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Maya Grischin
Diaula und das Dorf am Hang
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Dritte Reise 1989 Stockholm, Februar 1989, zu Hause am Küchentisch Vierzehn Jahre lang habe ich einen dritten Besuch in Devonn immer wieder hinausgeschoben oder gar verdrängt; vielleicht, weil ich das vermeintliche Paradies in meinem Kopf so behalten möchte, wie es einst war. Heute habe ich mich entschlossen: Ich werde diesen Sommer ins Valsass fahren. Ich muss mich den Veränderungen dort stellen. Viel ist seit meinem letzten Besuch geschehen. Am Zweiten August vor vierzehn Jahren habe ich, trotz lautstarker Proteste der Familie, mein Studium von einem Tag auf den anderen an den Nagel gehängt. Ich bin mit dem Vulkanforscher Atli Gudmundursson nach Wien gezogen, habe meine Tochter geboren und mich bald darauf wieder von dem Isländer getrennt. Ich lebe jetzt in Stockholm, bin sechsunddreißig Jahre alt und eine gefeierte Köchin. Im Kochen habe ich schließlich eine handfeste Beschäftigung gefunden und mir einen Namen gemacht in einem Beruf, in dem Männer immer noch viel besser vorankommen. Meine Tochter Meret ist bereits dreizehn. Sie gleicht ihrem Vater und schwärmt seit Jahren vom Skispringer Matti Nykänen. Ihre Zimmerwände sind voll von Bildern vom Finnen, der immer wieder alle Meisterschaften gewinnt; ein Jungadler, der sich von der Sprungschanze stürzt, als ob es kein Morgen mehr gäbe. Wenn er mit den Skiern auf der Schulter durch den Schnee zur Schanze stapft und Reporter ihn mit irgendwelchen Fragen behelligen, gibt er immer absurde Antworten. So heißt es. Das Skifliegen bringt ihn wohl ganz durcheinander. Träumt Meret auch vom Fliegen? Ich weiß es nicht. Zum Glück ahnt sie nichts von meiner Fliegerei. Ich liess mich zur Allerweltsköchin ausgebilden. Ich musste doch irgendwie anfangen! Um meinem Namen Ehre zu machen, habe ich mich dann an den Haferbrei gewagt, für den die Diaulen so berühmt waren. Haferbrei! Leider haben mir die wohlmeinenden Feen keine Rezepte in die Wiege gelegt. Ich war ganz allein auf mich selber gestellt! Wochenlang kochte, rührte und aß ich nur Haferbrei. Ich bereitete ihn mit Quellwasser, Kombucha, mit Butter oder anderen Milchprodukten zu, würzte ihn mit Ingwer, Orangen, Kardamom, Zimt, Nüssen und Berberitzen und vielen, vielen anderen heimlichen Zutaten, aber er schmeckte nicht, wie Haferbrei einer Diaula schmecken soll. Die Feen spähten wohl heimlich über meine Schultern in den Kochtopf und lachten hämisch und schadenfroh. Ich verzweifelte und wollte alles hinschmeißen. Aber Arvennüsse brachten mich doch auf den richtigen Weg, und endlich kam ich auf Honig, den hellen Alpenblütenhonig des Valsass! Ich hatte das streng gehütete Geheimnis der Diaulen gelüftet! Schlussendlich wurde ich mit meinem Haferbrei weltberühmt. So wie es einer Diaula eben ansteht. Den Honig beziehe ich seitdem vom Imker Wilhelm Tell in Devonn. Mit der Zubereitung von Nachtischen habe ich dann meinen Namen als Spitzenköchin gefestigt. Nach wenigen Jahren fingen mich besonders Süßspeisen und die Kombination von Süßem mit Saurem, Salzigem oder Würzigem an zu interessieren. Heutzutage reise durch die ganze Welt und koche. In meiner knapp bemessenen Freizeit fliege ich immer noch gerne und oft. Das Fliegen ist ein wichtiger Bestandteil meines Lebens. Meine Tochter weiß zum Glück nichts davon und meine Arbeitskameraden auch nicht. Fliegend entfliehe ich ungemütlichen Situationen und fliegend treffe ich Entscheidungen. Meine besten Menüs habe ich in der Luft zusammengestellt. Spät nachts Ich sehne mich danach, bald wieder über die weißen Bergspitzen der Bündner Alpen zu schweben, tief unten die Täler. Warum bin ich noch nie bis nach Devonn geflogen? Erstens kann ich mit Gepäck nicht fliegen. Zweitens fürchte ich Hochspannungsleitungen und drittens habe ich Angst, gesehen zu werden. Meine Fliegerei könnte publik werden. Ich würde von den Medien gejagt und zur Heiligen stilisiert, zur Heiligen weißen Köchin … „Ist die weiße Köchin da? Zweimal muss ich rummarschieren, das dritte Mal den Kopf verlieren …“, würden die Kinder singen. Ich wäre die weiße Köchin, die levitiert und fliegt wie weiland Sankt Cupertino, von dem Blaise Cendrars in Le Lotissement du Ciel so eindrucksvoll erzählt hat. Dann hätte ich keine ruhige Minute mehr! Ich werde seit einiger Zeit das Gefühl nicht los, dass mir trotz meiner großen Erfolge am Herd irgendetwas Wesentliches fehlt. Ich wollte doch schon vor Jahren, den letzten Schritt tun, konsequent sein. Alles hinter mir lassen, Che Guevara nachfolgen oder Ulrike Meinhof; den Mutigen, die die Welt verändern! Mit meiner Art zu protestieren, nämlich Tulpen in Parkanlagen zu köpfen, was ich noch gelegentlich tue, ist es nicht getan! Doch habe ich immer wieder, immer wieder mit meinem alten Taschenmesser ritsch – ratsch gelbe Tulpen geköpft und, wenn mir das Unrecht in der Welt und die Gedanken an den Müll auf den Kopf fielen, ich nicht mehr aus und ein wusste, habe ich wieder rote Schuhe mit hohen Absätzen gekauft. Bin ich denn feige? Ich vermag nichts zu verändern; mache nur mit meinen Kochkünsten unsere verdrehte und grausame Welt ein wenig schmackhafter. Ich bin eben eine Diaula. Beim Durchblättern der alten Notizen fällt mir auf, dass sie mit der Beschreibung meines Zeitgefühls angefangen haben. Dies möchte ich auch hier im dritten Heft versuchen. Was aber ist meine Zeit? Ich weiß es nicht, denn ich nehme mir nicht die Zeit zum Nachdenken! Vielleicht ist sie mir ja gar nicht davongelaufen, sondern ich bin stehen geblieben oder ich habe einfach ihre Spur im Dschungel meiner Geschäftigkeit verloren. Kann mir das Valsass helfen, das Monster Zeit wieder einzuholen, anzuhalten und zu knebeln, um mein Leben zu entschleunigen? Was in Devonn geschieht, weiß ich nicht. Vielleicht will ich es ja gar nicht wissen. Nur die Bergsteigerin Margret Prevost schreibt mir manchmal. Sie berichtet wenig über das Dorf, denn Dorfklatsch interessiert sie nicht. Sie erzählt, dass immer mehr Gäste sommers und winters im neuen Sporthotel Urlaub machen, dass Huggentobler eine