Читать книгу Marie, Putin und das fünfte Gebot - Maxi Hill - Страница 6

Feindschaft

Оглавление

Marie hatte einen Traum. Wieder denselben, der sie schon seit Jahren verfolgt – nicht alptraumhaft, eher als kleines Licht zur Erleuchtung ihrer dunklen Erinnerungen. Ihr Großvater war gar kein so schlechter Mensch, und davon träumt sie jetzt oft, seit sie Putin hat. Vielleicht, weil Putin sie an den Osterhasen erinnert? Vielleicht weil das neuerliche Sammeln von Löwenzahn jene Zeit erleuchtet, wo sie als kleines Mädchen nur allzu gerne mit ihrem Opa durch die Wiesen streifte. Eine Oma hatte sie nicht. Nicht auf diesem Dorf, aber eine in der Stadt, nur war es bei der nie so spannend wie bei Opa Hermann.

*** Sie war vielleicht drei oder vier Jahre alt und verbrachte mal wieder ein paar Tage bei Opa Hermann auf dem Dorf. Hinter dem Haus gab es einen Hühnerstall und einen kleinen Garten. Es war der schönste Ort, den Marie kannte. Auf der grünen Wiese drängten sich bunte Krokusse eng aneinander und am Rundbeet wippten die zarten Köpfe der Osterglocken im lauen Frühlingswind.

»Komm Marie«, sagte Opa zu ihr und nahm sie bei der Hand. »Wir wollen in den Wald gehen und Moos für ein Osternest holen.«

Marie schob ihre zarte Hand in Opas raue Faust und gemeinsam spazierten sie zum nahen Waldrand. Plötzlich legte Opa seinen Finger an Maries Mund, hob sie auf einen Baumstumpf und wies ins Nichts. »Hast du das weiße Schwänzchen wippen sehen?«, sagte er mit merkwürdigem Lächeln um den bärtigen Mund. Sie schüttelte aufgeregt ihren Kopf. »Das war der Osterhase«, flüsterte Opa und begann sogleich Moos vom Waldboden abzuheben. Im Garten bauten sie daraus ein weiches Osternest. Vor lauter Freude hüpfte sie umher und sang: »Osterhas′, Osterhas′, leg mir Eier in das Gras.«

Am Nachmittag schlich sie heimlich ums Haus und öffnete das Gartentor, damit der Osterhase auch wirklich hineinschlüpfen konnte. Doch schon marschierten die Hühner feierlich hindurch. Hahn Gockel schlug aufgeregt mit seinen Flügeln, Huhn Berta zupfte neugierig an dem unbekannten Ding herum und Henne Anna kuschelte sich gar bequem in ihr Osternest. Das gefiel Klein-Marie überhaupt nicht. Sie nahm ihre Kreiselpeitsche und jagte die Hühner davon. Ja sie schlug sogar nach ihnen. Mit lautem Gegacker stoben sie in alle Himmelsrichtungen auseinander. Hahn Gockel flog auf die Teppichstange, um seine Hennen im Auge zu behalten und er krähte aus voller Kehle.

»Hast du das verstanden?«, fragte Opa sorgenvoll. »Nein«, gestand sie, aber Opa verstand die Sprache der Tiere offenbar.

»Kikeriki! Bös’ ist Marie.« Er sah dabei sehr nachdenklich aus. Am nächsten Morgen saß er auf seiner Holzbank in der Frühlingssonne und rauchte ein Pfeifchen. »Ach, was sollen wir jetzt nur tun?«, jammerte er, als sie zu ihm kam. »Die Hennen wollen keine Eier mehr legen.« Er zeigte zur Hühnerluke. Dort hing auf eine bunte Hahnenfeder gespickt ein Zettel. Er nahm ihn und las vor, was darauf stand: Ohne Hühner, merk dir das, liegt kein Osterei im Gras!

Er wartete, bis die Blicke ihrer Kulleraugen verschämt zu Boden gingen. »Der Osterhase braucht dringend die fleißigen Hühner. Wer könnte sonst die Eier legen?«

Auf leisen Sohlen schlich Marie zum Hühnerstall, füllte frisches Wasser in die Tränke, streute knackigen Weizen in den Napf und fegte sogar die Hühnerleiter sauber. Als Hahn Gockel aus der Luke huschte, schlug er dreimal mit seinen Flügeln und krähte laut: »Kikeriki, danke Marie!« So jedenfalls hatte sie die Übersetzung ihres Opas verstanden. ***

Der Alptraum geht freilich nicht so friedlich ab, wie die wahre Geschichte. Er variiert seit Jahren in einigen Details. In letzter Zeit endet er beim wütenden Gockel, der von der Teppichstange auf ihren Kopf fliegt, ein Loch hineinpickt und ihre Gedanken wie Würmer aus dem Schädel zieht. Und immer hat der Gockel den Kopf von dieser Töle, diesem Dobermann, diesem Rottweiler, diesem nachbarlichen Kalb mit Hundeschnauze …

Abgesehen davon, dass sie nach einem solchen Traum jedes Mal konfus bis völlig gedankenlos ist, was durchaus am Fazit des Traumes liegen kann, so weiß sie doch diese Träume zu deuten, sie ist ja inzwischen erwachsen. Jeder ihrer Träume ist nur der Konflikt zwischen dem, was sie selbst will und dem, was man ihr zumutet. Auch damals hat Großvater ihr zugemutet – oder dieser Gockel, wer weiß das genau – dass sie noch Beifall klatschte, als das Huhn ihr Osternest zerstörte.

Über diese fremden Erwartungen grübelt sie seit Jahren. Sie hat sogar Sigmund Freud bemüht: Träume verarbeiten den Tag. Das will sie noch weniger glauben, so verrückte Tage kann man gar nicht haben. Da glaubt sie schon lieber an die Version vom Feindbild, das der Traum offenbart und das sie bei Tage zu überdenken hat. Ihr Feindbild. Damals war es noch klein und unbedeutend … Heute ist es braun, hat steife Ohren und Schlabberlefzen.

Die kindliche Geschichte ist zudem gar nicht bedeutend. Neben ihrem aktuellen Feindbild, das sich nebenan eingenistet hat und ihre quälenden Träume bestimmt, ist es das Unwiderrufliche, das nie wieder Gutzumachende. Bis heute will ihr nicht in den Kopf, wie man sich in einem Menschen derart irren kann. Warum hat ein so lieber Mensch wie Opa Hermann auch eine schreckliche, ja beinahe bestialische Seite? Einmal sprach sie mit Mutter darüber. Das Leben lasse den Menschen manchmal keine andere Chance. Früher sei es die Pflicht zur Selbstversorgung gewesen. Zwar sei es den Menschen auf den Dörfern schon immer besser gegangen als denen in der Stadt, aber das Töten schlechthin sei unabdingbar für ihr Überleben gewesen und für selbiges von versippten Städtern.

