen Biergläser und wir meckerten, weil sie meckerte. Ansonsten war es ein lustiger Abend.

Einmal, ich hatte mir gerade die ungefähr zwanzigste Zigarette angezündet, schaute ich zum Tresen. Eine zierliche Frau stand da, den Rücken zum Gastraum gewandt. Sie besprach etwas mit dem Barkeeper. Weniger ihr dunkelblauer, sehr eleganter Anzug, mehr ihr dunkles Haar, das von einem ebenso dunklen Einsteckkamm seitlich zusammengehalten wurde, kam mir sehr vertraut vor. Mein Atem stockte. Ich erinnerte mich genau an diese Frisur, nur ragten diesmal nicht die Haarspitzen über den wohlgeformten Kopf hinaus. Doch es war Laila.

Ich schob mich so gut ich konnte in die Nische und versteckte mich hinter dem breiten Rücken von Tarrach. Jetzt sollte sie mich nicht sehen. Nicht jetzt.

Niemals zuvor war mir meine Situation zwischen grölenden Trinkern so peinlich. Dazu schweinigelte Ottmar gerade ziemlich laut:

»Manchmal wünschte ich mir, ein Ohrenkneifer zu sein.« Er lachte dreckig und kniff Stella in die drallste Stelle ihres Körpers, während seine unergründlichen Blicke an Conny hafteten.

»Ohrenkneifer kriechen aber niemanden in den Arsch«, wehrte Stella Ottmars Angriff handgreiflich ab.

»Nein aber es hat zwei …«

»Zwei Arschbacken? Die hab ich auch.«

Alles grölte und ich sah, wie Laila sich kurz zu uns umdrehte, dann aber dem Barkeeper etwas übergab. Mir fiel auf, dass sie ein Namensschild an ihrem Revers trug.

»Zwei Penisse, Blödmann!«, jaulte Otti und feixte dabei.

»Wozu brauchst du denn zwei Penisse.«

»Ist der eine schlapp, kann der andere weiter machen«, kicherte Conny und das war zumindest für Conny sehr beachtlich.

»Oder man könnte es mit Siamesischen Zwillingen treiben!« Tarrachs polterndes Lachen übertönte uns alle und ich befürchtete schon, das wippende Auf und Ab und das schaukelnde Hin und Her seines massigen Körpers würde den Blick in die Nische freigeben. Laila durfte mich nicht sehen. Nicht so.

Das Verstecken war unnötig geworden. Unser Gelächter im Rücken stürmte Laila bereits aus der Tür. Ich machte mir darüber wenig Gedanken, ob sie etwas entrüstet haben könnte. Laila war eben anders als wir. Ich bemerkte nur, wie toll es aussah, als der leichtfließende Stoff ihrer Jacke den Blick auf ihr ansehnliches Hinterteil freigab.

Aber was macht Laila in der Eule? Was macht ihr Nervenkostüm? Was macht sie überhaupt. Was ist sie von Beruf?

So viele Fragen und nicht eine konnte ich beantworten. Lizzy war schließlich nicht gekommen und erst jetzt begriff ich, welchen Dusel ich damit hatte. Ich hielt es nicht mehr aus, ging unter einem Vorwand zum Tresen und bestellte einen Magenbitter. Ich redete mit dem Barkeeper über das letzte Fußballspiel unserer hochgejubelten Abstiegsmannschaft, der man nach kontroversen Diskussionen und klaffendem Haushaltsloch doch noch eine bombastische Osttribüne ins Stadion gesetzt hatte, die in Anbetracht des energielosen Unvermögens wohl bald die gleiche gähnende Leere aufweisen würde, wie der städtische Haushalt.

»Ist doch purer Betrug, das mit den Fördergeldern«, winkte der Mann ab, verzog den Mund und wischte sich den Schaum von den Lippen. Ich konnte dem Dicken nur beipflichten.

»Aber clever angestellt. Wenn den Herren Pensionsberechtigten etwas in den Kram passt, dann finden sie schlaue Begründungen«, gluckste er.

»Bauernschläue. Auf die deutsch-polnische Begegnungsstätte bin ich ja mal gespannt«, gab ich ihm Recht. Über mehr sprachen wir nicht, aber jeder wusste, was kommunalpolitisch gespielt worden war. Eine Investition listig zu begründen und dafür Bundesgelder zu lockern, dafür reichten die Iden unserer Volksvertretern noch immer. Beinahe derselbe Betrug wie alles in der Werbung.

Die Abwechslung durch meine Anwesenheit am Tresen schien dem Mann zu gefallen, seine Schimpfkanonaden nahmen kein Ende: »Rasenkomiker! Grottenschlecht wird einem dabei. Weißt du, was meine Gerti gesagt hat? Warum gehst du noch dahin? Miste den Hühnerstall aus, danach hast du das gleiche beschissene Gefühl. Recht hat sie.« Beinahe rutschten ihm die Gläser, die er ins Spülbecken tauchte, aus den aufgeregten Fingern. Doch er wetterte weiter. »Diese Großkotze. Und das für so viel Knete. Und unsereiner…?«

»Ja, ja, ich glaube es hackt mächtig«, erwiderte ich Fußballignorant gelangweilt. Ich musste höllisch aufpassen, dass sich der Mann nicht in Ekstase redete. Schließlich sollte er mir noch eine entscheidende Frage beantworten. Während er noch wetterte und mir mit vollem Körpereinsatz die lausigsten Szenen vor dem gegnerischen Tor schilderte, betete ich heimlich zu Gott: Bitte lass Laila nicht zurückkommen. Nicht jetzt. Hier am Tresen wäre ich ihren Blicken ungeschützt ausgesetzt gewesen. Der Mann bezeichnete mich plötzlich als Kumpel und fragte: »Noch einen? «

»Danke«, grinste ich ihn an und nutzte blitzschnell die Gelegenheit. »Sag mal, wer war die Kleine vorhin. «

»Welche Kleine? Die Chefin meinst du, oder?«

»Nein, die zierliche Frau in dem blauen Anzug. «

»Ist doch die Chefin. Den Namen kann ich nicht sprechen – Elhabib oder so…«

»Das ist deine Chefin?«

»Nein. Nicht meine.« Er griente und reckte seinen Oberkörper in eine erhabene Position, die mir wieder einmal die Augen öffnete, warum man Bier «Molle» nennt. Den Dicken müsste ich für meinen neuesten Auftrag ködern, der wäre der ideale Typ für das Motiv, das ich suchte. «Das Bier im Manne»

»Ich bin selbständiger Pächter«, prustete er. »Die Sahib ist die Managerin vom Kino. «

Er rollte mit seinen verklärten Augen, als müsse jeder Mensch dieser Stadt wissen, was jeder Mensch dieser Stadt tut.

Die Managerin vom Kino also. Ich glaubte zu träumen. Hätte mir jemand gesagt, Laila sei Abstauberin in einer Bibliothek, das hätte ich sofort geglaubt. Aber Managerin? Kann eine Nervenkranke überhaupt Managerin sein? Diese Laila wurde immer rätselhafter. Ich schlich zurück zum Stammtisch und setzte mich still wieder dazu.

»Matti hat heute seine Tage«, hörte ich Ottmar frotzeln.

»Nein, ihm ist nur kalt am Kinn«, nuschelte Cora, die schon vor einiger Zeit angedeutet hatte, heute wäre ein schadloses Kuscheln mit Matti möglich. Es fiel sofort auf, wenn ich einmal rasiert war. Spätestens zu dieser Zeit wusste ich, dass ich sie an jedem anderen Tag abschleppen würde. Cora war blond, hatte große dunkle Augen und sehr dünne Brauen. Alles andere an ihr war eher üppig. Sie war eine, die sehr viel Zeit damit verbrachte, jeden Zentimeter ihres Körpers zu beobachten. Wie weh ihr das tat, verrieten ihre giftigen Anfeindungen gegen jede potentielle Konkurrentin, die ohne ständige Diät auskam. Aber Cora war … nun ja, keine Perle, eher ein zu scharf geschliffener Diamant. Die Männer gafften ihr nach, wenn sie mit ihrem schwingenden Ganzkörper-Schritt provozierte. Niemand kam mit so hohen Absätzen und so engem Rock so schnell vorwärts wie Cora, und wie keine Andere beherrschte sie es, Männer einzufangen und sei es nur durch ihre Art, wie sie mit ihren Hüften schwang. Sie brauchte männliche Blicke wie den Sauerstoff zum Leben. Heute aber übertrieb sie ein wenig. Wie eine Ikone saß sie da, zückte den Lippenstift, wandte sich zu mir und schlug die langen Beine übereinander, wie eine von der leichten Sitte, die nicht mehr zu bieten hat, als ihren Körper. Ich hatte keine Lust auf Cora, schließlich hatte ich mir geschworen, für eine einzige Liebesnacht mit Laila notfalls eine gewisse Zeit blonde Frauen zu meiden. Man muss sich schließlich auf Veränderungen einstimmen.

Ich rauchte viel zu viel und paffte die Kringel in den fetten Dunst der «Eule». Und was machte das für einen Sinn? Ich sah in jedem Kringel Laila auf dem Boden hocken und still vor sich hin summen. Langsam wurde auch ich verrückt – Laila hatte mich auf rätselhafte Weise infiziert.

»Die weiße Unschuld- 1.20 €« stand auf dem Schild, das sich über die Blüten erhob. Im Blumenshop gleich hinter der Lindenpforte standen zu später Stunde noch Eimer und Schalen vor der Tür, prall gefüllt mit Rosen, Lilien, Rittersporn und allerlei farbenprächtigen Blüten, deren Namen ich nicht kannte. Die Kirchenglocken läuteten weit hin vernehmbar den Abend ein. Also war es kurz vor Ladenschluss und ich wunderte mich wie schon tausendmal zuvor über die Fülle der kurzlebigen Ware. Ob die Blüten je rechtzeitig an den Mann gebracht werden können, ehe sie verdorben sind? Auf den südamerikanischen Plantagen ruinierten sich die Feldarbeiterinnen für ein paar Pesos ihre Gesundheit, und wie ich unlängst gehört hatte, mit dramatischen Auswirkungen, nur um uns materialistisch orientierten verwöhnten Ästheten ein kurzes, sinnloses Vergnügen zu bereiten.

Mir war damals schon klar, dass ich einer von denen war, die den falschen Idolen der heutigen Welt dienten – dem Profit. Jeder mitfühlende Arbeitnehmer weiß natürlich, warum die Besitzenden heutzutage die unglücklichsten Menschen unter der Sonne sind. Geld ist ein falsches Idol, Geld macht nicht glücklich - Sex ist kein falsches Idol, er ist ein gutes – er macht glücklich.

Ich stand dazu, auch wenn ich wusste, dass Begierde schnell zur Gier werden kann, doch kann begehren auch bekehren, wie es Oma Hannah immer sagte. Sie war die Frau in meinem Leben, die mich behutsam dazu brachte, etwas dafür zu tun, um etwas anderes zu bekommen.

In diesem Moment begehrte ich Laila. Etwas zu begehren gehört zur menschlichen Natur. Wenn man nichts mehr will, ist man vermutlich schon im Vorstadium des Todes.

Also zog ich einen der prächtigen Stängel aus dem Bündel, zahlte und lief die verbleibenden einhundert Meter über den Neumarkt bis hin zur Marktgasse 27. Diese Blüte war zu lang, um sie unter dem Jackett zu verbergen. Außerdem trug ich keine Jacke. Jemand hatte die Haustür offen gelassen und ich sauste die Treppen empor, bis ich zaudernd auf einem der Zwischenabsätze stehen blieb, um über einen vielleicht meine Ehre vernichtenden Angriff oder den feigen Rückzug zu entscheiden. Noch niemals in meinem Leben war ich so unentschlossen, ja geradezu unsicher. Traurig? Memmenhaft?

Nicht einmal die Geländerköpfe, mit ihren drallen Kugeln und vorwitzigen Nippeln darauf, konnten mich erheitern. Ich schlich weiter. Von oben herunter kam pfeifend ein Bursche gesprungen. Die Stufen zitterten unter der Wucht seiner athletischen Kraft. Er grinste und schlug einen Haken um mich. Unterhalb rief er mit einem kleinen Jauchzen in der Stimme zu mir zurück:

»Lizzy ist nicht zu Hause! «

Aha, also nur Lizzy verdiente es in diesem Hause, dass man Blumen schenkte. Das war der Wendepunkt hin zu meinem wiedererstarkenden Mut. Ich war der Held, der einer anderen als Lizzy Blumen brachte.

Vorsichtig öffnete sich die Tür. Laila trug wieder diese Kopfhörer und riss sich sofort die dunkle Brille vom Gesicht.

»Matthi΄s«, hauchte sie. Wie der fade Schatten des Mondes wanderte die Blässe von ihrer Stirn abwärts. In mir ergoss sich ein warmes Gefühl und zugleich traf mich ein kalter Blitz. Matthi΄s hatte sie gesagt. Matthi΄s – und wie sie das sagte. Das erste A betont, das zweite verschluckt.

Ich reichte ihr die weiße Rose und aus dem Schatten des Mondes kroch urplötzlich die Sonne über Lailas Muskatgesicht bis hinter die Ohren. In ihrer Erregung ähnelte sie jenen Frauen, die gerade ihren Orgasmus erlebten. Bei mir verhinderte ein fetter Kloß im Hals jedes weitere Wort, während ihre Augen strahlten. Sie liebkoste die Rose und drückte sie samt Brille und Kopfhörer an ihre Brust. Mit der anderen Hand zog sie mich durch den Flur.

