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Das Verbrechen
ОглавлениеAugust 1952 bis März 1953
Er erschien schon vormittags in strahlender Laune und Ida strahlte. Sie gingen erst einmal ins Haus, denn Rolf gab vor, müde zu sein. Er wirkte ein wenig erschöpft und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Erika würde erst am Abend von der Arbeit heim kommen.
Rolf setzte sich auf das Sofa. „Setz dich neben mich,“ bat er lächelnd und seine Müdigkeit flog wie ein Vogelschwarm davon, als er seine kleine Nachtigall anblickte. Das ließ sich Ida nicht zweimal sagen.
Sie kuschelte sich sogleich an Rolf, der sie zart an sich zog. So saßen sie einträchtig
eine ganze Weile beieinander, bis er, nun ein wenig kurzatmig, sagte:
„Es ist so warm hier, warum ziehst du nicht dein Kleid aus?“ Und er verschlang sie gierig mit seinen Augen.
Ida stutzte, tat aber wie geheißen. Sie wollte doch nicht schon wieder so ein langes Fernbleiben von Rolf in Kauf nehmen. Etwas eigenartig fand sie seine Verhaltensweise schon, als er sie mit seinen Blicken abtastete. Aber Ida war zu jung, um sein Mienenspiel und sein Gebaren deuten zu können.
„Sag nur nicht deiner Mutter, dass du dein Kleid ausgezogen hast. Hörst du? Sonst passiert etwas ganz Schlimmes,“ bat Rolf eindringlich. „Und das willst du doch sicher nicht. Du wirst mich doch nicht enttäuschen?“
Er sah sie abwartend und ein wenig unschlüssig an. „Weißt du, du würdest mir sehr, sehr weh tun, Ida,“ gab er ihr zu verstehen. „Das soll doch unser Geheimnis bleiben. Es wird uns für immer verbinden.“
Ida blieb stumm.
„Und sicher werde ich dann nicht mehr wieder kommen. Nie mehr.“
Bei diesen Worten erschrak Ida fürchterlich.
Natürlich wollte sie das nicht. Nur das nicht. Sie würde niemandem ein Sterbenswörtchen verraten, auch ihrer Mutter nicht, versprach sie ihm hoch und heilig. Nun war Rolf zufrieden und wurde ein wenig fordernder, jedoch Ida hielt immer noch still. So schlimm war das auch wieder nicht. Väter müssen wohl so sein. Irgendwann hatte sie aufgeschnappt, dass Rolf ihrer Mutter gegenüber eine Heirat erwähnt hatte und dann würde sie, Ida, doch seine Tochter sein. Und er wollte ihr doch ein funkelnagelneues Fahrrad schenken! Und Ida klammerte sich an diese beiden Gedanken. Was könnte sie alles mit einem Fahrrad unternehmen. Sie könnte fahren, wohin sie wollte. Kein Ort war mehr zu weit. Auch ihre Großeltern würde sie nun öfter besuchen können.
„Willst du nicht dein Höschen ausziehen, meine kleine Nachtigall?“ flüsterte Rolf ein wenig aus der Puste, wie Ida fand. Aber warum sollte sie vor ihrem künftigen Vater Geheimnisse haben? Und sie kam seinem Wunsch, wenn auch zögerlich und verwundert, nach.
Ida spann ihren Gedankengang weiter. Ob sie sich wohl die Farbe des Fahrrades aussuchen dürfte? Ich werde ihn gleich danach fragen. Ich möchte auch ein blaues haben. Und glänzen sollte es. Es würde in der Sonne funkeln.
Erika war bei ihrer Akkordarbeit unkonzentriert. Sie plagten heftige Kopfschmerzen und sie sah sich gezwungen, sich bei ihrem Vorarbeiter krank zu melden, der zwar nicht begeistert war, aber schließlich nachgab. Krankmeldungen sah er nicht so gern, zumal ein wichtiger Auftrag zu erfüllen war.
„Morgen bin ich sicher wieder auf den Beinen,“ versprach sie. Ein Versprechen, das sie nie einlösen würde.