Es muss wegen des Überlebensverständnisses ihrer Eltern gewesen sein, dass sie so oft zu Opa Hermann gebracht wurde. Das Leben, so sagte Mama oft, lohne erst in Erwartung eines großen Fressgelages. In Wahrheit wussten die Eltern um den Wert ihrer Besuche. In der frischen Landluft bekam Marie in der Tat mehr Appetit, immerhin war sie etwas zu zart geraten. Und bis zu jenem gewissen Tag mit dem Kaninchengalgen hatte sie auch nichts – und ihre Eltern sowieso nie und nimmer – etwas gegen die üppigen Fleischportionen. Vater schwärmte die Hälfte des Jahres vom köstlichen Frikassee seines Vaters, das mit Ostspargel und Westchampignon veredelt war, die Mutter aus dem Delikat-Laden der Stadt mitbrachte. Auch vom Hasenrollbraten mit einem Hauch von Knoblauch und in Weinsoße angerichtet, mit Rotkohl und Klößen, schwärmten beide vor ihren Kollegen.

Schon damals wusste Marie, dass alles meisterhaft gelungen war und dass es für Opa eine Freude und für Mama ein Grund für den »Siehste-auch-ein-Mann-bleibt-ein-Mann-wenn-er-kocht-Blick« zu Papa.

Besuche, die derart kulinarisch ausfielen, mussten mehrmals im Jahr wiederholt werden, was dazu führte, dass Marie oft zu Opa gebracht und nach ein paar Tagen wieder abgeholt wurde. Immer gab es ein Festessen, wie man es sich zu Hause nur selten leistete. Ob das an Mutters Kochkunst lag, an Vaters Geldbeutel oder einfach an der Zeit und den schwer beschaffbaren Zutaten, wie Mutter stets betonte, blieb für Marie unergründlich. Die Epoche, wo sie alles Tierische auf ihrem Teller ablehnte, kam bald. Ihr Credo: Die göttliche Natürlichkeit des Seins in jedem Wesen zu wahren, zu achten und zu schützen. Das bedeutete nicht, alles Tierische von ihrem Teller zu verbannen. Tierische Gaben wie Eier und Milch, Käse und Butter nimmt sie als Geschenk, und zu schenken ist eine sehr gute Eigenschaft. Wie man das Leben auch deutet, für sie bleibt der Mensch die Bestie unter den Kreaturen, und er tut alles dafür, dass Arten, die Millionen von Jahren mehrere Eiszeiten überlebten, die Feuersbrünste und Sintfluten überstanden, nun von der letzten, der vorgeblich reifsten Spezies der Evolution endgültig vernichtet werden.

Marie stöhnt. Der Pfeilschwanzkrebs ist solch ein Vertreter. Aber das darf sie nirgendwo beklagen. Das mitleidige Lächeln der menschlichen Art in Gänze ist unerträglich.

Heute mit 28 Jahren weiß sie, dass es nicht nur eine Wahrheit gibt und dass es die evolutionäre Kette in der Arterhaltung ist und dass ohne diese Kette des Seins und des Vernichtens, die Darwin natürliche Selektion nannte, keine einzige Art überleben könnte. Nicht einmal Pflanzenfresser würde vermutlich überleben, wenn es nicht Tausende fleischliche Erdbewohner gäbe, die den Boden für die zarten Wurzelspitzen der Pflanzen mühevoll um und um wühlen würden.

Grob gesprochen ist sie, Marie, ein tolerantes Wesen, solange ihre Augen dem Abschlachten nicht willenlos ausgeliefert sind.

Mit der Erkenntnis über die Tausende fleischlicher Erdbewohner streift sie an diesem Sonntag-Vormittag ihre roten Lieblingspantoffeln mit der Häkelbommel ab, fährt mit nackten Füßen in die schwarzen Pumps, schreitet zum Balkon, hebt Putin vorsichtig aus seiner Bucht, befreit sein Fell von Stroh und Holzwolle, striegelt es mit einer ihrer weichsten Haarbürsten und verlässt stolz und frohgemut hüpfend die Wohnung.

Neben dem Hauseingang gibt es einen schmalen Streifen Wiese. Der zieht sich an der Stirnseite des Blockes bis zum Spielplatz hin, den die Mieter für ihre Kinder vor Jahren selbst geschaffen haben, weil in diesem Haus noch Kinder lebten. Längst ist Nachwuchs eine Mangelerscheinung, so wie es früher Mangelerscheinungen durch Fehlernährung gab, gibt es heute Mangel an menschlicher Reproduktion, geschuldet fehlender ideeller Werte. Der einzig bekannte Wert ist heute der Wert des Geldes, und dem stehen Kinder im Wege.

Ob es mal wieder die merkwürdigen Gedanken an ihre vertrackte Nachbarschaft ist, die mitunter seltsame Exaltationen in ihr auslösen? Schon auf der Treppe überkommt sie das ganze Elend, gegen das sie in letzter Zeit schwer zu kämpfen hat. Ein Niesreiz durchzuckt ihren Leib für Minuten. Peinlich, aber zum Glück bleibt im Treppenhaus alles ruhig. Keine der Türen öffnet sich, kein Mitbewohner fragt, ob alles in Ordnung ist. Ihre Augen tränen und brennen wie Feuer. Kaum kann sie die Stufen unter ihren Füßen erkennen und fürchtet zu stürzen.

Eigentlich müsste sie sofort zurück, aber sie kennt Putin. Er weiß nicht nur, wohin es jetzt geht, er schnuppert auch längst das frische Gras und er würde es ihr übel nehmen, zurück in seinen Stall zu müssen. Auch braucht er Auslauf, und er soll das Graszupfen nicht verlernen und nicht zuviel Fett ansetzen. Tiergerechte Haltung; sie tut was sie kann.

Den Grund ihrer neuerlichen Plage will sie nicht wissen. Wer zuviel in sich hineinhört muss sich nicht wundern, wenn er sich in und auswendig kennt und bald selbst nicht mehr leiden kann. Ihr ausgeprägter Sinn für Forschung wird Opfer der selbstschützenden Verdrängungsdevise: Was mich nicht umbringt, macht mich stark!