Wie sie so erhaben, mit der weißen Unschuld vor ihrer Brust, neben mir her schritt, konnte ich noch nicht ahnen, wie sehr mir gerade der Glaube an ihre Unschuld noch zu schaffen machen sollte. Das aber passierte viel später.

Sie schob mich resolut in das Zimmer, das ich in schlechter Erinnerung hatte. Heute überkam mich eine tröstliche Gelassenheit. Ich sah, was mir die Umstände an jenem Tag zu betrachten versagt hatten. Alles in diesem Raum strahlte Ruhe aus, Harmonie, Wohlgefühl, Behaglichkeit. Auf der hellen Couch waren gelbe und rostrote Kissen dekorativ aufgestellt, Zipfelmützen und Kandiszuckerhüten gleich. Über dem einzigen Sessel hing ein rostrotes Plaid, dessen Fransen sich lustig kringelten.

Vorsichtig trat ich näher. Ich spürte, wie sie zögerte, das erste Wort zu sprechen, doch dann trat sie vor mich hin. Ihre feuchten Augen spiegelten jenen Glanz, der mich schon einmal so unerklärlich fasziniert hatte. Ihre bleichen Lippen zitterten und sie nestelte nervös an einer Kleiderkordel herum: »Matthi΄s, es tut mir so leid«, flüsterte sie. In diesem Moment lösten sich all meine Lebenssäfte aus meiner inferioren Substanz (ich muss dieses Wort benutzen, weil ich mir geschworen hatte, dieses Papier nur mit ehrlichen Worten zu füllen, und nun hoffe ich, dieses Wort versteht nicht jeder) und stürzten wie ein Wasserfall bis in den untersten Teil meiner Extremitäten. Ich stand wie angeklebt und konnte mich nicht rühren. Mit dem Wasserfall musste auch mein letztes bisschen Verstand den Bach herunter gespült worden sein. Meine Arme entwickelten grotesker Weise eine Schubkraft in entgegengesetzte Richtung. Ich umarmte Laila und drückte ihren Körper an mich. Wieder berührten meine Lippen ganz zufällig ihre heiße Stirn. Diesmal geschah nichts. Im Gegenteil. Wir verharrten stumm. Je länger wir so standen spürte ich, wie ihr Körper langsam entspannte. Bedächtig reckte sie ihr glühendes Gesicht meinem entgegen. Meine Lippen rutschten sanft hinunter auf ihre Wangen, mehr rührte sich nicht, obwohl meine Zunge geneigt war, den Ausbruch zu versuchen und sich zwischen ihre bleichen Lippen zu mogeln. Ich beherrschte mich. Der Pfirsich-Duft ihres Haares betörte mich. Ihre Haut schmeckte nach Mandel und ich hätte zu gerne gewusst, was ich in diesem Moment sagen könnte. Mir war, als floss Blei dem Wasserfall hinterher und staute sich in meiner Brust, jener Stelle, die lange hohl gewesen sein musste. Ich schmeckte Salz. Auch bei Laila begann etwas zu fließen. Ein winziges Tröpfchen suchte den Weg um den Widerstand meiner Lippen herum. Es war ein Reflex. Mein Körper schien davon betroffen. Es tat sich etwas, doch es passierte nichts, nur meine Zunge wanderte den Weg der Träne rückwärts, bis meine Lippen mit dem dichten Wimpernkranz kokettierten, der Lailas Blick so sinnlich und gleichermaßen traurig machte. Es kitzelte und wir lachten beide. Erst jetzt funktionierte meine Sauerstoffversorgung wieder reibungslos und auch Laila schien aus der Kaninchenstarre zu erwachen.

»Komm, ich zeig dir was«, sagte sie. Ihrer Stimme war eine gewisse Beklemmung anzumerken, jene Art Atemnot, wenn man erregt ist. Das Gesicht aber blieb ausdruckslos. Nichts ließ vermuten, welch heimlicher Bann uns verwoben hatte.

Während der ganzen Zeit hatte ich mir gewünscht, dieses Mädchen zu besitzen, das etwas in mir geweckt hatte, was ich in meiner ganzen Verkommenheit lange verleugnet hatte. Ich wusste nicht worauf ich mich einließ und ob Laila überhaupt für die Liebe geschaffen war, pardon, für das, was ich unter Liebe verstand. Immer wieder sagte ich jenen dämlichen Satz vor mir auf, der einen ganz anderen Ursprung hatte: Bezeichne Laila nicht als verrückt, aber vergiss nie, dass sie es ist.

Sie zog mich zu der hellen Couch, doch meine Erwartung traf nicht ein. Von der unteren Ablage des kleinen Tisches angelte sie einen Block hervor. Ihre gespannten Blicke huschten zwischen mir und den Seiten hin und her, die sie umblätterte. Eine glich der anderen. Ich sah Mäuse, nichts als Mäuse. Zwar betrachtete ich die Vollkommenheit der Skizzen, kam aber nicht hinter den Grund der Übung. Es waren süße Mäuse – immer waren es drei. Drei Mäuse auf einer Bank, die zu überschwemmen drohte.

»Wir Mäuse müssen zur Bank, dort sind wir sicher.« Drei andere Mäuse knabberten auf einer Bank am Käse.

»Auf dieser Bank liegen die Zinsen.«

Und noch andere lustige Motive. Staunend lobte ich ihre Zeichenkünste, verstand aber noch immer nichts.

»Wo hast du das her?«, fragte ich, ohne genau zu wissen, ob ich begeistert, verwundert oder misstrauisch sein sollte. Laila tippte an ihren Kopf und zuckte mit den Schultern.

»Ich hab es in derselben Nacht noch gemacht, damals … es tat mir so leid Matthi΄s. Entschuldige bitte.«

Wir schauten uns wortlos an und langsam füllten sich Lailas Augen mit funkelndem Glanz. Mir war, als würden sich Horizont und Erde begegnen und sich für immer vereinen. Nichts ist zufällig, dachte ich, nahm ihren Kopf in meine Hände und näherte mich gefährlich ihrem Mund. Sie wandte sich nicht ab. Ihre Lippen lösten sich unmerklich voneinander, es schien, als staune sie. Meine Küsse ließ sie geschehen, einmal, zweimal, bis sich ihre Lippen entspannten und ihr Mund sich begehrlich öffnete. Frei von allen ekstatischen Gebärden, hingerissen von der Poesie eines Augenblickes, erwiderte sie meinen Kuss. Ich indes wünschte, dieser Augenblick möge sich wiederholen. Heute. Morgen. Nächste Woche. Ihr Staunen blieb erstaunt, ihre Schönheit blieb schön. In diesem Moment verstand ich ihr Bild da draußen im Flur, doch von dieser Minute an war ich auch ein anderer Mensch. Laila El … sowieso … (ich wusste noch immer nicht, wie sie hieß) hatte Matti Braun, den gnadenlosen Lüstling, für eine unbestimmte Zeit besiegt. In ihrer Nähe existierte nur noch Matthi΄s der Ehrenhafte. Dieses Bild war der Maßstab all meiner Darstellungskünste – zumindest wenn ich in ihrer Nähe war.

»Du bist doch nicht auch aus der Werbung …?« traute ich mich nach den schüchternsten Küssen zu fragen, die ich je bekommen hatte.

»Nein«, schmunzelte sie. »Ich leite das Stadtkino.«

Also doch. Jetzt muss sie mir nur noch verraten, was das Kino mit drei Mäusen und mit einer Bank zu tun hat. Hat sie es für mich gemacht? Als Entschädigung? Als Wiedergutmachung? Sie war an jenem Abend so unausgeglichen, beinahe bösartig. War sie verzweifelt? Fühlte sie sich wie die kleinen Mäuse und hat sich davon inspirieren lassen?

»Ich arbeite allein. Ich muss alles selbst machen, auch die Werbung«, flüsterte sie. »Aber die Mäuse haben damit nichts zu tun. Die sind für dich. «

Ich brachte kein »Danke« über die Lippen, es war ja nicht ungewöhnlich, dass eine Frau sich in Sehnsucht nach mir verlor und komische Anwandlungen bekam. Eigentlich wollte ich nur mehr über sie erfahren.

»Du managst doch nicht das ganze Kino allein?«

»Managen ja, durchführen nicht. Ich habe zwei Vorführer. Und dann gibt es noch drei Pauschalkräfte, die sich mit der Kassierung abwechseln. Mehr sind nicht nötig.«

»Und das funktioniert?«

»Nicht schlechter, als alles in unseren Köpfen … Man braucht nur die nötige Ordnung. «

Zu Hause in meiner Bude irrten noch immer Lailas Worte durch meine Gehirnwindungen. Ausgerechnet Laila sprach von der nötigen Ordnung im Kopf. Ich ärgerte mich, ungerecht gewesen zu sein. Ein stiller Mensch arbeitet in der Tiefe seines Ichs, auch das hatte sie gesagt. Laila war still und sanft, empfindsam und selbstlos. Solch ein Mensch war mir seit langem nicht mehr begegnet und ausgerechnet über sie hatte ich den Stab zu brechen versucht. Sigmund Waas hatte Recht. Sie ist nicht blöd. Sie ist zu sanft für diese Welt, man muss sie vor Bösem beschützen. Vor Lizzy, die sie sicher ausnutzte. Vor dem dicken Kneiper. Vor … ja, vor wem noch … wen kennt sie denn noch? Wo ist ihre Familie?

Ich wusste nichts über Laila – aber sie wusste ja auch nichts von mir, von meinen Eskapaden und von meiner Schlampenwirtschaft. Jeder Mensch hat seine Geheimnisse und soll sie für sich bewahren. Sie ihre und ich meine, solange es geht. Ich wusste bis dahin selbst nicht, dass mit meinem Sexleben etwas nicht in Ordnung war, mit meinem Leben überhaupt. Laila kannte mich - mit einer unbedeutenden Ausnahme – nur gepflegt und anständig, glatt rasiert und akkurat gekleidet. Ich musste ihr also gefallen – schließlich war ich auch ohne diese spießigen Normen bei Frauen immer erfolgreich.

In meiner stolzen Selbstbetrachtung erinnerte ich mich an ein Gespräch, das ich unlängst belauscht hatte – unfreiwillig. Es war ein Gespräch zwischen Conny und einer Kundin, die offenbar scharf auf mich war.

»Ihr Kollege … ich meine … wie ist er denn so? «

»In letzter Zeit hat er tolle Ideen. «

»Ich meinte, als Mann. Ist er nett, ordentlich, fleißig? Oder eher so etwas wie …«

»Eher so etwas wie«, beeilte sich Conny in voller Überzeugung.

Selbst wenn sie sich für einen minimalen Zeitraum noch auf der Seite des Rechts befand, so etwas sagt man nicht zu einem Kunden. Jedenfalls nicht ungestraft. Ich wollte mich bei Gelegenheit an ihr rächen, aber dafür war Conny momentan zu innig mit Tarrach liiert.

Nach dieser stillen Rückschau holte mich die kümmerliche Wahrscheinlichkeit aus meiner Ordnungsabstinenz, Laila könnte eines Tages vor meiner Tür stehen. Es fiel mir wahrlich schwer, denn jeder Mensch hat ein Recht auf Faulheit – das hat schon Paul Lafargue festgestellt, und das war kein Geringerer als der Schwiegersohn von Karl Marx. Seine Streitschrift sei neben dem «Kommunistischen Manifest» das wahrscheinlich populärste Buch der linken Bewegung, hatte Galle gesagt. Eigentlich müsste diese Weisheit an Galles Spiegel geschrieben werden: Arbeit sollte auf das nötigste Maß beschränkt werden. Muße ist dem Menschen viel angemessener. Arbeit ist Zwangsentfremdung von allem Schönen. Ich stöhnte, denn ich wusste, in welche Zeit ich hineingeboren war und stellte mich dem Seltenheitswert einer freiwilligen, wenn auch provokanten Mutation zum habitus correctus oder wie immer ein korrekter Mensch in gehobener Sprache heißen möge.

Struppiges Haar, unrasiertes Kinn und brüchige Fingernägel, zerknittertes Sakko und ausgebeulte Hosen hatten, jedenfalls im Rausche meines momentanen Übermutes, der Vergangenheit anzugehören. Mama wäre überglücklich.

Schwungvoll und mit größter Selbstüberschätzung häufte ich nach dem Musterbeispiel, das ich unlängst bei der G.U.T abgegeben hatte, allen herumliegenden Kram und Klamotten zusammen, um alles vorerst in einen der Schränke zu stopfen. Ich hätte drei davon gebraucht. Also schob ich den Rest unter mein Bett, Hauptsache es lag nichts herum. In einer der Schubladen lag eine Tischdecke, die mir Mama mitgebracht hatte. Ich befeuchtete sie, um sie so besser glätten zu können. Ich pustete die herumliegende Zigarettenasche vom Tisch und breitete das Textil darauf aus. Frappierend. Mein Zimmer sah plötzlich wie ein Salon aus. Ich brauchte mich wegen der saumseligen Einsicht trotzdem nicht zu schämen, es war ja niemand da. Am Problem erstarkt zelebrierte ich eine spontane Weisheit: Nur die Verdorbenen glauben unschuldig an ihrem Verderben zu sein.

Ich war entweder noch nicht verdorben genug oder zählte mich bereits zu den Geläuterten.

