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Teil 1

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Die Schlange vor dem Buchladen ging jetzt schon weit auf die Straße hinaus. Cheyennes aus London-Heathrow kommender Airbus hatte wegen heftigen Turbulenzen im Anflug auf den Flughafen Helsinki-Vantaa über eine Stunde Verspätung, weshalb sie sich nun sputen musste und die Straße herunter gerannt kam.

Sie wollte zu ihrer ersten öffentlichen Buchbesprechung auf keinen Fall zu spät kommen. Aber so ist es ja immer. Es regnete, es war Herbst und zudem zog leichter Dunst durch die Straßen. Dann hatte auch noch dieser Esel von Taxifahrer ihr Finnisch-Englisches Kauderwelsch nicht deuten können und sie viel zu früh an einer falschen Adresse abgesetzt.

Aber so hatte sie etwas von diesem schönen Ortsteil sehen können mit seinen alten Gebäuden, deren Fassaden Cheyenne an ihre Wahlheimat London erinnerten. Mit den großen, durch Holzsprossen aufgelockerten Fenstern, den alten, zum Teil noch handgefertigten Türen und Säulen. Es sah aus wie in einem ihrer Träume, als die Sonne etwas hinter den Wolken hervorkam.

Cheyenne trug eine leichte, braune Lederjacke, eine Bommelmütze, unter der die blonden Haare hervor lugten, einen dicken, cremefarbenen Schal, eine leicht geöffnete weiße Bluse mit einem weißen Top darunter, eine hellblaue, zerrissene Jeans und braune Bikerboots, denen man ansehen konnte, dass sie schon einiges erlebt hatten. Sie liebte diese Outfits, cool, lässig und verführerisch zugleich.

„Man weiß ja nie, wer da so einem begegnet!“

Auch hatte sie ihren silbernen, mit türkisblauen Steinen verzierten Indianerschmuck angelegt und das Parfüm wie ihre Hauptdarstellerin in ihrem ersten Buch. Dies fand sie irgendwie witzig.

Für ihre Bücher holte sich Cheyenne ihre Inspirationen immer von vielen verschiedenen Menschen, denen sie gerade begegnete oder die sie im Fernsehen sah, vollkommen willkürlich. Dies konnte jeder sein, er musste nur etwas besonderes sein oder etwas für sie außergewöhnliches haben. Schon sah sie die reinsten Kinogeschichten in ihrem Kopf flimmern. Wenn sie am Schreiben war oder sich Geschichten ausdachte, hörte sie meistens Musik, immer den gleichen Interpreten oder die gleiche Gruppe mit denselben Liedern. Das war so ein Tick von ihr - zu jedem neuen Buch gab es eigene Songs. So auch in diesem Fall.

Als sich Cheyenne nun der Menschenschlange vor dem Buchladen näherte, hörte sie auf zu rennen, nicht dass noch jemand sie erkennen würde, bevor sie im Laden ist.

In der Schlange stand auch Lilly, ein großer Fan von Cheyenne, mit ihrem Bruder. Sie hatte ihn überzeugen können, mit ihr hierher zu kommen. Neugierig war er deswegen geworden, weil seine Schwester ihm erzählt hatte, sie hat ein Buch gelesen in welchem auf der letzten Seite eine Widmung mit folgendem Inhalt stand: „Ich möchte mich bei der finnischen Popgruppe XY (Name darf ich aus rechtlichen Gründen nicht nennen) bedanken, die mich zu diesem Buch inspiriert hat“.

Daraufhin las auch er das Buch.

Ob es ihm gefallen hat, weiß ich nicht, das müsst ihr ihn selber fragen.

Naja, auf jeden Fall hatte er gerade Zeit und nichts Besseres zu tun, deshalb kam er einfach mit, von Neugier natürlich keine Spur!

Wie der Zufall es wollte, lief Cheyenne den beiden geradewegs in die Arme. Als sie ihr Tempo verlangsamt hatte, wusste sie nicht so recht, ob sie zu einem Hintereingang oder durch die Vordertür hinein sollte. Das hatte ihr leider keiner der Verantwortlichen hier gesagt. Was würden denn die vielen Leute sagen, wenn sie sich vorne hineindrängen würde? Also blieb sie stehen und blickte sich fragend um.

Ihr Blick blieb an Lillys Bruder hängen, der sich zufällig in diesem Moment ihr zuwandte und ihr direkt in die Augen schaute. Cheyenne erkannte ihn sofort und versuchte nicht vor lauter Aufregung zu erstarren. Gerade wollte sie etwas sagen ... oder doch nicht? Sie spürte, dass sie jetzt plötzlich unheimlich nervös wurde, immerhin stand hier ein echter Star und ihre Inspiration vor ihr, und so cool war sie dann doch noch nicht.

Sie hatte stets größten Respekt vor Menschen, die aus eigener Kraft so weit gekommen waren und viele Leute in ihren Bann ziehen konnten. Zudem sah er auch noch unverschämt gut aus und besaß das gewisse Etwas, das einen völlig außer Tritt bringen konnte. Und dann diese Stimme – als Sänger war dies schließlich sein größtes Markenzeichen – rau, rauchig, verwegen, tief, satt, jedoch einfühlsam und ruhig, also einfach sexy. Man konnte es schlecht beschreiben, wenn man diese Stimme hörte. Nein, das stimmt nicht! Man konzentrierte sich nur auf diese Stimme, die in wunderbaren, melodischen Wellen die Sinne umspielte und nahm alle Emotionen in sich auf, die sie in den Liedern ausdrückte. Jeder so auf seine Art, denke ich. Aber es soll ja auch emotionsmäsig Minderbemittelte geben, aber die fühlen sowieso nichts und können mich wahrscheinlich gar nicht verstehen.

(Dann fallen einem viele, viele Geschichten ein –

ja, so ist das!)

Auf jeden Fall fühlte und lebte dieser Kerl seine Lieder, jeden Tag, in jeder Lebenslage, wo auch immer er war, ließ er sich von seinen Gefühlen und Gedanken inspirieren und leiten. Das sieht man auch in den Augen der Menschen.

Naja, Auf jeden Fall wusste Cheyenne nicht so recht, wie ihr gerade geschah, als Lilly sie anblickte. Diese brauchte nicht lange, um zu begreifen, wer da vor ihr stand. Immerhin hatte sie Cheyenne auf dem Cover des Buches gesehen und auch im Internet über sie recherchiert, in dem mittlerweile viele Bilder von Cheyenne zu sehen waren. Ein breites Grinsen erschien auf ihrem Gesicht und sie zupfte ihren verdutzt dreinschauenden Bruder dauernd am Ärmel.

„Hi - könnt ihr mir sagen, ob es noch einen anderen Eingang gibt? Ich bin ein bisschen spät dran“, fragte Cheyenne.

