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Dass die Ausübung geistiger Vermögen eine Gehirnfunktion ist, zeigt nicht, dass Verhalten und Erfahrung neural erklärbar sind

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Penfield widersprach der Behauptung vehement, dass der Geist eine Gehirnfunktion ist, und vermutete, dass dieser, wenn er es wäre, während des Schlafes oder des epileptischen Automatismus aufhören würde zu existieren. Zwar ist nicht klar, wie die Auffassung zu verstehen ist, man könnte aber sicherlich sagen, dass die charakteristischen Verstandes- und Willensvermögen eines über den Geist verfügenden Lebewesens Funktionen des Gehirns (und auch anderer Einflussgrößen) des Lebewesens sind. Daraus folgt nicht (während Penfield offenbar fürchtete, es würde doch folgen), dass Verhalten und Erfahrung eines solchen lebensweltlich verankerten Wesens mit neuralen Termini erklärbar sind. Es folgt aber auch nicht, dass der Geist während des Schlafes oder des epileptischen Anfalls zu existieren aufhört – genauso wenig wie das Wissen, die Überzeugungen, Absichten und Projekte von jemandem zu existieren aufhören, wenn er schläft. Penfield war zu Recht von der Tatsache beeindruckt, dass „der Geist sich während des ganzen Lebens eines Individuums unabhängig entwickelt und ausreift, als ob er ein ununterbrochen existierendes Element wäre“ (MM 80). Er ließ sich jedoch von der Annahme, der Geist sei eine Art Agens, in die Irre führen. Hätte er den Geist in eher aristotelischem Verständnis als eine Reihe von Vermögen oder Fähigkeiten gedacht, wäre er der Wahrheit nähergekommen und für Begriffstäuschungen weniger anfällig gewesen. Denn der kontinuierliche Besitz von Fähigkeiten wird nicht durch den Schlaf oder eben den epileptischen Automatismus unterbrochen, auch wenn der Akteur während des Anfalls einige seiner ihm normalerweise zur Verfügung stehenden Fähigkeiten nicht ausüben kann. Und der in der Entwicklung begriffene Geist einer Person entwickelt sich nicht wie eine vom menschlichen Wesen selbst getrennte Substanz, sondern er tritt vielmehr als ein bestimmter Charakter und eine bestimmte Persönlichkeit hervor, als ein Verstand mit bestimmten unverwechselbaren Merkmalen und als ein Wille mit einem Spektrum an Präferenzen – bei all dem haben wir es mit Eigenschaften der Person zu tun.

Penfield ging davon aus, dass eine Form des cartesianischen Dualismus mit höherer Wahrscheinlichkeit richtig ist als die Alternative, die er diesem gegenüberstellte: nämlich die Zuschreibung von Verstehen und Denken, Wollen und willkürlicher Handlung als auch Entscheiden zum Gehirn selbst. Es ist äußerst verblüffend und vielsagend, dass die aus Penfields Sicht unwahrscheinlichere der beiden Betrachtungsweisen von den Neurowissenschaftlern der dritten Generation gegenwärtig favorisiert wird, die die psychischen Funktionen dem Gehirn zuschreiben. Womit das Thema des nächsten Kapitels genannt ist.

85 Wir werden Sherringtons Vorstellungen gegenüber kritisch sein, es muss jedoch daran erinnert werden, dass seine Gifford Lectures einflussreich waren und von den großen Wissenschaftlern jener Tage sehr bewundert wurden. Erwin Schrödinger bemerkte, dass ‚durch das ganze Buch […] ein ehrliches Suchen nach positiven Beweisen für die Wechselwirkung zwischen Materie und Bewusstsein [geht] – Körper und Geist, wenn Sie wollen. Es ist ganz unmöglich, Ihnen die Großartigkeit von Sherringtons unsterblichem Buch durch Anführung einiger kurzer Stellen zu übermitteln: Sie müssen es schon selbst lesen‘ (zitiert von J. C. Eccles in seinen Gifford Lectures, The Human Mystery (Routledge and Kegan Paul, London, 1984), S. 4f. [dt. Das Rätsel Mensch (Piper, München 1989), S. 5]).

