Читать книгу Rhododendron - Maya Khoury - Страница 4

2. Kapitel

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Nachdem er den heißen Kaffee hinuntergestürzt hatte, der irgendwie nach bitterem Spülwasser schmeckte – oder kam ihm das nur so vor? - zog sich Hinnerk seine Jacke an, setzte die Mütze auf und stiefelte den kurzen Weg hinunter zu seinem Acker. Er schloss den Schuppen auf, schlüpfte in seine an der Holzwand hängenden Holzschuhe und zog sich schließlich seine Arbeitskleidung über. Dann nahm er sich einen großen Spaten und eine Hacke, um damit zu beginnen, die zahlreichen Büsche auszugraben. Doch vorher ruhte er sich noch ein wenig aus und setzte sich auf einen großen Stein am Rande des Grabens. Er erfreute sich an dem schönen Frühlingstag, der langsam aufzog. Der Nebel hatte sich verzogen und vereinzelte Sonnenstrahlen, die sich zaghaft hervor gewagt hatten, kitzelten sein Gesicht. Die Ruhe, die ihn plötzlich überkam und die er später so schmerzlich vermissen sollte, veranlasste ihn zu der Überlegung, ob er nicht doch diese Arbeit verschieben und sich zu Swantje ins Bett legen sollte. Diese Vorstellung war ziemlich verlockend. Dennoch stand er entschlossen auf und machte sich an die Arbeit. Schließlich hatte er sich dieses Werk vorgenommen und würde es nun auch in Angriff nehmen. Wüsste er jedoch in diesem Augenblick, dass ihn ein Albtraum erwartete, hätte er sich doch lieber zu seiner Frau ins Bett gelegt.

Tatsächlich war der Boden durch die heruntergekommenen Regenmassen ziemlich matschig und Hinnerk musste sehr viel Kraft aufwenden, um die Wurzeln der Büsche mit der Hacke zu erfassen. Im Stillen wunderte es ihn, dass sein Vater eine so große Fläche vergeudet und nicht als Ackerfläche genutzt hatte. Kopfschüttelnd blickte er auf das Unkraut, das neben den Büschen wild wucherte und sich jedes Jahr weiter ausbreitete, so sehr sich Hinnerk und Swantje auch bemühten, dem Unkraut Herr zu werden. Sogar den Kartoffelacker hatte das lästige Unkraut schon erfasst. Hinnerk erinnerte sich vage, dass sein Vater die Rhododendronbüsche vehement verteidigt und sich immer gegen eine Nutzung als Ackerfläche entschieden hatte. Warum war sein Vater die ganzen Jahre über so stur geblieben? In Gedanken bat er seinen Vater um Verzeihung, als er wie ein Wilder an den Büschen zu zerren begann. Aber der war seit Jahren tot und bekam diesen Gewaltakt glücklicherweise nicht mehr mit.

Hinnerks Gedanken schweiften beim Graben wieder in die Vergangenheit zurück. Er dachte plötzlich an seinen Vater, der es in seinem Leben nicht leicht gehabt hatte. Seine Familie erlebte ihn als stillen schweigsamen Menschen, der nie ungerecht oder gar ausfallend geworden war. Sein Vater erlebte zwei Weltkriege. Mit kaum vierundzwanzig Jahren wurde er im September 1914 als verheirateter Mann und Vater eines kleinen Sohnes als Soldat an die Front geschickt. Er kämpfte bis Juli 1916 in der Schlacht um Verdun um sein Überleben. Aus dieser Schlacht kehrte sein Vater als gebrochener Mann zurück und brauchte mindestens drei Jahre, um sich von den Schrecken der Kriegsjahre zu erholen. Während des Krieges war er durch einen Granatsplitter verwundert worden. Der Granatsplitter steckte in seinem Gehirn und war inoperabel. Aus diesem Grund litt sein Vater Zeit seines Lebens unter ständig wieder kehrenden Kopfschmerzen, die besonders bei einem Wetterumschwung oder bei seelischen und körperlichen Belastungen in aller Heftigkeit auftraten. Als der zweite Weltkrieg ausbrach, war sein Vater fast fünfzig Jahre alt und blieb aufgrund seiner körperlichen Behinderung davon verschont, auch in diesen Krieg eingezogen zu werden.