Diese und noch einige andere unausgesprochene Erklärungen müssen herhalten gegen das elende Gefühl, das nach ihrer Meinung an nichts Bedeutendem liegt, nur an ihrer sonntäglichen Einsamkeit. Immer sonntags geht es ihr so, wie gerade jetzt, aber immer sonntags gab es zuletzt auch schlechtes Wetter. Und schlechtes Wetter stempelt sie bisweilen ab zum Wohnungs-Arrestanten.

Putin hoppelt munter durchs Gras und Marie schaut aus nach frischem Löwenzahn. Den kann sie für eine Weile in einem Wasserglas frisch halten.

Der Regen kommt schnell und er fällt in dicken, schweren Tropfen. Noch ehe sie Putin ergreifen kann, um ihn ins schützende Haus zu tragen und im wahrsten Sinne des Wortes sein frisch gestriegeltes Fell zu retten, kommt ein anderes Unheil auf sie zu, direkt und in großen Sprüngen. Nur im Unterbewusstsein – zwischen zwei Niesattacken, einem Hustenanfall und dem Bücken nach zwei Maistöcken, wie Opa Hermann den Löwenzahn nannte - hatte sie bemerkt, wie das große dunkle Auto von Nachbar Knackarsch vorgefahren ist, als gäbe es dort in der Wendeschleife, die die Sackgasse vom unbebauten Grundstück trennt, gar kein Parkverbot.

Zu spät. Dieser Rottweiler, diese Bulldogge, dieser Dobermann, dieses Miststück … legt die Ohren an, fletscht die Zähne und spurtet direkt auf Putin zu. Schon sieht sie durch den Tränenschleier ihrer wässrigen Augen die Fetzen fliegen, spürt tief-körperlich im nächsten Moment das rosa Fleisch unter dem weißen Fell herausklaffen, riecht buchstäblich, wie Putins Blut gleich aus Ohren und Augen triefen wird, als das nachbarliche, Furcht erregende Vieh mit einem Ruck – als habe ihn ein unsichtbarer Laserstrahl zum Bumerang gebogen – wieder kehrt macht und zurück zu seinem Herrchen trottet. Beinahe sittsam. Aber eine wie Marie lässt sich von solch plumpen Manövern nicht täuschen. Schon gar nicht von diesem Herrchen, das sie getrost Herrscher nennen kann.

Das nächste Bild ihres schmerzverzerrten Films vor den tränenden Augen hätte ihr jeder Gott erspart, wenn es nur einen der viel gepriesenen gäbe. Voller Stolz promeniert Mister Knackarsch kraftstrotzend mit erhobenem Kopf und ungeachtet des Wolkenbruchs neben seiner schlabber-geifer-lefzenden Hundetrophäe auf Marie zu. Ein Bild von: Wo steht das Klavier! Eine Geste wie: Welch quälender Anblick für mein verwöhntes Auge. Ob das ihr Karnickel sei, fragt er. Und ob das vielleicht auf ihrem Balkon kampiere.

Dieser Kümmelspalter! Dieser Dillgurkenblödian!

»Mein Putin kampiert nicht«, schleudert sie zwischen zwei Hustenanfällen heraus. »Er wohnt dort sehr behütet und geborgen, hatschi, wird bestens versorgt und nie allein gelassen, wie die kläffende Töle in meiner Nachbarwohnung! Und überhaupt, hatschi, hatschi, was geht Sie das an?«

»Putin?«

Lachen ist durchaus kein schlechter Beginn für gute Nachbarschaft, seines aber besiegelt ihr Ende, noch bevor sie angefangen hat. Zu allem Unglück haben zwei Zweibeiner und zwei Vierbeiner schon das schützende Treppenhaus erreicht, ein Vierbeiner wieder im Arm eines Zweibeiners. Warum sollte sie auch im Regen stehen bleiben. Knackarsch würde sofort denken, sie habe Angst vor seinem Hund von Baskerville. Das kahle Treppenhaus vervielfacht nicht nur die Lautstärke von Maries Niesattacke, es macht das männlich Lachen geradezu donnernd. Vor Schreck darüber und im kurzen Moment ihres Zuckens beim neuerlichen Niesen spannt Putin alle verfügbaren Muskeln und springt mit einem Satz aus ihren schützenden Armen. Vor lauter Tränen kann sie ihren verlorenen Freund gar nicht gleich ausmachen auf dem weißen Marmor. Und dann wird auch noch der Juckreiz auf ihrer Haut bestialisch.

Keiner ist schneller bei Putin als das braune Ungeheuer. Es umschleicht das weiße Wuschelfell, leckt mit der schmierigen Zunge über die rotzigen Lefzen, um gleich darauf die süße Schnuffel-Nase von Putin zu kosten.

»Herrgott, tun Sie endlich etwas!«

Knackarsch lacht noch immer. Wohl nur, um sein tadelloses – vielleicht künstlich verblendetes - Gebiss vorzuführen, das sogar sie durch den feuchten Schleier hinter den Wimpern genau erkennen kann.

»Die große Weltpolitik im kleinen Treppenhaus!«, stößt der Blödmann sichtlich amüsiert heraus, nimmt aber seine Töle gelassen beim Halsband, tätschelt ihre muskulöse Flanke und greift zielsicher nach Putin. Dabei glubschen seine bläulichen Stielaugen von links unten nach rechts oben direkt in ihren verwässerten Blick. Unverschämt. Anstandslos.

»Hey, ist doch alles nicht so schlimm«, sagt im Ton samtig verändert, »das ist nur so komisch: Barack und Putin.«

In ihrem jämmerlichen Zustand begreift Marie gar nichts. Froh, Putin endlich wieder im Arm zu wissen, giert sie nur nach ihrer Wohnungstür. Zu guter Letzt entpuppt sich Knackarsch nur noch als Arsch. Offenbar fühlt er sich ihr so überlegen, dass er gar nicht aufhören will mit seinem Gefasel.

Sie müsse keine Angst haben. Der Hund sei ein wahrer Schatz, gut erzogen und äußerst gelehrig. Aber er würde hin und wieder etwas erschnüffeln und belle dann erbärmlich, weshalb es zwischen ihm (Knackarsch) und den übrigen Mietern bereits zu unschönen Szenen gekommen sei. Unschön. Ein Wort, das einfallsloser gar nicht sein kann. Unschön! Der Herr glaubt wohl, alles um ihn herum müsse nur schön sein, weil er sich selbst so schön findet … Mahlzeit.