Erika packte ihre Sachen. Unterwegs kaufte sie noch ein Roggenbrot sowie ein Pfund Mehl für die Pfannkuchen in dem kleinen Lebensmittelladen ein. Sie wusste, dass auch Rolf gerne Pfannkuchen aß, am liebsten mit Apfelmus. Genau wie Ida. Und nächste Woche würde sie Sauerkraut mit Stampfkartoffeln zubereiten. Vielleicht war es dann auch nicht mehr so heiß. Bauer Harms hatte ihr ein Stück geräucherten Kassler versprochen. Dann machte sie sich auf den Weg. Sicher freute sich Ida, dass sie ein paar Stunden früher zu Hause war. Das schlechte Gewissen plagte sie wieder. Sie musste sich wirklich mehr um ihre Tochter kümmern. Aber vielleicht würde sich ja nun alles zum Guten wenden. Und sie könnte aufhören zu arbeiten, wenn Rolf für sie alle sorgen würde. Sie würden eine richtige Familie sein. Auch gegen ein zweites Kind hätte sie nichts einzuwenden. Im Gegenteil. Das wäre schön. Und während Erika langsam den Kanalweg entlang fuhr, verlor sie sich in ihren Träumen. Ob Rolf jetzt schon da war? Erika freute sich auf Zuhause und begann, ein etwas schnelleres Tempo zu fahren. Ihre Kopfschmerzen waren mit dem Wind davongeflogen.
Schon von weitem sah sie sein blaues Fahrrad an der Hecke lehnen.
Ihr Herz machte einen freudigen Sprung. Wahrscheinlich waren die beiden im Haus
und Erika bemühte sich, leise zu sein, um sie zu überraschen. Vorsichtig stellte sie ihr Fahrrad an der Hecke ab und näherte sich auf Zehenspitzen der geschlossenen Haustür. Die unnatürliche Ruhe, die von dem Haus ausging, ließ sie ein wenig verwundern. Es war kein Laut zu hören, plapperte Ida doch sonst so gerne darauf los.
Sie öffnete behutsam die Tür und blieb starr vor Schreck im Türrahmen stehen. Ihr Gesicht war plötzlich leichenblass, denn das Bild, das sich ihren Augen bot, ließ sie innerlich erzittern. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass dieser Wüstling es die ganze Zeit auf Ida abgesehen hatte. Ihr Herzschlag schien eine Sekunde lang auszusetzen, um gleich darauf im Galopp gegen ihre Rippen zu hämmern. Das Blut rauschte in ihren Ohren und sie befürchtete, auf der Stelle ohnmächtig zu werden. Das darf ich nicht. Ich darf jetzt nicht ohnmächtig werden, ich muss jetzt durchhalten. Sie wurde von einem einzigen Gedanken beherrscht: Ich muss meine kleine Tochter von diesem Monster befreien. Und Erika mobilisierte den kläglichen Rest ihrer Kräfte und nahm sich gewaltsam zusammen, um Ida zu befreien.
Bei ihrem unerwarteten Eintritt sah Rolf unwillig zur Tür. Seine Miene schwankte zwischen Erstaunen, Erschrecken und Missbilligung. Aber Ida hatte nichts mitbekommen, denn sie lag auf dem Sofa außerhalb des Blickfeldes. Ausgestreckt wie eine nackte kostbare Porzellanpuppe. Rolf trug nur seine Unterhose, die er sich kurz vor Erikas Erscheinen wieder angezogen hatte. Erika brachte zunächst keinen Ton heraus. Doch dann besann sie sich, stürmte wie eine Furie auf Rolf los und stieß ihn zur Seite, so dass sein Kopf gegen den hölzernen Küchenschrank stieß. Rasch eilte sie zum Sofa und packte Ihre Tochter, die sie erstaunt anblickte.
„Mama, sei nicht böse, Rolf wollte doch nur nett zu mir sein und hat mit mir gespielt. Es hat nur ein ganz kleines bisschen weh getan. Und bald bekomme ich ein neues Fahrrad. Ein nagelneues.“
Warum war ihre Mutter nur so wütend? Nicht einmal die Aussicht auf ein so schönes Geschenk ließ sie erweichen. Doch Erika hörte ihr gar nicht zu, sondern stülpte ihr hastig das geblümte Kleid über den Kopf und zog ihr den Schlüpfer wieder an.
„Man zieht sich nicht vor einem Fremden am helllichten Tage nackt aus,“ flüsterte Erika, mehr zu sich selbst. „Fremder?“ dachte Ida irritiert. War Rolf denn ein Fremder? Und am helllichten Tag? Sie hatten doch nichts Verbotenes getan. Das hatte ihr Rolf doch versprochen. Sie hatten doch nichts Unrechtes getan?
Unvermittelt drehte sich Erika zu Rolf um und funkelte ihn zornig an. So aufgebracht hatte Ida ihre Mutter noch nie erlebt.