Aber auch seiner Mutter war nichts erspart geblieben. Sie hatte vier Kinder großgezogen. Zwei ihrer Kinder waren im frühkindlichen Alter gestorben, eines an Kinderlähmung und eines an einer Sepsis. Zwei Söhne, Gustav und Herbert, verloren Hinnerks Eltern im zweiten Weltkrieg. Beide waren zunächst in Russland vermisst. Später erfuhren sie, dass sie gefallen waren. Den genauen Ort in Russland hatten sie nie erfahren. Seiner Mutter hatte der Verlust das Herz gebrochen. Hinnerk wusste jedoch in diesem Augenblick noch nicht, dass seiner Mutter vielleicht noch ein furchtbares Ereignis aus der Bahn geworfen hatte. Eines, an dem sie mit Sicherheit zerbrochen war.

Einen Augenblick lang stützte er sich auf seinen Spaten und ruhte sich aus. Dann grub er weiter. Bei der stupiden Arbeit des Grabens kamen Hinnerk viele Gedanken in den Sinn. Gedanken, von denen er glaubte, sie schon längst vergessen zu haben. Nun waren sie wieder lebendig geworden und beanspruchten sein ganzes Denken und Fühlen. Doch plötzlich wurde er abrupt aus seinen Überlegungen gerissen, als er überraschend mit dem Spaten einen Widerstand gewahrte. Es ist sicher wieder ein Stein, dachte er ärgerlich, denn Steine gab es hier reichlich, und er grub nun ein wenig tiefer und beugte sich, indem er sich mit beiden Händen auf den Griff seines Spatens stützte, neugierig über die dunkle feuchte Erde.

Sofort zuckte er entsetzt und bis ins Mark erschrocken zurück. Er warf vor Schreck den Spaten auf den Acker. Kalter Angstschweiß brach ihm aus allen Poren. Hinnerk konnte nicht glauben, was er sah und rang mühsam um seine Fassung. Er keuchte laut und atmete unregelmäßig. Herzklopfend blickte er hoch, als erwarte er, das Grauenhafte würde sich auf der Stelle in Luft auflösen. Aber es tat ihm nicht den Gefallen und verschwand natürlich nicht. Es ragte aus der dunklen Erde heraus wie ein mahnendes Zeichen.

Krampfhaft zwang er sich, noch einmal hinzublicken und wich nun ruckartig mit bestürzter Miene einen Schritt zurück, so dass er fast auf dem matschigen Boden ausgerutscht wäre. Dabei verlor er seinen rechten Holzschuh, der sich im feuchten Matsch festgesogen hatte, was er in seiner Panik nicht einmal bemerkte.

Vor ihm lagen die skelettieren Knochen einer Menschenhand. Es gab keinen Zweifel: Er hatte nicht nur die Wurzeln der Rhododendronbüsche, sondern auch die Hand eines Menschen ausgegraben! Hinnerk wusste nicht, wie lange er auf den grausamen Fund gestarrt hatte, hörte nicht das ungeduldige Tuten eines Schiffes auf dem in der Nähe liegenden Kanal, sah nicht, wie der Schleusenwärter aus seinem Haus eilte, um die Schleusenbrücke zu öffnen, damit der Lastkahn passieren konnte. Er bemerkte auch nicht die Kinder auf dem Schiff, die ihm von weitem fröhlich zuwinkten. Hinnerk hatte sich hingesetzt und stierte nur blicklos ins Leere, seinen Kopf mit den Händen stützend. Das einzige, was er vernahm, war die Stimme in seinem Inneren. Er schlug die Hände über seine Ohren, um sie zum Schweigen zu bringen, diese unheilvolle Stimme, die laut in seinen Ohren nachklang: Du hast ihn umgebracht! Du bist der Mörder von Oskar Marakow! Hatte er tatsächlich so ein schweres Verbrechen begangen? Er wusste es nicht, denn er konnte sich mit dem besten Willen nicht mehr erinnern. Oder wollte er das gar nicht? Plötzlich schien ihm, als tauche ein dichter Nebelschleier vor ihm auf und hülle ihn ein. Wie gerne wäre er in dieser Hülle verblieben. Doch löste sich der Nebel langsam wieder auf.