Vor ihrem schleierigen Blick fügt sich doch noch eine Genugtuung. Dieser Dobermann-Boxer-Rottweiler will gar nicht von seinem Herrscher in die Wohnung nebenan geschoben werden. Vielleicht hat er an Putins Schnuffelnase Blut geleckt und wartet nun auf die einzige Hundefreude, die einem solchen Ungeheuer zur Belohnung von seinem Herrchen gewöhnlich gestattet wird: Blutrausch!

Die Blamage des Hunderhalter-Unvermögens überspielt der Kerl auch noch dreist. Von seiner Tür aus ruft er zu ihr herüber: »Gut, dass man sich mal getroffen hat. Und falls es Sie wundert, dass Barack hin und wieder rebellisch wird. Er hatte in seiner Welpenzeit einen kleinen Hasen als Spielgesellen, den liebte er über…« Den Rest hört sie nicht mehr. Die Tür fällt hinter Marie ins Schloss und sie ist zum ersten Mal froh, dass es dabei wie üblich einen mörderischen Knall gibt und dass sie die Ursache dessen noch immer nicht behoben hat.

»Dieser Arsch!«, wettert sie in schrillen Tönen, »braucht nur einen Schuldigen für die Unart seiner Bestie. Komm, mein kleiner Putin. Marie beschützt dich. Immer. Versprochen!«

Von einer Sekunde zu anderen, seit die Tür ins Schloss gefallen ist, kann sie nicht mehr an sich halten. Sie schnäuzt sich trompetenlaut, reißt ihre Sachen vom Leib, scharrt mit den Nägeln über fast jede Stelle ihres Körpers, sieht die Haut an den unmöglichsten Stellen rot anschwellen und hüpft, ohne Putin in seinen Stall zu bringen, sofort unter die kühlende Dusche. Für einen Moment geht es ihr besser, nur wie es Putin geht, muss sie noch herausfinden. Der Kleine muss eine Höllenangst vor diesem Ungetüm bekommen haben. Und schuld daran ist sie. Das macht sie wieder gut. Für den Rest des Tages muss Putin nicht auf den Balkon, er bleibt im Zimmer und sie wird sein Fell kraulen, auch wenn ihr angeschlagener Zustand immer schlechter wird und sie nur noch vor der Couch auf dem Boden sitzt und ächzt, wie eine knorrige Jahrhunderteiche. Eigentlich bräuchte sie viel eher einen Notarzt, auch wenn die Atemnot nur am Stockschnupfen liegt, der sie in letzter Zeit quält, weshalb sie nur noch selten bereit ist, mit Kira und Eva auszugehen.

Irgendwann schläft sie entkräftet ein, doch die Atemnot bringt nichts als böse Träume.

Die Häuserzeile von gegenüber schlägt ihren Schatten bis in ihr Zimmer. Also war sie für einige Zeit in Morpheus Reich. Taumelig sucht sie auf allen Vieren nach Putin. Unter dem Bett, hinterm Schrank, im Flur zwischen Wäschepouf und Vorhang, sogar im Badezimmer schaut sie nach. Putin ist verschwunden. So oft sie zwischen zwei Hustenanfällen, heftigem Jucken und lautstarkem Niesen auch ruft, das Tier gibt keinen Laut von sich. Über die Wangen strömen Bäche von salzigem Nass. Dabei weint sie gar nicht, sie kann nur aus diesem Fluss heraus so gut wie nichts erkennen und je mehr sie mit der Handfläche die Augenlider reibt, desto schmerzhafter werden sie. Das ändert sich zwangsläufig, als es an ihrer Tür klingelt. Blitzartig ist der Schmerz vergessen und alles, was sie seit Stunden quält.

Vor ihrer Tür kann nur Knackarsch stehen, fällt ihr ein und vergisst total, dass sie von nun an nur noch in der Vokabel »Arsch« von ihm Kenntnis nehmen wollte.

Sie bleibt hocken, wo sie hockt, krallt die roten Pantoffeln mit den Zehen fest, presst die Hände flach auf den Mund, um dem nächsten Anfall – ob Niesen oder Husten – die Entfaltung abzuschneiden. Noch einmal versucht es der sonntägliche Störenfried mit Ausdauer auf ihrem Klingelknopf und entfernt sich nach einigem Zögern lautlos. Keine Schritte auf der Treppe, kein Schlagen der Haustür. Theoretisch kann es nur der Arsch von nebenan gewesen sein, dessen kläffende Rotteiler-Dobermann-Boxer-Dogge angeblich einen Hasen als Freund hatte. Phh…

Irgendwie verschlimmert der Gedanke ihren Zustand, was der Kerl von ihr gewollt haben könnte. Jetzt spürt sie auch noch einen Stich in der Gegend, wo sie ihr Herz hin verortet, auch wenn ihr Vater immer lächelnd behauptet hat, ihr Herz rutsche viel zu oft in die Hose. Dieser Stich hat einen Sinn. Wenn einen etwas Komisches widerfährt, ist das eine Überlegung wert: Wer könnte Putin besser aufstöbern, als dieses Ungeheuer von nebenan. Wenn da nicht der ungeheuer angeberische Kerl dazugehören würde. Nein. Die Blöße gibt sie sich nicht. Es gibt Blicke, die entscheiden sofort über gut oder böse. Und es gibt Worte mit selbiger Eigenschaft, die aber bekommt sie nicht mehr zusammen. Nur das vom Hasen als Spielball des pubertierenden Monsterhundes. Und überhaupt. So wie sie aussieht kann sie niemandem öffnen. Und schon gar nicht einem, der schon einen Lachkrampf bekommt, wenn er nur einen Namen hört. Putin. Ja und, noch Fragen? Ob der glaubt, Barack ist ein Vorzeigename? Barack! Barack?

Manchmal ist sie wirklich ein bisschen spät. Das hat der Kerl gemeint: Die größten Kontrahenten der Weltpolitik in unserem Haus, oder so ähnlich. Das hat er doch gesagt? Barack und Putin. Ihre Lippen beißen fest aufeinander.

Na ja, ein Vorname, ein Nachname, das kann man so sehen oder auch so.

Sie sieht erst einmal gar nichts, nicht einmal, ob die Klappe vor dem Spion geschlossen ist. Darauf achtet sie immer, weil der Ungebetene vor der Tür das Lichtspiel im Flur beobachten kann und dann genau weiß, ob jemand daheim ist oder nicht. Wenn sie sich lautlos auf Strümpfen bis zur Tür begibt, ihren Schatten wirft und erst dann die winzige Klappe zur Seite schiebt, kann sie sehen, wer sie zu stören gedenkt, aber der Störer sieht nichts, gar nichts. Da kann es in der Wohnung so hell sein wie es will …

Sie sitzt auf dem Teppich vor der Couch und müsste längst aufstehen. Ihre Beine sind schon taub und die Brust schmerzt vom ekligen Husten, der geeignet wäre, einen Kanonenofen zu sprengen.