„Ja“, erwiderte Lilly aufgeregt, „das ist jetzt aber toll für uns, dass Du dich verspätet hast. Komm mit, ich kenne mich hier aus und bin sicher, die lassen dich auch hinten rein. Schließlich bist du hier heute der Stargast. Außerdem könnten mein Bruder und ich vielleicht hinten mit rein.“

„Danke, du bist ein Schatz“ entgegnete Cheyenne. „Immerhin war dein Bruder nicht ganz unbeteiligt an der Geschichte, ohne seine Musik hätte ich keine Muse und keinen Hauptdarsteller gehabt – also nochmals danke“.

Lilly grinste über beide Backen und fühlte sich geehrt und ihr Bruder begriff erst jetzt, wen er da überhaupt vor sich hatte. Als sie hinter dem Haus angekommen waren, klingelten sie und Mary nahm Mütze und Schal ab, damit der Doorman sie erkannte. Die beiden Geschwister nahm sie einfach ungefragt mit hinein. Sie befanden sich nun in einem Raum hinter dem Verkaufsbereich des Ladens, und legten alle die Jacken ab, weil es hier angenehm warm im Gegensatz zu dem feuchten, windigen Wetter draußen war. Mary grinste ihre zwei Begleiter ein klein wenig nervös an. Wer hätte das auch gedacht, dass sie ausgerechnet ihn hier und heute kennen lernen würde, das gibt es sonst doch nur in Filmen und Romanen. Mary stellte sich ihm nun höchst offiziell vor. Auch er war von ihr sichtlich fasziniert, ihre offene, herzliche Art hatte was.

Natürlich erwartet jetzt jeder Leser, dass die beiden sich verlieben, aber das dauert noch etwas! Wenn es dann so weit ist ... aber das muss ich mir noch überlegen, hi.

Auf jeden Fall muss ich jetzt hier kurz Schluss machen, obwohl ich die ganze Nacht schreiben könnte. Aber meine Arbeitszeit ist jetzt um und ich muss nach Hause gehen. (Ich habe noch einen richtigen Job, außer zu schreiben, ja!

Ups, mir ist vorhin rausgerutscht, dass Lillys Bruder – der im Übrigen immer noch keinen Namen hat – der Hauptdarsteller ist! Sorry. Das kann natürlich jede andere Person für euch sein, das ist euch überlassen. Bin ich auch nicht böse. Habt ihr eigentlich bemerkt, dass sich Cheyenne jetzt in Mary verwandelt hat? Ich bin mir noch nicht ganz sicher, welcher Name besser zu ihr passt. Also wir haben jetzt Cheyenne, die auch Mary heißt. Ein Wildfang und eine Gefühlvolle! Rein vom Namen her würde ich das so sehen. Damit wäre auch klar, dass die Schriftstellerin Mary heißt. Aber in ihrem Inneren ist sie ein Wildfang – eine „Cheyenne“.

Oh je, dachte sich Mary, hoffentlich hat er nicht mitbekommen, was ich gerade gesagt habe; das mit dem Hauptdarsteller, das wäre jetzt doch ziemlich peinlich. Also mir zumindest. Das Paar in ihrem Buch hatte eine heiße Affäre, die bis ins kleinste Detail ausführlich beschrieben wurde. Nicht daran zu denken, wenn er sich dies gerade vorstellen würde. Tja, aber ich glaube, dass er das jetzt doch gehört hatte, denn er mustere Mary mit einem recht seltsamen Blick. In so einem Augenblick, in dem man merkt, ein Mann mustert einen, kommt man sich doch völlig entblößt und nackt vor. Schrecklich und schön zugleich. Denn man weiß, man hat etwas richtig gemacht und Aufmerksamkeit bekommen, dann entsteht dieses eigenartige Spiel zwischen den Geschlechtern, wo keiner weiß wohin dies führt und auf was man sich einlassen kann.

Habe ich eigentlich erwähnt, dass Mary Männer mit Tatoos mag? Und dieser Kerl hatte ein paar wirklich außergewöhnliche! Ich finde das auch an älteren Männern sehr anziehend. Es erinnert einen doch immer an einen Bad-Boy.

Was die sooo komplizierten Frauen (die kein Mann versteht) doch mögen. Dabei sind Frauen genauso einfach gestrickt wie die Männer (behaupte ich einfach mal). Schuld an den Spinnereien sind immer nur diese saublöden Hormone, die dauernd das Gefühlsleben von uns Frauen komplett durcheinander wirbeln.

Ich will das den Männern hier und jetzt einmal versuchen, kurz zu verklickern. Die Frauen ticken eine Woche vollkommen normal, da ist alles in Butter, keiner nervt und nichts kann sie aus der Ruhe bringen. Jetzt kommt aber die zweite Woche. Hier bekommt sie ihre, sagen wir einmal „rote Phase“ - fürchterlich. Wir Frauen erkennen uns selbst nicht mehr, es geht einem einfach alles auf den Wecker; ja so ist das eben. Egal was du machst, du machst es verkehrt.

Also müsste man doch meinen, liebe Männer, lasst die Mädels einfach in Ruhe. Für einen Mann wäre dies logisch. Weit daneben! Das ist natürlich auch nicht das Richtige, weil wir Frauen dann denken, wir wären den Männern gleichgültig.

Endlich in der dritten Woche angekommen – hoffentlich ohne größere Blessuren – ist wieder alles eitel Sonnenschein. Man kann wieder vieles mit den Damen machen, sie sind glücklich und zufrieden.

Die vierte Woche. Wir treten jetzt in die Zeit des sogenannten Eisprungs (Wer nicht weiß, was das ist, bitte nachlesen) ein. Diese Woche variiert von Frau zu Frau sehr stark. Es kann durchaus sein, dass sie ein, zwei Tage gereizt ist, aber die restlichen Tage sind sehr explosiv. Alles pulsiert und wird um ein tausendfaches erregt. Schon die leiseste Berührung, der flüchtigste Blick lässt uns dahin schmelzen und beschert uns wirklich ausschweifende Gedanken. Tja, das wusstet ihr nicht, ist aber logisch. In dieser Zeit (für Leute, die im Biologieunterricht nicht aufgepasst haben) ist die Frau sehr ‚empfängnisbereit‘. Für alles! Und wer es noch genauer wissen will, fragt seinen Arzt oder Apotheker! Aber ich warne euch, die können ganz schön Verwirrung stiften mit ihren umständlichen Erklärungen.

So, jetzt geht das ganze Spiel von vorne los. Also beobachtet das einmal, dann könnt ihr euch ein bisschen danach richten und ihr habt eine gute Beziehung!

Was manchmal noch mitspielt, ist ganz klar das Alter. Ich finde, wenn man schon etwas Lebenserfahrung hat, nimmt man vieles gelassener hin als jüngere Frauen, weshalb mir nicht in den Schädel gehen will, warum sich manche Männer immer noch jüngere Frauen antun. Warum dieser Stress? Dabei sind doch Frauen ab einem gewissen Alter viel offener für alles. Wirklich für alles! Sie haben einfach viel mehr Spaß und wollen alles sehr intensiv erleben.