Klinik gebaut hat und richtet mir vor allem Grüße von Kollegger aus, der in Devonn auf mich wartet. Margret hat zwei Bücher über ihre neuen Kletterrouten veröffentlicht. Sie hat viele begeisterte Anhänger. Man hat ihr oft angeboten, im Himalaja fürs Fernsehen zu klettern, aber sie will in den Bündner Alpen bleiben, denn sie hat schlechte Erfahrungen mit den Medien gemacht: Vor ein paar Jahren kletterte sie eine Direttissima ohne Hilfsmittel in der Westwand einer der drei Zinnen in den Dolomiten. Ihr Aufstieg wurde gefilmt vom berühmten Schweizer Dokumentarfilmer Peter Schnoz. Margret nennt es die schlimmste Tour ihres Lebens. Als sie in der Wand kletterte, flogen immer wieder Helikopter nahe an sie heran. Deren Lärm, vom Fels zurückgeworfen, steigerte sich zum grausamen Angriff. Steine lösten sich über ihr und regneten in die Tiefe. Margret nahm an, dass ihr der Berg des Rummels wegen zürnte. „Ich bin beinahe abgestürzt. Ich werde so was nie mehr tun. Eine Bergbesteigung ist eine intime Affäre zwischen dem Berg und mir“, versicherte mir Margret. Ihre Bücher sind anders als die meisten Bergsteigerbücher. Die Urbilder der Alpenliteratur – etwa die Schriften von Luis Trenker oder Reinhold Messner – haben mit der Eroberung der Gipfel zu tun; wie wenn die Berge eine Frau oder ein zu eroberndes Land wären! Es sind Testosteron-Geschichten! Margret aber geht es um die persönliche Auseinandersetzung mit dem Berg, einer Liebesbeziehung. Sie ist die Dichterin der Berührung. Sie weiß zu beschreiben, wie Felsen oder der Wind im Gesicht sich anfühlen und kennt den Puls jeder Valsasser Bergwand. Sie schwärmt von einsamen kleinen Gletscherseen, in Karen versteckt, klaren Augen, worin sich heimlich nur eitle Sterne spiegeln; von Séracs, den blaugrünen Eistürmen, die beim Überqueren eines Gletschers jederzeit brechen oder einstürzen und sie verschlingen können – einer verführerischen, kalten Hölle. Ihr fällt aber auch eine seiden im Licht glänzende Schieferplatte ins Auge oder das kleinste, schüchterne Köpfchen einer auf schmalem Felsenband überlebenden Gletscheranemone. Wenn ich Margrets Bücher lese, werde ich froh und leicht wie eine Gämse. Ich sehne mich nach den Bündner Alpen, besonders nach dem Licht der Bernina. Stockholm, Ostern 89, die Schneeglöckchen haben
auch hier den Frühling erobert Auf einer Arbeitsreise nach Berlin las ich in einem renommierten deutschen Wochenblatt einen Bericht über mein Dorf am Hang. Da war die Rede vom unaufgeklärten Mord an Völi Padrutt und das Verschwinden der schönen, wundertätigen Madonna, als eine Gondelbahn zum Wallfahrtsort Scalamain gebaut werden sollte. Devonn wird gebrandmarkt als ein Ort von Separatisten und unaufgeklärten Morden, von Korruption und Geldwäsche. Es wird über den illegalen Bau einer Privatklinik auf der Gemeinde-Allmend, verbotener Abholzung von Bannwald und dem Schwarzwerden der Gletscher berichtet. Der Artikel beschreibt auch die Halsstarrigkeit und die Unwilligkeit der Gemeinde, mit anderen Gemeinden zusammenzuarbeiten! Trotzdem habe ich Heimweh nach Devonn, obwohl ich weiß, dass dort oben nicht alles so sauber und eindeutig ist, wie ich früher gerne glauben wollte. Deshalb möchte ich hinfahren und mich der Wirklichkeit stellen: der Nachlässigkeit, der Boshaftigkeit und den Winkelgeschäften ebenso wie den versteckten, stinkenden Haufen von altem Fett und Plastikmüll, die illegal in Bergspalten entsorgt werden. Meine Tochter Meret möchte ihre Sommerferien mit ihrem Vater Atli verbringen. (Er hat ihr eine Schifffahrt zum Donaudelta versprochen.) So kann ich allein ins Valsass fahren. Ich erinnere mich der Worte Padrutts, seit Großvaters Tod zur Liga des „Goldenen Steinbocks“ zu gehören und will wissen, ob es das irdische Paradies auf Prada persa noch gibt. Vor allem aber möchte ich Kollegger wiedersehen. Aber ich brauche einen Reisebegleiter, der mir hilft, die verworrene Lage in Devonn und vor allem mich selber zu verstehen. Einer, der mir Ratschläge gibt, mich warnt und beschützt, denn meine eigene Rastlosigkeit, Prada persa und Huggentoblers gentechnische Vorhaben (von denen ich in durch die Presse erfahren habe), die verschwundene Madonna von Scalamain, die wachsenden Kehrichtberge sowie der unaufhaltsame Rückzug der Gletscher im Valsass und anderswo beunruhigen mich. Ich erinnerte mich an Herrn Parmenides, den ich auf Sbloc getroffen hatte; schrieb ihm, schilderte meinen Wunsch und bat ihn, nach Devonn zu kommen. Er antwortete, dass er mich wohl besuchen möchte, sich aber der Aufgabe eines spirituellen Guides nicht gewachsen fühle. Am liebsten hätte ich eigentlich eine Frau als Begleiterin gehabt. Ich dachte an Teresa von Avila, Maria Montessori, Rosa Luxemburg, Angela Davis oder etwa Camille Paglia, fünf Frauen, die ich bewundere und die auch meine Freundin Margret schätzt. Aber keine hatte Zeit, jede war mit viel größeren Aufgaben anderswo beschäftigt. Stockholm, Auffahrt 89. Der Flieder blüht! Ich hatte Inserate in großen Tageszeitungen mehrerer Länder aufgegeben und erhielt zu meinem Erstaunen Angebote von bekannten, von mir verehrten Schriftstellern wie Blaise Cendrars und Dante Alighieri, von Rilke, William Saroyan, Walter Benjamin, Joseph Roth, Curzio Malaparte, Kurban Said, Halldor Laxness und Thomas von Aquin. Alle nur sehr selbstbewusste Männer! Frauen waren leider keine dabei! Ich hatte sie um einen kurzen handschriftlichen Lebenslauf und die Darlegung ihrer Weltanschauung gebeten. Dante Alighieri zum Beispiel hat andere Interessen als ich –, die ich nicht darauf aspiriere, Gott sehen zu wollen wie er. Meine Wahl fiel schließlich auf Thomas von Aquin, aber seine Korpulenz schien mir schlussendlich doch nicht geeignet, um auf Ziegenpfaden in den Bergen zu klettern. Ich zögerte. Stockholm, Pfingsten 89, verregnet Schließlich hat sich, verspätet, auch der Jesuit Pierre Teilhard de Chardin gemeldet! Ich habe mich sofort für ihn entschieden. Als Paläontologe ist er gewiss berggewohnt und hat sich auf seinen Forschungsreisen in China viel in den Bergen umgesehen. Als Franzose wird er sicher schnell Rätoromanisch können. Auch hat er eine überaus helle Einstellung zum Leben. Hochwürden teilte mir in seinem Brief unter anderem mit, „… dass nicht nur Menschen, sondern auch allen Dingen geistige Eigenschaften innewohnen. Die Materie“, so ungefähr schrieb er, „müsse, um Geist hervorzubringen, als Urmaterie bereits beseelt gewesen sein.