Auf der feuchten Erde sitzend kramte er in der Dunkelheit seines Unterbewusstsein und holte Dinge hervor, die ihn über alle Maßen in Angst und Schrecken versetzten. In blitzartiger Folge erschienen vor seinen Augen Bilder und verschwanden genauso schnell wieder wie sie gekommen waren. Das eine Mal saß er mit Oskar friedlich im Gras am Rande des Grabens und sie tranken beide abwechselnd aus einer Flasche Korn und amüsierten sich prächtig, indem sie sich Männerwitze und lustige Episoden aus ihrem Leben erzählten. Besonders Oskar schien schon viel erlebt zu haben und Hinnerk musste sich fast vor Lachen den Bauch halten, als er dessen heiteren Eskapaden lauschte. Er hatte nicht gewusst, wie fröhlich Oskar sein konnte, denn er war ihm ja fast immer nur aus dem Wege gegangen. Das würde er von nun an ändern, beschloss er auf der Stelle, denn so ein schlechter Kerl war Oskar doch gar nicht. Alle mochten ihn doch. Warum nicht auch er? Dann sah er sich mit ihm ziemlich betrunken auf dem Acker raufen. Aber an den Grund ihres Streites erinnerte er sich nicht mehr. Er spürte plötzlich einen spitzen Schmerz in seinem rechten Kiefer, noch heute, als ob Oskar ihm den Faustschlag gerade eben erst versetzt hätte. Das Bild verschwand jedoch in Sekundenschnelle. Hinnerk wollte es festhalten, aber sein Unterbewusstsein schien sich zu sträuben und wehrte sich mit aller Macht, die Wahrheit ans Tageslicht kommen zu lassen. Sein Blick fiel auf die großen Steine, die am Graben verstreut lagen. Hatte er Oskar mit einem solchen Stein den Schädel zertrümmert? Das Bild wollte sich nicht einstellen. Eine vage Ahnung beschlich ihn aber. Was war vor fünf Jahren an dieser Stelle geschehen? Es fiel ihm einfach nicht mehr ein, was damals geschehen war, so sehr er auch bestrebt war sich zu erinnern.

Hinnerk saß versunken auf der Erde und dachte darüber nach, was sich vor fünf Jahren auf seinem Acker ereignet hatte.

„Moin Hinnerk, schon so früh am Arbeiten? Und das an einem Sonntag?“ hörte er plötzlich die laute Stimme des Schleusenwärters Johann Mehrings aus der Ferne, der die Schleusentore wieder geschlossen hatte und nun wieder auf dem Weg zu seinem Haus war. Der Schleusenwärter wohnte mit seiner Frau und einem Kleinkind in dem so genannten Schleusenwärterhaus und waren ihre einzigen unmittelbaren Nachbarn. Näheren Kontakt zu der Familie hatten sie aber nicht. Johann Mehrings winkte ihm nun mit beiden Händen zu und schrie noch etwas zu ihm hinüber, was Hinnerk jedoch, weil er so in Gedanken versunken gewesen war, nicht verstanden hatte.

Doch nun schrak er entsetzt zusammen und Hinnerk erspähte den Schleusenwärter aus der Ferne, der heftig mit seinen Armen gestikulierte. Aber seine einzige Sorge galt der skelettieren Hand, die genau im Blickfeld des Schleusenwärters lag. Doch aus der Entfernung konnte Johann Mehrings unmöglich seinen ausgegrabenen grausigen Fund erkannt haben. Das hoffte er jedenfalls inständig. Sein Gesicht aber drückte Zweifel aus.

„Muss ja,“ beeilte sich Hinnerk mit heiserer Stimme zu rufen, stand sofort auf und nahm den Spaten wieder in die Hand. Er tat, als ob er beflissen weitergraben würde, bis der Schleusenwärter wieder in seinem Haus verschwunden war. Hatte der der Mann wirklich nichts mitbekommen? Plötzlich bezweifelte er das. Er suchte seinen rechten Holzschuh, den er vorhin verloren hatte, fand ihn halb vergraben im Matsch, und schlüpfte mit seiner von der Erde verschmutzten Socke hinein. Seine Füße waren eiskalt. Dann bemühte er sich, mit zitternden Händen und schlotternden Knien wie unter einem inneren Zwang stehend tatsächlich weiterzugraben. Kalte Schweißperlen standen ihm immer noch auf der Stirn. Er wischte sie mit dem Handrücken weg.