Und liebe Männer, sofern dies hier doch einer lesen sollte, habe ich euch jetzt wenigstens etwas aufgeweckt? Nein! Natürlich nicht. Ich denke, das muss sowieso jeder für sich entscheiden. Mir persönlich ist das egal, war nur ein gut gemeinter Tipp. Kommen wir aber nun wieder zu unserer Geschichte – endlich. Ich schweife dauernd ab, aber mir wirbeln immer so viele Dinge im Kopf umher, dass ich kaum mit dem Schreiben nachkomme.

Gibt es eigentlich ein Gerät, das meine Gedanken aufnehmen kann, so wie ein Tonband? Das brauche ich unbedingt.

Ja dieser Mann, der Mary gerade musterte, machte sie ganz schön durcheinander. In ihrem ganzen Körper brizzelte es. Es fing in der Mitte an, da wo sich Männer und Frauen irgendwann immer treffen!!! Und strahlte in jede Richtung. Sie durfte sich das aber auf keinen Fall anmerken lassen, man war ja schließlich cool!

Merken Männer eigentlich wenn man sie gut findet? Ihr könnt mir ja schreiben, das interessiert mich sehr für mein nächstes Buch. Dann kann ich auch die Sicht des Hauptdarstellers besser beschreiben.

Da ja Mary nie schlechte Gedanken hatte, im Gegenteil, aus allem Schlechten entstand bei ihr etwas Gutes, meistens jedenfalls. Sie versteht sich mit Männern ganz gut, weil die meistens sagen was sie denken oder einfach ruhig sind. Sonne, Regen, Kälte oder Wärme, alles ist für irgendetwas gut.

Mary war durch und durch Optimistin, weswegen sie dieser aufregenden Begegnung mit Freude entgegen schaute. Überhaupt wusste sie ja noch gar nicht, wie er tickt. Sie kannte ihn ja nur aus dem Internet als Leadsänger der Band, was er im Übrigen super gut drauf hat. Aber wie er privat so war, als Mensch, ohne seine Berühmtheit im Hintergrund, hatte sie keine Ahnung. Vielleicht ganz anders, als dies seine Augen und seine Körpersprache ausdrückten und Mary signalisierten. Nein, verdammt. Sie konnte nicht so voll daneben liegen, immerhin sang er auch sehr gefühlvolle Lieder.

Tja, Lillys Bruder, das war so einer! Mary fand seinen Style sehr gut. Er hatte immer gewollt zerzauste Haare (out of bed-look), trug Turnschuhe oder Boots, Jeans oder Chinos, T-Shirt mit offenem Hemd darüber. Eine Lederkette und ein mehrfach gewickeltes Lederarmband machten den „Mister Lässig“ perfekt. Er war sportlich muskulös, aber nicht zu übertrieben! Das kommt ansonsten nicht sehr gut an. Im Großen und Ganzen könnte man sagen, sie hatte hier einen Leckerbissen vor sich, den sie sich auf keinen Fall entgehen lassen sollte.

Zudem wäre ich auch neugierig, wie er riecht, das macht auch viel aus.

Mary starrte erst auf seine Augen, die glaube ich blau sind, und dann auf seine Lippen, welche, wie Mary vermutete, sehr gut schmecken würden. Auch den Hals fand Mary bei Männern sehr erotisch, bei ihm war sowieso alles sehr anziehend. Aber sie musste sich jetzt zusammenreißen und sich nicht ständig ablenken lassen.

„Ihr seid also wegen mir hier“ sagte sie zu Lilly.

„Soll ich dir auch etwas in mein Buch schreiben? Ach ich weiß schon was!“ Mary nahm eins ihrer Bücher und einen Stift und schrieb:

‚Dies ist für Lilly, die mich heute aus der Menschenmasse gerettet und ihrem Bruder vorgestellt hat. Ich bin dir dankbar, dass ich euch kennenlernen durfte. Man trifft sich im Leben immer zweimal, und auf das zweite Mal freue ich mich besonders...

PS: Bin fremd hier, was macht ihr heute Abend? Alles liebe, Mary‘.

Lilly lachte laut, als sie ihr Buch entgegen nahm und die Widmung las. „Also wenn du willst, können wir heute Abend was zusammen unternehmen. Aber nur wenn du willst“.

„Oh, das ist ganz toll. Ich bin hier in vier bis fünf Stunden fertig – jetzt ist es elf Uhr – ist euch so gegen halb Vier recht?“

„Na klar“ sagte Lillys Bruder, der endlich auch mal etwas Regung zeigte. Mary nahm erst Lilly in den Arm und gab ihr ein Küsschen rechts und ein Küsschen links (das ist hier so üblich, wenn man jemanden mag) und dann ihren Bruder.

„Ich freue mich sehr auf nachher, doch jetzt muss ich mich um mein Publikum kümmern. Wenn ihr möchtet, könnt ihr gerne noch hier bleiben. Ansonsten sehen wir uns später.“

Mary zitterte am ganzen Körper vor Anspannung, als sie sich von Lillys Bruder verabschiedete. Tausend Gedanken schwirrten ihr durch den hübschen Kopf. Ihre Fingerspitzen wurden ganz heiß, als sie ihn in den Arm nahm. Sie spürte seinen Atem auf ihrem Hals. Und er roch hervorragend, um dies hier einmal zu erwähnen! Ihr ganzes Gesicht kitzelte wie von kleinen Stromschlägen, als sie seines berührte. Wie gerne hätte sie diese Lippen gekostet. Aber sie musste sich ja zusammenreißen!

(Haben Männer auch Herzklopfen, wenn sie jemanden mögen?).

Mary ging jetzt zu ihrem Signier-Tisch und grinste noch mal zu Lilly und ihrem Bruder herüber, bevor sie sich in die Unterschriftenschlacht stürzte.

Lilly blieb noch einen kurzen Augenblick wie angewurzelt stehen und zupfte die ganze Zeit am Ärmel ihres Bruders herum, weil sie ihr Glück kaum fassen konnte. Als die Menschen auch ihn erkannten, verschwanden sie zur Hintertür und verließen das Buchgeschäft.

Pünktlich um halb vier ließ sie der Türsteher wieder hinein. Mary war gerade mit dem Signieren des letzten Buches fertig geworden. Etwas abgeschlafft und müde begrüßte sie die beiden herzlich.

„Ich hoffe, ihr könnt mich schnell zu einem Starbucks bringen, brauche jetzt unbedingt einen doppelten Espresso in einem Karamell-Frappucino. Das peppt mich immer wieder auf.“

Lillys Bruder (nennen wir ihn einfach Be, englisch ?bi:?, ausgesprochen nach phonetischer Lautschrift) sagte:

„Also mir hilft da immer essen.“

Typisch Mann, Burger oder Bratwurst, aber was soll‘s, so sind wir alle nun mal!