„Ich werde dich anzeigen, du mieses Schwein,“ schrie sie Rolf wütend zu. Ihre Stimme klang schrill und laut. Rolf hatte sich durch den Aufprall am Schrank verletzt. Mit der einen Hand hielt er seinen Kopf und mit der anderen zog er sich seine Anzughose über. Doch kaum hatte er ihre Worte erfasst, rastete er unvermittelt aus und stürzte sich mit hochrotem wutverzerrten Gesicht und hasserfüllten Augen auf Erika, die sich panisch in eine Ecke der Küche flüchtete. Dabei kippte sie eine kleine Blumenvase um, die auf einer Kommode stand. Das Wasser aus der Vase ergoss sich auf den Boden und die gelben Rosen breiteten sich dekorativ auf dem gemusterten Teppich aus. Alles schien unwirklich.
„Lauf zu Bauer Harms, Ida, schnell,“ rief sie ihrer Tochter in äußerster Panik zu.
Erika hockte zitternd mit angezogenen Knien in der Ecke, als erwarte sie ihr Todesurteil.
In dem festen Bewusstsein, nun doch etwas furchtbar Schlimmes angerichtet zu haben, stürmte Ida aus der Tür und rannte so schnell wie noch nie in ihrem Leben, nur von einem einzigen Gedanken beseelt: Meine Mutter ist in Gefahr. Aber warum nur? Warum waren beide so wütend aufeinander? Sie waren doch sonst ein Herz und eine Seele gewesen. Was war denn plötzlich anders geworden? Das konnte doch nur mit ihr selbst zusammen hängen. Am helllichten Tag. Ja, sie gab sich die alleinige Schuld an dem schrecklichen Zerwürfnis zwischen ihrer Mutter und Rolf.
Ida hetzte den Kanalweg entlang und erreichte den kleinen Bauernhof völlig außer Atem. Sie fand Bauer Harms im Stall vor. Das wusste sie, denn er war um diese Zeit meistens im Stall und am Tage fast nie im Haus aufzufinden. Erstaunt blickte er auf Ida, die vor Aufregung zunächst kein Wort herausbrachte.
„Meine Mutter,“ hechelte sie und rang nach Luft. „Was ist mit deiner Mutter?“ fragte er, nun hellhörig geworden. Anscheinend schien etwas Außergewöhnliches geschehen zu sein, denn so kannte er das Mädel nicht. Er versuchte, Ida zu beruhigen und berührte ihre Schulter.
„Ganz langsam Mädchen, was ist los?“
„Ein Mann,“ stammelte Ida, verschwieg aber Rolfs Namen. „Ein fremder Mann ist bei ihr. Sie müssen ihr helfen.“ Und sie begann heftig zu schluchzen und am ganzen Körper zu zittern.
Bauer Harms fackelte nicht lange. Er zog sofort die Gummistiefel aus, hängte seine
Arbeitskleidung an den Nagel der Stalltür und ging mit langen Schritten ins Haus, gefolgt von Idas kleinen Trippelschritten. Bauer Harms stürmte in den Hausflur seines Hauses.
„Stine,“ rief er mit lauter Stimme nach oben. Stine war bei Bauer Harms in Stellung und reinigte gerade die oberen Räume. Sie eilte nun angesichts der aufgeregten Stimme des Bauern die Treppe hinunter. Fragend sah sie ihn an. Er schien ziemlich durcheinander zu sein. So aufgebracht hatte sie ihn noch nie erlebt.
„Du passt auf das Mädchen auf, ich habe etwas Dringendes zu erledigen,“ befahl er. Seine Stimme klang barsch aber nicht unfreundlich.
Nun beobachtete sie mit Verwunderung, wie sich der Bauer am Dielenschrank zu schaffen machte, einen braunen Karton aus der Schublade herauszerrte und sich seine alte Wehrmachtspistole schnappte. Er prüfte die Munition und verstaute die Waffe hastig in seine große Hosentasche, ohne Stine und Ida zu beachten. Dann eilte er wortlos und mit entschlossener Miene nach draußen und schwang sich auf sein verrostetes Fahrrad, um Idas Mutter beizustehen. Ein fremder Mann? In letzter Zeit trieb sich allerhand Gesindel hier in der Gegend herum. Mit dem würde er es schon aufnehmen, denn er war ja bewaffnet. Solche Gedanken rasten durch seinen Kopf und ließen seine Furcht in den Hintergrund treten.