Der Morgen graute noch, doch die Dunkelheit hatte sich hinter die Stadtgrenzen verzogen. Vom Osten her lichtete sich bereits der Horizont, jene Zeit also, zu der ich mich bisher noch einmal auf die anderer Seite drehte und an nichts als an die zwei freien Tage dachte, die ich mir durch nichts und von niemand nehmen ließ. Nicht an diesem Samstag. So voller Vorfreude war ich noch niemals aus meinem Bett gehüpft. Gewöhnlich schlief ich bis zum Nachmittag. Fast eine Stunde lang saß ich in der Badewanne. Ich, der seit Jahren nur noch die rasche Dusche kannte, entdeckte die Erotik des Badens. Ich betrachtete meinen Körper und kicherte, wie klein und unbedeutend, dann aber wieder groß und mächtig er mir erschien, je nach der Wasserdichte, die meinen Durchblick brach. Alles ist relativ, schmunzelte ich und freute mich auf den sonnigen Tag, der es zu werden versprach.

Nach dem Bade probierte ich all meine Duftwässerchen aus, um herauszufinden, welches Laila gefallen könnte. Ich trödelte gut gelaunt vor mich hin, doch die Uhr schien auch nichts Besseres zu tun zu haben. Um die Zeit zu überbrücken, fiel mir ein, auch meinen Alfa-Romeo von seinem unverwechselbaren Charme einer Mülltonne zu befreien, schließlich sollte Laila mit mir fahren. Ich war mächtig stolz auf meinen wiedergeborenen Ordnungssinn, dabei gebührte der Stolz eher ihr. Sie allein war die Ursache meiner Narrheiten, zu denen ich mich seit kurzem immer wieder hinreißen ließ. Natürlich musste ich nach der Säuberungsaktion noch einmal unter die Dusche.

Schon zwanzig Minuten vor zwei Uhr brauste ich los. Die Altstadt war ätzend, wieder kein freies Plätzchen. Warum stand Laila nicht vor dem Haus? Wir hatten es so vereinbart. Ich hasste es, wie ein Freier auf eine der Bordsteinschwalben zu warten, weniger hasste ich, mein Prachtstück in eine begehrte freie Lücke zu stoßen. Ich blieb einfach in der zweiten Reihe stehen, schaltete auf Warnblinker und sauste die Treppen hinauf, immer zwei Stufen überspringend. Zu meinem Erstaunen wurde schon vor meiner Annäherung die Tür zu Lailas Wohnung aufgerissen. Doch es war nicht die ungeduldige Laila, es war Lizzy. Sie thronte zwischen dem Türrahmen und reckte mir ihre halbentblößten Pampelmusen entgegen, ohne den Weg frei zu machen. Lasziv benetzte ihre Zunge die Oberlippe bevor sie verführerisch lächelte: »Du weißt nicht, was du tust, Matti.«

»Doch. Ich hole Laila ab«, entfuhr es mir, obwohl ich ahnte, dass so kein Weg an Lizzy vorbei führte. Ich setzte meine gierigste Miene auf und schnippte über die Knubbel unter ihrem Pullover. Das zumindest öffnete mir zur Hälfte den Durchgang in den Flur. Lizzy konnte es nicht lassen und schubberte ein wenig nach, als ich mich an ihr vorbei zwängte. Auf meinem direkten Weg hin zu Lailas Zimmer hörte ich, wie sie giftete:

»Sieh an, man kennt sich aus.«

Laila saß still in ihrem Zimmer am Schreibtisch und arbeitete noch. Sie trug weiße Jeans und ein weißes T-Shirt mit verschieden breiten Querstreifen in leuchtendem Mintgrün. Ihr langes, dichtes Haar fiel glatt über die Schulter und wellte sich erst über ihrer festen Brust. Als sie mich sah, schreckte sie auf, schaute auf ihre silberne Armbanduhr und schien sich zu wundern.

»Ich komme«, hauchte sie und zauberte ein Lächeln in ihr Gesicht, das dem sonnigen Tag um nichts nachstand.

»Ich stehe im Parkverbot«, drängelte ich.

Laila lief zur Küche und verglich die Zeit ihrer Uhr mit dem Regulator an der Wand.

»Gibt es heute besondere Strahlungen?«

»Noch nicht, Schätzchen«, flötete Lizzy. Sie hatte sich an der Küchentür aufgepflanzt und grinste merkwürdig. Die Uhr in der Küche stand auf 13.30 Uhr und wie sich später herausstellte, auch Lailas Armbanduhr. Jemand wollte nicht, dass Laila rechtzeitig am vereinbarten Platz stand. Jemand, der wusste, dass ich mich von keiner Frau vertrösten ließ.

Für den Moment hoffte ich nur, Laila würde sich beeilen. Lizzy versuchte es derweil mit ihren Verführungskünsten.

»Vorsicht«, hauchte sie, während eine Mohrrübe wollüstig zwischen ihren kunstvoll lackierten Lippen rein und raus rutschte. »Bei Laila wirst du erst vorbohren müssen.«

Ich wendete mich ab. Warum widerte mich plötzlich an, was mir bisher Spaß gemacht hätte. Ich kam zu dem Schluss, Laila wirkte auf mich wie diese modernen Antisuchtmittelchen. Wenn man die konsumierte, sollte die einst begehrteste Droge einen Würgereiz erzeugen.

Etwas Neues fesselte mich und ich war drauf und dran, es zu ergründen.

Endlich kam Laila über den Flur. Sie trug flache, sehr biegsame weiße Schuhe mit einer winzigen mintgrünen Applikation. Jedes Detail an ihr stimmte. Ich freute mich über den charmanten Unterschied. Jedes andere Mädchen hätte sich für das erste Rendezvous mächtig aufgemotzt. Nicht Laila. Das Weiß ihrer Kleidung hob die Muskathaut wohltuend hervor. Sie brauchte kein aufreizendes Dekolleté - alles an ihr sah appetitlich aus. Lizzy war kalt gestellt, vergessen. Jede Sünde mit ihr war verleugnet.

Erst im Treppenhaus fiel mir ein, dass Laila trotz sommerlicher Temperatur nichts vom Chic der bauchfreien Mode hielt. Sie zupfte sogar ihren Pulli immer wieder unter den breiten Gürtel, den eine riesige Schnalle zierte. Laila war eben anders. Wie sehr, das wurde mir am Ende dieses Tages bitter klar.

Wir fuhren hinaus an den südlichen Stadtrand. Ich kannte die sanften Schluchten, die - mit Erlen und Eichen bewachsen - ein ansehnliches Terrain um den kleinen künstlichen Badesee bildeten. Unweit von hier, flussaufwärts, stand Oma Hannahs Haus. Dort, wo ich meine schönsten Kindertage verbrachte, lebte jetzt eine fremde Familie mit drei Kindern zur Miete.

Wenngleich ich ein halbes Leben nicht mehr in den Schluchten gewesen war, erinnerte ich mich noch an die schönsten Uferplätze, die verschlungenen Hohlwege, die sichersten Verstecke aus der Kinderzeit. Allein sie waren der Grund, hier zu sein und nicht anderswo. Worauf genau meine heimlichen Wünsche an diesem sonnigen Frühsommertag abzielten, wusste nur mein Unterbewusstsein. Mein Verstand hatte sich geschworen, sittsam wie der dümmste Anfänger zu bleiben.

Ich erzählte Laila, wie Vater immer tobte, wenn ich mein Fahrrad mit zerbeulten Felgen und zerschrammtem Rahmen heimlich in den Kellergang schob, aber am nächsten Morgen behauptete, ich wüsste bei Gott nicht, wer es so arg zugerichtet hatte.

Laila hatte noch nie etwas von diesen Schluchten gehört. Das lag wohl eher daran, dass es in Wahrheit nur ein paar Falten in der Landschaft waren, längsseits des Flusses, mit reichlich Natur kaschiert. In einer so lausigen Gegend entwickeln die Menschen ihre Erfindungsgabe auch bei Namen.

Laila lief wie eine Gazelle neben mir her und plauderte angenehm. Sie trug nicht mehr die Züge von Scheu auf ihrem Gesicht. Ihre großen dunklen Augen blickten bei jedem Lächeln munter zu mir auf und ich fasste Mut, meinen Arm um ihre Schulter zu legen und sie von Minuten zu Minuten enger zu umschlingen. Mit dem Eindruck größter Gelassenheit ließ sie es geschehen und redete ungestört weiter.

Mich beherrschte ein ganz anderer Gedanke: Ich werde sie besitzen, ich werde in ihr sein. In diesem schmalen Becken, von schlanken Schenkeln umschlungen.

Schon bald sah ich einen weichen Uferplatz. Dennoch zögerte ich wie niemals zuvor. Wir liefen den steilen Hang hinunter. Bei einer dicken Buche neckte sie mich. Ihr Körper verschwand vollends hinter dem beachtlichen Umfang des ehrwürdigen Baumes und ich hatte Mühe, ihrem Übermut zu entsprechen. Ich fing sie ein und küsste sie stürmischer, als sie es bisher von mir kannte. Eigentlich hielt ich nichts vom Küssen, dazu hatte ich schon zu viele gierige Lippen erdulden müssen. Wenn ich mal eine Frau geküsst habe, dann nur, um ihr endlich den Wind aus dem Wortgetöse zu nehmen, das mich nervte. Warum also drängte es mich so unbändig, Laila zu küssen?

Wir schlenderten auf dem schmalen Pfad am Ufer entlang und hatten nur Platz in engster Umarmung. Eine Entenfamilie watschelte aus dem nahen Unterholz auf das Ufer zu. In den letzten Monaten war viel Regen gefallen. Die Böschung war überspült, der Sprung in die Fluten für die Kleinen ungefährlich. Trotzdem wartete der Entenvater mit stolzer Brust, bis alle Kinder das Wasser erreicht hatten und der umsichtigen Mutter hastig hinterher ruderten. Erst nach vollendeter Schutzfunktion ließ sich der Erpel hinter seiner Familie auf das Wasser gleiten. Warum funktioniert die Tierwelt ohne Regeln und Zwangsverfügungen, ohne auf Moral und Gesetz pochen zu müssen?

Lailas Atem ging schwer. Ich hörte auf das Trommelfeuer ihres Herzens, das zu überschlagen drohte und ich muss gestehen, auch zwischen meinen Rippen regte sich Unbekanntes. Ausgerechnet von dort hallte meine Freude zurück, mit der ich sah, wie entzückt Laila die Pracht der aufbrechenden Natur bewunderte.

Ein schmaler Wasserlauf schnitt uns den Weg ab. Wir liefen die Böschung hinauf und südseitig wieder hinunter. Da lag er, der See mit dem nördlichen Badestrand aus grobem Kies. Auf der Wiese an der Ostseite unter alten Eichen und jungen Buchen tobten zwei Hunde. Sie gebärdeten sich aufgeregt beim Anblick des Gegenstandes, dem sie furchtlos folgten, wenn ihr Herrchen ihn schwungvoll in die Fluten beförderte. Nach jedem Abort schüttelten sich die beiden, dass es nur so spritzte. Laila lächelte. Sie schmiegte sich enger an mich und flüsterte in die Stille unserer Gedanken.

»Es ist so friedlich hier …«

Ich drückte sie fester gegen meine Schulter, schwieg aber, wohl wissend, was ein falsches Wort bei ihr auslösen konnte. » … und da unten fallen die Bomben auf unschuldige Kinder.«

Ihre letzten Worte vibrierten sanftmütig durch die Frühlingsluft, zaghafter als das freudige Bekenntnis zuvor.

Da unten? wiederholten meine Gedanken lautlos. Ich nickte, als wäre auch ich betroffen und dachte: Warum denken alle Menschen bei einem Unglück nur an die Kinder? Es gibt auch unschuldige Erwachsene, Alte, Schwache, Gebrechliche, die in ihrer Hinfälligkeit schutzlos sind.

»Matthi΄s, die Welt ist entartet. Die Menschheit ist verkommen. Es ist schön, dass du anders bist … dass du da bist. «

Was sie sagte, war erhebend. Es glich der Ermunterung zu all jenem, was ich so sehr begehrte. Nicht, weil ich mich für unwiderstehlich hielt oder nur jene Frauen mochte, die mich bewunderten. Ich glaubte, mindestens genauso gut denken zu können wie gaffen. Und meinen Augen gefiel, was da neben mir her tappte, sehr sogar, aber konnte ich Laila wegen dieses kleinen Seufzers schon als Erfolg verbuchen? Hatte ich sie, oder begann sie gerade, mich mit ihren kindlich angstvollen Worten einzuwickeln. Ich konnte ihrem fragenden Blick kaum standhalten und wusste nicht, wo meine Augen verweilen sollten, außer auf den vorwitzigen Hügeln unter ihrem Pulli. Ihre Schmeichelei klang noch lange nach in der betörenden Luft dieser Landschaft, in meinen Ohren und in meiner Erobererbrust. Ich streichelte sie und versuchte, nicht auf ihre bekümmerten Worte einzugehen, die sie sehr zu beschäftigen schienen. Im letzten Moment war mir gerade noch eingefallen, wie sie in der «Harmonika» über den Krieg gesprochen hatte, obwohl sie so zart und schwächlich vor uns stand. Jetzt war ihr Körper in meinen Armen eine angenehme Empfindung, die durch nichts getrübt sein durfte. Mit versagender Stimme, aber im Glauben, Männer wüssten immer die richtige Antwort, hauchte ich: »Es ist doch so weit weg.«

Sie schien es nicht gehört zu haben und flüsterte, scheinbar entrückt von dieser Welt:

»Wie kann man glauben, aufgestaute Wut ließe sich mit roher Gewalt und Unterdrückung bekämpfen?«

»Du meinst den Terrorismus?«

Sie nickte nur, doch ich spürte den Druck ihrer Hand auf meinem Arm. Zustimmend.