“ Teilhard behauptete allerdings nicht, dass unbelebte Dinge Bewusstsein haben und zum Beispiel Schmerzen erleben können. Vielmehr betonte er, dass bei allen Lebewesen entsprechende Formen bewusster Geistigkeit anzutreffen sind. „Aber“, wie er ungefähr sagte, „nur ein ausreichend entwickeltes Lebewesen kann entsprechende, reich ausgebildete geistige Züge aufweisen. Die Entwicklung aller Wesen strebt in Richtung Omega, wo Geist und Materie eins werden. Omega ist Christus selbst, der die Dinge an sich zieht. Wir sollten alles, was geschieht, in diesem Lichte sehen!“ Ich fand Teilhards Darlegung gewagt, aber seine klare, bejahende Weltanschauung überzeugte mich. Wir wurden uns per Fax einig. Ich beschloss, mich vor dem Treffen mit meinem Mentor noch mit einem Packen Bücher über Quantenmechanik, Stringtheorie und Ähnlichem einzudecken. Stockholm, kurz vor Mittsommer 89; die Stadt ist bereits entvölkert, alle sind auf dem Land und am Meer Teilhard hat mir geraten, nach meiner Ankunft in Devonn zuerst konzise Listen zu erstellen über die Dinge, die sich im Dorf im Laufe der Jahre verändert haben, die Häuser die gebaut, renoviert oder abgerissen worden sind. Auch sollte ich untersuchen, was auf den Feldern und in den Gärten angebaut wird, welche Berufe die Leute im Dorf heutzutage haben, welchen politischen Parteien sie angehören, was sie verdienen, wer im Dorf wen geheiratet hat, die Anzahl Kinder pro Familie und wie sie heißen, wie viele Kühe, Ziegen, Hunde, Katzen und Hühner es dort gibt und und vieles andere mehr. Erst sollte ich mich nur um die Statistik kümmern, die äußere Wirklichkeit. Alles mit klarem Kopf untersuchen, auf keine Mutmaßungen eingehen. Etwas Ähnliches hat ja einst schon Marie-Louise von Kaschnitz in den „Beschreibungen eines Dorfes“ unternommen. Ihr Versuch endete meines Erachtens in Nostalgie und Gefühlsduseleien. Deshalb hatte mein Mentor weitergedacht: Ich sollte als zweite Aufgabe das Netz der Beziehungen in den Familien und in der Gemeinde untersuchen. Das war bedeutend schwieriger. Teilhard empfahl mir dringend, auch mit Vater Vonmoos und mit Luzi Comminoth, dem Kommissar in Chur, zu sprechen über die Spannungen im Dorf zwischen Reichen und Armen, Alteingesessenen und Zugezogenen, Katholiken und den wenigen Reformierten, sowie auch über zerstrittene Geschwister, sexuelle Vorlieben und Nachbarn, die einander nicht riechen können. Eine dritte Art von Zuständen, die Teilhard mir zu ergründen auftrug, nämlich meine eigenen Träume, Vorbilder, Ziele und Ängste mit denen der Einwohner von Devonn zu vergleichen. Dies ist wohl die schwierigste Aufgabe! Da könnte mir vielleicht Kollegger, der intuitive Beobachter, weiterhelfen. Also auf nach Devonn. Devonn, einen Tag nach meiner Ankunft, in der Crousch alva So bin ich denn, an einem strahlenden Sommertag in alller Herrgottsfrühe, wieder in Chur in die Rhätische Bahn gestiegen, den Zug, der mich bis nach Castelava brachte. Süßer, melancholischer Heugeruch wehte durch die offenen Fenster. Zu meinem Leidwesen sind Mohnblumen und Kornblumenblau an den Feldrändern fast ausgestorben, es gibt kaum mehr Unkraut auf den wenigen noch bebauten Äckern. Die blauen Kerzen der Lupinen und die weißen Ackerwinden wucherten keck an den Bahndämmen. Heckenrosen dazwischen. Aber auch sie werden bald der chemischen Schädlingsbekämpfung zum Opfer fallen und in ein paar Jahren ausgerottet sein. An Straßenrändern staubbedeckte Wiesensalbei in der schläfrigen Langeweile des Sommers, zusammen mit den letzten nickenden Akeleien und Margeriten. Die Spitzenköpfchen des Wiesenkerbels schüttelten sich eitel und Butterblumen glänzten auf der Vorbeifahrt, Himbeeren und Brombeeren reiften klandestin an den Zäunen. Der Zug hetzte an zahllosen brachliegenden Feldern und den Stationen kleiner Dörfer mit klangvollen Namen vorbei, hielt nicht mehr auf verträumten Bahnhöfen, die Fenster und Balkone einst so schön mit Hängenelken geschmückt. Die Gebäude standen beschämt schlotternd leer. Kein Stationsvorstand trat mehr mit der Kelle aus der Tür. Die Fassadenfarbe der heruntergekommenen Bahnhöfe ist abgeblättert, die Fensterscheiben sind längst eingeschlagen. Vor den Türen mit Vorhängeschlössern faulten große Müllhalden. Auf zerbrochenen Sofas lümmelten sich der Moder und die Verlassenheit. Ich stieg ins gelbe Postauto um und kam eine Stunde später in Devonn an. Den verwitterten Bildstock am Dorfeingang suchte ich leider vergebens, hörte aber das vertraute Läuten von grasenden Kühen auf der Wiese am Hang. Was hat sich alles im Dorf verändert? Das Erste, was in die Augen fällt, ist das klotzige Gebäude, die Klinik Huggentoblers auf der Allmend unterhalb des Dorfes. Bei meinem letzten Besuch war sie noch nicht einmal im Bau. Das verträumte Bauerngärtchen vor Großmutters Haus fehlt, ebenso die Holzbeigen an den Wänden. Auch den hinteren, uralten Teil unseres Hauses, mit dem zusammengebrochenen Ziegenstall, gibt es nicht mehr. Ein Hund bellte, es könnte einer von Wilhelm Tells Schäferhunden gewesen sein. Zwei Katzen räkelten sich auf dem Rücken in der Sonne. Ich hörte eine Motorsäge vom Waldrand und den Wind im alten Ahorn vor dem Gemeindehaus rauschen. Irgendwo spielte einer Klarinette. Die Melodie brach ab, setzte wieder an und stolperte über falsche Töne. So ging es eine ganze Weile. Ist Wittgenstein wieder in Devonn? Ist er es, der irgendwo in einem Gaden wie besessen auf seiner Klarinette übt? Die Gerüche von warmem Roggenbrot aus dem Gemeindebackofen, von frisch gesägtem Holz, von Miststöcken, Schweinestall und Katzenpisse schwängern nicht mehr die Luft. Das Dorf riecht nach gar nichts mehr. Vornehm und stolz wie ein Engadinerdorf sieht Devonn jetzt aus! Alle Hausruinen sind verschwunden. Die Straßen sind asphaltiert. Die alten Häuser zeigen sich im Sonntagsstaat. Die Wände sind frisch geweißt und die Dächer