Rasch verließen die drei den Buchladen durch den Hinterausgang. Be, der jetzt gut drauf war, scherzte und lachte mit Mary, die gerade etwas müde wurde, aber trotzdem ganz gelassen mitmachte und keine Spur von Nervosität zeigte. Bei Starbucks genehmigte sie sich ihren Frappucino, der sie wieder aufweckte.

„So, jetzt könnt ihr mir noch die Stadt zeigen. Lebt ihr auch hier oder außerhalb?“

„Außerhalb“ sagte Be „in einer schönen Bucht, Musst du dir mal ansehen, wenn du Zeit hast.“

„Gerne“ erwiderte Mary „ich kann nicht genug sehen, ich muss immer alles in mich aufsaugen, das ist wie eine Sucht.“

Sie schlenderten durch viele Straßen und schauten sich die Gebäude an bis es dunkel wurde. Die drei verstanden sich immer besser, waren alle auf einer Wellenlänge.

„Wie geht es dir, wenn du soviel in der Welt herumkommst?“ fragte Mary Be „das ist doch ein tolles Gefühl, diese ganzen Eindrücke zu erleben.“

„Ja, aber ich bin auch immer wieder froh, nach Hause zu kommen, damit ich alles verarbeiten kann. Du musst uns wirklich mal besuchen, es ist richtig schön bei uns. Also Lilly hat eine eigene Wohnung und ich ein Haus direkt an der Bay. Klein aber gemütlich, wie alles hier außerhalb der Stadt.“

„Mary, komm doch mit, dann können wir noch gemeinsam etwas essen gehen“ schlug Lilly vor. „Oder hast du ein Hotel in der Stadt gebucht?“

„Nein, habe ich nicht, das mache ich immer spontan, da ich nie weiß, wohin es mich zieht!“

„Na dann zieht es dich eben jetzt zu mir. Ich habe ein Gästezimmer, da kannst du gerne übernachten, das ist gemütlicher wie die doofen Hotels! Die hasse ich immer, wenn ich unterwegs bin“, sagte Be.

„Wirklich? Ist das nicht umständlich?“

„Nein, überhaupt nicht.“

„Also gut, ich freue mich! Wir müssen nur noch schnell meine Tasche im Laden holen, die habe ich dort deponiert.“

Die drei schlenderten zurück zum Laden, holten Marys Tasche und gingen zum Parkhaus, in dem Be seinen Ford Woody geparkt hatte. Das ist ein alter, amerikanischer Station Wagon aus den späten 50igern, bei dem der hintere Rahmenaufbau aus echtem Holz hergestellt ist, wunderschön anzusehen.

„Oh, ich liebe dieses Auto“ sagte Mary total begeistert. „Lilly, darf ich bitte vorne sitzen, da kann ich alles besser sehen und das Auto genießen?“

„Na klar“ sagte Lilly.

Mary setzte sich auf die vordere Sitzbank des Woodys und sog den über die Jahrzehnte entstandenen, ganz eigenen Duft des Innenraums ein. Die Sitze waren aus herrlich dunkelrotem Originalleder, das Lenkrad aus mehrschichtigem Birnenholz gefertigt, neben dem auch die Handschaltung angebracht war. Strahlend schaute Mary zu Be und grinste über beide Backen.

„Lass ihn endlich an“ drängelte sie.

Als er den Schlüssel umdrehte, blubberte der starke V8 Motor beeindruckend vor sich hin.

„Ich wusste gar nicht, dass sich Frauen so für Autos begeistern können“ wunderte sich Be.

„Oh doch, ich schon. Wenn es die richtigen sind, mit der richtigen Ausstattung und Pflege, ist das sexy und cool“.

Er verzog seinen Mund zu einem kleinen Grinsen und blickte Mary interessiert an.

Sie fuhren nun aus der Stadt in Richtung Küste.

‚Was für ein Tag! Und jetzt sitze ich neben einem netten, coolen Typen in einem tollen Wagen, besser kann’s nicht werden‘ dachte sich Mary.

In dem Augenblick klingelte plötzlich Lillys Handy. Ihre Freundin Sophie fragte nach, ob sie noch Lust hätte, mit ihr und ein paar netten Jungs ins Kino zu gehen. Sie willigte sofort ein, da sie ja wusste, Mary würde noch ein paar Tage bleiben. Be setzte Lilly bei ihrer Wohnung ab und fuhr weiter zum Hafen.

Sein Haus stand auf der anderen Seite der Bay die nur mit einer Fähre zu erreichen war, außer man nahm einen stundenlangen Umweg in Kauf. Während sie am Kai auf die Fähre warteten wurde das Wetter immer stürmischer. Der Himmel hatte sich mit schwarzen, dicken Wolken bezogen und der Wind wurde immer stärker. Mary zog ihre Jacke, die Mütze und den Schal an, weil es immer kälter wurde. Der Mond schaute ab und zu hinter den Wolken hervor, und man konnte erkennen, dass die Vollmondphase angebrochen war. Wie in einem Vampirfilm sah die Gegend jetzt aus.

„Kann auf der Fähre nichts passieren bei dem starken Wind?“ fragte Mary.

„Nein, glaube ich nicht. Seit ich hier lebe, war noch nie etwas!“ entgegnete Be.

‚Na wie beruhigend‘ dachte sich Mary.

Trotzdem kann man dem Wetter nie trauen. Das ist einfach eine Naturgewalt, gegen die man völlig machtlos ist. Die Fähre legte an, die Rampe wurde herunter gelassen und die beiden fuhren hinüber und parkten den Woody. Sie holten sich einen Kaffee in der Cafeteria und setzten sich draußen auf das Deck. Es war zwar schon etwas dunkel und der Wind pfiff, aber Mary liebte die salzige Luft und die Freiheit hier auf Deck. Sie schauten gemeinsam auf die See während sie ihren Kaffee schlürften, lachten und sich angeregt unterhielten.

Die Wolken wurden immer grauer und dicker.

Da entdeckte Mary eine sich zu einer Art nach oben offenem Trichter bildende Wolke wie sie es nur aus Fernsehberichten kannte – ein Twister!

‚Oh, das kann nichts Gutes bedeuten, wenn der auf uns zukommt‘. Sie packte Be am Arm und zeigte auf den Twister.

„Hast du so was hier schon einmal gesehen?“

Er stand auf und Mary, krampfhaft an seinen Arm geklammert, ging mit ihm zur Reling am Heck der Fähre. Der Himmel war schwarz. Der Mond blitzte ab und zu durch die Wolken, als wolle er dieses Spektakel miterleben. Der Twister raste mit aller Macht auf die Fähre zu. Die Wellen wurden immer höher. Schätzungsweise hatten sie mittlerweile eine Höhe von zehn bis fünfzehn Metern erreicht. Das Schiff knarzte in sämtlichen Ecken, so als ob es gleich zerbersten wolle. Die Gischt des aufgewühlten Meeres peitsche Mary und Be mitten ins Gesicht. Viele Autos konnten dem großen Druck des Windes und dem starken Seegang nicht widerstehen und schlitterten trotz angezogener Handbremse auf dem Parkdeck wie wild hin und her. Die Menschen flohen so schnell sie konnten kreischend unter Deck, und versuchten sich irgendwo festzuhalten, so gut es eben ging. Es war ein grausam anzusehendes Spiel der Natur.