»Er ist aus der Ohnmacht geboren. Alles Böse wird aus Wut, aus Ratlosigkeit gezeugt.«

Wieder schwiegen wir, doch ich musste etwas erwidern, auch wenn mir das Thema absolut nicht gefiel.

»Und die Wut der Amis?«

»Wenn man möchte, findet man immer einen Grund. Sie werden diesen Krieg vielleicht gewinnen, aber den Frieden für lange Zeit verspielen. Ihre Bomben können diese Welt ebenso wenig von Übeltätern befreien, wie sie ihr einen neuen Gott zuweisen können. «

Laila zitterte. Ihre Augen nahmen den funkelnden Glanz an, den die Frühsommersonne auf den nahen See spiegelte. Ich streichelte ihre Arme und drückte ihren Kopf an meine Brust. Ihr Haar fiel schwer herab und verdeckte den feuchten Blick, dessen sie sich offenbar schämte. Sie musste aus jener Welt sein, sonst könnte sie nicht so stark mit denen fühlen, die unserer Kultur so fremd waren. Für große Worte war mir nicht zumute. Ich wollte einen erquicklichen Nachmittag und wenn sie mir das schon versagte, dann eben eine erfolgreiche Nacht.

»Komm, lach mal und lass deine traurigen Gedanken.«

»Für jeden der lacht, gibt es zwei auf der Welt, die weinen.«

Meine Manöver verloren sich in ihrem Ernst, in einer allzu rasch eintretenden Schwermut. Es hatte keinen Zweck, sie überrumpeln zu wollen. Behutsam nahm ich sie bei den Schultern und lief mit ihr dem Platz entgegen, an dem ich meinen Alfa abgestellt hatte.

Leise und gebrochen, aber mit klarem Verstand sprach sie über die Ängste, die sie für unsere Welt empfand und ich fragte mich, warum mir das an diesem schönen Tag passieren musste. Seit langem hatte ich nicht mehr so viel Vorfreude empfunden, soviel an neuer Erfahrung erwartet. Bei meiner trivialen Liebe war das längst einmal fällig, aber so? Nein. Eine erste wichtige Erfahrung hatte ich gemacht, auch wenn es eine andere Art von Erfahrung war, als ich sie mir vorgestellt hatte.

Laila schien viel über das Leben nachzudenken und sie hatte Recht. Das wusste ich seit meiner Kindheit von meinem Vater. Hitlers Granaten haben nicht Stalin getroffen und Stalins Bomben nicht Hitler getötete. Das sei die größte Lehre deutscher Geschichte, die aber kein Kind in der Schule lerne. Nicht hüben und nicht drüben. Diese Lehre war für den kalten Krieg untauglich und wenigstens der musste seine Rechtfertigung behalten.

Sollte ich jetzt mit Laila diskutieren? Sollte ich ihr sagen, dass Krieg immer todbringend ist? Jetzt? Hier? Krieg war keine Lösung, gewiss nicht. Aber es war erst recht kein Thema für zwei Menschen, die sich in solch schönen Momenten lieben sollten. Ich spürte, wie sich meine erwartungsvolle Spannung langsam in Nichts auflöste.

»Das Einzige, was unersetzbar zerstört wird, sind die Menschen. Wer kann das wirklich gut heißen«, raunte sie mit tief gesenktem Kopf, ohne mich eines Blickes zu bedenken. Von der Liebe war Laila weit entfernt. Ich bemühte mich, verständnisvoll zu erscheinen und sprach, als hätte ich drei Pfund Kreide gefressen.

»Laila. Wir haben zu wenig Einblick in diese Dinge, um urteilen zu können. Es ist eine neue Form von Krieg. Nie da gewesen. Ein Krieg der Kulturen.«

Ich war nicht blind geboren und kannte wohl den Hintergrund jenes Krieges, den sie meinte. Die Kultur alleine war es nicht, solange Öl nicht schon als Kulturgut galt, was bei den Amis nie auszuschließen war.

Laila löste sich behutsam aus meiner Umarmung und suchte meine Hand, ehe sie erwiderte:

»Solange es keine Kultur des Streitens gibt, wird es den unsinnigen, gottlosen Streit der Kulturen geben.«

Nur ein paar Schritte trennten uns noch von der Straße. Um die Ecke hinter der Mauer, im Schutz des kleinen Wäldchens, stand mein Alfa. Ich war froh, das Leben der Stadt zu spüren und hoffte, das Getöse des Verkehrs in der viel befahrenen Straße könnte Lailas schreckliche Gedanken wieder auf das Hier bringen. Hätte ich wenigstens jetzt geschwiegen.

»Du bist von da, nicht wahr? «

Ich versuchte sie wieder zu umarmen. Sanft, aber bestimmt entwand sie sich meiner bittenden Geste.

»Ich bin Deutsche. Ich bin hier geboren und aufgewachsen.«

Ich hatte etwas Entscheidendes übersehen, damals wusste ich es nicht, und lange danach auch nicht. Deshalb rührte ich in der tiefsten Wunde, die Laila zu verleugnen suchte. In unseren endlosen Gesprächen erfuhr ich einiges über sie. Was sie gerne aß, welche Filme sie bevorzugte, was sie am liebsten machte und woran sie wirklich glaubte oder worauf sie hoffte. Aber noch niemals hörte ich ein einziges Wort über ihr bisheriges Leben, ihre Familie, ihre Herkunft.

»Wo ist deine Familie, wo leben deine Eltern?«

Sie hatte sich längst endgültig von mir entfernt und starrte mich mit ungewissem Entsetzen an, ehe sie schrie: »Lass mich in Ruhe! Lass mich wieder in Ruhe!«

Ein paar Schritte lief sie rückwärts vor mir her und ruderte mit den Armen; in ihrem Kopf schien es gleichermaßen wirr auszusehen.

»Laila, es tut mir leid«, brachte ich einigermaßen genervt heraus, doch das war sehr dumm. Warum sollte es mir leidtun? Es war eine Frage, nichts als eine geistlose Frage, die durchaus eine geistlose Antwort vertragen hätte. Sie hätte sagen, von mir aus auch schreien können: Das geht dich nichts an! Ich hätte es klaglos ertragen. Doch sie schrie mir ins Gesicht:

»Ach ja, es tut dir leid? Es tut dir irgendetwas leid, Matthias Braun, nur die Menschen im Bombenhagel nicht?«

Tief gebeugt verbarg sie ihr Gesicht in den zitternden Händen. Jeder Versuch, sie zurückzuhalten, prallte an ihrer eintönigen Antwort ab: »Lass mich in Ruhe …«

Dann rannte sie los, an der Friedhofsmauer entlang bis zum großen, ziegelroten Portal. Von der anderen Straßenseite glotzte ein Ehepaar herüber und schüttelte unisono die Köpfe. Ich rief ihr noch nach: »Laila, komm zurück …« Doch sie war hinter der Friedhofsgärtnerei verschwunden. Ich trottete weiter und blieb vor dem kunstvoll gewölbten Ziegelportal stehen, das den verwitterten Resten der Mauer die letzte Würde verlieh, die der geweihten Stätte gebührte.

Seit einigen Jahren schlich ich heimlich an diesen Ort. Noch niemals war mir aufgefallen, wie prachtvoll sich das hundertjährige Backstein-Portal vor den schlanken Fichten und hohen Kiefern ausmachte. Es ärgerte mich, dass ich in Kunstgeschichte meistens geschwänzt hatte. Ohne Legende beherrschte ich es nie, einen Bau- oder Kunststil zu erkennen. Ob es der Jugendstil ist? Ich betrachtete das Bauwerk aufmerksam. Den zehn Meter breiten und ebenso hohen Rundbogen zierten drei Türmchen. Sie fanden eine Wiederholung beidseitig auf der tiefer gelegen, mit schrägen Zinnen gekrönten Backsteinmauer. In unserer Stadt gab es viele gut erhaltene Relikte des Jugendstils. Etwas hatte mich vor ein paar Jahren schon einmal wütend gemacht. Ausgerechnet ein aus Wuppertal stammender Geschäftsführer einer hiesigen Firma schwärmte von den vielen prächtigen Bauten. Hatte ich keinen Heimatstolz? War ich zu uninteressiert? Hatte ich zu wenig Sinn für das Schöne oder doch nur zu wenig Kenntnisse? Bin ich ein Ignorant?

Es zog mich da hinein. Ein paar Schritte ging ich den Kiesweg entlang der Kapelle entgegen, die in ihrem Stil dem Portal glich. Auf dem kerzengeraden Weg lag der süße Duft von Rhododendron vermischt mit der Herbe von Wacholder. Winzige Putten säumten die Wiese. Hinter den dichten Büschen sah ich sie wieder. Laila. Nur kurz. Anmutig aber zielsicher schritt sie in Richtung des Südfeldes. Eine kurze Zwiesprache mit Oma Hannah konnte mir jetzt gerade recht sein, doch alles in mir sträubte sich und ich redete mir ein, weder wegen Laila noch wegen einer anderen Frau je meine Rituale verändern zu dürfen. Omas Geburtstag und auch ihr Todestag lagen nicht in zeitlicher Nähe. Auch hatte ich keine der Blüten bei mir, die ich gewöhnlich auf den schwarzen Marmor legte. Ich kehrte um in der Gewissheit, Laila würde eine kleine Andacht brauchen, um ihre Nerven zu beruhigen. Ich ließ ihr Zeit. Einmal musste sie wieder herauskommen. Lange lungerte ich in der Nähe der Straßenbahnhaltestelle herum. Mir war zum Kotzen zumuten und ich fragte mich immer wieder: Warum zum Teufel willst du dieser Frau einen guten Ruf vortäuschen. Hattest du das je nötig? Hast du je einen guten Ruf vermisst? Bist selber schuld. Hättest du sie genommen, da unten am Fluss im weichen Gras …

Ich war mir damals schon sicher, es ging nicht wirklich um die Rolle, die ich bei Laila spielen wollte. Es ging ja nicht einmal mehr um mich. Nein. Es ging um Laila. Sie ist krank, dachte ich. Ich muss ihr helfen. Zu dieser Zeit begriff ich nicht, wie nahe ich am Grat des Sadismus wandelte. Oder kann man es anderes bezeichnen, wenn man sich zu einem Wesen hingezogen fühlt, das einem die Nerven massakriert?

Wie ich so grübelnd eine Zigarette nach der anderen rauchte, zögerte ich noch ein wenig, mich in den Alfa zu setzen und zu Cora zu fahren, oder vielleicht zu Stella? Nur der Gedanke an Laila hielt mich davon ab, heute mit einer Frau zu pennen. Ich würde ihretwegen wieder nicht in Stimmung sein. Das wäre fatal.

Die Sonne meinte es gut. Ich schloss die Augen, lümmelte mich auf den schmalen Mauervorsprung und lehnte meinen Kopf an die Klinkersteine. Beinahe hätte ich sie verpasst. Laila kam schleppenden Ganges an der Mauer entlang. Sie sah mich nicht. Ihr Blick fiel starr ins Nichts, ihre Arme hingen kraftlos an ihr herab.

Ich sprach sie nicht an, legte nur meinen Arm um ihre Schultern und schob sie behutsam in Richtung des kleinen Wäldchens. Sie protestierte nicht, sträubte keinen noch so schwachen Muskel gegen mich und ließ es sogar geschehen, in den Alfa Romeo gedrückt zu werden. Sie schien weit weg von dieser Welt zu sein. Apathisch schweigend saß sie da und blickte in eine Leere, die ihr nur der kranke Kopf zu sehen befohlen hatte. Ja, so wird es sein, dachte ich. Oder ist es doch der Krieg? Fühlt sie mit einem Menschen, der ihr nahe steht, den sie vielleicht über alles liebt? Ich war mindestens genau so verstört wie das «hilflose Kind» neben mir und ich fand keine Erklärung. Nur eines wusste ich genau – sie war ein Fall für die Psychiatrie, und ich wollte dafür sorgen, dass man sich um sie kümmerte. Nur am Wochenende ging das nicht. Aber gleich am Montag. Ottmar würde schon wissen, was zu tun ist.

Auch zu Hause in ihrer Wohnung verbesserte sich ihr Zustand nicht. Laila saß reglos auf der hellen Couch in der Nische und kümmerte sich nicht darum, dass ich da war. Ich gehörte schließlich nicht in dieses Zimmer, nicht in dieses Haus, wahrscheinlich nicht einmal in diese Welt. Ganz sicher aber nicht in jene, in der Laila gerade weilte. Die letzten Sonnenstrahlen fielen schräg durch eine zur Hälfte herabgelassene Jalousie und tauchten den rechten Teil des Raumes in warmes Licht. Was sich hinter der Sichtbarriere aus Pflanzen befand, die den linken Teil des Raumes abgrenzte, wusste ich nicht. Die klare Ordnung, in der Laila sich eingerichtet hatte, atmete Ruhe und Harmonie. Die Farben allein strahlten Lebensfreude auf mich zurück, die mich in Anbetracht des Zustandes, unter dem Laila sich befand, beinahe erschreckte. Im Grunde wusste ich damals bereits, warum ich so fühlte. Laila überließ nichts dem Zufall. Alles plante sie perfekt nach den Gesetzen der Natur, nach deren Sinn zu forschen ich zu dieser Zeit für faulen Zauber gehalten hätte.

Ich betrachtete sie lange, trotzdem wusste ich nicht, ob ihre der realen Welt entrückte Anmut mich so maßlos quälte oder ob ich wütend war. Liebesqualen gehörten nicht in mein Leben, nicht einmal im Entferntesten. Ich kannte diese Art Frau nicht. Noch nicht.