neu mit Ziegeln oder mit glänzenden Schieferplatten gedeckt. Die Sgraffiti der Fassaden sind sauber hergerichtet, aber hinter den Häusern häuft sich in schwarzen Plastiksäcken der Müll und wartet darauf, heimlich in die Berge verfrachtet zu werden. Ein hässlicher Hotelkasten und ein Dutzend neue Ferienhäuser kleben am Hang rechts oberhalb des Dorfes; so auch die zwei gespenstischen, nachts violett leuchtenden Gewächshäuser des Holländers Derk Vandemeer de Boer. Es gibt im ganzen Dorf kaum noch Miststöcke und frei herumlaufende, gackernde und pickende Hühner. Die großen Geflügelfarmen im Unterland haben das Hühnerhalten auch in Devonn unnötig gemacht. Eier sind billig wie noch nie. (Das erzählte mir der alte Calonder, den ich als Ersten traf. Er hat die Pfeife beim Reden nicht mehr aus dem Mund genommen.) Ein letzter Bauer hat einen Schweinestall, weit unten am Hang. Viele Wiesen werden nicht mehr gemäht, da es sich nicht mehr lohnt. Die Mähmaschinen und Erntedrescher verrosten in den Scheunen. Es gibt noch ein paar kleine Kartoffeläcker unterhalb der Kirche. Ziegenbauern gibt es nur noch einen. Jöri ist sich selber treu geblieben, hat noch den Stall voller Geißen und verkauft ihre Milch an die große Käserei im Tal. Der Bauer Bezzola hält jetzt eine große Schafherde. Man sieht die Tiere als weiße Punkte an den Steilwiesen des Piz Mulatsch grasen. Die windschiefe Hütte vom armen Clavadetscher klebt noch immer hoch oben am Hang bei der Rüfe. Tagsüber ist das Dorf wie ausgestorben. Viele Männer arbeiten auswärts, die Kinder sind in der Ferienkolonie, auf der Alp oder im Schwimmbad. Die Alten hängen den ganzen Tag mit Bier vor dem Fernseher. Ich begegne nur wenigen Frauen, die beim Einkaufen Zeit für einen Schwatz haben. Von Hedwig Tell höre ich, dass der alte Devonas gestorben ist und Alexa, meine Nachbarin, sich bald im Kantonsspital einer Knieoperation unterziehen muss. Vor fast jeder Tür steht neben einem Pick-up ein Mercedes oder ein Sportwagen. Die meisten in Devonn scheinen jetzt Geld zu verdienen wie noch nie zuvor. Zu Ferienhäusern ausgebaute Ställe werden sommers und winters an Gäste vermietet, ebenso Alpen und Wiesen. Es werden Schnitzereien und Möbel aus Arvenholz an Gäste verhökert, Handgewobenes, gestrickte Socken, Jacken und Postkarten, Kräuter, neben Schlüsselanhängern auch Trockenfleisch und geräucherte Würste. Nur die steilen grünen Hänge und die Wälder, die Felsen und Bergspitzen scheinen die alten geblieben zu sein, tröstlich unverändert, in einer sich ständig verändernden Welt. Ich gehe gemächlich an die Aufgabe, die mir Hochwürden gestellt hat. (Ich brauche dafür keinen Aleph, wie ihn Jorge Luis Borges in seiner Geschichte Der Aleph beschrieben hat – einen magischen Punkt auf der neunzehnten Stufe einer schmutzigen Kellertreppe in Buenos Aires, womit man alles in der Welt gleichzeitig, aus allen Richtungen, sehen kann, Raum und Zeit gleichermaßen. Das hatte ich Teilhard bereits mitgeteilt. Er muss Geduld mit mir haben. Wenn mich etwas fesselt – es kann für andere etwas ganz Unwichtiges sein – bleibe ich lange stehen und lasse mich darauf ein.) Mir fällt wieder Parmenides ein. Was hat er mir damals auf Sbloc klarmachen wollen? Dem Einen, und nicht der Vielfalt zu trauen? Das Gleichgewicht in der Gegenwart zu suchen? Das geschieht manchmal beim Kochen, beim Fliegen und vor allem, wenn ich mit Kollegger im Wald sitze oder mit ihm am Flipperkasten stehe. Das hätte Parmenides sicher gerne von mir gehört. Aber wo, wo ist Kollegger? Jedenfalls wünscht Teilhard, dass ich über die Vergangenheit der Dorfgemeinschaft Bescheid weiß, um die Gegenwart, die mich oft mit Melancholie erfüllt, richtig verstehen zu können. Aber jetzt bin ich hier, und weiß nicht, wo Kollegger ist. In Großmutters Haus, einen Tag später Als es tagte, machte ich einen heimlichen Erkundungsflug. Mit gutem Aufwind schwebte ich über das Orchideenhaus von Vandemeer de Boer, der mit einer dampfenden Tasse vor der Tür stand, flog über die Klinik Huggentobler, deren große Fensterfronten in der Morgensonne leuchteten, übers neue Gemeindehaus und das Schulhaus, Wilhelm Tells Kartoffelacker bis hin zur Glasbläserei, wo Huonder bereits an der Arbeit war. (Er bläst heutzutage nur noch Glasgefäße für die chemischen Werke in Ems.) Die seit Jahren verlassene und verfallende Mühle ist von Brennnesseln, Hahnenfuß und einer Armee blauem Eisenhut umzingelt. Das Mühlrad liegt verschlammt im ausgetrockneten Bachbett. Das Haus des Kommunisten Wettstein daneben steht leer und soll abgerissen werden. Der umtriebige Schriftsetzer ist wahrscheinlich arbeitslos geworden, denn viele lokale Zeitungen erscheinen nicht mehr. Man sieht den Dorfbach, den Scaldegn, nur noch bei der überdeckten Holzbrücke und ganz oben in der Rüfe, wo das Wasser als Rinnsal aus dem Berg kommt. Oberhalb des Dorfes fließt der Scaldegn jetzt unterirdisch, sauber in Betonröhren gefasst. Alles war ruhig. Nur das Schnaufen und Rasseln von ein paar Kühen an ihren Ketten war zu hören. Dann das Gemecker und die Schellen von Jöris Ziegen in der Morgenfrische, das Horn und die Rufe des Ziegenbuben, der seine Schützlinge aus dem Dorf auf die Weide am Berg trieb. Ich kaufte flaumige Brötchen im Bäckerladen. Die italienische Verkäuferin erklärte mir, dass Brot und Kuchen nunmehr von der Brotfabrik in Chur bezogen werden. Zeitungen, Konfitüre, Milch und Butter holte ich im Konsum, begrüßte Gilgia, die immer noch dort arbeitet und frühstückte zu Hause. Ich las im überregionalen Amtsblatt, dass Prodovka, 71, der Kinderschändung angeklagt (der etwa zur Zeit meines letzten Besuches mangels Beweisen wieder freigesprochen wurde), jetzt zum dritten Mal in Zürich auf der Anklagebank sitzt; verklagt von zwei Müttern, deren fünf- und sechsjährige Mädchen er im Hinterzimmer seines Ladens angefasst hatte. Wieder waren Himbeerbonbons im Spiel. Die Kinder sind sofort zum Arzt gebracht und die Übergriffe sind medizinisch bestätigt worden. Diesmal wird Prodovka hoffentlich für den Rest seines Lebens weggesperrt! Ich erfuhr aus der Zeitung auch, dass der 80-jährige Justus Reich aus T. in seiner bis zur Tür