Stine hatte ihn mit erstaunten Augen nachgesehen. Schließlich legte sie Schrubber und Feudel aus der Hand und kümmerte sich um das völlig aufgelöste Kind. Zuerst trocknete sie seine Tränen mit einem blaukarierten Geschirrtuch. Dann wischte sie das bereits getrocknete Blut ab, das auf dem rechtem Bein wie ein dünner Faden heruntergeronnen war. Ida wurde ruhiger und ließ schließlich alles apathisch mit sich geschehen. Sie saß auf dem Stuhl wie eine hölzerne Statue, denn sie war zu keiner Regung mehr fähig.
„Willst du mir nicht sagen, was passiert ist?“ fragte Stine mit sanfter Stimme. Doch Ida blieb stumm. Stine war ratlos. Schließlich kochte sie für Ida den letzten Rest Kakao aus gerahmter Milch und guter Butter. Das half immer! So dachte jedenfalls die gute Stine in ihrer einfältigen Art.
Endlich hatte Bauer Harms das kleine Holzhaus erreicht. Die Tür stand sperrangelweit offen und er näherte sich zögernd, die schussbereite Pistole in der rechten Hand. Eine dunkle Ahnung beschlich ihn plötzlich, aber er zwang sich weiterzugehen und seine aufkeimende Panik zu überwinden.
An der Türschwelle wich er entsetzt einen Schritt zurück. Erika, seine stille Liebe,
lag auf dem Holzfußboden, die Arme von sich gestreckt, und starrte mit offenen verwunderten Augen an die Decke. Um ihr herum waren gelbe Rosen verstreut, als wollten sie den Leichnam schmücken. Von dem kleinen Wasserfleck aus der Vase war nur noch ein dunkler Fleck auf dem Holzfußboden zurückgeblieben.
Bauer Harms setzte sich auf einen der Stühle und war eine Weile fassungslos und zutiefst erschüttert. Wer hatte ihr das angetan? dachte er verwirrt. Doch dann besann er sich, stand auf und blickte in die Schlafkammer nebenan. Den fremden Mann, von dem Ida gesprochen hatte, konnte er jedoch nirgendwo entdecken. Er durchstöberte den kleinsten Winkel, sogar den Schlafzimmerschrank. Seine arme Erika war tot und ihr Mörder scheinbar verschwunden. Bauer Harms kniete sich neben die Tote. Er konnte keine Verletzungen entdecken, auch keine Würgemale. Oder Blut. Wie hatte er sie umgebracht? Er musste wohl die Polizei alarmieren. Unschlüssig erhob er sich und schaute sich um. Düster und unheimlich wirkte das kleine Zimmer. Der Schatten des Todes hatte sich im Haus ausgebreitet. Er konnte nichts mehr für Erika tun. Er hätte sie so gern geheiratet. Eine Hochzeitskutsche wollte er mieten. Und die kleine Ida würde Blumen streuen.
Als er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, radelte Bauer Harms in den Ort, um von einer Gastwirtschaft aus telefonisch die zuständige Polizeiwache über einen Mord zu informieren.
Rolf war zornig und empört Er trat in die Pedalen wie ein wutschnaubender Stier und stieß irre Verwünschungen aus. Es war so schön gewesen mit Ida. Sie war so gefügig und hatte sich überhaupt nicht angestellt. Bald hätte er sie soweit gehabt und sie wäre ihm für immer total verfallen.
Was für ein schönes Leben hätten sie beide gehabt. Ein Leben, wie er es sich immer erträumt hatte. Und so kurz vorm ersehnten Ziel war alles auseinander gebrochen.
In seinem kranken Hirn tobten immer noch die wildesten Fantasien. Er gab sich eine kurze Weile seinen Träumen hin. Wie schön hatte Ida ausgesehen, als sie nackt auf dem Sofa lag. Die weiße makellose Haut ihres Körpers ging ihm nicht aus dem Sinn und seine Miene spiegelte dieses Bild wider. Doch mit einem Mal hatte die Alte an der Türschwelle gestanden und ihn angeglotzt wie einen Schwerverbrecher. Was hatte er denn getan? Schrie Ida etwa? Nein, er hatte sie doch glücklich gemacht. Ihre Augen hatten doch um seine Liebe gebettelt. Warum musste die dumme Kuh überhaupt früher als erwartet erscheinen? Und dann war die Kleine plötzlich verschwunden. Seine Ida. Durch Erikas Schuld. Warum musste sich das dumme Luder derart unbeherrscht aufführen. Er hasste hysterische Weiber. Die waren so fürchterlich unberechenbar. Es war bereits das zweite Mädchen, das er verlor.