Mary und Be standen immer noch wie erstarrt, festgeklammert an der Reling. Mary musste unwillkürlich an den Film ‚Titanic‘ denken. Ihr Kopfkino lief auf Hochtouren und sie erinnerte sich an die Bilder, als die Titanic unterging und sich die beiden Hauptdarsteller an der Heckreling festhielten während das Schiff wie ein eiserner Pfeil steil nach unten in die schäumende See glitt. Ihr Herz raste wie wild, und sie blickte sich verzweifelt nach einem sicheren Ort um, wobei sie sich fast sicher war, hier an Deck keinen zu finden.

‚Jetzt ist es vorbei‘ dachte sie. ‚Nein! Solange ich noch atme, kämpfe ich auch, ich gebe nie auf! Es gibt immer einen Plan B, C, oder sogar D. Wild entschlossen sah sie zu Be. Nach unten wollte sie auf gar keinen Fall gehen, das wäre fatal. Man wäre gefangen im eisigen Fjordwasser, falls das Schiff untergehen sollte. Just in diesem Augenblick schlug eine Welle unter den Bug und die Fähre bäumte sich auf, um diese zu bezwingen. Mary und Be sahen sich an und rannten gleichzeitig los, zwischen all den umher rutschenden Fahrzeugen hindurch weiter nach vorne, wo sie einen kleinen Eisenverschlag als Unterschlupf ausmachten. Wahrscheinlich war dort etwas gelagert worden, das sich durch die stark schlingernde Bewegung des Schiffes wohl verselbstständigt hatte. Mary kroch als erste in den Eisenverschlag, der auf der Hinterseite nicht ganz geschlossen war, sondern mit Stahlstäben versehen war. Sie nahm geistesgegenwärtig ihren Schal ab und band sich ihn um den Bauch. Das andere Ende band sie Be um, der sich vor sie gelegt hatte. Sie wollte das hier nicht alleine durchstehen und zu zweit hat man immer mehr Chancen wie alleine.

Als die Fähre den Wellenkamm erreicht hatte und sich jetzt steil nach unten bewegte, nahm das Chaos seinen Lauf. Die Fahrzeuge, die sich im hinteren Bereich des Parkdecks befanden, rutschten alle nach vorne auf ihren Unterschlupf zu. Die beiden klammerten sich krampfhaft an den Stahlstäben fest. Wie zwei Heringe in der Dose lagen sie aufeinander gepresst in dem engen Käfig. Die Fahrzeuge krachten eines nach dem anderen gegen den Eisenkasten und türmten sich wie Legosteine übereinander. Gott sei Dank hielt der Käfig der Last der Autos stand.

Das vom Sturm aufgewirbelte Wasser peitschte den beiden eiskalt in Gesicht und Augen, so dass sie kaum etwas erkennen konnten. Der Wirbelsturm hatte sie jetzt in seiner vollen Stärke erreicht. Es war, als ob sich Zeus und Poseidon einen erbitterten Kampf lieferten, bei dem keiner verlieren mochte. Der Twister kam jetzt direkt von vorne, richtete das Schiff am Bug langsam wieder auf, so dass die ganzen zusammengekeilten Fahrzeuge wieder nach hinten geschoben oder gleich ins Wasser geschleudert wurden. Mary und Be klammerten sich trotz fast gefühlloser Hände, verzweifelt an den Stahlstangen fest als das Schiff nahezu senkrecht im Wasser stand. Das Geräusch des Windes war ohrenbetäubend, das Wasser und der Regen fühlten sich an wie Peitschenhiebe. Sie hingen an ihren Stäben wie zwei Opfergaben, die das Meer gerade verschlingen wollte.

Wer von den beiden zuerst abrutschte, kann keiner mehr sagen. Die Naturgewalt war so unbändig stark, dass keine menschliche Kraft ihrer hätte trotzen können. Sie trafen genau in dem Augenblick sehr unsanft auf der Wasseroberfläche auf, als der Sturm die ganze Fähre etwas nach links hob und somit derzeitig keine Gefahr (wenn man in dieser Situation die Dreistigkeit besitzt und das überhaupt so ausdrücken kann) darstellte. Mary und Be sanken wie zwei Sandsäcke in die Tiefe der eisigen See. Sie riss ihn immer tiefer mit sich, da die beiden aneinander gebunden waren. Aber die eisige Kälte des Wassers ließ sie kämpfen. Unbändige Kräfte wurden frei und sie arbeiteten sich Stück für Stück nach oben, wobei Be Mary immer wieder Hilfe leisten musste. Noch während des Auftauchens entledigte sich Mary Lederjacke, weil diese durch das viele Wasser immer schwerer wurde. An der Oberfläche angekommen, konnte sie gerade noch nach einer vorbei treibenden Holzplanke greifen, bevor Be von einer umherfliegenden Holzstange am Kopf getroffen wurde. Instinktiv ergriff sie ihn unter den Armen und hielt sich an der Planke fest.

Sie war eine ausgezeichnete Schwimmerin, die das Wasser liebte und sich am liebsten unter Wasser bewegte, nur heute hielt sie dies für keine sehr gute Idee. Normalerweise sah sie Wasser als ihren Verbündeten an, aber augenblicklich wurde ihre Sichtweise doch auf eine sehr harte Probe gestellt. Trotzdem verspürte sie aber keine Angst.

Damit sie Be nicht verlor, der durch den Schlag mit der Stange ohnmächtig geworden war, schob sie ihre Hand durch eine kleine Öffnung in der Planke, damit sie besseren Halt hatte. Sie brauchte ihn bei diesem Wellengang, weil ihr Be sonst zu schwer werden würde. Mary umklammerte seinen Oberkörper mit ihrem rechten Arm und mit der Hand ergriff sie seinen Gürtel – so konnte sie ihn besser halten.

Die Wellen trieben sie ganz langsam vom Ort des Geschehens fort. Die Fähre hatte sich nahezu ohne Fahrzeuge an Bord wieder stabilisieren können und trieb immer weiter aufs offene Meer hinaus.