Warum hatte ich bisher nur mit der anderen Charge Frau zu tun? Waren das wirklich Klasse-Frauen, nur weil sie sich nicht zickig hatten? Was war ich nur für ein Hurensohn – Verzeihung Mama – was war ich nur für ein Hurenbock. Ich wässerte die Pflänzchen vieler Mütter, ohne je eine Schwiegermutter zu wollen.

So erkenntnisstark und hilflos zugleich saß ich da und fürchtete, die knackenden Knöchel meiner Hände würden sich gegenseitig zum Bersten bringen.

Laila war indes von der Couch auf den Teppich gerutscht, lehnte ihren Rücken an die Sitzfläche und schlang die Arme um ihre angewinkelten Knie. Sie ließ ihren Körper nach vorn und hinten wippen, entrückt von dieser Welt begann sie zu summen, wieder die gleiche Melodie: Es waren zwei Königskinder

Unendlich lange, hilflos aber traurig sah ich ihr zu, bis ihre langsam versagende Stimme stockend der Müdigkeit nachgab.

Die Sonne schickte sich an, hinter den Dächern der Häuser zu verschwinden. Ein prächtiges Abendrot tauchte die östliche Wand von Lailas Zimmer in ein scheinbares Flammenmehr und mir war, als müsse ich sie vor dem Feuertod retten. Ich hob sie auf und bettete sie behutsam auf die Liegefläche. Noch ehe ihr Körper sich ausstreckte, umarmte sie mich, ohne es selbst zu spüren, vielleicht nicht einmal zu wollen. Doch sie flüsterte etwas, das sich wie »liebster Matthi΄s« anhörte. Jedenfalls rührte es mich, und ich rührte mich keinen Schritt von ihrem Lager.

Mal kniend, mal hockend verbrachte ich die Nacht. Von Zeit zu Zeit streckte ich mich vor ihr auf dem Teppich aus. Steifgefrorene Glieder und die ständige Angst, Laila könnte etwas geschehen, besiegten meine Müdigkeit. In völliger Dunkelheit tastete ich nach ihrem Körper, der noch immer in der weißen Jeans steckte. Sie hatte die leichte Decke bis an ihr Kinn gezogen und schlief fest und ruhig.

Sobald der Morgen das erste Licht aus den Wolken entließ, betrachtete ich ihr schönes Gesicht und konnte mich nicht losreißen. Ihre Lippen zuckten im Traum. Es konnte kein böser Traum gewesen sein, es war kein klägliches Zucken, es war ein Lächeln.

Irgendwann öffnete sie ihre Augen – und lächelte immer noch. Sie schaute mich an, ohne Furcht, ohne Misstrauen.

»Matthi΄s«, hauchte sie, klopfte mit der Hand neben sich auf das Lager, rückte ein wenig zur Seite und streckte ihre Arme nach mir aus. Ich ließ mich neben ihr nieder, nahm ihren warmen Körper in meine Arme und drückte ihren Kopf an meine Brust. Weich und entspannt reckte sie ihr Gesicht meinem entgegen, küsste flüchtig und verschlafen mein Kinn und murmelte etwas, das ich wieder nicht verstand. Eng umschlungen schlief sie wieder ein, und ich später auch – bis Lizzy im Flur unflätig mit der Tür knallte. Mittag war bereits vorbei. Es war die erste Nacht, die ich mit einer Frau geschlafen hatte, ohne mit ihr zu schlafen … Nun ja, aller Anstand ist schwer.

Es war Laila, die zu kichern begann. Beim Erwachen hatten wir uns geküsst – erst innig, um den Schlaf zu vertreiben, dann immer stürmischer. Wir wälzten uns dabei auf der Lagerstätte herum, wie andere Paare am «Ballermann Sechs».

»Du bist ein Kratzbär«, wiederholte sie die Worte, die ich nicht verstanden hatte. Laila schien fröhlich, als wäre nichts geschehen. »Und dein Haar ist viel zu lang. «

Ihre Hände zupften an mir herum, schoben mein Haar aus der Stirn, wuschelten es durcheinander, um es wieder bis zu den Augen herunter zu streichen, als müssten sie meinen lüsternen Blick verhindern.

»Ach, könnten wir doch noch einen so schönen Tag haben«, flüsterte sie mir zärtlich ins Ohr. Ich bemühte mich, meine Verwunderung tief in mir zu verbergen und heuchelte: »War er denn so schön? «

»Oh ja, Matthi΄s. Sehr schön.«

»Und warum können wir nicht?«

»Ich habe Dienst.«

»Doch nicht am Wochenende.«

Sie strich mit einer raschen Geste über mein Gesicht und lachte.

»Gehst du nur wochentags ins Kino?«

Fröhlich sprang sie auf, glättete ihre Kleidung und lächelte eigenartig. Ich konnte nicht erkennen, ob es verschämt aussah oder unverschämt. Doch sie lächelte und nichts erinnerte daran, wie krank sie war. War sie krank? Oder nur gekränkt?

»Ich mach uns ein kräftiges Frühstück«, raunte sie, und es schien, als folge noch eine Überraschung. Die fiel anders aus als erwartet.

»Derweil gehst du dich rasieren.«

»Ich habe nichts dabei«, protestierte ich.

»Im Badezimmer steht mein Lady-Shave und Rasiercreme …«

Sie hob schelmisch grinsend den Arm und streckte ihn solange kerzengerade in Richtung Zimmertür aus, bis ich mich in Bewegung setzte. Im Vorbeigehen riss ich die steile Hand an den Kopf, knallte die Hacken zusammen und salutierte: »Zu Befehl, Frau Feldwebel! «

Versonnen stand ich vor dem Spiegel im Badezimmer, das nur wenig von der Ordnung in Lailas Zimmer spüren ließ. Überall begegnete mir Lizzy. Sogar die Wäsche auf der Leine konnte ich eindeutig zuordnen. Ich hasste mich mal wieder und wusste zugleich, wie sehr ich jeden Augenblick mit Laila liebte, jeden normalen zumindest. Wie ein Kind aber fürchtete ich mich vor jenen Ausbrüchen, an die sich Laila nicht mehr zu erinnern schien. Ich hoffte so sehr, es möge nicht stimmen, was ich heimlich zu vermuten begann: Ist sie gerissen? Spielt sie mir etwas vor?

Alles in mir war sofort bereit, dieses Spiel mitzuspielen, wenn es nur darin gipfeln würde, Laila ganz für mich zu haben. Sie lehrte mich wie keine andere Frau zuvor, scheitern zu können, ohne verzweifelt zu sein, den Teufel zu sehen und an den Himmel zu glauben.

»Der Kaffee wird kalt«, rief sie vom Flur her und tippte vorsichtig gegen das Holz der Tür. Ich musste mich sputen, hatte aber keine Ahnung, wie die Frauen mit dieser ekligen Creme ihre Haare von den Beinen bekamen und von dem sündigen Garten dazwischen. Eines aber merkte ich ganz alleine. Die Stellen an meinem Kinn, wo es bereits funktioniert hatte, waren seidenweich und glatt.

Laila hatte in ihrem Zimmer einen Tisch gedeckt, der mir vorher nicht aufgefallen war. Ein Hubtisch offenbar. An einem so liebevoll gedeckten Tisch hatte ich seit meinem Ausriss von zu Hause nie wieder gesessen. Strahlend empfing sie mich, legte ihre Arme um meinen Hals, küsste mich zärtlich, rubbelte dabei ein wenig an meinem Kinn und sagte:

»Heut ist es besser. « Ihr Unterton ließ keinen Zweifel daran, dass sie etwas an mir störte.

»So schlimm ist mein Bart?«

»Nicht dein Bart, dein Aftershave.«

»Mein Aftershave? Es riecht doch nicht schlecht.« Jetzt war ich doch einigermaßen baff. Es gab keine Frau, die den Duft meines Aftershave noch nicht gelobt hatte, doch konnte ich Laila das sagen?

»Ich habe keins benutzt«, verteidigte ich mich.

»Deshalb geht es ja auch, aber sonst ... Es ist das Gitter. Das ist grundhässlich.«

»Welches Gitter?« Schon fürchtete ich, mit meiner Frage wieder eine Katastrophe auszulösen und griff mit gleichgültiger Miene nach der Konfitüre, die Laila in winzigen Schälchen nach dem Farbenkreis von hell bis dunkel sortiert um mein Gedeck angeordnet hatte. Ich liebte sie für all das Schöne, das sie umgab und spürte immer mehr, dass sie selbst so viel Schönes schuf. Ihre schönen Augen aber schauten mich an, als wollten sie sagen, ich solle keinen Spaß mit ihr treiben. Ihr schöner Mund sagte gar nicht Laila gemäß: »Das Gitter, das man eben bei diesem Geruch sieht.«

Mir blieb der Bissen im Hals stecken. Sie sagte es wie mein Psychologie-Professor, wenn er nach seiner Meinung Lapidares noch einmal idiotensicher zu erklären versuchte. Im Geiste hörte ich seine Worte: Unser Gehirn bildet die Außenwelt nicht einfach nur ab, wie das eine Kamera tut. Es interpretiert die Signale von außen und setzt daraus eine ganz persönliche Welt zusammen – unsere Innenwelt. Sehr oft haben die beiden Welten nur wenig miteinander zu tun. Die Nervenzellen schaffen nicht nur ein Abbild, sie bewerten es auch.

Ich erinnerte mich genau, wie er von der großen Liebe sprach, die durch den Anblick einer Rose in unsere zärtliche Erinnerung zurückkommen könne, bei einem anderen Menschen aber die Angst vor dem Sterben bedeuten konnte. Es musste wohl so sein. Warum sonst empfindet jeder Mensch anders? Mir leuchtete etwas zum ersten Mal ein: Durch unseren Körper strömen Millionen elektrische Schwingungen. Wie sonst wäre es möglich, dass wir an jedem Punkt der Welt erreichbar sind, egal ob über das Handy oder ob Radiowellen uns erreichen. Wenn diese Wellen in uns auf eine Antenne stoßen, interpretieren wir diese Meldung mit den Sinnen, die gleiche Frequenzen aufweisen.

Ich haderte mit mir. Anstatt Laila für das leckere Frühstück zu loben, drifteten meine Gedanken immer weiter in den Pool der Absonderlichkeiten, die mir an Laila aufgefallen waren. Ich hoffte, sie konnte meine Gedanken nicht hören oder riechen oder so was, und ich fragte: »Warum ist es immer so still bei dir?«

»Das kunterbunte Durcheinander geht mir auf die Nerven – meistens jedenfalls. «

Etwas an ihren Worten passte nicht zusammen. Ich hatte von Klängen gesprochen, nicht von Farben. Mozart, durchfuhr es mich. Sie nennt das Bild im Flur Mozart. Sie hört Mozart, wenn sie das Bild sieht. Gehört dieses Symptom in den schizophrenen Formenkreis?

Ich stand auf, lächelte ihr zu und nahm sie bei der Hand. Im Flur bat ich sie zu erklären, was sie hört.

»Hier? Nichts«, sagte sie, drehte sich um, blickte übermütig hinter den blauen Vorhang, vor dem die Bodenvase mit dem vorjährigen, aber noch immer prächtigen Sanddorn stand und begann zu kichern. Ich nahm sie an den Schultern und drehte sie zu einem der beiden Bilder.

»Was ist das?«

»Die Moldau, von Smetana.«

»Ich sehe keinen Fluss, Laila. Ich sehe Farben, phantastische Farben, sie fließen ineinander. Aber ich sehe keinen Fluss.«

»Wenn du Smetana kennen würdest, könntest du es so sehen, genau so! Aber du hörst nur immer diese Blechmusik …«

Bei den letzten Silben hob sich ihre Stimme ein wenig, noch nicht hysterisch. Sofort nahm ich sie in meinen Arm und küsste sie, sanft doch voller Sorge.

Bevor ich etwas zu unternehmen gedachte, wollte ich mit Ottmar sprechen.

»Hattest du ein Duell mit dem Rasenmäher?« So empfing mich unser Doktorchen Ottmar, als er mein glattrasiertes Kinn und den neuen kurzen Haarschnitt sah. Noch griente er ein wenig verschlafen. Während seiner Bereitschaft, so hatte er versprochen, wollte er ein halbes Stündchen für mich opfern, warnte mich aber unmissverständlich: »Falls du da was verwechselst – ich bin Urologe, kein Psychologe. «

Jetzt grinste ich in sein lautes Gähnen hinein, das durchaus verriet, wie anstrengend das Warten auf den nächsten Notfall sein konnte.

»Falls du da was verschwiegen hast! «

Ottmar verzog sein Gesicht, das Mühe hatte, die müden Muskeln in Schach zu halten.

»Ich wusste gar nicht, dass du schon das Rigorosum hinter dich gebracht hast …?«

»Ich habe nicht Doktor der Urologie gesagt«, zischte er genervt und schob gähnend hinterher: »Schieß los, ich hab nicht ewig Zeit. «

Mein Blick wanderte über die zerwühlte Pritsche.

»Deine Zeitnot ist ja nicht zu übersehen. Was ich von dir will, geht niemanden etwas an, klar? «

»Gut so. Du kannst auch etwas für mich tun, was keinen etwas angeht. «

Na also, dachte ich, langsam zerbröselt die Clique. Wer wird auch ernsthaft erwartet haben, dass wir uns auf Dauer unsere Weibergeschichten erzählen, mehr noch, die Weiber gegenseitig zuschieben wie die elitären Schwerverdiener ihre Bälle auf dem Kunstrasen. Ohne zu wissen, was Ottmar unter den Nägeln brannte, stimmte ich monoton zu und entlockte meinem Gegenüber allein damit ein zufriedenes Grinsen.