Ida lebte zwar; aber er würde sie bestimmt nie wieder sehen. Das sagte ihm unweigerlich sein Gefühl. Seine Lotte aber war tot. Er hatte Lotte vor einem Waisenhaus in Wiesbaden getroffen, denn ihre Eltern lebten nicht mehr. Von da ab waren sie unzertrennlich. Er hatte sie verwöhnt. Alle Wünsche hatte er von ihren Augen abgelesen und erfüllt. Sie brauchte sie gar nicht mehr auszusprechen.
Niemand vermisste sie oder suchte nach ihr. Er hatte ihr falsche Ausweispapiere auf dem Schwarzmarkt besorgt. Sie trug nun seinen Familiennamen und fortan war Rolf ihr Vater. Der Schwarzhandel blühte und er mischte ordentlich mit. Dort konnte man alles kaufen, sogar eine andere Identität.
Auch Lotte brachte er an einem lauen Juniabend – war das nicht schon vor zwei Jahren? - fast so weit, dass sie ihm hörig war, wie ihm seine krankhafte wilde Fantasie vorgegaukelt hatte. Seine anschmiegsame Lotte. Seine geliebte Lotte. Rolf hatte ein kleines Gartenhaus in einer Gartenkolonie vor den Toren Frankfurts gepachtet. Sie genossen alle Annehmlichkeiten in vollen Zügen. Niemand störte ihre Zweisamkeit, denn so kurz nach dem Krieg, im Jahre 1950, war jeder mit seinen eigenen Sorgen und Kümmernissen vollauf beschäftigt. Und die Bürokratie im durchgeschüttelten Nachkriegsdeutschland funktionierte zwar einigermaßen, wies jedoch noch ziemliche Lücken auf.
Als Rolf meinte, nun sei die Zeit reif, seine Lotte in die Liebe einzuweihen, hatte sie laut zu schreien begonnen. Sie war vor seiner schamlosen Nacktheit erschrocken zurückgewichen. Dabei war er doch so zärtlich und liebevoll vorgegangen. Mit aller Behutsamkeit hatte er sie lange und ausgiebig gestreichelt, war dabei aber so erregt, dass er kaum seine ungezügelte Lust bändigen konnte.
Rolf verstand die Welt nicht mehr. Seine fügsame Lotte gehorchte ihm nicht mehr und wollte sogar davon laufen, als er sie lüstern packte und in sie eindringen wollte. War es da verwunderlich, dass er, Rolf, schnell handeln musste? Obwohl er doch alles für sie getan und ihr ein schönes Leben geboten hatte? Ein geübter Handgriff und sie lag tot vor ihm auf der gepolsterten Bank in ihrem schönen Gartenhaus. Wehmütig streichelte er sie ein letztes Mal und berauschte sich an dem Anblick ihres nackten unschuldigen Körpers, bis ihn die Erregung wie eine Welle überrollte. Er spielte mit ihren langen blonden Haaren und legte sie dekorativ über ihren Oberkörper. Schließlich konnte er nicht mehr an sich halten und vollzog an der stillen Lotte den Liebesakt. Ihm schien, als ob sie mit geschlossenen Augen lächelte. Dann packte er die wichtigsten Sachen zusammen und ergriff eilig die Flucht, um erst einmal für einige Zeit unterzutauchen.
Später zog es ihn in den stürmischen Norden. Er wollte schon immer einmal die Nordsee kennen lernen. Dort gab er sich überall als „Russlandheimkehrer“ aus. Bei solchen Geschichten packte die Leute das Mitleid. Der arme Mann, was hatte der alles erdulden müssen. Das schreckliche Russland war doch gleichzusetzen mit Eiseskälte, Hunger und Heimweh.
Und dann war ihm die kleine Ida über den Weg gelaufen. Die Ähnlichkeit mit Lotte war verblüffend. Die beiden hätten Schwestern sein können. Und plötzlich tauchte diese dumme Gans, die Mutter, auf und nahm sie ihm wieder weg. Und was noch schlimmer war: Sie hatte ihm sogar mit einer Anzeige gedroht. Rolf musste bei diesem Gedanken leise lachen. Wer hatte sich denn immer um Ida gekümmert? Sie doch sicher nicht. Ihr war doch die Arbeit über alles gegangen. Zeit für ihre Tochter konnte die doch nie erübrigen. Er, Rolf, war Idas Freund und Beschützer gewesen. Wieder musste er grinsen. Wie die sich auf ihn gestürzt hatte. Doch da war sie an den Falschen geraten.