Plötzlich stieß er mit dem Spaten auf einen skelettierten Totenschädel! Halb verdeckt von der dunklen Erde schien er ihn grinsend anzublicken und ihn spöttisch zu fragen: Wer glaubst du bin ich wohl?

Hinnerk drehte sich um und erbrach sich auf dem Gras. Zusammengekrümmt stand er da und würgte, bis sein Magen nichts mehr hergab. Galle kam ihm hoch.

Und er atmete zu schnell und zu flach. Er hoffte, dass sein Herz bald aufhörte zu rasen, vielleicht würden es dann auch seine Gedanken tun. Denn die waren im Augenblick das Hauptproblem. Sie bewegten sich viel zu schnell, sie rasten, hüpften und führten einen irren Tanz auf. Ihm war klar, dass er kurz davor stand, hysterisch zu werden oder die Grenze zur Hysterie vielleicht sogar schon überschritten hatte. Eine Panikattacke, aus der er nicht herauskam. Sein Atem, sein Herz, seine Gedanken, über alles hatte er auf unerklärliche Weise die völlige Kontrolle verloren.

Er konnte nicht glauben, was er mit eigenen Augen gesehen hatte. Und was geschehen war. Was geschehen sein musste! Und das durch seine Schuld.

Leichenblass taumelte er wieder zu dem Erdhaufen zurück und versuchte, das Gefühl grenzenlosen Ekels zu unterdrücken. Er riss sich mit letzter Kraft zusammen und schaufelte die skelettierte Hand und den grinsenden Schädel mit der Erde wieder zu. Zuletzt grub er die bereits ausgegrabenen Büsche mit ihren großen Wurzeln notdürftig wieder ein. Dann setzte er sich vor seinen Geräteschuppen, um sich langsam von seinem Schock zu erholen, was ihm jedoch nicht gelingen wollte. Hinnerk begann, am ganzen Körper unkontrolliert zu zittern. Plötzlich durchzuckten ihn höllische Krämpfe. Sein Magen schien zu einem Klumpen zusammenzuschrumpfen und verursachte ihm fürchterliche Qualen, denen er hilflos ausgeliefert war. Plötzlich umfing ihn schwarze Nacht, denn Hinnerk war in eine gnädige Ohnmacht gefallen. Als er wieder zu sich kam, stellte er anhand seiner Taschenuhr fest, dass er höchstens zwei Minuten an der Holzwand des Schuppens gelehnt haben konnte.

Aber jedenfalls waren seine Schmerzen fast verflogen. Er spürte nur noch ein leichtes Brennen in der Magengegend.

Doch sogleich fiel sein Blick auf die Rhododendronbüsche Auge und seine Gedanken schwirrten wieder in seinem Kopf durcheinander und wollten ihm nicht mehr gehorchen. Dennoch war er ein wenig ruhiger geworden und auch sein Herz raste nicht mehr, sondern schlug nun einen fast gleichmäßigen Takt.

Das Bild, das er noch vor ein paar Minuten vor Augen gehabt hatte, ließ sich nicht mehr zusammenfügen, so sehr er sich auch darum bemühte. War er wirklich ein Mörder? fragte er sich erschüttert. Die Frage wog zentnerschwer in seinem Kopf.

Was war geschehen in jener Nacht?

Er erinnerte sich dunkel, dass er morgens nach einem nächtlichen Trinkgelage mit Oskar Marakow auf seinem Acker erwacht war und sich kaum rühren konnte. Neben hatten sich in stiller Eintracht zwei leere Flaschen Korn und unzählige leere Bierflaschen gestapelt. Seine rechte Gesichtshälfte war stark angeschwollen und das rechte Auge ließ sich nicht öffnen. Die verletzte Gesichtshälfte tat höllisch weh und würde wohl auch angeschwollen und blau unterlaufen sein. Er war zu seinem Schuppen gekrochen, um dort zu warten. Auf was zu warten? Auf Swantje, die ihn vielleicht schon vermisste? Oder auf Oskar? Wo war der überhaupt? Er hatte sich nach allen Seiten umgesehen, ihn jedoch nirgendwo entdecken können. Der hatte sich ja fein aus dem Staub gemacht, hatte er gedacht, und ihn, Hinnerk, völlig lädiert auf dem feuchten Gras zurück gelassen. Aber das war ja typisch für ihn.