»Du erinnerst dich vielleicht an Laila?«

»Nee, wer ist das denn – Die Inderin etwa? «

»Die Kleine aus der Harmonika. Sie ist Deutsche, aber sie ist … ein wenig sonderbar. «

Ich erzählte ihm von den Bildern und der Musik, die Laila, in welcher Reihenfolge auch immer, miteinander verknüpfte, von dem Aftershave, das ein Muster haben soll und ich erinnerte ihn zum Beweis an die Heavy Metall Musik in der Harmonika, die Laila störend blau erschienen war.

»Indigo«, berichtigte mich Ottmar und kratzte sich an seinem lichten Haupt, schwieg aber. Nach ein paar Schritten im kargen Raum entschied er bereits wie ein gestandener Weißkittel:

»Schick sie zum Psychologen, vielleicht hilft Zyprexan, keine Ahnung.«

Hinter der Trennwand rumorte es und gleich darauf erschien ein ebenso verschlafenes Gesicht, nur freundlicher als das von Ottmar.

»Pardon … deine Frau … das kann Synästhesie sein. «

In der Nische stand ein hochgeschossener Mitte-Dreißiger. Über seinem Engelsgesicht fehlte etwas, die Haarpracht. Die schien ein wenig nach hinten heruntergerutscht zu sein. Vorn hatte sie sich im unteren Viertel der Stirn und ein bisschen auch unter der Nase einen neuen Platz gesucht.

»Synergetisches Empfindungsvermögen?«, reimte ich zusammen, schließlich hatte ich einmal studiert und konnte Eins plus Eins zusammenzählen.

»Es gibt Menschen, die riechen oder hören, was wir nur sehen. Ihre Nervenbahnen sind … wie sagt man deutsch … falsch verschaltet. «

Aha, ein Ausländer, registrierte ich wegen seines Akzentes, doch Ottmar blaffte ihn sofort an:

»Na, Herr Kollege, sagen Sie schon, dass sie verrückt ist!«

Der Mann hob abweisend eine Hand, während die andere ziemlich täppisch über sein haarloses Vorderhaupt glitt. .

»Es ist nicht Krankheit, ist psychologisch-neurologische Besonderheit. Trotzdem gut, wenn medizinisch abklären. Manchmal nur Halluzinationen. Verstehen? Kernspin-Tomographie vielleicht. «

Der Kerl mit den buschigen Augenbrauen hatte sich nicht vorgestellt und Ottmar dachte nicht daran, es nachzuholen. Vorsichtshalber reichte ich dem Hünen die Hand und bemühte mich, enttäuscht auszusehen, obwohl es mir stank, einen Mithörer gehabt zu haben.

»Sie erlebt es mit offenen Augen mitten am Tage«, sagte ich, was Ottmar veranlasste, seine alten Witze zu reißen:

»Hört sie vielleicht auch Stimmen die summen, statt Summen die stimmen? «

Ottmar kicherte. Irgendeine Erinnerung löste ein leises Schütteln in ihm aus und ich spürte, wie ungläubig er mich musterte. Ich wunderte mich das erste Mal, wie ich es seit Jahren mit solchen Freunden aushielt. Ich ignorierte ihn folgerichtig auch zum ersten Mal und wandte mich dem Hünen zu:

»Niemals bekomme ich Laila zu einem Psychologen.«

Noch ehe ich fragen konnte, ob man es nicht anders angehen könne, hob er die Schultern und blies seinen Knoblauch-Atem durch die Zähne.

»Ja dann …«

Für ihn schien die Sache erledigt, der Mann ging ohne Gruß, wie er gekommen war. Während ich noch überlegte, wie ich Ottmar und seinen Triebproblemen entgehen könne, stand der Hüne wieder in der Nische.

»Ich kenne da jemand. Komm nächstes Sonntag zu «Syrtaki», setzen mit Frau an Stammtisch und … lass uns machen. Okay?«

Sein Du machte die Sache wenigstens für mich ein wenig leichter, trotzdem wollte ich wissen: »Wer ist uns

»Sie ist … wie sagt man … Landsleutin?«

»Landsmännin?«

Er klopfte mir sofort auf die Schulter, ohne den geringsten Zweifel zu hegen, von Einheimischen nicht die richtige Aussage zu deren Muttersprache zu bekommen. »Versuche zu finden heraus, was Frau vermischt. Musik und Farben, Duft und Muster, Farben und Zahlen? Okay?«

Er rang sich ein Lächeln ab und ließ seine Zähne unter dem buschigen Schnauzbart blitzen, dann ging er. Endgültig.

Ottmar fuchtelte dem Hünen hinterher und schimpfte:

»Dieser Lalakakis mit seiner Bauernschläue. Lass dich bloß nicht auf diesen Griechen ein. Der mischt sich überall ein.«

»Ist doch besser als gar nichts«, gab ich meiner einzigen zu Fleisch gewordenen Hoffnung zu verstehen, was ich von seiner Hilfe hielt, wegen der ich mich hierher bewegt hatte. Von mehr enttäuschten Bekenntnissen über Ottmars Schläue hielt ich mich zurück, doch der gestikulierte weiter. Gut möglich, dass er meinen kritischen Einwand überhört hatte.

»Die alten Griechen dachten, das Gehirn dient ausschließlich der Abkühlung des Blutes. Irgendwie scheint es bei Lalakakis noch immer so zu sein«, wetterte er. »Farben für Zahlen? Ja bitte - Ich bin kein Synästhetiker, die Zahlen auf meinem Konto sind trotzdem rot.«

Es kümmerte mich nicht wirklich, ob Ottmar viel oder wenig Knete besaß. Vielmehr lag mir bisher die Zeit am Herzen. Das Einzige, was sich von Ottmars Schimpftirade in meinem Inneren verankert hatte war das Misstrauen gegen den Hünen – aber das dümpelte zu dieser Zeit noch als Kaulquappe im trüben Teich meiner Orientierungskrise.

Jetzt aber registrierte mein Kopf einen neuartigen Tumult unter meinem Brustbein, den meine egostarke Natur bisher als das Chaos eines Genies klassifiziert hatte. Mich zog es fort. Ich brauchte Zeit, um mir über dieses Synästhesie-Phänomen klar zu werden, das Laila zu etwas ganz Besonderem machte. Es muss genial sein, dachte ich. Hätte ich diese Gabe, würde mein kreatives Vermögen schon längst nicht mehr auf dem niederen Level herumdümpeln. Andererseits konnte Lailas Gabe auch eine Last sein. Wer will schon ständig unter Doppelfeuer stehen? Trägt Laila deshalb dauernd diese Kopfhörer? Und bisweilen die dunkle Brille?

»Hör mal, du musst dich mal für mich ins Zeug legen … bei Conny …«

Ein paar von Ottis Worten hatte ich während meiner geistigen Zeitreise noch aufgeschnappt, ehe ich, wer weiß wie, auf der Straße stand und nicht einmal wusste, ob ich mich von Ottmar verabschiedet hatte. Der winzige Strohhalm, den mir der Hüne zugeworfen hatte, reichte aus, in meinem Inneren eine Hochstimmung zu gebären, die sich kreißend vom obersten Schädelbereich abwärts schob auf den Weg zu den Mundwinkeln. Freundliche Menschen schienen in dieser Stadt keine Seltenheit zu sein, man grinste hundertfach zurück, als wünschte man mir Glück. Dabei war die neue Gewissheit weit davon entfernt, ein Quell purer Freude zu sein. Das aber wusste ich in diesem Moment noch nicht.

»Ein bisschen mehr Lebensfreude, meine Dame.«

Ich knuffte Conny, die ihren Kopf in beide Hände stützte und aus wässrigen Augen neidisch auf meine gute Laune stierte. Mit gebrochener Stimme versuchte sie mir plausibel zu machen, dass ich für die PK am Montag noch zehn Qs & As zu schreiben hätte und dass Tarrach sie bis elf Uhr benötigte. Ich hasste diese Anglizismen-Manie, die einzig dafür geschaffen war, unsere besondere Geisteskraft zu demonstrieren, ohne die eine Karriere im Werbebusiness illusorisch blieb. Mein Vize-Chef Tarrach war die personifizierte Anglizismenmaschine, aber das sollte mich von meiner Aufgabe nicht abhalten.

Ganz nebenbei sah ich, wie Connys Mundwinkel verdächtig zuckten.

»Was ist los, Baby? «

Schon heulte sie los, erst lautlos, dann schamlos, bis sie in ihr Taschentuch prustete:

»Was weiß ich, ob ihr nicht unter einer Decke steckt! «

Also ging es um Tarrach. Ihre Hysterie ging mir zwar auf die Nerven, doch ich konnte mittlerweile verstehen, warum es Menschen einander in die Arme treibt, die sich unter anderen Umständen keines Blickes gewürdigt hätten. Die Macht des Begehrens ist stärker als alle Vernunft. Nun verhielt es sich aber so, dass die Schöpfung Mensch sehr weit entfernt von all den anderen Kreaturen auf dieser Welt war, die einzig der Erhaltung der Art wegen einander begehrten. Die menschliche Kopulation dient - neben der Lust an der Lust im Allgemeinen - der Steigerung des Lebensniveaus im Besonderen, wobei im Letzteren Connys Erwartung bestand.

»Du heulst doch nicht, weil du das Vertrauen verloren hast. Du heulst, weil du den Glauben an dich selber verloren hast, weil deine Erwartungen zu hoch geflogen sind und der Absturz so wehtut. «

Wie ich es meinte und wie Conny es verstand, dazwischen lagen Welten, das verriet mir ihr boshafter Blick. Ich hatte es gut an diesem frühen Morgen, noch war ich mir sicher, dass mir so etwas nie passieren könne. Bis zu meiner Erfahrung mit Laila vergeudete ich keinen einzigen Gedanken daran, ein Mann könnte Schuld an den Tränen einer Frau haben.

Ohne die nervende Sirene erneut in Gang setzen zu wollen und ohne meine gute Laune in weiblicher Hysterie ersaufen zu lassen, tastete ich mich vorsichtig an Connys Problem:

»Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib ist nur ein Gebot, kein Verbot! Das gilt auch für Tarrach!«

Conny zog ein Papiertaschentuch aus dem zerknüllten Päckchen und schnäuzte sich lautstark, während sie gleichzeitig zu heulen und zu klagen begann:

»Vor Gott hat er sich selber zu verantworten. Aber vor mir sollte er …«

»Du willst doch nicht klagen, dass er dich betrogen hat?«

»Ich will sagen, dass er ein Schwein ist, ein verdammtes…!«

Warum blieb mir dieses weibliche Aufbegehren vor den Abgründen einer unerfüllten Liebe nicht erspart. Gleich würde sie mir ihren Todeswillen kundtun. Zu jener Zeit hatte meine Diplomatie im Umgang mit Frauen noch den Status eines unterentwickelten Ober-Primaten.

»Schade«, sagte ich in Gedanken, doch die meinten nicht Tarrach und auch nicht Conny, die meinten den Detailverlust an Informationen, die Conny im Anfall ihrer körperlichen Erschütterung mit den Worten bedacht hatte: wenn ich das Galle sage …! Ich feixte, doch das brachte sie noch mehr aus der Fassung. Ihre fiebrig glitzernden Augen lagen tief in einer dunklen Höhle, von breiten, braunen Ringen umgeben.

»Schade«, wiederholte ich gelassen. »Du hast gerade deinen berühmten Charme verloren. Dabei hatte ich noch eben vor …«

»Das Eine sage ich dir…«, krächzte sie.

»Gut. Und das Andere sagst du mir, wenn du wieder den nötigen Charme entwickeln kannst, für Ottmar zum Beispiel.«

Conny erstarrte für einen Moment. Dann rollten ihre blutunterlaufenen Augen, dass mir himmelangst wurde. Ich stellte mir vor, wie es aussähe, wenn einem die Augen platzten. Peng – und du hast die wütende Linse an deiner Backe kleben. Ich musste mich beherrschen. Wenn ich jetzt kicherte, würde der bevorstehende Suizid in der Agentur stattfinden. Das hatte ein loyaler Mitarbeiter und angehender Kuppler unbedingt zu verhindern.

Im nächsten Moment verrieten Connys Augen, dass sie sich zwischen dem Tiefschlag der Demütigung und der hoffnungsvollen Neugier entschied.

»Ottmar sagtest du?« Während sie posaunend in ihr Taschentuch schnäuzte, schien in ihrem Köpfchen ein neuer Film abzulaufen, der Film eines Widerstreites, eines unendlichen Dialoges über die schwierigste Frage dieser Zeit: Geld oder Liebe. Ottmar ist schließlich angehender Arzt, und Ärzte verdienen mehr als sie verdienen, das wusste auch Conny.

Ich formulierte die nächsten «Qs and As», klimperte fröhlich auf meiner Tastatur herum und sprach alles laut mit

. Manchmal möchte man Hirnforscher sein, zumindest wenn es die Erforschung des weiblichen Hirns betrifft. Warum sind die nur so dünnhäutig, beziehen sogar auf sich, was nur den Background unseres Lebens darstellt? Ich versuchte, ruhig zu bleiben, ohne sie noch weiter zu reizen. Bald mussten Tarrach und Galle erscheinen und sollten nicht erfahren, was ich jetzt wusste.

Mit moralapostelionischer Heuchelei versuchte ich, ein Lächeln auf Connys Gesicht zu zaubern.