Denn sie konnte natürlich nicht ahnen, dass Rolf zwölf Jahre lang ein brillanter Kämpfer bei der Fremdenlegion gewesen war. Erika starb durch einen erprobten Griff im Nackenbereich. Lautlos, schweigsam, schmerzlos. So, wie er einen Feind im Krieg töten würde. Und genauso, wie er gezwungen war, seine Lotte zu töten, weil sie sich plötzlich geweigert hatten, ihm zu Willen zu sein. Die arme Lotte. Sie könnte noch leben, wenn sie ihn glücklich gemacht hätte.
Rolf blickte auf seine Taschenuhr. Er musste sich beeilen, wenn er den Zug noch erwischen wollte. Geld und Ausweispapiere trug er immer bei sich.
Rolf wollte zunächst mit der Bahn nach Frankfurt fahren und von dort einen Zug nach Paris nehmen. Vorsichtshalber stellte er sein auffälliges Fahrrad ein paar Straßen weiter ab. Er legte die paar Schritte zum Bahnhof zu Fuß zurück.
Bauer Harms wartete vor dem kleinen Haus am Kanalweg auf die Polizei, die er inzwischen benachrichtigt hatte. Er scheute sich davor, noch einmal hineingehen. Er mochte dem Tod nicht mehr ins Auge schauen. Und er hoffte inständig, dass Erika vor ihrem Tod wenigstens nicht gelitten hatte. Endlich kamen sie. Der Zivilbeamte stellte sich mit Kommissar Jansen vor. Er war in Begleitung von Hauptwachtmeister Dirks, der eine Polizeiuniform trug. Auch sie konnten nach kurzem Augenschein ebenfalls keine äußeren Verletzungen feststellen. Bauer Harms wusste nichts Näheres zu berichten. Er war ja zu spät gekommen. Da lag Erika schon tot auf dem Boden in der Küche. Neben den gelben Rosen.
Vielleicht hatte die Tochter, Ida, ja etwas gesehen? Der Kommissar machte sich Notizen.
Der Leichnam wurde in die Pathologie zur Feststellung der Todesursache gebracht.
Jansen suchte die immer noch völlig verstörte Ida auf und befragte sie. Er wählte seine Fragen sehr behutsam und vorsichtig, um die Kleine nicht noch mehr zu erschrecken.
Sie hatte den Mann angeblich noch nie gesehen. Ein Fremder war das gewesen. Und es ging alles so schnell. Plötzlich war er da. Der Kommissar schüttelte den Kopf und hob die Augenbrauen. Warum war er da? Kannte ihn deine Mutter? Ida verhielt sich verstockt. Sie sagte plötzlich überhaupt nichts mehr, sondern schwieg und man ließ sie daraufhin erst einmal in Ruhe. Ida wusste nicht, wie ihre Mutter gestorben war. Aber dass sie tot war, hatte man ihr gesagt. Und dass der Mann sie umgebracht hatte. Der fremde Mann. So schonend wie möglich versuchte der Kommissar, Ida den Tod ihrer Mutter begreiflich zu machen. Daraufhin hatte sich Ida vollends in ihr Schneckenhaus verkrochen. Sie zeigte keine äußerliche Reaktion. Ida war wie versteinert. Sie gab sich die Schuld am Tod ihrer Mutter. Schwere Schuldgefühle sollten sie Zeit ihres Lebens begleiten.
Der Pathologe bescheinigte später einen Tod durch Fremdeinwirkung. Erika starb an einem Genickbruch, der nicht durch einen Sturz verursacht worden war. Sie war gewaltsam getötet worden.
Zeugen wurden befragt. Einige wollten Ida öfter mit einem jungen Mann auf dem Fahrrad gesehen haben. Die Beschreibung war allerdings dürftig und fiel auch
unterschiedlich aus.
Jansen entschloss sich, Ida noch einmal aufzusuchen. Trog ihn sein Gefühl oder verbarg das Mädchen etwas? Er war sich nicht ganz sicher.
„Warst du in letzter Zeit öfter mit einem jungen Mann unterwegs?“ wurde Ida am nächsten Tag gefragt. Sie schüttelte heftig den Kopf. Ida blieb stumm und zog sich in ihre Welt zurück. Sie wollte mit niemandem reden. Der Kommissar gab es auf, denn mit Gewalt konnte er Ida nicht zwingen, das zu sagen, was sie scheinbar wusste, aber verschwieg. Ida versuchte krampfhaft, ihr traumatisches Erlebnis zu verdrängen.
Zwei ältliche Damen vom Fürsorgeamt kümmerten sich anschließend um das Kind. Ida mochte diese nicht. Besonders die eine nicht, die sich Fräulein Ronneberger nannte und aussah wie eine dünne Ziege und so stechende Augen wie ein Adler hatte. Außerdem schien es ihr, als ob diese auf sie herab sah. Was hatte sie denn getan? Mehr und mehr schlich sich in Ida das Gefühl ein, etwas ganz Böses angerichtet zu haben.