Warum freut sich alle Welt auf den Sonntag? Sie freut sich nicht. Sonntags ist nichts los, nichts, was ganz von selbst über sie kommt. Alles, was sonntags passiert, muss sie sich organisieren, aber genau davor hütet sie sich. Freundinnen können stressig sein und wenn sie den Stress selbst heraufbeschworen hat, kann sie nicht einmal jemandem die Meinung sagen, wie unlängst Kira. Hinterher tat es ihr leid, aber Kiras ewige Lovergeschichten nerven einfach!

Ihre Kollegin hatte am letzten Sonntag in der »Eule« en detail geschildert, wie sie sich von einem angehenden Rechtsanwalt zu Höchstleistung antreiben ließ, wie er auf ihr war und in ihr, wie er unter ihr stöhnte und zwischendurch ächzte. Wie er kam und wie er es zu verzögern verstand, weil ihre Lust noch kein Ende zuließ.

Marie wusste bei jedem Wort, dass Liebe bei ihr so nie funktionieren würde. Wieso gräbt ein verliebter Mann nur unter Tage, wenn er doch schwört, dass ihre Augen die wundervollsten sind, die er kennt? Sind nicht die Vorspeisen die besten Leckerbissen? Und auch das hat sie Kira gesagt.

»Darüber kann nur befinden, wen es total erwischt hat!«, war Kiras mitleidige Antwort und, »wir sprechen uns wieder.« Genau das glaubt Marie nicht. Es wird wohl kein weiteres Hörspiel dieser Art geben. Es sei denn, Eva kommt auf dieselbe Idee, was bei Evas Schwärmerei für Platon fast unmöglich erscheint. Immerhin sagte dieser Philosoph: Liebe ist eine schwere Geisteskrankheit.

Bedenkt sie Evas Blicke, sobald Ferdinand Vissler nach vorn in der Schalterraum kommt, haben die schon etwas von geisteskrank. Soweit würde ihre eigene Wertung nicht gehen, aber Kiras Art zu lieben ist eben auch nicht ihre. Liebe ist in ihren Augen das, was in einem Menschen ruht, was mit der Sprache des Herzens gesagt werden kann, nicht was mit allen möglichen Körpersäften herausdrängt. Zu ihrer Entschuldigung fällt ihr dann stets die Moral ihrer Mutter ein: Wenn die Liebe mit dir fertig ist, bleibt noch ein großes Stück Leben übrig.

Sie hat keine Wahl, durch ihre Mischung aus allsonntäglicher Einsamkeit und freundschaftlicher Überforderung muss sie durch. Meistens gibt es sonntags nur eines von beiden, doch seit sie Putin hat, fällt ihr die Einsamkeit immerhin schon ein bisschen leichter. Wenn das keine Liebe ist …

Ein Anfall von Atemnot würgt ihre Brust, Tränen stürzen über gerötete Wangen und es schüttelt sie erbärmlich, als bekomme sie Fieber. Wenn sie jetzt stirbt, wer kümmert sich um Putin? Niemand weiß von ihm. Ihren Freundinnen hat sie erzählt, dass sie ihn aufs Land gebracht hat, nur, damit sie keine von ihnen wegen des entgangenen Festmahles nervt.

Nur ein Mensch weiß jetzt Bescheid. Der Kerl von nebenan. Schon ist sie bereit, einen Zettel zu schreiben, er solle im Notfall nach Putin suchen. Ja, er soll nach Putin suchen. Das ist total unverfänglich. Anderenfalls würde dieser Herr Nachbar – wie heißt der eigentlich – wieder einen Lachanfall bekommen. Ein Notfall kann alles sein, falls sie doch nicht stirbt …

Nach einer viertel Stunde hat sie sich mental soweit, dass sie aufsteht und sich zur Tür schleppt. Auf dem kleinen Bord im Flur liegt in einer der drei Schalen eine Rolle Klebeband – diese Schalen stehen dort und erfüllen keinen anderen Zweck, als nur schön auszusehen. Mit fortschreitender Zeit aber haben sie langsam jeweils den Zweck der Aufnahme irgendwelchen Krimskrams bekommen. Mit den Zähnen reißt sie ein kurzes Stück ab, leckt den widerlichen Geschmack ihrer Zunge auf die Rückhand ab und klebt das eine Ende an den Zettel, das andere wird hoffentlich an der Nachbarstür haften. Sie nimmt es an. Die Tür wird ebenso glatt sein wie ihre, nur schlägt sie nicht so erbärmlich laut ins Schloss.

Mit diesem Kraftakt kann sie sich für kurze Zeit über ihren elenden Zustand mit Selbsttäuschung hinwegtrösten. Ein Problem bereitet ihr noch Sorge: Nur keinen Niesanfall bekommen. Den Husten kann sie vielleicht für den kurzen Moment des Zettelklebens unterdrücken. Das Niesen nicht.

Auf wackligen Beinen schleppt sie sich nach geglücktem Anklebe-Manöver ins Schlafzimmer, kippt das Fenster an, damit sie besser Luft bekommt, legt sich mit hochgestelltem Kopfteil in die Rückenlage und faltet die Hände über der Brust – falls sie ja doch stirbt. Irgendwann im Traum läuten von Ferne Kirchenglocken. Womöglich ist sie schon tot. Mutters Schimpf und Vaters Schelte wechseln im Kanon: »Kind, warum hast du nicht Bescheid gegeben. Wir sagen dir doch immer, du musst nur rechtzeitig …« »Ja, ja, Elvira. Du siehst doch, dass sie nicht mehr in der Lage war … Wir hätten ja auch mal …« Gut so, denkt sie aus ihrem Grab heraus. Immer streitet euch. Es ist zu spät. Nicht nur Kinder machen Fehler.

Der heilige Bim-Bam geht über in Sturmgeläut. Kein Wunsch läge ihr näher als endliche Ruhe, doch da kann sich jemand noch nicht an die neue Lage gewöhnen und donnert mit der Faust an den Deckel ihres Sarges. Eigentlich ist es gar nicht so ungemütlich in einem solchen. Weich, bequem und sogar mit einem verstellbaren Kopfteil …

Ihre Hände sind noch immer gefaltet und sie hat Mühe, die Finger voneinander zu lösen. Weniger Mühe hat sie jetzt mit dem Atem. Muss man erst sterben, damit es einem besser geht?