‚Oh Mann, dass mir das jetzt hier passiert hätte ich nicht gedacht‘ sinnierte Mary. ‚Es fühlt sich ganz anders an, als wenn ich an meinem Schreibtisch sitze und eine Geschichte schreibe. Was ist, wenn ich keine Kraft mehr habe um uns über Wasser zu halten? Aber die Helden in Büchern schaffen es immer und immer wieder. Außer in Filmen, die realistisch sein sollen, da sterben sie! Schrecklich. Die hasse ich, die kann man doch nicht mögen, oder? Da käme jetzt vielleicht ein Riesenfisch aus der tiefen, schwarzen See, reißt sein Maul auf und zerfetzt uns erst die Beine, dann Arme und später den Rest von uns. Auf jeden Fall geht es so langsam, damit man die Schmerzen noch richtig mitbekommt. Und zum Schluss zeigen sie dann die ruhige See, wo nur noch ein Auge von dir herumschwimmt. Oder sie meinen es gut, und es schwimmt noch ein zweites herum, dann können sie vereint untergehen. Zum Zeichen, dass sie sich gefunden haben. Grausige Vorstellung, oder?‘

Marys Gedanken sprangen wieder hin und her. Ihr war kalt, unheimlich kalt sogar, aber die Vorstellung, was alles noch passieren könnte, ließ sie noch mehr Gänsehaut bekommen.

‚Wenn ich so weitermache kann man mich als Schmirgelpapier verwenden und vor lauter Gänsehaut die Planke glatt polieren‘.

Ihre linke Hand schmerzte immer mehr, denn die Öffnung in der Planke hatte spitze Holzsplitter, die sich in die Hand bohrten und tiefe Risse hinterließen. Blut floss heraus und verschmolz mit dem Seewasser. Zudem taten ihr alle Körperteile weh, auch dort wo sie dachte, hier kann man keinen Schmerz empfinden. Sie konnte nicht einordnen, ob etwas Schlimmeres dabei war, da das Wasser alles schön kühl hielt.

Das war das Gute an eiskaltem Wasser, alles wird schockgefroren, man merkt absolut nichts! In wärmeren Gefilden, der Wüste oder so, würde man wie verrückt schwitzen und die Herzfrequenz würde das Blut aus irgendeiner kaputten Stelle herausquellen lassen. Mit jedem Pulsschlag ein Viertele weniger Blut. Wie süß. Nicht? Dabei schmeckt Rotwein viel besser als Blut. Außer man kommt von Transsylvanien (Was übrigens nicht die Geburtsstätte von Vampiren ist, habe ich gelesen, stimmt das?)

P.S. Ich bin das Buch im Buch, Geschichten ausdenken kann ich am Besten. Zu jeder Tageszeit an jedem Ort, in jedem Land. Ich bin das, was ich bin, eine Geschichte, welche sich immer wieder neu erfindet. Ich bin ich. Ich lebe mich selbst.

Der rechte Arm, der Be fest umschlungen hielt, fühlte sich schon an wie ein eisiger Klumpen. Nahezu steif und kalt, ja fast gefühllos. Aber da musste sie durch, so konnte sie Be wenigstens nicht verlieren. Mittlerweile hatte er auch einiges von seinem doch sehr attraktiven Erscheinungsbild einbüßen müssen und hing da wie ein schaukelndes Boot an der Leine im Hafen, das immer diese typischen Klappergeräusche abgibt, wenn die Segelleinen an den Masten schlagen. Wo man dann denken könnte, man ist im Urlaub! Von wegen! Und die Schreie der Möwen wurden hier ersetzt durch die Donnerschläge, die einfach nicht aufhören wollten.

Die Holzstange oder was auch immer Be an der Stirn erwischte, hatte eine etwa sechs Zentimeter lange, klaffende Wunde hinterlassen. Das Blut lief quer über sein Gesicht herunter. So trieben die beiden lange Zeit im kalten Wasser umher. Nur kurz kam der Mond immer wieder hinter den Wolken hervor, und als es etwas heller wurde, gewann man den Eindruck, das Meer und der Himmel hätten die gleiche Farbe angenommen. Ein Wechselspiel von hell-dunkelblau gemischt mit Purpurrot, so dass sich das ganze in ein tiefes violett verfärbte. In der Ferne waren immer noch die Schreie der Menschen zu hören. Oder bildete sie sich das bloß ein?

Nachdem sie wieder einmal eine größere Welle überwunden hatten, fühlte Mary etwas Festes unter ihren Füssen. Zuerst erschrak sie heftig, weil sie dachte, es sei ein großer Fisch oder etwas anderes gefährliches. (Ihre Großmutter hatte ihr in den Sommermonaten immer wieder von einem riesigen Hecht erzählt, der bei ihnen im Badesee sein Unwesen trieb. Der Hecht zählt immerhin zur Familie der Raubfische).

Doch erfreulicherweise war es Land. Sie waren in eine kleine Bucht getrieben worden. Felsen rechts und links von ihnen, ein glitschiger, steiniger Untergrund aber relativ flach auslaufend, so dass man leicht aus dem Wasser an Land gelangen konnte. Mary konnte die Planke, nach mehreren schmerzlichen Versuchen ihre Hand zu lösen, endlich loslassen. Sie packte Be unter den Armen, überkreuzte ihre Hände vor seiner Brust, holte tief Luft, und zog sich und ihn mit der letzten Kraft die sie jetzt noch besaß, an Land. Es war aber mehr ein Kriechen, Millimeter um Millimeter, Sekunde für Sekunde, wie in einer Zeitlupenaufnahme. Ziehen konnte man dies wahrhaftig nicht nennen. Vielmehr ein Robben und Schleifen zweier fast lebloser Körper, den unwiderstehlichen Drang verspürend, wieder die Erdanziehungskraft spüren zu wollen.

Als Mary es irgendwie geschafft hatte, halbwegs im Trockenen zu sein, ließ sie ihren schlappen, überanstrengten Körper in den weichen Sand gleiten. Be immer noch fest umklammernd, lag sie völlig kaputt auf dem Rücken und blickte zum Himmel. Ihr Herz raste, ihr schwer gehender Atem hob ihre Brust auf und ab, irgendetwas rauschte in ihren Ohren und Tränen der Erleichterung liefen ihr unkontrolliert die vor Anstrengung rot glühenden Wangen hinab. Dann verlor sie das Bewusstsein.

Irgendwann verspürte sie ein starkes Rütteln, und erst als sie eine Stimme von weit her wie durch eine Wolke aus Watte vernahm, kam sie langsam zu sich. Sie schlug die Augen auf, und erkannte etwas verschwommen Be, der sich über sie beugte. Er war klatschnass, Blut strömte aus seiner Kopfwunde und die eiskalten Hände strichen sanft über Marys Gesicht. Da wusste sie sofort, dies schreckliche Erlebnis war kein Traum.

„Mary, bist du okay? Hörst du mich?“

Mary schaute ihn an und dachte nur ‚ja, ja alles gut‘ brachte aber kein Wort hervor. Die Kälte kam wieder zurück. Sie begann jetzt am ganzen Körper wie Espenlaub zu zittern, alle Muskeln, Sehnen und was es sonst noch so gab bewegte sich wie von alleine. Es war wie ein Krampf, der plötzlich auftritt. Arme, Beine und der ganze Körper vibrierten, ohne dass man dagegen steuern konnte.