86 C. S. Sherrington, Man on his Nature, 2. Aufl. (Cambridge University Press, Cambridge, 1953), S. 189. Im Text in der Folge abgekürzt als MN.

87 ‚Also hängen unsere beiden Begriffe, raum-zeitliche, spürbare [wahrnehmbare] Energie und nicht spürbarer [nicht wahrnehmbarer] Geist, auf irgendeine Weise zusammen, die Theorie aber hat auf die Frage, wie das sein könne, keine Antwort‘, zitiert von J. C. Eccles und W. C. Gibson in Sherrington – his Life and Thought (Springer Verlag, Berlin, 1979), S. 143, ohne Angaben.

88 Zitiert ibid., S. 142.

89 ‚Ich habe erlebt, wie jemand die Frage stellte: „Warum sollte der Geist einen Körper haben?“ Die Antwort kann durchaus lauten: „Um zwischen sich und einem anderen Geist zu vermitteln.“‘ (MN 206).

90 Die Wendung ‚einen Körper haben‘ ist tatsächlich seltsam und irreführend. Wir behaupten von nicht gefühlsfähigen Dingen nicht, dass sie einen Körper haben (Bäume beispielsweise haben keinen Körper). Wir erkennen Körper nur uns selbst und manchmal höheren Tieren zu. Nur von dem, was einen Leichnam hinter- bzw. zurücklässt, wenn es stirbt, kann man sagen, dass es einen Körper hat (wir sagen z.B. von einem toten Fisch nicht, dass er die Leiche oder der Überrest eines Fisches ist – der Überrest eines Fisches wäre ein halbverspeister Fisch). Der Gebrauch der Wendung bringt keine wie auch immer geartete empirische Wahrheit zum Ausdruck, sondern eine Einstellung bestimmten gefühlsfähigen Wesen gegenüber – für gewöhnlich Menschen.

91 C. S. Sherrington, The Integrative Action of the Nervous System (Cambridge University Press, Cambridge, 1947), S. xxiii.

92 Descartes, Brief an Prinzessin Elisabeth von Böhmen, datiert vom 21. Mai 1643.

93 E. D. Adrian, ‚Consciousness‘, in J. C. Eccles (Hg.), Brain and Conscious Experience (Springer Verlag, Berlin und New York, 1966), S. 240.

94 Ibid., S. 241.

95 Ibid., S. 246.

96 J. C. Eccles, in K. R. Popper und J. C. Eccles, The Self and its Brain (Springer Verlag, Berlin, 1977), S. 357 [dt. Das Ich und sein Gehirn (Piper, München, 2002), S. 430].

97 Eccles, Human Mystery, S. 3 [dt. Das Rätsel Mensch, S. 3f.]. Im Text in der Folge abgekürzt als HM.

98 Gottlob Frege, ‚Der Gedanke. Eine logische Untersuchung‘, ‚The thought‘, in seinen Collected Papers on Mathematics, Logic and Philosophy (Blackwell, Oxford, 1984), S. 351–372.

99 Dieser Irrtum ist unter Neurowissenschaftlern noch immer weit verbreitet und durchdringt die Forschung Benjamin Libets und seiner Kollegen; das erörtern wir weiter unten (siehe 8.1–8.2).

100 Zitiert von Eccles, ohne Angaben, in Popper und Eccles, Self and its Brain, S. 374 [dt. Das Ich und sein Gehirn, S. 449].

101 Ibid., S. 358.

102 Siehe z.B. F. Crick, The Astonishing Hypothesis (Touchstone, London, 1995), S. 22, 232 [dt. Was die Seele wirklich ist (Artemis & Winkler, München & Zürich, 1994), S. 41, 285], und E. Kandel und R. Wurtz, ‚Constructing the visual image‘, in Kandel, Schwartz und Jessell (Hg.), Principles of Neural Science (Elsevier, New York, 2001), S. 492, 502. (Das Bindungsproblem wird weiter unten in 4.2.3 erörtert.)