Ein wenig später hatte er sich aufgerafft und war zu seinem Haus getorkelt. Er hatte bis nachmittags tief und fest geschlafen. Danach war er mit einem ordentlichen Kater erwacht und konnte sich an keine Einzelheiten mehr erinnern. Und außerdem hatte er sich eine schwere Erkältung zugezogen, die ihn noch Tage danach an die unliebsame Nacht erinnern sollte.

Was war in dieser verhängnisvollen Nacht passiert? Hinnerk saß immer noch an der Wand seines Geräteschuppens gelehnt, als könne er sich nicht mehr rühren. Fragen über Fragen, auf die er keine Antwort fand, auch dann nicht, wenn er Stunden über Stunden sein Hirn zermarterte. Er schüttelte sich wieder vor Entsetzen und Ekel.

Schließlich reinigte er seine Holzschuhe mit einem alten Lappen notdürftig von dem ekelhaften Schmutz. Dann stellte er den Spaten wieder in den Geräteschuppen, streifte seine Schuhe über und schlich langsam zu seinem Haus zurück.

„Du bist schon wieder da?“ empfing ihn seine Frau und schaute ihn ungläubig an. „Du hast ja noch deine Arbeitskleidung an.“ Vorwurfsvoll betrachtete sie zweifelnd die mit Erdkrusten beschmutzte Arbeitshose. Wie sollte sie diese wieder sauber bekommen? Warum konnte ihr Mann nicht ein bisschen besser aufpassen und auf sie, die Hausfrau, Rücksicht nehmen?

Sie sah auf die große Küchenuhr und schüttelte den Kopf. Ihm war sicher wieder einmal die Arbeit zu viel geworden.

„Das ging ja schnell. Hast du die Büsche schon ausgegraben? Ich dachte, du kommst erst um zehn. Das Frühstück ist noch nicht fertig.“

Sie versuchte, einen ruhigen Ton anzuschlagen, denn sie wollte keinen Streit anzetteln.

Hinnerk konnte nicht verhindern, dass sie zum Fenster ging und den Acker in Augenschein nahm. Sie ist neugierig wie immer, konnte er nur geringschätzig denken. Und sie redete entschieden zu viel.

„Das ist doch mühsamer als ich dachte,“ rechtfertigte er sich mit brüchiger Stimme und mit immer noch zitternden Knien, „ich werde heute Nachmittag weitermachen. Ich glaube, ich habe mich verausgabt.“

Hinnerk ließ sich kraftlos auf einen Stuhl sinken und atmete schwer. Das soeben Geschehene hatte seine ganze Energie verbraucht. Im Augenblick fühlte er nur eine große Leere. An das Frühstück hatte er nun wirklich nicht gedacht und Hunger verspürte er auch keinen. Im Gegenteil, ihm war immer noch übel von dem Anblick des ausgegrabenen Fundes auf seinem Acker.

Doch musste er Zeit gewinnen. Den forschenden Blick seiner Frau übersah er geflissentlich. Swantje schien ihn auf Schritt und Tritt zu beobachten. Das Frühstück ließ er ausfallen. Der verwunderte Blick seiner Frau interessierte ihn im Moment nicht. Er trank jedoch etwas von dem dünnen Kaffee, der seinem Magen überhaupt nicht bekam. Die Zeit bis zum Mittag verbrachte er grübelnd auf der Torftruhe neben dem warmen Ofen.

Pünktlich um ein Uhr tischte Swantje Wurzeleintopf auf. Darin schwammen ein paar Stückchen Rindfleisch.

„Eintopf am Sonntag?“ fragte Hinnerk gleichgültig und schien mit seinen Gedanken woanders zu sein. Sie könnte ihm auch Gras vorsetzen und er hätte es gegessen, denn ihm schmeckte alles gleich oder besser gesagt, ihm schmeckte überhaupt nichts mehr. Scheinbar hatten sich sein Appetit und sein Geschmackssinn verflüchtigt.