„Hey Mary, alles gut, wir sind in Sicherheit“.

Be, dem natürlich auch eiskalt war, nahm sie in den Arm. So verspürten sie einen Hauch von Körperwärme, die überhaupt nicht vorhanden war. Legt mal zwei Eiswürfel nebeneinander – tolle Wärmeentwicklung! Aber die haben auch keine innere Wärme ganz im Gegensatz zu Be und Mary. Ihre Herzen schlugen noch, und solange dies noch funktionierte, kommt irgendwann auch Feuer auf.

Das ist ähnlich wie mit einer kleinen Glut, die man mit Stroh füttert. Nach einer gewissen Zeit lodern die Flammen auf. Außerdem kann Gedankenkraft sehr, sehr stark sein. Es ist wie Magie. Und Mary und Be waren Magie!

Marys geschundener, total ausgelaugter Körper beruhigte sich langsam wieder. Das Zittern reduzierte sich auf ein Minimum, als sie Be‘s Körper spürte und die latente Wärme in sich aufsog. Der Himmel war immer noch pechschwarz, obwohl es nun schon früh am Morgen sein musste. Rund um sie herum waren spitze Felsen, an denen sich die Wellen aufbäumten und kalte Gischt versprühten. Vor ihnen türmte sich ein großer, nicht sehr einladend dreinschauender Hügel auf und hinter ihnen befand sich die raue, aufgewühlte See. Von einem kleinen Vorsprung, den sie mühevoll erreichen konnten, hatten sie eine gute Sicht auf das Meer.

Das Bild des Grauens, welches sich ihnen hier darbot, war haarsträubend. In der Ferne, aber noch gut erkennbar, konnte man die langsam sinkende Fähre sehen. Trümmerteile, tote Körper und sich verzweifelt an irgendwas festhaltende, um ihr Leben schreiende Menschen trieben im Wasser. Mehrere Helikopter mit starken Suchscheinwerfern umkreisten das Schiff. Der Wind war immer noch so heftig, dass die Piloten massive Schwierigkeiten hatten, die Maschinen gerade zu halten.

Mary war so gebannt und konzentrierte sich auf das Spektakel, dass sie den Helikopter, der plötzlich im Steilflug hinter ihnen auftauchte, nicht hörte. Als er sich direkt über ihnen befand, zuckte sie vor Schreck zusammen und duckte sich instinktiv, machte einen Schritt nach links und rutschte von der Felskante ab. Mit einer schnellen Drehung wollte sie sich im Fallen noch am Felsen festhalten, doch da sie noch sehr schlecht sehen konnte, und nichts erkannte, verfehlte Mary den Vorsprung und fiel so unglücklich, dass sie sich an einer Felskante, die sich wie ein Messer anfühlte, die linke Seite an ihrem Bauch aufschlitzte. Sie wollte schreien vor Schmerz, aber ihr Körper war schon im Meer verschwunden.

Sie sah nur noch Wasser um sich, als zwei Hände unter ihren Armen auftauchten und sie kraftvoll nach oben zogen. Mary klammerte sich an Be, der sie sicher an Land brachte. Mit Hilfe von Be, der sie von hinten immer wieder anschob, versuchte sie, die Felsen hoch zu klettern. Endlich oben, sackte Mary, nach Luft schnappend und stark hustend, um das Wasser aus den Lungen zu bekommen, erst einmal auf ihre Knie. Dabei brannte ihre Wunde am Bauch so sehr, dass sie sich vor Schmerzen krümmte. Be kniete sich neben sie.

„Hey, ist alles okay? Kann ich dir helfen?“

Mary nahm die blutverschmierte Hand von ihrem schmerzenden Bauch und streckte sie Be entgegen, um diesen zu beruhigen.

„Ist alles okay“ sagte sie hustend.

Be nahm ihre Hand. „Okay nennst du das? Bist du verletzt?“

„Nein, geht schon“, lenkte sie ab, da sie ihn nicht beunruhigen wollte – oder sich! „Was ist mit deinem Kopf, hast du Kopfschmerzen oder ist dir übel?“

„Nein. Bis auf die Wunde und ein paar Schrammen bin ich okay“.

„Wirklich?“ fragte Mary.

Sie machte sich große Sorgen und wollte ihn nicht verlieren. Be nahm nun ihre Hände in die seinen und sah zum ersten Mal die Risse und Kratzer, die sie sich von der Planke und beim Sturz vom Felsen zugezogen hatte.

„Was ist mit deinen Händen? Sehen echt scheiße aus“.

Mary musste lachen. „Sie tun auch echt scheiß weh. Hättest du nicht so viel gegessen, wärest du auch leichter zu transportieren gewesen“.

„Vielen Dank, dass du mich da rausgeholt hast“.

„Das war reiner Eigennutz, wenn ich großen Hunger bekomme, kann ich dich ja essen“.

Beide lachten nun, allerdings mit ziemlich verzerrten Gesichtern. Be entfernte Mary ein paar Holzsplitter aus der Hand und band ihren Seidenschal darüber, den sie sich als Gürtel um die Hüfte gelegt hatte. Jetzt stand er auf um erst einmal die Gegend zu erforschen und heraus zu bekommen wo sie überhaupt gelandet waren. Sie schauten sich in die Augen und spürten dabei so ein unbeschreibliches Gefühl von Nähe und Wärme in sich aufkommen, das man nicht in Worte fassen konnte.

„Mary, bist du wirklich nicht verletzt?“

„Vielleicht ein bisschen.“ Be reichte es jetzt. Er drehte sie sanft zur Seite. Mary lag nun gekrümmt und hustend auf dem Rücken, holte tief Luft, um ihren Körper zu entspannen und hielt sich dabei den schmerzenden Bauch. Er nahm sachte ihre Hand zur Seite, damit er etwas erkennen konnte, schob das T-Shirt nach oben und den Bund ihrer Hose nach unten. Da erkannte er den langen, blutenden Schnitt, der von der Taille bis fast zum Bauchnabel verlief.

„Ist mein Blinddarm noch da oder ist er schon rausgefallen?“

„Blinddarm noch da, alles andere weg.“ Be schaute Mary sehr besorgt an, die ihn schief angrinste, um die Situation aufzulockern.

„Na dann brauche ich wenigstens keine Fettabsaugung“.

„Nein die brauchst du nicht. Aber ich weiß nicht, was ich auf die Wunde machen soll.“

Mary überlegt nicht lange und fing an, ihre Bluse aufzuknöpfen. Be fragte mit einem etwas verdutzten Blick „Hey Schatz, du willst doch jetzt nicht wirklich Sex mit mir?“

„Klar, doch, hilf mir bitte.“ Mary streifte ihre Bluse ab, nahm die Träger ihres Tops über die Schultern und rollte das Ganze nach unten um ihren Bauch. Be begriff sofort, was sie vorhatte und schob behutsam das Top wie einen Schlauchverband über die Wunde.

„Danke, jetzt kannst du mir hochhelfen“.