»Ich weiß, du bist nicht gerade eitel, aber du bist sehr mutig, und kannst den Blick in den Spiegel ertragen. «

»Wenn du alles noch verschlimmern willst«, presste sie heraus, ohne Ausrufezeichen, ohne Punkt. »Dann denke ruhig weiter, was du gerade denkst …!« Sie hob drei Finger zum Schwur, doch ihr Mienenspiel glich schon ein wenig mehr jener Conny, die ich kannte, die beim Orgasmus zwar keine Lieder jauchzte, die aber ihre körperliche Unterlegenheit vor einem Mann mit weiblicher Wortgewalt kompensiert. »Deine Ehrlichkeit ist wie der Schwanz einer indischen Kuh - heilig, aber irgendwie total beschissen.«

Jetzt kam das Ausrufezeichen. Laut und klar überschlug es sich im Raum und hallte dreifach von den Wänden wider. Wer kann das Weib als solches schon verstehen? Warum wurde sie jetzt so ekstatisch und warum konnte ich mein Lästermaul nicht halten?

»Hättest du damals in ähnlicher Ekstase einen Orgasmus vorgetäuscht, wäre es mit uns beiden nicht das letzte Mal geblieben. Mir zuliebe hast du dir nicht die Mühe gemacht.«

Vielleicht war es Tarrach ähnlich ergangen, wer weiß das schon. Ich wendete mich schweigend meinem Monitor zu und erlebte nicht zum ersten Mal das Paradoxon, das ich selbst nicht verstand. Seit ich Laila kannte, gingen mir die anderen Weiber komplett auf die Ketten und Conny sprang gerade mit voller Kraft auf meinen Bremsklötzern herum.

»Fick du deine indische Kuh, lass mich aber in Zukunft in Ruhe«, schrie sie, versetzte ihrem unschuldigen Bürostuhl einen gewaltigen Stoß und rannte heulend aus dem Zimmer.

»Versprochen!«, raunte ich ihr hinterher, doch ich musste ziemlich bedeppert ausgesehen haben. Es hatte sich also herumgesprochen, das von Laila und mir. Früher hätte mich das in eine schadenfrohe Höchststimmung versetzt, doch das jetzt ging zu weit. Zum ersten Mal taten mir so dahergesagte Worte sehr weh. Gekränkt vertiefte ich mich in meine Arbeit und war sogar froh darüber, wie stark mich die Qs & As in Anspruch nahmen. Nicht eine einzige meiner grauen Zellen widmete sich der Frage, ob Conny im Begriff war, hier und jetzt ihren vorprogrammierten Suizid zu vollenden.

In Deutschland sterben zurzeit mehr Menschen an Selbstmord als im Straßenverkehr, das hatte ich gelesen, wusste aber zugleich, dass Männer den Rekord hielten, nicht die Frauen. Lass sie, dachte ich, sie wird zu feige sein. Es traf mich nicht einmal, dass sie mich zu hassen schien. Ich hatte ja nichts mehr mit ihr vor, war die Ruhe in Person und irgendwie begriff ich plötzlich Mamas Erdbeerenpredigt.

Seit man immer Erdbeeren bekommt, mag ich sie gar nicht mehr. Weißt du noch Matthias, wie du dich gefreut hast, wenn Mama ein Körbchen Erdbeeren erstanden hatte? Und wie die geschmeckt haben, so frisch vom Feld und so natürlich – Nicht wie die heutigen, künstlich hochgezüchteten, luftgepolsterten ...

Auch ich ertappte mich neuerdings in der geduldigen Warteschleife, bis die natürliche Zeit anbrechen möge, die Laila-Zeit, wie früher die ostdeutsche Erdbeerzeit. Ein bisschen genascht hatte ich ja schon, aber beim Naschen kommt der Appetit.

Noch bevor die Chefs einrückten, hatte ich meine Vorgabe erledigt und erinnerte mich wieder an Conny, deren Stuhl noch immer verwaist mitten im Raum stand, wohin er nach ihrer wütenden Tirade gerollt war. Ich ging nachsehen wo sie steckte. Wie konnte es anders sein – im Serverraum. Sie lehnte am Pfosten und trauerte den wilden Zeiten mit Tarrach nach. Ihr Körper zuckte, ihr Blick aber hätte jedes Ungeziefer getötet, wäre dies nicht ohnehin der sterilste Ort in der Agentur gewesen.

»Illusionen sind gefährliche Typen«, sagte ich. Die Worte waren eine einstudierte Hypothese, die ich aus der Tiefe meiner Erinnerungen schöpfte. »Sie tun alles was du möchtest und scheren sich einen Dreck um die Wirklichkeit. «

Conny warf sich heulend an meinen Hals und jammerte:

»Vergiss das mit der Kuh, es war nicht so gemeint.«

Es war schwierig, Conny noch zu mögen, so verheult und unmanierlich wie sie war. Zum Schutz meines empfindlichen Trommelfelles verlor ich kein Wort. Ich zog sie wortlos mit mir aus dem Raum. Früher wäre es nicht bei der unverhofften Umarmung geblieben, wir hatten schließlich unsere Rituale, die im Moment vor der Tugend Platz machten. Die Tugend warnt den Menschen vor Irrwegen – doch die meisten metaphysischen Fragen sind für die weibliche Vernunft unlösbar.

Soweit die Weisheit, aber inzwischen gab es Laila, und so manche meiner Weisheiten über die Frauen passten einfach nicht mehr. In diesem entscheidenden Moment wünschte ich mir, Laila könnte sehen, wie stark, wie konsequent ich war, doch im Handumdrehen war dieser fromme Wunsch zweitrangig geworden. Unten kamen Galle und Tarrach zur Tür herein. Ich schob Conny vor mir her und drückte sie konsequent auf ihren Stuhl. Galle, wie immer geschniegelt und gebügelt, wallte erhabenen Schrittes an uns vorbei ins Chefzimmer. Es fehlte nur noch eine Mitra und der alte Galle könnte wieder von der Kanzel predigen, von der er sich einst abgewendet hatte. Es war schon komisch. Als er merkte, dass ihm diese Art Verkündigungen nicht lagen, versuchte er es mit Werbung. Jetzt formte er andere Götzenbilder, betete sie an und erwartete von seiner (Rezipienten-) Gemeinde absolute (Produkt-) Ergebenheit.

Der Tag zog sich hin, aber irgendwie langweilte er mich weniger als die unzähligen Tage vorher in dieser Agentur. Das lag wohl an der Gewissheit, tagsüber ohnehin nicht mit Laila sprechen zu können. Ich nahm mir vor, sie vom Dienst abzuholen, wusste aber nicht so genau, wann das sein konnte und wie ich es anstellen würde. Auch war mir nicht klar, wie Laila darüber denken würde. Ob sie mich liebt? Eine solche Frage wäre mir früher nie in den Sinn gekommen. Ich schämte mich beinahe vor mir selbst. Ich, der sich den Frauen ausschließlich mit der Geilheit eines Heißblütlers genähert hatte, ich sollte, so mir nichts dir nichts, die Unbeschwertheit eines jungen Fohlens aufbringen? Niemals im Leben hatte ich von Liebe gesprochen. Welcher Mann kann daran schon ernsthaft glauben? Ich hatte Liebe gemacht wo immer es ein verborgenes Plätzchen gab, aber ich hatte nie geliebt und bin wohl auch niemals geliebt worden – Oma Hannah mal ausgenommen und Mama und Vater selbstverständlich auch. Im Zentrum eines Wirbelsturmes verführerischer Frauen war ich der Held, der mit vollem körperlichem Einsatz alles umknickte, was ihm beliebte. Darin lag meine wichtigste Daseinsform. Nie hätte ich daran gedacht, mich eines Tages nach Sanftheit zu sehnen, nach Sekunden, die durch nichts außer empfangener Zärtlichkeit in mir ruhen bleiben. Ich hatte auch keine bestimmte Vorstellung davon, wie lange so etwas anhalten konnte. Nur eines war mir klar; all diese absurden Wünsche sah ich in Laila erfüllt. Sie war sanft und gütig und schien mich zu mögen, aber sie war eben nicht von dieser Welt. Ihr Stolz, den sie zuweilen an den Tag legte, und ihre Tiefgründigkeit, machten merkwürdigerweise die erschreckende Erkenntnis vergessen. Zumindest in den normalen Momenten des Lebens mit ihr.

Ich lief durch die Stadt, die ich aus unbestimmten Gründen verabscheute. Alles hier schien meine Phantasie zu lähmen. Es war also gesetzmäßig, dass ich ein Kind der Nacht geworden war. Der Gedanke, ich könnte eines Tages mit weichen Knien und einem Glückstaumel in meinem Kopf vor eine Frau hintreten, wäre wohl nicht nur mir ziemlich lächerlich vorgekommen.

Ich nahm den Weg vom Altmarkt zum Neumarkt durch die Marktstraße, direkt auf das Rathaus zu. Es zog mich immer öfter direkt an Lailas Haus vorbei, obwohl ich wusste, dass sie nicht zu Hause war. Ein süßer Duft verwirrte meine Nase.

»Laila«, packte mich ein unverhoffter Wunsch, sie möge vor Sekunden hier entlang gelaufen sein und ich würde sie im nächsten Moment treffen. Es wäre ein Glücksumstand, sie zufällig zu sehen. Sie könnte keine Absicht vermuten und mir niemals Vorwürfe machen, ihr nachgestellt zu haben.

Ich hob meine Nase ein wenig, um diese Lieblichkeit zu inhalieren, die ungestört in meiner Erinnerung geschlummert hatte. Mein so erhabener Blick verriet mir schnell und schonungslos den Grund meiner kurzen Verwirrung.

Wie oft bin ich schon hier entlang gelaufen? Noch niemals hatte ich die üppigen Blütenwülste bemerkt, die blau und gelb von den Fenstersimsen des Rathauses rankten und dem ehrwürdigen Backsteinbau die Freundlichkeit des Sommers einhauchten. Warum sah ich sie an diesem Tag zum ersten Mal? Warum hatte ich die Schönheit der Friedhofspforte vorher nie wahrgenommen? Mein überreiztes Gemüt hörte Galles nervenden Ermahnungen:

Füllen Sie Ihre grauen Zellen mit Informationen, die Ihnen helfen, über Ihren begrenzten Tellerrand zu schauen – Bauchgefühl, mehr Bauchgefühl, Herr Braun. Kreative müssten neugierig auf das Leben sein – Der Glaube an den Menschen und der Sinn für alles, was uns umgibt – das macht einen guten Werber aus.

Er hatte wohl Recht, aber mein Bauchgefühl sagte mir heute nur eines – Laila. Der Gedanke an sie erfüllte mich schon den ganzen Tag. Ich hätte mir in diesem Moment und in tausend Momenten vorher nichts mehr gewünscht, als dass jede Frau zuvor Laila gewesen wäre. Dieser neue Zustand war bedrückend und beflügelte mich zugleich. Jeden Augenblick, an dem ich mich nicht gerade einer äußerst wichtigen Angelegenheit zuwenden musste, irrten meine Gedanken zu ihr und ich hoffte, es möge nicht die Vorfreude auf ein unerfüllbares Geschenk sein. Ich verleugnete vor mir selbst vehement, genau zu wissen, wie lange bisher in meinem Leben die Freude über ein sehnlich erwünschtes Geschenk angehalten hatte. Was nun Laila betraf, hatte ich das Geschenk noch nicht einmal in Aussicht – wenn ich es erst einmal habe, würde ich weitersehen.

Die Tür zum «KinOh» war weit geöffnet. Ich trat in den Vorraum und schaute mich um. Rechts ging es in den großen Saal «Leinwand 1». Links neben dem Kassentresen, der mit allerlei Informationsblättern ausstaffiert war, prangte ein riesiger Pfeil hin zu «Leinwand 2».

Ich nahm mir eines der Programmhefte und bemühte mich, sehr interessiert zu erscheinen.

»Wenn Sie noch in den Pianisten möchten, müssen Sie sich beeilen«, rief die Kassiererin herüber.

Ein Deutsch ist das heutzutage, dachte ich.

»Ich hatte nicht vor, irgendeinem Pianisten in den Arsch zu kriechen«, brummte ich leise, während mein Blick auf die Plakatwand das Problem klärte. «Der Pianist» war einer der Filme, die hier gezeigt wurden.

Mein peilendes Designerauge taxierte ein Plakat nach dem anderen. Es waren vorrangig Dramen im Programm, was bei Laila auch zu erwarten war. Nur über Leinwand Nr.2 flimmerte heute die Komödie «Bruce Allmächtig». Ich kannte diesen Streifen, in dem es nicht eine einzige Szene gab, die dem Plakatmotiv glich. Ich fragte mich beim Betrachten, wo bei all den Filmplakaten, die als Hauptmedien galten, die Winzigkeit einer Werbeaussage lag. Gute Motive – ja – aber kaum eine Animation. Würde ich ein solches Plakat abliefern, bekäme ich es von Galle um die Ohren gehauen. Diese Filmplakate hier zierte ein schöner Held, ein dominanter Filmtitel und jede Menge Namen und Logos, in unleserliche Schriftblöcke gezwängt, die man aus einem Meter Entfernung nicht mehr entziffern konnte.

»Matthi΄s«, hörte ich hinter mir ein Flüstern und gleich darauf, »wie kommst du denn hier her? «

»Zu Fuß« Zwar lächelte ich, aber ich bemühte mich, meine Freude über ihr plötzliches Erscheinen hinter der kühlsten Gelassenheit zu verbergen, die mir je an einem warmen Sommertag geglückt war.