Das Klopfen wechselt wieder zum Sturmgeläut. Ja, ja, will sie sagen, doch aus ihrem Mund kommen nur undeutliche Töne und vor ihren Augen schwimmen undeutliche Bilder. Die Wand ihres Schlafzimmers, die leise schwingende Balkonmarkise, der hellblaue Himmel. Und zu allem Übel die Stimme an ihrer Wohnungstür.

»Hallo, hier ist Jonas, Ihr Nachbar. Können Sie mal öffnen?« Das ist das Ärgste, was sie erwarten konnte. Während sie ihren Übelkeitspegel kontrolliert, der spürbar gesunken ist, setzt sich die Serie folternder Töne an ihrer Tür fort.

»Ich muss weg und möchte Putin ohne Käfig nicht allein lassen in meiner Wohnung …!«

Mit einem Ruck steht sie senkrecht. Alles an ihr ist dran, alles in ihr funktioniert und alles außer ihr scheint in dunkler Ahnungslosigkeit zu liegen, dass sie soeben nicht von dieser Welt war. Nur das Wort Putin hat sie wieder zum Leben erweckt. Daran glaubt sie trotz überhasteter Griffe nach Bluse und Hose, nach den Pantoffeln mit der einen und nach dem Kamm mit der anderen Hand. Beinahe stolpernd erreicht sie die Tür.

Und dann das Zweitärgste: Knackarsch steht draußen. Sein schwanzwedelnder Köter mit Winselblick daneben und im Arm trägt ersterer den unversehrten Putin. Worte gelingen ihr noch nicht. Er ist schneller.

»Er muss durch die Lücke gewischt sein, da wo die Regenrinne von meinem zu Ihrem Balkon …«

Marie entreißt ihm das Tier, drückt es fest an ihre Brust, schickt einen verächtlichen Blick zum Dobermann-Rottweiler-Boxer und kann nur stammeln. »Glück gehabt, Mann, dass der da den Kleinen nicht zerfleischt hat.«

Die mitleidigen Blicke von Jonas sieht sie nicht mehr und wenn, dann hätte sie keine gute Erklärung dafür gefunden.

Erst einmal dankt sie ihrem Schutzengel, dass sich alles so schnell zum Besten gekehrt hat. Klar, sie hatte bei dem milden Wetter die Balkontür nicht geschlossen, und klar, dass der Kleine den Weg zu seinem Stall kennt. Immerhin war sie Minuten lang nicht bei Troste. Noch weniger bei Troste fühlt sie sich, als sie ihr Spiegelbild sieht. Das Shirt auf links, die Hose verdreht und ihr Haar gilt weder als gekämmt noch als gerichtet, es konkurriert mit dem Zotteltier von diesem Dobermann-Rottweiler-Boxer.

Warum sich ihr ausgeschlafener Zustand positiv anfühlt, wird ihr bald klar: Ihr Wohlsein ist nur dem Schreck geschuldet. Kaum sitzt sie im Zimmer und streichelt Putin vor lauter Glück, geht das Dilemma wieder los. Im Bett bei frischer Luft ging es ihr bedeutend besser. Also rasch den Tag beenden und lange am Laken schnuppern. Vorher bekommt Putin noch seine Möhren und etwas vom frischen Löwenzahn (sie hat sich nicht umsonst ihre beste Hose damit versaut), dann trägt sie ihn in seine Bucht.

»Bis morgen, mein Kleiner. Es tut mir so leid. Diese Töle aber auch. Wenn dieser Köter dir was antut, bring ich ihn um. Eigenhänd… Hatschiii…«

Der Anfall kommt wieder unverhofft rasch. Das hat sie wahrlich nicht verdient. Vielleicht sollte sie jetzt doch quasi zwischen zweimal niesen Mutter anrufen … Es wäre der günstigste Moment ihrer Rehabilitation, warum sie mal wieder die Familie verschmäht hat.

Mit den Jahren hat sie gelernt, der elterlichen Fürsorge zu entsagen, die stets mit notorisch-chronischen Ratschlägen für sie einhergeht. Es ist nicht ihre Schuld, dass sie den Richtigen noch nicht gefunden hat und dass sie immer nur auf ausgemachte Arschlöcher trifft, wie diesen … wie heißt er noch? Diesen Janus? Richtig, den Janus-Kopf … diesen Nachbarn mit seinem Bastard von Köter.

Wie sie so liegt und auf das helle Rechteck starrt, hinter dem die Markise leicht schwingt und neben dem ihr kleiner Freund Putin im mittsommernächtlichen Schlummer liegt, kommen Marie zwei Dinge zugleich in den Sinn: Erstens – ihr geht es jetzt schon bedeutend besser als bei Tage, nur in den Schlaf findet sie nicht. Noch nicht. Zweitens: Ihr Nachbar war - bis auf das eine Mal – gar nicht wirklich ein solches Arschloch. Nicht am Nachmittag vor dem Haus und nicht am Abend vor ihrer Tür.

Für das nächste zufällige Aufeinandertreffen legt sie sich einen Verhaltenskatalog zurecht, weil ihr mal wieder bewusst wird, wie sie gegen sich selbst und ihre Prinzipien verstößt. Vorurteile, so hat sie es Kira gesagt, sind Fertigbausteine, mit denen man sich die Welt nach dem eigenen Wunschbild zusammenbauen kann. Und es gab noch einen Grund, weshalb sie mit Kira ins Gericht gehen musste.

»Ich weiß, es ist fünf vor zwölf«, hatte Knackarsch gesagt, als er eines Samstags lächelnd vor dem Tresen stand und in letzter Minute seine Tickets zurückgeben wollte … musste, wie er sie berichtigte. Er keuchte dabei wie sein Köter, den er natürlich nicht draußen angebunden hatte, wie man das von einem gesetzestreuen Mitbürger erwarten könnte.

In Marie kochte das Blut, denn sie hatte keine Chance, in das bundesweite CTS-System einzugreifen und Ferdinand Vissler ist samstags selten in Sicht.