Aber das andere Fräulein vom Fürsorgeamt war ihr auch nicht sonderlich sympathisch. Sie hatte das graue Haar hinten zu einem Dutt zusammengebunden und sah aus wie eine alte Jungfer, die kein Verständnis für kleine Mädchen aufzubringen vermochte. Und das stimmte. Den beiden Damen vom Amt war Ida völlig egal. Sie taten nur ihre Pflicht. Die Fürsorgerinnen brachten Ida in das kirchliche Kinderheim der nahen Kreisstadt, wo sie fortan leben sollte. Ein längerer Verbleib bei Bauer Harms, der sie vorübergehend aufgenommen hatte, war nicht möglich. Und ihre Tante hatte schon vier Kinder zu versorgen und konnte sich ihrer Nichte nicht auf Dauer annehmen. Ihre Großeltern waren mit der Betreuung ihrer Enkeltochter überfordert, seitdem der Großvater schwer erkrankt war und der ständigen Pflege durch seine Frau bedurfte. Nur besuchsweise wollten sie Ida haben. Andere nahe Verwandte besaß Ida nicht. Ihre Großeltern väterlicherseits lebten nicht mehr. Sie waren beide bei einem Bombenangriff im zweiten Weltkrieg umgekommen.
Jansen befragte auch Erikas Kolleginnen. Einige hatten sie einmal im Kino mit einem jungen Mann gesehen. Wie der aussah? Gut sah der aus, groß, schlank, dunkelhaarig. Er trug einen braunen Anzug. Und einen Hut. Aber kennen würden sie den nicht. Ihre Kollegin Erika hatte immer ein großes Geheimnis um diesen Mann gemacht und auf alle neugierigen Fragen geschwiegen, so sehr die anderen auch bedrängten. Sie hatten nichts aus Erika herausbekommen. Nicht das Geringste.
Auch der Vorarbeiter konnte ihm in seinen Ermittlungen nicht weiterhelfen. Erika war an jenem Tag, ihren Todestag, wegen einer Migräne auf eigenen Wunsch früher nach Hause gegangen. Das war an sich nichts Besonderes, denn es kam öfter vor, dass sich eine der Arbeiterinnen krank meldete. Jedoch Erika war ihr Unwohlsein zum Verhängnis geworden. Janssen musste sich schließlich mit dem Stand der Dinge zufrieden geben. Er hasste es, einen Fall nicht abschließen zu können. Jedoch bei dieser Sachlage musste er wohl akzeptieren, dass ihm Grenzen gesetzt waren.
Weil auch Ida standhaft schwieg, wurde der Mord an dem im Juni 1951 am Deich gefundenen Mädchen zunächst nicht mit dem Tod der Erika Hinrichs, Idas Mutter, in Verbindung gebracht. Kommissar Jansen blätterte nun schon zum wiederholten Male in der Akte des unbekannten Mädchens, die er wieder herausgesucht hatte. Er las den Bericht des Pathologen noch einmal mit höchster Aufmerksamkeit, konnte aber auch jetzt nichts anderes herauslesen. Ein sexueller Missbrauch war bei dem toten Mädchen, das am Deich gefunden worden war, zweifelsfrei ausgeschlossen worden. Das hatte der Arzt in seinem Bericht festgehalten. Der Tod war durch Ersticken eingetreten. Der Pathologe hielt auch einen Asthmaanfall, ausgelöst durch eine Panikattacke, nicht für ganz ausgeschlossen. Aber legt sich ein Kind einfach ins Gras und erleidet einen Asthmaanfall? Kommissar Jansen schürzte die Lippen und dachte nach. Und wie und vor allem mit wem ist sie dorthin gekommen? Eine Vermisstenanzeige war bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht eingegangen, auch nicht bei den umliegenden Polizeibehörden.
Zu viele Fragen ohne Antworten. Andere Verletzungen wies der Körper nicht auf. Trotzdem plagte ihn das Gefühl, irgendetwas übersehen zu haben. Und plötzlich fiel es ihm ein:
Jansen war im letzten Jahr bei dem Leichenfund des Mädchens am Deich dabei gewesen. Die Ähnlichkeit mit Ida, das war es! War das Zufall? Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und zündete sich eine Zigarette an. Gedanklich setzte er die Teile, die seiner Meinung nach zusammen gehören könnten, aneinander, bis sie ein vollständiges Bild ergaben. Erika Hinrichs musste den so genannten Kinderfreund mit ihrer Tochter überrascht haben. Vielleicht hatte sie ihrem Mörder sogar gedroht. Auf welche Weise sich der Tatvorgang auch ereignet haben mochte: Ihr frühes Heimkommen an ihrem Todestag hatte Erika Hinrichs mit ihrem Leben gebüßt.