vollgestopften und nie gelüfteten Wohnung erstickt ist. Die Polizei hatte Probleme, überhaupt in die Wohnung zu gelangen! Etwas später traf ich auf der Dorfstraße zwei junge Einheimische mit Kinderwagen; die eine war Hedi, die jüngste Tochter vom stillen Mechaniker Guido Casutt (der in Chur unten in der Waagen-Fabrik Busch arbeitete, aktiv in der Gewerkschaft war und Großvater gut kannte). Ich beugte mich über den Kinderwagen. Da strampelte ein glucksender Säugling mit behaarten spitzen Ohren! Ich schaute schnell wieder weg. Das Kind der zweiten Mutter hatte Schwanzfortsätze, wie sie Welse haben, und anstelle der Ohren zarte und durchsichtige, bewegliche Flossen! Die jungen Frauen erzählten mir ruhig, dass solche Kinder nun sehr beliebt sind. Dass man sie bei Professor Huggentobler bestellen kann. Unerwünschtes Erbgut wird von ihm aus dem DNA-Strang geschnitten und glorios mit den gewünschten Eigenschaften ersetzt. Hedi Casutt erklärte mir, dass die Niedlichkeit gewisser Tiere, wie von Katzenjungen, Tieren mit großen Augen, wie der Koboldmaki, in ihr den Wunsch erweckt hatten, ein solches Kind zu haben … Die andere junge Frau, noch fast ein Kind, schwärmte von einem zweiten Baby mit Katzenpelz. Mir lief es kalt den Rücken hinunter. Damit also beschäftigt sich Huggentobler! Chur, im Hotel Rebleuten, vier Tage später Ich folgte Monsieur Teilhards Rat und habe Luzi Comminoth in seinem engen Büro in der Nikolaigasse in Chur besucht. Ich wollte ihn eigentlich über die Machenschaften Huggentoblers befragen, aber der Kommissar hatte heute kaum Zeit für mich; er war gestresst, rutschte dauernd auf seinem Stahlrohrsessel und schaltete den Ventilator an und aus. Ein heißer Tag! Papiere wirbelten durch die Luft. Luzi hatte gerade einen Anruf von einer großen Geflügelfarm bekommen. Hühner sind ausgebrochen und die Hilfe der Kriminalpolizei war nötig, denn es könnte sich um einen groß angelegten Überfall von jungen Tierschützern handeln. Die besagte Hühnerfarm liegt unterhalb der Ringstraße, in den Rheinwiesen. (Auf dem Gelände stand einst eine Ziegelei.) Die Farm ist bei vielen jungen Churern verpönt. Tierschützer haben schon mehrmals gegen die unmenschliche Hühnerhaltung demonstriert und randaliert, und die Medien haben mitgemischt. Aber da es um sehr viel Geld geht, hat es bisher kaum Verbesserung in der Tierhaltung gegeben. Einzig Alarmanlagen sind installiert worden, um die Besitzer gegen Übergriffe zu schützen. Es ist eine dieser riesigen Geflügelfabriken. Die Hahnküken sind längst durch den Fleischwolf gedreht und zu Katzenfutter geworden. Die Hühner hocken zusammengepfercht auf Gittern, damit der Kot durchfallen kann. Sie können kaum stehen und sich bewegen. Ihre Flügel sind gestutzt. Auch die Schnabelspitzen werden abgeschnitten, sonst würden sie ihre Artgenossen zu Tode hacken. Das Kommissariat hat eben erfahren, dass alles mit dem Überfall zweier verschlagener Füchse angefangen hat. Die Schlauberger haben irgendwie zwei Drahttüren geöffnet und sind über das Federvieh im Gehege hergefallen. Panik ist ausgebrochen. „Die Hennen drängen zum offenen Gatter“, so wird dem Kommissar rapportiert, „um dem tödlichen Biss durch die Eindringlinge zu entkommen, klettern übereinander in wildem Durcheinander und suchen die Freiheit. Sie gackern und schreien und flattern durchs Wiesental, versammeln sich auf der Turnerwiese. Auf dem Ottoplatz sind bereits einige gesichtet und vom Hund des Tierarztes Bisaz verscheucht worden.“ Erst sind es ein paar Hundert, die sich spontan aus ihrer Hölle aufmachen, bald sind es Tausende, und nach einer guten Stunde ein paar Millionen von weißen Hühnern, die das Weite suchen. „Ich bin Zeugin einer Demonstration von geschundenen, wütenden Kreaturen, die mit ihren kaputten Schnäbeln auf alles picken, was ihnen in die Quere kommt!“, schrie eine Kindergärtnerin ins Telefon. „Die sonst friedliche Turnerwiese ist zum Bersten voller Hühner! Die Kinder müssen drinnenbleiben und machen Unfug! Immer mehr zuckende, schmutzige, verkotete weiße Vogelleiber wälzen und schieben sich flatternd weiter, der Innenstadt zu und legen hier und dort hysterisch gackernd ein Ei!“ Ich begleitete Luzi und zwei Polizisten zum nahen Postplatz. Von hier konnten wir den Geflügelaufstand am besten beobachten. Die Luft war trübe von fliegenden Federn und Kot, Staub und Hühnerflöhen. In der Altstadt – es ist Freitagnachmittag – flanierten Touristen und einkaufende Churer durch die Obere Gasse und begafften und fotografierten den chaotischen Hühnerzug, der sich vom Postplatz her auf das Regierungsgebäude und den Martinsplatz zu wälzte. Dann brach Panik bei den Hühnern sowie auch bei den Passanten aus. Die Hennen, und auch viele aufgeschreckte Churer, liefen, schrien, rannten kreuz und quer, schneller und schneller, durch Straßen und Bürgersteige. Die Hühner gackerten aufgebracht, legten in ihrer Qual Hunderte von Eiern, die von den vorbeistürmenden Artgenossen zerpickt und zerbrochen, geschlürft oder zertreten wurden. Überall Federvieh. Es stank unbeschreiblich in der sommerlichen Hitze, die Straßen waren schlüpfrig, gelb und und klebrig von Ei und Hühnerkot und viele, besonders ältere Menschen, rutschten aus. Die Leute ließen ihre Einkaufstaschen fallen und flohen ebenso kopflos wie die Vögel. Kleine Kinder, die von Hühnern angegriffen wurden, weinten und schrien wie am Spieß, und kleine Hunde jaulten und große bellten. Die Hühner drangen durch offene Türen in Läden ein, als ob eine wilde Armee von Vandalen die Altstadt eingenommen hätte und nun plünderte und brandschatzte. Mehrere Personen fielen in Ohnmacht. Einige wehrbare Churer holten eilig ihre Sturmgewehre aus den Kleiderschränken zu Hause, rannten mutig die Poststraße hoch und schossen ins wogende Hühnermeer. Es war wie einst im Wilden Westen. Immer mehr Hühner folgten nach, mehr und mehr Schüsse fielen. Das in die Enge getriebene Federvieh fiel auch Hunde und Passanten auf den Gehsteigen an, Millionen von schmutzig-weißen und einigen braunen Hühnern, eine Invasion von flatternden und schreienden, zuckenden Körpern, fliegenden Federn und Schmutz. Der apokalyptische Lärm war unbeschreiblich. Luzi rief den Notstand aus. Die Polizei kam vom Obertor her mit Blaulicht angerast, aus Lautsprechern wurde den Churern geraten, in den Häusern zu bleiben. Verletzte wurden von den endlich anrückenden Sanitätern versorgt. Die Polizei überfuhr knirschend hunderte von Hennen, und hellrotes Hühnerblut spritzte durch die Poststrasse und färbte auch den Martinsplatz rot noch für viele Wochen danach. Die Feuerwehr kam mit zwei neuen, auf Hochglanz polierten roten Ungetümen und wusste sich kaum zu helfen. Langsam beruhigte sich die Lage; und das nur, weil der kluge Kommissar Comminoth der Feuerwehr geraten hatte, sofort einen Hahn zu holen. Der Feuerwehrkommandant Chrigel Schocher hatte ratlos die Hände verworfen: „Wo gibt es heutzutage noch Güggel?