Vielleicht hat sie Knackarsch zu unrecht angefaucht, vielleicht hätte sie lieber Kira vor der seltenen Kundschaft anfauchen sollen und nicht erst, als er bereits wieder gegangen war. Aber fauchen konnte sie. Kiras Worte über sie waren schließlich nicht sehr schmeichelhaft: »Lieber einen fünf vor zwölf als keinen nach sechs, wie unsere arme Pech-Marie«, flötete Kira von Platz drei herüber. Ihre Augen glubschten zum letzten Kunden des Tages. Der letzte Kunde ist zumeist ein verhasster Kunde – für jeden am Tresen – erst recht, wenn er nur Negativumsatz bringt.

Merkwürdigerweise rundeten sich Kiras Lippen und das Dekolleté rutschte mal wieder eine Etage tiefer. Lasziv nach vorn gebeugt gab sie Knackarsch zu verstehen, dass sie sich nur seinetwegen diese Mühe macht und dass er sich dafür baldigst revanchieren könnte.

»Ja, wenn es nicht so dringend wäre, hätte ich wirklich …«

Kira gab ihm ein Zeichen, lieber der Mund zu halten, griff zum Hörer und rief den Projektleiter an. Eine Minute vor zwölf stand Leo Gambel vor dem Tresen, versprach, einen Ersatzbesucher zu finden und Knackarsch könne sich in diesem Falle das Geld in bar demnächst hier abholen. Zu Marie herrschte er: »Im Zweifelsfall immer zugunsten des Kunden, liebe Kollegin Neumeyer!«

Für Marie gab es keinen Zweifelsfall, für Marie gab es feste Prinzipien und die waren durch die Dienstanweisung gedeckt. Aber da gab es noch ein Prinzip – das Prinzip Freundschaft, und Freundinnen stellen einander nicht bloß!

Sie weiß nicht, was mit ihr los war, sie konnte nicht anders, musste einmal aus sich heraus und das war ganz bestimmt nicht aus Scham vor ihrem Nachbarn, sondern aus Wut gegen Kira: »Sex ist nicht alles, auch wenn bei dir ohne Sex alles nichts ist! Aber wenn man wie du alles, was man hat, sofort ins Schaufenster stellt, ist es beinahe wie ein Geschäft, und das hat mit Liebe nichts zu tun.«

Es war nicht gut, sich mit Freunden zu streiten, aber es war wiederum gut, dass der Begriff Knackarsch nicht von ihr stammte. Der stammte von Kira, die gar nicht lange genug dem letzten Kunden an diesem vertrackten Samstag – besonders seinem knackigen Hinterteil - nachschmachten konnte.

Marie würde einen Teufel tun, Kira von ihrer Nachbarschaft mit Knackarsch zu erzählen. Wer weiß, was sie damit heraufbeschworen hätte.

Sie wälzt sich bei ihren wütenden Gedanken im Bett nach links und rechts, positiv konzentriert sich das Geschehen auf ihrem Laken nur auf den befreiten Zustand ihrer Nase, ihres Rachens und der gar nicht mehr juckenden Haut.

Ihr unfreiwilliger Wachzustand erfährt insofern eine Steigerung, dass sie ein Auto vorfahren hört. Türe schlagen zu und harte Absätze klacken über den Beton. Also, ihr Nachbar kann das nicht sein. Die letzte Szene schleicht sich in ihre Erinnerung, jene am Abend vor ihrer Tür, und wie sie ihm Putin entriss und wie entsetzt er sie anglotzte. Beinahe tat er ihr leid.

Warum hat er Putin zurückgebracht, wenn er doch schon als Luder für seinen Köter auserkoren war?

Marie, im Zweifelsfall immer für den Angeklagten, hört sie Leo Gambels Stimme mahnen. Das mochte wohl eine Option sein, nicht das Nonplusultra. Aber wenn sie schon auf ihrem Weg zur Genesung mit dem Urteil über den Mann, den sie nicht mehr Knackarsch nennen möchte, immer versöhnlicher wird, dann hat das nur den einen Grund: Man kann im Zweifelsfall milde urteilen, umso vernichtender darf das Strafmaß ausfallen, wenn alle Befürchtungen schließlich doch eintreten. Und sie werden eintreten, wie bei jedem anderen Mann. Es ist ja kein Zufall, dass es nur Schnee-Männer gibt, keine Schnee-Frauen. Beim ersten heißen Blick einer Frau schmelzen sie und dann sind sie hin. Bei den -Blicken einer gewissen Marie Neumeyer ist das freilich anders. Daran bleibt kein Mann lange kleben.

Im Moment steckt bei ihr sowieso der Teufel im Detail. Was macht sie nur immer falsch? Sie hatte das ganze Wochenende frei, sie hatte eine vortreffliche Minestrone gekocht mit viel Tomaten und zartem Kohl, ganz ohne eine Faser Fleisch. Sie hat für Putin Löwenzahnblätter gerupft, sich von der weißen Milch die gute weiße Hose beschmutzt. Nach ihrer bisherigen Meinung quillt das klebrige Zeug nur aus den hohlen Blütenstängeln, aber die hat sie bewusst nicht angerührt. Trotzdem ist die Hose hin. (Wieso macht weiße Milch so hässlich braune Flecken?) Sie hat die Wohnung geputzt und den Balkon entrümpelt, für Putin neue Streu in den Stall gegeben und sie hat ihrem treuen Gefährten mehr Zuwendung geschenkt als je einem Zweibeiner. Er wird sie nie enttäuschen, das ist nach Adam Riese jedenfalls nicht zu erwarten. (Adam Riese gebraucht sie aus Vorliebe, um gegen Evas Philosophen-Manie einen greifbaren Gegenpart zu liefern. Immerhin kennt sie sich in Philosophie nicht aus und immerhin sind die Naturwissenschaften - und die Mathematik im Besonderen – schulische Pflichtfächer, was man von der Philosophie glücklicherweise nicht sagen kann.)

Sie hat also an diesem elternabstinenten Wochenende alles richtig gemacht, warum ging es ihr dann so verdammt schlecht? Die Einsamkeit ist es, da hilft auch der strapazierte Selbstbetrug a la Wilhelm Busch nicht: Wer einsam ist, der hat es gut, weil keiner da, der ihm was tut.

Die Einsamkeit wäre für sich genommen ideal, wenn man nur die Macht darüber behielte, von wem man sie beenden lässt.

Jetzt schlägt die Haustür zu und es ist, als hört sie ein Kichern auf der Treppe. Auf nackten Füßen schleicht sie durch den Flur, ohne eine Lampe anzuknipsen. Geräuschlos schiebt sie die kleine Klappe von dem Guck-Dings beiseite. Im Treppenhaus ist es hell – dank Bewegungsmelder. Das Bild ist sehr verzerrt, erkennen kann sie dennoch, was sich da tut.