Swantje beobachtete ihn abwartend, als sei sie auf dem Sprung.

„Drei Tage vor dem Zahltag gibt’s nichts anderes,“ bestimmte sie und giftete ihn mit bissigem Unterton an: „Vielleicht solltest du nicht so viel Geld für Bier und Schnaps ausgeben! Deine Zechtouren nehmen wirklich überhand. Es ist einfach nicht zu fassen.“

Sie begann, sich immer mehr in Rage zu reden und warf die Blechlöffel auf den Holztisch, dass es nur so klapperte.

Hinnerk stierte sie nur abwesend an. In einer normalen Situation hätte es böse Kommentare von ihm gegeben. Aber dies waren keine alltäglichen Verhältnisse mehr. Nicht nach diesem grausamen Fund, den er gemacht hatte.

Er verzweifelte angesichts seiner Gewalttat an Oskar Marakow. Könnte er sie rückgängig machen, würde es auf der Stelle tun und sogar Freundschaft mit diesem schließen. Aber vielleicht war es ja gar nicht Oskar, dessen Skeletteile er ausgegraben hatte? Vielleicht hatte ein anderer einen Mord begangen und wollte ihn vertuschen? Für kurze Augenblicke tröstete er sich mit diesem Gedanken.

Aber mit seiner Frau konnte er weder darüber sprechen noch konnte er nun weiter essen. Er legte den Löffel neben seinen noch fast vollen Teller auf den Tisch und schob ihn Swantje zu, weil er wusste, wie gerne Sie Wurzeleintopf aß. Vielleicht konnte er sogar wieder etwas gutmachen mit dieser Geste, obgleich sie für ihn kein Opfer bedeutete. Aber seine in der letzten Zeit ausgestoßenen harten Worte taten ihm jetzt leid. Seine Frau aber schob den Teller sofort entsetzt zurück und weigerte sich, auch nur einen Löffel davon zu essen. „Ich mag auch nicht mehr,“ sagte sie, „ich schaffe es kaum, meinen Teller leer zu essen.“

Und dann fügte sie beschwichtigend hinzu: „Außerdem möchte ich ein paar Pfund abnehmen.“ Hinnerk musterte sie nun mit erstauntem Blick, denn das hatte sie wirklich nicht nötig. Swantjes Gestalt hatte ihm immer gefallen. Außerdem hatte er solche Äußerungen noch nie von ihr gehört und er begann, sich immer mehr über seine Frau zu wundern, die ihm mit einem Mal wie eine Fremde erschien. Sie sollte sich doch glücklich schätzen, dass sie in diesen schlechten Zeiten überhaupt etwas zu beißen hatte. Seine Gedanken ruhten wie schwarze Schatten in seinem Innern.

Swantje entleerte den Eintopf samt Tellerresten in den Abfalleimer. Hinnerk wunderte sich schon wieder. Das hatte sie noch nie getan. Sonst gab sie die Reste in den Topf und wärmte den Inhalt abends wieder auf.

Nach dem Essen wusch Swantje sofort das Geschirr im Spülbecken gründlich aus. Hinnerk versuchte, sich ein wenig auszuruhen, konnte aber seine Gedanken nicht abschalten. Und der Wurzeleintopf rumorte in seinem Magen und war ihm nicht bekommen, obwohl er doch nur ein paar Löffel davon gegessen hatte.

Er versuchte seine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, was ihm nicht gelingen wollte. Die Nacht mit Oskar Marakow ließ sich nicht verscheuchen. Immer wieder tauchte der helle Schädel vor seinem inneren Auge auf. Was hatte er getan? Er erinnerte sich noch genau an das Verhalten seiner Frau, als sei es gestern gewesen. Wieso konnte er sich nicht an alles erinnern?