“ Einer seiner Feuerwehrmänner, mit Namen Tancredi Spadini, wusste Rat. Per Helikopter wurde eiligst ein Gockel von einem Biohof im nahen Zizers geholt. Man stellte das braune Prachtexemplar aufs Dach eines Feuerwehrautos, und siehe da, der Hahn krähte! Die überlebenden Hennen, ein paar Hundert an der Zahl, beruhigten sich und konnten schließlich wieder eingefangen werden. Die Stadtreinigung war verzweifelt. Sie vermochte das Chaos nicht allein zu bewältigen. Auch die in Chur stationierten Rekruten der Schweizer Armee wurden zum Mithelfen abkommandiert. Auch am Wochenende wurde mithilfe von Freiwilligen Tag und Nacht gearbeitet, um die Straßen zu säubern von Hühnerkörpern, Kot und zerbrochenen Eierschalen, verklebtem Eiweiß und Dottern, Knochen und Federn. Hunde, Katzen, Marder und Stadtfüchse fraßen sich satt. Es wurden mehrere Millionen tote Vögel gezählt, viele ohne Kopf oder Beine. Deren Ausbruch in die Freiheit hatte verheerende Folgen. Die Bilanz des mutwilligen Aufstands und der Zerstörung ging in die Millionen Schweizer Franken. Der Preis von Hühnerfleisch wird um das Doppelte steigen. Man wusste noch nicht, ob die Gesundheit der Bevölkerung unter dem Hühner-Überfall leiden wird. In einer Baugrube im nahen Landquart wurde viel Hühnerfleisch entsorgt, ein Großteil aber in Schiffscontainer gefüllt und wahrscheinlich zum Südpol verfrachtet. Wieder zurück in Devonn, mit vielen Fragen Das Dorf ist abends still und wie ausgestorben. Die alten Frauen helfen in den Küchen Gemüse rüsten und Kartoffeln schälen, die Greise sitzen mümmelnd vor dem Fernseher, sehen immer wieder dieselben Filme und vergessen sie gleich wieder. Sie haben kaum mehr Zeit, wie früher auf der Bank vor dem Haus miteinander über die Schlechtigkeit der Welt zu klagen, jungen Frauen unter die Röcke zu schauen und einander beim Kartenspiel zu betrügen. Bei meinem Flug in der Dämmerung habe ich etwas entdeckt. In der verlassenen Mühle brannte Licht. Was geht dort vor? Ist Wettstein zurückgekommen? Ich habe mehrere menschliche Schatten beobachtet, Stimmen und eine Tür zuschlagen gehört. (Oder war es doch der Wind, der Wind, das himmlische Kind?) Wahrscheinlich halten sich hier Guerillakämpfer versteckt. Mir scheint, ich habe für einen ganz kurzen Augenblick Che Guevara gesehen, wie immer mit der schwarzen Baskenmütze mit dem Stern des Comandante auf dem Kopf und bei ihm, in Uniform und mit angelegtem Gewehr, die schöne Tamara Bunke, die Übersetzerin und Abenteurerin, die sich für die Operation Fantasma in Boliven vorbereitet. Warum ist sie dort und nicht ich? Es wäre doch mein Platz! Ich werde das Gesehene für mich behalten, heute Nacht hingehen und fragen, ob die Guerillos auch mich brauchen können. Conradin ist wieder auf der Alp Sc. Ich hörte es von seinem dementen Vater, den ich beim Briefkasten traf. Siggi Padrutt erzählte stolz, dass sein Sohn promoviert hat und Gletscherbiologe an der Universität Wien ist und als Professor der Glaziologie amtet. (Auch mein Ex-Mann, Atli Gudmundursson, der Vulkanologe, ist Professor an derselben Uni und die beiden Freunde sind vehemente Umweltschützer. Sie werden von ihren Studenten scherzhaft Feuer und Eis genannt.) Ich traf Conradin Sinfjötli im Konsum. Er hatte wie immer seinen uralten Militärrucksack dabei und sich kaum verändert. Nur seine Gesichtszüge sind schärfer geworden. Conradin erzählte eifrig von seinem Forschungsprojekt: Er untersucht mit Kollegen seiner Uni den Zustand der Alpengletscher und die Verschmutzung der Alpengewässer und arbeitet Gegenmaßnahmen aus. Mein Freund wohnt wieder auf der Alp Sc und lebt sein veganes, asketisches Leben und geht dem alt gewordenen Sennen Cadruvi immer noch zur Hand. Conradin zog mich zur Seite und bat mich, ein Auge auf den Orchideenzüchter Vandemeer de Boer und vor allem auf Huggentobler zu haben. Mit Handschlag erneuerten wir unsere Freundschaft und verabredeten uns für eine Bergtour zur Prada persa. Die Bank bei der Kirche ist frisch gestrichen. Dort saß gestern wieder der seltsame Mann mit den brennenden Augen, dieser Wittgenstein, der mir schon als Kind aufgefallen ist. Er trug einen abgewetzten schwarzen Ledermantel, der ihn noch magerer erscheinen ließ. Als ich mich auf die Bank setzen wollte, rückte er unwillig zur Seite. Er hatte eine alte Schreibmaschine neben sich auf der Bank, tippte etwas und schüttelte verneinend den Kopf. Ich bot ihm eine Zigarette an, aber er winkte ab. „Die gesamte Wirklichkeit ist die Welt. Der Satz ist ein Modell der Wirklichkeit, so wie wir ihn uns denken. Die Welt zerfällt in Tatsachen“, zischte er, und hämmerte dann die Worte mit zwei Zeigefingern in die Maschine. Dann starrte er mich an, ohne mich zu sehen. Ich zog es vor, zu schweigen und nickte nur, denn ich ahnte, dass Herr Wittgenstein Frauen nicht mitreden lässt. Jedenfalls nicht eine Köchin, die in ihrer Freizeit über die Hausdächer fliegt … „Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern dass sie ist“, glaube ich gehört zu haben, und begann etwas an den Fingern abzuzählen. „Ja, so sehe ich das auch!