Wahrscheinlich war es derselbe Mann, der auch das unbekannte Mädchen auf dem Gewissen hatte. Ein Kinderfreund. Jansen stützte sich mit den Armen auf seinen Schreibtisch und dachte über diesen Mann nach. Er versuchte sich vorzustellen, was in so einem Menschen wohl vorgegangen sein mag. Als er sich von seinem Stuhl erhob, war der Aschenbecher mit vier ausgedrückten Zigaretten gefüllt.
Er befragte daraufhin Ida Tage später noch einmal.
„Kanntest du den Mann, der bei deiner Mutter war? Hat er dir etwas getan? Hat er dich angefasst?“
Aber Ida schwieg auch jetzt beharrlich, schüttelte nur verneinend mit dem Kopf und sah mit trotzigem Gesichtsausdruck auf den Boden. Der Kommissar ließ jedoch nach dem Unbekannten fahnden. Da nur eine äußerst dürftige Täterbeschreibung vorlag, würde die Fahndung wohl im Sande verlaufen. Das ahnte er jetzt schon. Die Ermittlungen würden genauso erfolglos enden wie die im Falle des toten Mädchens am Deich vor mehr als einem Jahr. Das behagte ihm gar nicht und seine Miene verfinsterte sich immer mehr.
Schließlich wurde auch diese Akte zu den ungelösten Fällen gelegt. Es sollten viele Jahre vergehen, bis die mysteriösen Vorfälle aufgeklärt werden konnten.
Rolf hatte sich von Frankfurt aus bis nach Paris durchgeschlagen. Dort meldete er sich im Rekrutierungsbüro der Fremdenlegion. Er wurde in Indochina eingesetzt. Das war gut, denn er wollte so weit wie möglich weg sein. Doch war er bis dahin immer ein besonnener Kämpfer gewesen, so handelte Rolf nun unkonzentriert, fahrig und leichtsinnig. Ein halbes Jahr später wurde er während eines Kampfes im unwegsamen Dschungel schwer verletzt. Ein Soldat, mit dem er sich angefreundet hatte und den er schon von seiner Legionärszeit in Algerien kannte, kniete vor dem schwer Verletzten und sprach leise Worte. Rolf konnte nicht mehr sprechen, war jedoch bei Bewusstsein. Ein anderer Legionär kam hinzu.
„Kann man noch etwas für ihn tun?“ fragte er. Der Angesprochene zuckte mit den Schultern. Die Schwere der Verletzungen, das war nicht zu übersehen, könnten in den nächsten Stunden den Tod herbeiführen. Andererseits war er weder Arzt noch Sanitäter und konnte die Verwundung nicht beurteilen. Rolf wurde so schnell wie möglich in das nächst liegende Militärkrankenhaus geflogen. Dort verlor sich seine Spur.
Anfang März des Jahres 1953 fiel Jansen die Akte der Erika Hinrichs durch Zufall noch einmal in die Hände. Eigentlich hatte er nach einem anderen Fall gesucht.
Als er kurz hineinblickte, fiel ihm Idas Geburtsdatum auf. Das Mädchen sollte am 15. März ihren neunten Geburtstag feiern. Spontan beschloss er, Ida an ihrem Geburtstag im Kinderheim aufzusuchen und mit einem kleinen Geschenk zu überraschen. Vielleicht war sie ja jetzt gesprächiger und konnte ihm erzählen, was sich im August des letzten Jahres tatsächlich zugetragen hatte.
Er erschrak innerlich, als er Ida gegenüber stand. Blass und schmal war sie geworden. Der Leiter des kirchlichen Kinderheimes, Herr Böttcher, berichtete ihm, dass Ida seit dem unglückseligen Verhängnis nicht mehr sprach. Ida war sprachlos geworden. Auch Kommissar Jansen konnte kein Wörtchen aus ihr herausbringen. Insgeheim hatte er gehofft, ihr doch noch etwas entlocken zu können, und sei es nur der kleinste Hinweis.
Jansen verließ des Kinderheim mit zwiespältigen Gefühlen. Das Beste wäre es, so redete er sich selber zu, den ganzen Fall endgültig zu vergessen. Und das tat er schließlich.