Swantje war nach der Nacht, die er mit Oskar verbracht hatte, Tage lang stumm geblieben. Sie war ihm aus dem Weg gegangen und hatte mit Gleichmut an ihm vorbeigesehen. Beide hatten sie kein Wort mehr miteinander gesprochen, denn auch Hinnerk konnte ziemlich stur sein und war sich keiner Schuld bewusst gewesen. Das unbedeutende Zechgelage mit dem schönen Oskar konnte sie doch nicht zum Anlass genommen haben, ihn für ewige Zeiten zu ignorieren, hatte er bitterböse gedacht. Am fünften Tag hatte sie mit bissigem Unterton gefragt: „Wo ist eigentlich dein Ehering?“ und deutete auf seinen rechten Ringfinger, der dort, wo der Ring eigentlich getragen werden sollte, einen hellen Streifen aufwies. Aber von einem Ring war keine Spur zu sehen. Darauf wusste er nichts zu erwidern. Swantje saß mit griesgrämigem Gesicht vor ihm und fixierte ihn geringschätzig. Irgendetwas gefiel ihr nicht und sie fragte sich, was ihr Mann zu verbergen hatte.

„Welche Antwort würde dir denn gefallen?“ hatte er geblafft und sie missmutig angesehen und hinzugefügt: „Du bist eine richtige Kratzbürste. Öl mal deine Stimme, denn sie kratzt wie eine Bürste.“

Und das hatte er so ungeheuer lustig gefunden, dass er begonnen hatte, wie ein Verrückter zu lachen und kaum wieder damit aufhören konnte. Seine Augen aber hatten wie Irrlichter geflackert. „Den habe ich in den Kanal geworfen,“ hatte er schließlich das Gespräch beendet, nun wieder mürrisch, denn seine Stimmungen wechselten von einer Minute zur anderen. Er wollte nun nichts mehr davon hören. Hinnerk war ging hinausgegangen, um weiteren lästigen Fragen seiner Frau auszuweichen. Was ging es sie an, wo er seinen Ehering verloren hatte? Das war und blieb allein seine Sache.

Seine Frau aber hatte ihm nicht ein Wort geglaubt. Eine Zeit lang hatte sich ihre Kommunikation nur noch auf das Nötigste beschränkt. Swantje hatte beleidigt und mit blassem Gesicht ihre tägliche Hausarbeit verrichtet und wäre am liebsten davongelaufen. Wie in ihren Träumen. Aber ihre Ehe war bittere Wirklichkeit und kein Traum.

Hinnerk lag ausgestreckt in seinem Bett um zu ruhen. Wie sollte er es nur schaffen, die verdammten Rhododendronbüsche auszugraben? Was würde er noch finden? Plötzlich fiel ihm sein Ehering wieder ein.

Tatsächlich hatte er diesen in der Nacht mit Oskar verloren. Aber der Ring war ihm schon öfter vom Finger gerutscht, weil er etwas zu weit war. Vielleicht lag er ja tatsächlich im Kanal? Ja, er erinnerte sich schwach, dass er sich in jener Nacht mit Oskar auch am Ufer des Kanals aufgehalten hatte. Oder doch nicht? Er wusste es nicht mehr genau, denn das unselige Ereignis war aus seinem Gehirn gelöscht. Und der Ehering tauchte nicht wieder auf.

Und jetzt spielte ihm sein Gehirn einen Streich, indem es bruchstückhafte Erinnerungen hochspülte.

Je mehr Hinnerk über die damalige Nacht grübelte, umso mehr gelangte er zu der Überzeugung, dass er tatsächlich der Mörder des verschwundenen Oskar Marakow war. Er musste es gewesen sein, denn wer sollte sonst ein Interesse daran gehabt haben, den schönen, freundlichen, stets hilfsbereiten und höflichen Oskar umzubringen? Diesen widerlichen Schönling? Der sich an seine Frau heran machte? Hatte er nicht auch an dem halb ausgegrabenen Schädel einen Rest von Oskars schwarzen Haaren erkannt? Er war sich nicht mehr sicher. Aber er zwang sich angestrengt nachzudenken. Und es fiel ihm wieder an: Am Totenschädel waren tatsächlich schwarze Haare gewesen. Er hatte nun keine Zweifel mehr; das Bild war deutlich vor seinen Augen aufgetaucht. Hinnerk begann zu zittern und musste würgen. Er stand auf und erbracht sich über dem Spülbecken.

Rhododendron

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