“, nickte ich. Eigentlich gefiel mir der Sonderling. Was er sagte, macht Sinn; war sonnenklar und logisch. Die Schreibmaschine klingelte. „Die Welt und das Leben sind eins, funf Punkt 621“, sagte er zu sich selbst und tippte. Ich lächelte. Das klingt nach Parmenides mit einem Hauch Sufi-Mystiker. Spannend! Sollte ich mich philosophisch vielleicht an Herrn Wittgenstein orientieren? Ich nahm mir ein Herz und fragte ihn nach der Langeweile. Ich hätte allzu gerne etwas darüber vernommen. Aber der Philosoph gab keine Antwort. Er klemmte nur seine Schreibmaschine unter den linken Arm und entfernte sich, in der Rechten die Klarinette im grauen Strumpf. Ich schaute ihm nach. Ich sehnte mich nach Kollegger. Der kann zuhören. Wieder allein, wurde mir bald klar, dass die Langeweile noch nicht aus meinem Leben verschwunden ist. Immer wieder fällt sie über mich her und würgt mich. Ob Che oder Wittgenstein je mit der Langeweile kämpften? Auch der Philosoph Heidegger hat unter anderem über die Langeweile nachgedacht. Nach ihm verschlingt vor allem die grundlose, beziehungslose Langeweile das Selbst. Auch die Zeit verschwindet in der Lähmung der Langeweile, und es entsteht etwas wie eine Nicht-Zeit. Ein schwarzes Loch. So habe ich es schon in meiner Kindheit erlebt, als ich im Haselgebüsch hockte. Nur die kleinen Handlungen lassen die Zeit wieder fortschreiten. Es gibt also gar keine Zeit außer der Zeit unseres Tuns. Das Aufraffen dazu ist, mit Heideggers Worten zu sprechen, die existenzielle Freiheit. Bei mir ist die Langeweile ein Sog, aus dem immer eine unbändige Sehnsucht ins Unbekannte und Ungebundene entsteht. Dann muss ich reisen. Irgendwohin. Weit weg. Es gibt auch nur ganz wenige Menschen, die ich nach kurzer Zeit nicht leer und langweilig gefunden hätte. Einer davon ist Aurel Kollegger, die anderen sind Großvater, Hochwürden Teilhard, Conradin und Margret Prevost. (Atli Gudmundursson fand ich anfänglich spannend, aber nach einem Jahr Ehe hatte er mir nichts mehr zu sagen und ich langweilte mich endlos in seiner Gesellschaft.) In Gegenwart von Katzen empfinde ich nie Langeweile. Mittelalterliche Kunst kann meine Langeweile für geraume Zeit überwinden, ebenso die Bilder von Tiepolo, Segantini, Manet, Klimt und Klee. Gegenwärtige Kunst haut mich nicht vom Hocker. Die Alpen jedoch, mit ihren Felswänden und Gipfeln im sich ständig verändernden Licht, grünen Tälern und Wäldern, Seen, Flüssen und Staubbächen, an denen ich mich nicht sattsehen kann, sind neben dem Kochen, dem Schreiben und dem Flippern fast die einzige Medizin gegen die Umklammerung der Langeweile. Devonn, spät nachts, 20. Juli 89 Gegen Mitternacht, als das Dorf schlief und nur irgendwo ein Hund den Mond anbellte, schlich ich mit einer Taschenlampe durchs Dorf. Alexas uralter Tigerkater Mausi war auch in irgendeiner Mission unterwegs und folgte mir. Ich wollte an der Kirche vorbei zur alten Mühle, den Guerillos meinen Dienst anbieten. Beim Eingangstor zum Friedhof lehnte eine dunkle Gestalt und rauchte. Eine Baskenmütze beschattete das halbe Gesicht. Ich konnte den süßen Pfeifentabak von ferne riechen. Es muss Che Guevara gewesen sein. Ich wagte mich näher. Er schlug sein Gewehr an und sagte mit unterdrückter Stimme: „Halt! Halt! Keinen Schritt weiter, oder ich schieße! Bleib, wo du bist! Abstand bewahren …!“ Der Mond, ein blasser Eidotter, flutschte in eine Wolke und es wurde dunkel. Als er wieder auftauchte, war die Gestalt bereits verschwunden. Ich ging mit klopfendem Herzen, unverrichteter Dinge, wieder zurück nach Hause, ohne bei der alten Mühle herumgeschnüffelt zu haben. Ich nehme mir vor, bald Huonder zu fragen, was bei der alten Mühle vor sich geht, vielleicht weiß er ja etwas. Die Tage vergehen wie im Flug. Heute ist Mariä Himmelfahrt, der Tag von Maria Schnee, der verschollenen Patronin von Scalamain. Letzte Nacht hat es in der Höhe geschneit. Ein frischer Wind weht. Der Morgenhimmel ist eine Postkarte: tiefblau, und die Berggipfel haben einen weissen Zuckerguß. Die Kapelle in Scalamain oben wird morgen für den Winter geschlossen. Es ist höchste Zeit, dorthin zu wandern. Es kommen heute wohl kaum mehr Wallfahrer an den einsamen Ort, wo einst die Mutter Gottes, in einen weißen Schleier gehüllt, einem Hirtenmädchen erschienen ist und das Dorf eindringlich zu Umkehr, Buße und zur Wallfahrt aufgerufen hatte. Jahre später wurde dort auf den Wunsch der Madonna eine Kapelle gebaut und ihr Bildnis aufgestellt. Seit dem Verschwinden der wundertätigen Lieben Frau vom Schnee ist die kleine, schmucklose Kirche leer geblieben. Bald wird Schnee fallen, viel Schnee. Bei Sonnenaufgang machte ich mich auf den Weg, im Rucksack Salsiz (lokale Wurst), Bergkäse, Brot, Wein und eine Thermosflasche Tee und erreichte den Lärchenwald oberhalb des Dorfes. Ich schaute mich überall nach Felix um, fand aber keine Spur von ihm. Rote und gelbe Frühlichtstreifen leuchteten am Firmament. Zwischen dem Lärchenwald und dem Hochwald von alten Arven ist eine sehr steile, von Erlengestrüpp gesäumte Wegstrecke, wo man wenig Übersicht über das Gelände hat. Dort klopfte mein Herz von den Mühen des Aufstiegs und mein Atem ging schwer. Das bucklige Männlein aus dem Kinderlied stellte sich mir plötzlich in den Weg. Ich hatte mich schon früher vor ihm gefürchtet. Jetzt aber sah es wirklich bedrohlich aus. Sein ungutes Gesicht zierte ein grauer Spitzbart, die Augen waren in ihren Höhlen eingesunken. Er redete leise auf mich ein und forderte einen Schluck aus meiner Weinflasche, den ich ihm versagte. Er eröffnete mir, dass ich mich nirgends verstecken kann ohne seine Hilfe, und dass ich den Löwen bei der Polizei melden muss. „Es ist nutzlos, zur Kapelle hochzusteigen, die Madonna ist ja weg, alles Unsinn“, knurrte er. „Es wird auch kalt heute. Es kann jederzeit schneien. Wölfe machen die Gegend unsicher und bewaffnete Partisanen sind unterwegs!