Die Schritte auf dem Beton vor dem Haus stammten von jenen High Heels, die neben Jonas einher stöckeln. Das Kichern kommt aus kirschroten Lippen, die vermutlich die ganze Nacht an ihm herumknabbern werden. Kann ein Mann neben einer solchen Frau auch nur ein Auge zumachen? Hallo. Morgen ist Montag …!

Die Frau hat einen Koffer dabei! Einen Koffer! Den trägt ganz selbstverständlich Jonas. Ein Stich geht durch ihre Brust. Jonas stellt den Koffer auf den Abtreter, legt seinen Arm um die Frau, schaut verstohlen zu ihrer Tür herüber, dann schiebt er dieses Flittchen über seine Schwelle und verhindert wohl auf diese Weise, dass die Fremde nicht schon auf dem Flur über ihn herfällt. Kira ist es zum Glück nicht, aber weil es Kira nicht ist, hat Marie für Montagmorgen einen Trumpf im Ärmel. Bei bester Gelegenheit wird sie einen Spruch ablassen, welchen, das steht noch nicht fest. Wahrscheinlich aber in der Richtung wie: Dein Knackarsch will immer nur das Eine, aber jeden Tag von einer anderen Frau.

Sie liegt wach. Hellwach. Hinter ihrem Kopfende befindet sich die Wand, hinter der wiederum sein Schlafzimmer liegt … Erst jetzt fällt es ihr ein: Wo ist diese Dobermann-Rottweiler-Boxer-Töle? Hat er seinen Hund verstoßen, damit er eine ungestörte Nacht verbringen kann? Armes Tier! Ein rechter Tierfreund ist das. Womöglich hat er Barack im Tierheim abgegeben und holt ihn erst wieder ab, wenn …

Sie sieht die Bilder hinter der Wand ganz deutlich vor sich und ihre Erregung wird stärker, als es ihr lieb ist. Nein, sie ist ihr ja lieb, sehr sogar. Nur die wellenförmige Hitze in ihrem Leib passt gar nicht zur schwülen Nacht nach dem Regen am Tag. In ihrer inneren Not stellt sie sich vor wie es wäre, wenn er sie so über die Schwelle geleitet hätte. Wenn sie jetzt in seinen Armen läge … Das Wort schwellen löst etwas in ihr aus, was sie erschreckt und zugleich die ganze Wut vergessen lässt, die sie auf Jonas hatte. Sie stellt sich ausgerechnet ihren ärgsten Widersacher vor, wie er eindeutige Blicke auf ihren Körper wirft, wie er die Knöpfe an ihrer Bluse öffnet und sie ihm das Signal der Bereitschaft sendet, es auch zu wollen. Unbedingt und unverzüglich.

Und dann beginnt sie mit ihrer Vorstellung noch einmal von vorn – Blicke, Hände, Haut, Brust, Lenden, Schenkel und … Wieso küsst er sie nicht. Hat sie vielleicht Mundgeruch? Wieso küsst dieser Arsch sie nicht!

Zuerst läuft sie zur Toilette, dann kniet sie am Kopfende ihres Bettes und drückt ein Ohr fest an die Wand. Dumpf klingen ein paar Wortfetzen gegen den Ziegel, aber sie hört keine ekstatischen Schreie oder ein Stöhnen oder was sie sich noch alles gar nicht vorstellen kann.

Jetzt hasst sie ihn wieder und noch mehr als zuvor, aber zugleich beherrscht sie das schizophrene Gefühl, mit ihm schlafen zu wollen. Sie wünscht es sich auf einmal so sehr, dass sie schon ziemlich erfinderisch sein muss, um nicht verrückt zu werden. Ob sie es sich nur von ihm wünscht oder von einem Mann generell, darüber denkt sie nicht nach. Entscheidend ist das Bild, das sie gesehen hat, und das gönnt sie diesem Flittchen mit den High-Heels und mit den knallrot geschminkten Lippen nicht.

Es gibt nun mal Frauen, die mit High-Heels ein Wettrennen machen können. Und es gibt Marie Neumeyer, die sich in ihren roten Hauspantoffeln mit Häkelbommel den Fuß verstaucht.

Was ist das bloß für ein Tag, was für ein Wochenende, was für eine Woche? Sie hatte für sich beschlossen, lieber allein zu leben und tun und lassen zu können was sie möchte und was sie für richtig hält. Und nun bringt ihr ein Blick durch den heimischen Spion die Verlockung in ihren Schoß, in diesem Moment mit ihm zu schlafen oder wenigstens neben ihm einzuschlafen. Ihre Lieblingsausrede, allein leben zu wollen, ist schon ein Akt für sich. Ein Akt des Verrats, der Untreue, des abnormen Lasters.

Gefühlte vier Stunden lässt sie ihr Ohr an der Wand. Schon fürchtet sie eine Mittelohrentzündung zu provozieren, als ihr eine Idee kommt. Sie hatte ihn schon einmal beobachtet, als er seine Töle wieder beruhigte. Das war noch gar nicht lang her, und seit damals würde er sich keine Vorhänge angeschafft haben. Männer brauchen solche Dinge nicht. Und sie brauchen Licht bei dem, was sie am liebsten tun und worauf ihr Sinn einzig ausgerichtet ist. Das zumindest weiß sie aus Erfahrung, und es war jene Erfahrung, die sie mit diesem einen Mann gar nicht hätte machen wollen und weshalb sie nie wieder eine feste Bindung eingegangen ist. Sie ist ja kein Affe im Käfig, den man in allen Verrenkungen begaffen kann. Ihr Körper ist ihr Eigentum und sehr intim. Wozu also braucht ein Mann soviel Licht, wenn doch die entscheidenden Organe die Passform auch im Dunklen finden.

Kurz vor Ende der Nacht fehlt Marie etwas Entscheidendes, das sie zu gerne wüsste. Ist er der Mann, der es im Dunklen tut? Dann wäre er für sie wie geschaffen. Jedenfalls ist überall in seiner Wohnung das Licht aus und Marie zieht sich endlich auch zurück. Weder enttäuscht noch erleichtert. Gegen ihre Einsamkeit braucht sie jetzt Putin. Er sträubt sich wegen der nächtlichen Störung, aber er hat keine Chance. Irgendwer muss all ihre aufgestaute Liebe jetzt zu spüren bekommen. Nicht irgendwer. Einer, der es sich verdient … Freilich. Auch verdiente Liebe gehört zum Glück.

Marie, Putin und das fünfte Gebot

Подняться наверх