»Möchtest du einen der Filme ansehen?«

Ich wagte nicht, mich zu rühren, denn Laila hatte ihre freie Hand auf meinen Arm gelegt und noch nicht wieder zurückgezogen. Unter meiner Haut stieg etwas aufwärts, drang durch die Adern, bis es sich zwischen den Rippen verteilte. Sie lächelte so süß, als wollte auch sie sagen, dass sie sich freue, doch sie stand erhaben neben mir und wartete. Nur ihre großen dunklen Augen nahmen einen eigentümlichen Ausdruck an, so zwischen Ungeduld und Vorwitz.

»Nein«, sagte ich und fügte leise hinzu, damit es die Frau an der Kasse nicht hören konnte: »Nur dich!«

»Ich habe wenig Zeit, weißt du«, flüsterte sie ebenso und schob die Akte mit einem Ruck unter die Achselhöhle, als wollte sie auch ihre Linke noch für mich frei haben. Sie sah bezaubernd aus. Sie trug einen graugrünen Seidenanzug und ihr Haar war zu einer seitlichen Rolle gedreht, die ihren wundervollen Hinterkopf noch mehr betonte. Auf ihrem Namensschild stand tatsächlich unter dem Firmenlogo: Laila El Sahib, Projektmanagerin. Ich bemühte mich, nicht zu staunen, hatte ich doch gelernt, meine Augen niemals direkt auf etwas zu richten, das mich brennend interessierte. Nach und nach wurde mir ihre distanzierte Nähe unerträglich. Warum nahm ich sie nicht einfach und entführte sie aus der Kühle des Foyers hinaus in die milde, blühende Natur, die ich selbst erst vor wenigen Minuten entdeckt hatte. Warum küsste ich sie nicht einfach, hier und jetzt, vor aller Welt, auch wenn diese Welt nur eine kleine, unbedeutende, ältliche Kassiererin war.

Wie sie so vor mir stand mit dem untrüglichen Eindruck von Gelassenheit, sah ich das Pochen unter ihrer Muskathaut am anmutigen Hals. Sie schien so unschlüssig zu sein in ihrer dienstbeflissenen Erhabenheit, doch ihre Ausflucht hatte wenig mit dem zu tun, was auch sie zu wollen schien.

»Die Zeit hat einen Nachteil, Laila. Sie gönnt uns jeden Tag nur einmal.«

»Ich weiß Matthi΄s«, erwiderte sie und es war gewiss, dass noch Worte folgen würden.

»Wenn der zweite Film angelaufen ist, habe ich zwei Stunden Zeit. Okay?«

Die winzige Schwingung in ihrer Stimme hatte ich trotz meines inneren Jauchzens nicht überhört. Eine so angenehme Empfindung konnte ich nicht mehr als Selbstbetrug annehmen. Ich muss allerdings zugeben, in diesem Moment dachte ich daran, dass zwei Stunden für einen Liebesakt genügen würden. In dieser Erwartung sprang ich ungestüm die Stufen der Freitreppe zum großen Vorplatz hinunter. Schon atmete ich mein nacktes Begehren und schmeckte im Geist ihre süße Haut, doch wohin sollte ich mit ihr gehen? Der Gedanke an Lizzy in Lailas Wohnung missfiel mir gründlich.

Wir liefen Hand in Hand durch den Park und später den Fluss entlang. Die Sonne lugte schon schwächlich unter die Schürzen der Bäume und die Luft roch süß-würzig nach Lindenblüten und Pfeifenstrauch.

»Es ist schön, nicht wahr?«, flüsterte sie. Aus ihren Augen strahlten winzige Sterne. Ich war ein wenig enttäuscht, nur spazieren gehen zu müssen und nickte wohl auch entsprechend gleichgültig.

»Wie damals in den Schluchten. Ich denke so oft daran, Matthi΄s. Immer wenn ich traurig bin … oder etwas ausgelaugt, denke ich an diesen schönen Tag – und die Nacht.«

Und die Nacht? Hatte ich richtig gehört? Jene Nacht war die schlimmste meines Lebens. Vor dem wohl schönsten Morgen - zugegeben.

»Du hast viel Stress, nicht wahr?«

»Es ist nicht der Stress, Matthi΄s. Es ist der Mangel an positivem Gegengewicht.«

»Na siehst du. Du musst für mehr Erfreuliches sorgen.«

Ich hatte gut reden. Warum begann ich, Galles nervtötende Predigten über das Leben plötzlich anderen Menschen vorzubeten … für mehr Erfreuliches sorgen ... so ein geschraubter Mist.

»Was tust du denn zur Entspannung?«, wollte sie wissen.

Da war sie, die Last der Wahrheit, oder der Ehrlichkeit, wie sie Conny erst am Vormittag an mir kritisiert hatte. Kann man immer ehrlich sein? Jetzt konnte ich es nicht – noch nicht. Würde ich Laila je sagen können, wie sehr mich Sex entspannte. Der Schneid meines hengstischen Daseins schlummerte in Lailas Nähe wie gelähmt unter dem Deckmantel des braven Liebhabers.

»Nichts Besonderes«, log ich, konnte aber nicht an mich halten, eine Zweideutigkeit nachzusetzen, die Laila in ihrer edlen und reinen Natur niemals verstehen würde. »Einfach die Batterien aufladen, egal womit. «

»Ich nehme ein duftendes Bad und stelle mir vor, auf einer blühenden Wiese zu liegen.«

»Warum legst du dich nicht gleich auf die Wiese?«, fragte ich wie nebenbei, hatte aber gegen das entsetzliche Gefühl anzukämpfen, sie packen zu müssen und ins Gras zu drücken, um zu tun, was ich immer tat.

»Dort liegt vielleicht gerade Schnee, oder es regnet …«, lachte sie.

»Also träumst du. Tagträume?« Sie träumt also wie ich auch, nur weniger sexistisch.

»Die einzige Freiheit, über die wir verfügen, sitzt in unserem Kopf, Matthi΄s. Ich stelle mir wenigstens die Welt vor, in der ich leben möchte. In der wirklichen Welt kann man schnell verzweifeln …«

Sie machte eine Pause und sah mich an, als würde sie sagen, beschütze mich, ich bin zu schwach, um gegen die Hässlichkeit dieser Welt zu kämpfen.

»Du bist schön Laila«, pirschte ich mich dem ersehnten Ziel näher.

»Ach, das sieht nur so aus«, kicherte sie, warf ihren Kopf in den Nacken, griff nach meiner Hand und rannte los. An einer alten Eiche blieb sie stehen und zeigte hinauf. Vor einer Höhlung schwirrten heimkehrende Bienen um den Stamm herum. Laila blähte ihre Wangen auf und streckte ihre Lippen nach vorn:

»Bienchen gib mir Honig!«

Ich hatte verstanden und küsste sie auf ihren vorwitzigen Mund. In meiner Umarmung wurde sie weich und geschmeidig. Sie gab meinen Küssen nicht nur nach, sie erwiderte sie innig und leidenschaftlich und mir schien, als forderte sie noch mehr. Wir standen eng umschlungen unter dem alten Baum, wortlos. Unsere Sinne schienen einig, die Münder aber warteten gegenseitig auf ein Zeichen. Nichts. Nur das Rauschen in den Wipfeln der Bäume kündete von der Kühle des Abends.

»Ich liebe dich, Matthi΄s«, brach Laila das lange Schweigen und die Röte stieg in ihr schönes Gesicht. Sie drängte sich dichter an meinen Körper, wie Efeu, der sich an die hohen Erlen schmiegte, Halt suchend auf dem Weg zum Licht. Mich überkam das zufriedene Gefühl, sie betet mich an. Vielleicht will sie mich, weil Lizzy ihr von meinen Qualitäten erzählt hat. Oder weil ich gut aussehe? Kann sein, dass es nur eine günstige Gelegenheit für sie ist. Zumindest frohlockte ich, nah am Ziel zu sein. Meine Hand rutschte über die prallen Hügel unter ihrer Jacke, doch sie nahm die Hand und bedeckte sie mit Küssen, ehe sie lachend weiter ging. Unwissenden wäre sie als übermütig vorgekommen. Ich aber fürchtete einen neuen Ausbruch ihrer kranken Seele. Unschlüssig spielte ich ihr Spiel einfach mit und ging hinterher.

»Du bist ein kleines Biest«, keuchte ich in ihren Nacken und haschte nach ihrem geschmeidigen Körper. »Warst du als Kind auch schon so?«

»Nein, da war ich viel kleiner!« Lachend zog sie mich fort, hinunter zum einsamen Ufer. Hier saßen wir ungestört und wie es schien, einig in jener Hoffnung, unsere Liebe möge gedeihen, was jeder von uns auch darunter verstehen mochte. Ich fühlte mich trotz unerfüllter Wünsche fabelhaft und ich hoffte, die Zeit möge stehen bleiben. Wie gesagt, die Zeit flößte mir noch nie Angst ein, ich fühlte sie kaum. Jetzt aber hörte ich das Ticken meiner Uhr, wie sie untrüglich meine Unruhe wach zu halten versuchte. Ich hatte ein süßes Mädchen im Arm, das mit klarem Kopf verraten hatte, den Mann zu lieben, den sie vor sich sah, ohne zu ahnen, wie viele Frauen er schon mit seinem ganzen Körper umschlungen hatte. Was würde wohl passieren, wenn sie es je erfährt?

Sie lehnte ihren Kopf an meine Schulter und umklammerte mein Knie. Meine Hand zog es unweigerlich unter ihrem Arm hindurch bis sie endlich auf ihrer straffen Brust Halt fand. Laila entzog sich mir nicht. Ich spürte, wie heiß ihr Atem sich von der Abendkühle abhob, die langsam von Fluss her über uns gekrochen kam. Ich streichelte über die Wölbung, die unter dem weichen Textil verborgen blieb, doch ich konnte fühlen, wie sich entzückende Knubbel härteten und langsam aufbäumten. Laila errötete, als hätte sie noch niemals im Leben ein Mann so berührt. Wie erstarrt saß sie da und rührte für ein paar Sekunden keine Wimper, bis ein leises Beben über ihre Haut huschte. Ich wartete. Langsam kroch aus den Schatten der Bäume die Dämmerung und Laila gab vor zu frösteln. Ich streichelte ihre Wange mit einer Hand, die andere lag noch immer ungescholten auf der straffen Wölbung. Sie suchte Wärme und presste sich fester an mich. Ich konnte mich des Eindruckes nicht erwehren, sie sei nicht mehr nur duldsam. Schüchtern reckte sie ihren Mund meinen entgegen. Woher kam nur das wohlige Gefühl in mir. Sehnsucht nach Innigkeit hätte ich noch vor wenigen Wochen bis auf des Messers Schneide geleugnet. Auch Laila schien verändert. Ihr Körper lag weich und geschmeidig in meinem Arm und keinem Mann könnte es etwas anderes bedeutet haben als – nimm mich, jetzt. Ich nahm sie nicht, aber meine Hand schlüpfte hastig durch die Knopfleiste unter ihre Bluse. Ihr Körper war heiß, doch ich fühlte ihre kalte Angst.

»Wir müssen zurück«, sagte sie leise und küsste mich so, als wäre es das letzte Mal. Ihr Haar war verstrubbelt, ein paar Strähnen hatten sich aus der Rolle gelöst und hingen vor den Ohren herunter. Ich strich sie aus ihrem Gesicht und sah den feuchten Glanz in ihrem Blick. Es war wohl das erste Mal in meinem Leben, dass ich es fertig brachte zu sagen: »Ich liebe dich auch.«

»Ich danke dir dafür, oh Matthi΄s.«

Eng aneinander gepresst liefen wir den Weg zurück. Meine Lenden schmerzten, was Laila nicht wissen konnte. Alle hundert Schritte blieben wir stehen, ich presste ihren Körper gegen meinen Leib und küsste ihre von Tränen verklärten Augen.

»Bleibst du heute wieder bei mir?«, flüsterte sie bang. Graziös löste sie den Kamm aus dem Knoten und strich damit ein paarmal über das lange, glänzende Haar. Sie war eine Naturschönheit – nichts an ihr erinnerte an unsere innige Umarmung, sogar ihr Anzug sah tadellos glatt und sauber aus.

Im Foyer wartete bereits die Kassiererin mit der Abrechnung. Ich staunte, wie selbstsicher und unnachgiebig Laila mit ihrem Personal umging. Erst als die Frau das Tages-Journal zum zweiten Mal und fehlerfrei geschrieben hatte, durfte sie gehen und gleich danach kam auch Laila. Im Verlauf dieser Minuten war ich zu dem Schluss gekommen, dass eine Frau, die Verantwortung trägt, sich immer zwischen zwei Gesichtern zu entscheiden hat. Mir gefielen an Laila beide, was man ansonsten bei Männern selten findet. Zu lange liebte ich die Diene-dem-Herrn–Schwestern, von deren Keuschheit ich aber nichts wissen wollte. Bei Laila erschien mir das energische, das Business-Gesicht, wie das Erwachen aus einem Traum, in dem ich sie sah, wie ich sie sehen wollte. Für sie selbst musste ihre Arbeit der Aufstand sein, eine Rebellion gegen die Tyrannei ihrer kranken Seele.

Mit zackigen Bewegungen ordnete sie die Dinge am Tresen, schloss die Haupttüren ab und setzte den Alarmwächter in Gang. Ein zartes, zufriedenes Lächeln kräuselte ihren Mund, ihr forscher Schritt aber verriet, wie eilig sie es plötzlich hatte, den Arbeitstag zu beenden. Dennoch zog sie den dunkleren Weg hinter der Stadtmauer vor.

Laila - Die Farben der Klänge & Verfluchte Liebe

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