“ Der Gnom lachte schallend, zeigte auf mich mit seinem langen Spinnenzeigefinger, verschwand im knackenden Gehölz. Ein eisiger Wind kam auf und warf mir eine Handvoll Schnee ins Gesicht. Die kleine Kapelle duckte einsam unter einem überhängenden Felsen. Tau lag auf dem Gras und funkelte in den Strahlen der Morgensonne wie Tausende von Diamanten in den Kelchen der runden, gezackten Blätter der Frauenmäntelchen, der Alchemilla vulgaris. Ich sammelte einen Armvoll Blumen und Gräser auf der feuchten Wiese; violette Flockenblumen, Flughafer, Zittergras, Schafgarbe und Habichtskraut, mit denen ich die leere Nische der Madonna vom Schnee schmücken wollte. Ich drückte die schwere Klinke und die Tür sprang auf! Ich drehte mich um. Der Zwerg stand bereits hinter mir. Er war mir heimlich gefolgt. Ich suchte das Taschenmesser in meiner Jackentasche. Der Gnom zog sich hämisch grinsend zurück. Ich trat über die Schwelle ins Halbdunkel und hörte ein anhaltendes silberhelles Lachen, das in ein Kichern überging. Erstaunt blickte ich mich um, aber ich war allein. Bald hörte ich Schritte von schweren Bergschuhen und das Rasseln eines Schlüsselbunds. Mit silbern gewordenem Krauskopf trat der Flipperkönig Kollegger über die Schwelle. Er schob den Zwerg zur Seite. Beleidigt verschwand das bucklige Männlein. Aurel blieb im Gegenlicht stehen. Sein Lockenkranz leuchtete auf wie ein Heiligenschein. „Meine Diaula ist wieder hier! Ich habe so lange auf dich gewartet!“ Ich stürzte in seine ausgebreiteten Arme und schloss die Augen. Ich wurde ruhig, und alle Ängste und Zweifel der letzten Zeit fielen von mir ab. Kolleggers Waldgeruch, der mir seit meiner Kinderzeit so lieb ist, umnebelte mich wieder. „War die Tür offen?“, wunderte sich Aurel und fuhr fort: „Ich nehme an, dass dir Unsere Liebe Frau geöffnet hat!“ und zeigte auf die leere Nische. „Sie ist immer noch hier, auch wenn ihr Standbild verschwunden ist! Wir müssen sie gar nicht suchen! Sie ist überall, nicht nur an diesem abgelegenen Ort! Eigentlich brauchen wir gar kein Bildnis von ihr. Sie ist in uns drin. Wir müssen nur still sein, dann hören wir ihre leise Stimme, ihren Trost und ihren Rat!“, meinte Kollegger. Ich blickte auf zu den Votivgaben, den zahlreichen Silberherzen, Wachsfüßen und Holzhänden an der Wand, die von der Güte der Madonna zeugten. „Ich habe ihr glockenhelles Lachen gehört, als ich hereinkam!“, sagte ich dann und Kollegger sah mich an: „Das ist sie! Unsere Liebe Frau vom Schnee, der Meerstern, der verschlossene Garten, unsere liebe Regina Coeli … Salve, regina, mater misericordiae, vita, dulcede et spes nostra, salve …“ Der Jenische kniete nieder und betete still. Dann, aufstehend: „Es ist schön, dass du endlich zurückgekommen bist, Diaula! Ich bin so froh. Ich habe lange auf dich gewartet. Du hast mir sehr, sehr gefehlt. Aber ich wusste, dass du irgendwann wiederkommst.“ Wir schauten uns lange in die Augen, und mir wurde warm von seinem Blick. Ich hatte das Gefühl, endlich, nach langer Reise, zu Hause angekommen zu sein. Ich breitete ein weißes Tuch auf dem Steinboden aus. Kollegger öffnete die Weinflasche, indem er sie dreimal sanft an die Wand schlug und den Zapfen herausspringen ließ, schenkte uns vom Wein ein, der rotbraun und klar in die Blechtassen floss und sagte: „Der Wein des Bischofs von Chur, dieser Churer Schiller, der tut gut. Zum Wohl, Monsignore! Zum Glück so weit weg und nicht ahnend, was in unserem Dorf im Valsass so alles so vor sich geht!“ Wir setzten uns in die hinterste Bank und aßen, nicht ohne vorher einen Teller mit etwas Brot, Käse, Wurst und auch einen Schluck Wein in einer Tasse vor die Nische der lieben Frau hinzustellen. Der an die Außenwand gemalte heilige Christophorus – der durch Wände hindurchzuschauen vermag – bewachte die Gabe mit begehrlichen Augen. Aurel vergewisserte sich, dass der Zwerg verschwunden war, schloss das Tor und drehte den Schlüssel und setzte sich wieder zu mir. Er erzählte leise, was sich in den Jahren meiner Abwesenheit in Devonn alles zugetragen hat. Er schilderte den illegalen Bau der Privatklinik Huggentobler auf der Allmend – mit Steuergeldern des Kantons und Subventionen des Bundes –, obwohl die Bürger der Region mit großer Mehrheit gegen den Bau waren. (Aber die sind ja sowieso immer erst gegen alles Neue.) Ich erkundigte mich nach den Eskapaden des buckligen Männleins. Aurel berichtete, dass der Zwerg, der sich jetzt Frocin N.N. nennt, sich als Anwalt und Alchemist ausgibt, der kurz vor dem Durchbruch stehe, wie Rumpelstilzchen Gold herstellen zu können! Er verbreite es überall, aber bislang sei er nur um Huggentobler geschwänzelt und erledige grobe Arbeiten für ihn, wie etwa das Entsorgen von Klinikabfall. Aurel erzählte leise von Huggentoblers großen Erfolgen und von dessen Freund und Mitstreiter, dem Chirurgen Professor Béranger Brechbühl aus Lausanne und dem gerissenem Prokuristen Heini Bindschädler. Er erwähnte die vielen reichen Fremden aus aller Herren Länder, kinderlose Patienten, die mit neuer Hoffnung auf Nachwuchs sich von Huggentobler in der Klinik beraten und behandeln lassen, wo viele Männer und Frauen aus dem Dorf Arbeit gefunden haben. Auch der Zerfall des alten Kurhotels – mit der geschnitzten Holzveranda und den halb blinden Spiegeln im Speisesaal – wurde von Kollegger beschrieben. Da das neuerbaute Sporthotel auf der Höhe viel mehr Bequemlichkeit bietet, musste das verträumte Kurhotel nun endgültig die Pforten schließen. Was damit geschehen soll, ist noch ungewiss. (Wahrscheinlich wird die Gemeinde damit spekulieren.) Er berichtete auch von der hässlichen Überbauung des Scaldegn und den illegalen Abwasserleitungen und von den endlosen und heftigen Streitereien über den Müll in den Gemeindeversammlungen. Ich erfuhr auch, dass Sep Gadient im Frühjahr immer noch mit seinem klapprigen Pferd den Kartoffelacker pflügt, die Tochter von Venzin einen Griechen geheiratet hat, Gion Barandun junior im letzten Winter das Ski-Abfahrtsrennen in Valbella gewonnen hat und der jüngste Sohn von Calonder bereits in der Rekrutenschule ist. Kollegger erwähnte stolz die Steinadler, die sich endlich wieder vermehren. Aber vor allem erzählte er mit glänzenden Augen von unserer Prada persa, wo er neulich drei mit Wolfswelpen spielende Jungbären beobachtet hat, und von einer Wölfin, die ein Gämskitz säugte. Die einst steinige und verfluchte Wiese, jetzt ein Paradies, grünt und blüht. Dann saßen wir lange still. Kollegger hatte seinen Arm um mich gelegt und ich schmiegte mich an seine Schulter, genoss die Ruhe seiner Gegenwart und ließ mich in etwas unbeschreiblich Helles und Warmes fallen.
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