103 A. K. Engel, S. R. Roelfsema, S. Fries, M. Brecht und W. Singer, ‚Role of the temporal domains for response selection and perceptual binding‘, Cerebral Cortex, 6 (1997), S. 571–582.

104 So nannte beispielsweise Crick seine Theorie der Aufmerksamkeit ‚die Scheinwerfer-Hypothese‘, weil, wie er behauptete, der retikulare Komplex und das Pulvinar nur einen kleinen Teil der Thalamus-Vorgänge dem Kortex zugänglich machen und diese Aktivität mit einem Scheinwerfer in Verbindung gebracht werden kann, der einen Teil des Kortex erhellt. Crick behauptete, dass der thalamische retikulare Komplex und das Pulvinar mit dem Gehirnstamm und mit kortikalen Mechanismen interagieren, um eine saliente Entscheidung herbeizuführen, wozu aktive neuronale Gruppen durch das Scheinwerferlicht der Aufmerksamkeit ‚ins Bewusstsein gebracht‘ werden (F. Crick, ‚Function of the thalamic reticular complex: the searchlight hypothesis‘, Proceedings of the National Academy of Science USA, 81 (1984), S. 4586–5490). In ähnlicher Weise wurde von Weiskrantz in Verbindung mit seinen Untersuchungen des ‚Blindsehens‘ die Vorstellung von einem absuchenden Apparat oder ‚Überwachungsgerät‘ im Gehirn ins Feld geführt. Seiner Ansicht nach resultiert das Bewusstsein einer ‚normalsichtigen‘ Person in Bezug darauf, ob sie etwas im Gesichtsfeld sieht und was sie darin sieht, aus der Arbeit des neuralen Überwachungssystems. Bewusste Erfahrung ist nach Weiskrantz das Produkt der Überwachungsfunktion des Gehirns (L. Weiskrantz, ‚Neuropsychology and the nature of consciousness‘, in C. Blakemore und S. Greenfield (Hg.), Mindwaves (Blackwell, Oxford, 1987), S. 307–320). Es ist bemerkenswert, dass Crick und Weiskrantz diese Metaphern auf das Gehirn anwenden, während Eccles sie auf den Geist anwendete.

105 Neurowissenschaftliche Falschdarstellungen der Fähigkeiten der Split-Brain-Patienten und deren Entfaltung werden weiter unten in 14.3 untersucht und berichtigt.

106 W. Penfield, The Mystery of the Mind: A Critical Study of Consciousness and the Human Brain (Princeton University Press, Princeton, 1975), S. 1. Im Text in der Folge abgekürzt als MM.

107 J. H. Jackson, ‚On the anatomical, physiological and pathological investigations of epilepsies‘, West Riding Lunatic Asylum Medical Report, 3 (1873), S. 315–319.

108 Offensichtlich meinte Penfield, dass er die größtmögliche Annäherung an den Begriff von einem Schmetterling darstellte.

109 Um zu erklären, was der Geist ist, zitierte Penfield tatsächlich Webster’s Dictionary: ‚das Element […] in einem Individuum, das fühlt, wahrnimmt, denkt, will und das insbesondere folgert‘ (MM 11).

110 Es ist verblüffend, Penfields Konzeption mit Descartes’ bemerkenswertem Gleichnis in seiner Abhandlung über den Menschen zu vergleichen: ‚wenn sich eine rationale Seele in der Maschine [dem Körper nämlich] befindet, wird sie ihren Hauptsitz im Gehirn haben und dort wie der Quellmeister der Wasserspiele sein, der den Verteiler, an dem alle Röhren dieser Maschine zusammenkommen, bedienen muss, wenn er in irgendeiner Weise ihre Bewegungen beschleunigen, verhindern oder ändern will‘ (AT XI, 131). Das Wasserbecken ist hier der Ventrikel, in dem die Zirbeldrüse sich angeblich schwebend hält, die Rohre sind die Nerven und das Wasser stellt die Lebensgeister dar.

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