Er hievte Mary langsam auf die Beine. Erleichtert schaute sie ihm tief in die Augen, nahm seinen Kopf in ihre Hände und küsste ihn zärtlich auf die Lippen.

Be traf es wie einen Stromschlag. Sein Herz fing an zu rasen, er bebte am ganzen Körper und konnte seinen Blick nicht von Mary lösen.

„Danke“ hauchte sie in sein Ohr und hätte ihn in diesem Augenblick verschlingen können, traute sich aber nicht. Sie schaute ihn an und sagte grinsend:

„Liebling, Sex können wir dann später haben, wenn wir wieder zuhause sind.“

Er lachte und nahm sie in den Arm. „Hey, pass bitte in Zukunft besser auf. Ich möchte dich nicht verlieren! ... Und das mit dem Sex. Könnten wir darüber noch mal diskutieren?“

Mary boxte ihn lachend in die Seite. „Mal sehen, wenn du dich anständig benimmst.“

Be merkte, wie er sich immer mehr zu ihr hingezogen fühlte. Er hob Marys Bluse vom Boden auf und half ihr sie anzuziehen. Eigentlich nur ungern, denn Mary war ja im Augenblick nur mit Hose und BH bekleidet, und was er da so sah, gefiel ihm ganz ausgezeichnet! Sie zog ihre Hose höher, sodass der Bund das Top hielt und nichts verrutschen konnte.

„Ich kenne mich hier etwas aus“ sagte Be und zeigte den Hügel hinauf. „Da müssen wir rauf. Schaffst du das? Wenn wir oben sind, können wir durch den Wald auf die andere Seite. Dort befindet sich eine Meerenge, über die eine Brücke gebaut wurde, für die Wanderer, die die Pässe besteigen wollen“.

„Ich glaube, ich schaffe das“.

„Versuche mir hinterher zu klettern. Dann müsste es einigermaßen klappen.“

Er ging voran und arbeitete sich vorsichtig Stück für Stück nach oben, hielt jedoch immer wieder kurz inne, um nachzusehen, wie Mary zurecht kam. Sie konnte ganz gut mit ihm Schritt halten. Doch ihr Klettermuster entsprach nicht ganz dem von Be, da sie ja doch ein ganzes Stück kleiner war. Die Spannweite ihrer Arme war etwas begrenzter als seine. Sie hielt kurz an und schaute zu ihm empor. Be bezwang gerade das letzte Stück, einen überstehenden Felsvorsprung und Mary erkannte sofort, dass sie das nicht schaffen würde. Dazu fehlte ihr doch die Reichweite und ihre Hände waren auch zu klein. Von den Verletzungen und großen Schmerzen mal ganz abgesehen. Als er oben angelangt war und über die Kante nach unten schaute, lachte Mary ihn an.

„Ha, ha, sehe ich vielleicht so aus als hätte ich Affenarme? Das schaffe ich nie. Du bist vielleicht ein Scherzkeks“.

„Oh ja, der Stand mit den Keksen ist hier oben. Du musst nur herkommen, dann bekommst du vielleicht auch einen ab.“

Mary kletterte ein kleines Stück weiter, musste aber erneut deprimiert feststellen, dass dies für sie nicht zu schaffen war.

„Das geht nicht, ich brauche ein Seil oder so was.“

Be überlegte kurz. „Wie wär‘s mit einem Gürtel?“

„Das könnte gehen.“

Er zog seinen Gürtel aus und führte das Ende durch den Verschluss, sodass eine Schlinge entstand, legte sich an die Kante des Felsens und hielt ihr die Gürtelschlinge entgegen.

„Halte deine Hand nach oben. Ich fange sie ein.“

Mary streckte ihre Hand so weit wie möglich nach oben dem Gürtel entgegen. Be brauchte mehrere Versuche bis sich die Schlinge endlich um ihr Handgelenk legte und er vorsichtig zuziehen konnte.

„Und jetzt?“ fragte Mary.

‚Typisch Frau‘ dachte er, aber hütete sich, dies laut zu sagen.

„Jetzt lässt du kurz den Fels los, ich ziehe dich ein kleines Stück nach oben und du hältst dich dann wieder fest. So müsste es funktionieren“.

‚Oh Mann oh Mann‘ dachte sich Mary. „Möchtest du mich loswerden?“

„Nein, im Gegenteil. Ich brauche doch jemanden, den ich mit solchen Sachen ärgern kann. Ich habe noch dutzende komischer Einfälle. Die muss ich noch alle an dir testen.“

„Okay, wer zählt auf drei?“

„Du, dann weiß ich, wann ich ziehen muss.“

„Lass mich bloß nicht abstürzen“. Mary war es ganz schlecht. So eine scheiß Idee. Aber ihr blieb ja nichts anderes übrig.

Eins... zwei... drei...

Mary sprang von ihrem sicheren Halt ab, versuchte während Be sie nach oben zog etwas zu greifen, fand aber so schnell nichts und hing nun an ihrem Arm in der Luft. Be zog Mary noch ein weiteres Stück zu sich heran, bis er ihren Arm zu packen bekam und sie mit solch einer Kraft über die Kante zog, dass sie mit einem Schwung mitten auf ihm landete.

„Ups, wenigstens bin ich weich gelandet“.

Mary lag auf ihm und lachte ihn erleichtert an.

„Was ist Herkules, sollen wir jetzt noch mal die Sexfrage stellen?“

„Aber gerne, du weißt, Männer sind allzeit bereit.“

Mary lachte und fing an ihn zu kitzeln.

„Hey stopp. Hörst du das?“

„Was?“

Es hörte sich wie ein Brummen oder Grollen an. Be setzte sich auf und Mary rutschte unsanft auf seinen Schoß. Sie schauten sich um. Sie hielt sich an Be’s Schulter fest, als der mit dem Finger in die andere Richtung zeigte.

„Dort, was ist das?“

Eine dunkle, dicke Wolke näherte sich ihnen in rasender Geschwindigkeit. Mary hielt sich immer fester an ihm fest.

„Au Backe, es geht wieder los“.

Aus der schwarzen Wolke entstand ein Trichter, der sich seinen Weg zum Boden bahnte. Beide sprangen auf und suchten irgendwo ein Versteck, in das sie sich verkriechen könnten. Sie rannten verzweifelt über das ganze Plateau. Der Wind wurde immer stärker als Be etwas seitlich eine kleine Höhle entdeckte, die über einen Pfad zu erreichen war. Da der Sturm mittlerweile so laut war, dass Mary ihn nicht hören konnte, rannte er zu ihr hinüber, nahm sie an der Hand und zerrte sie auf den Pfad. Sie hielten sich die Hände vor Augen, da eine Menge kleiner Steine und Sand aufgewirbelt wurde. Mary ging blindlings ganz dicht hinter Be her. Sicher erreichten sie die Höhle, in die sie sich nun hineinzwängen mussten.

Der Wirbelsturm hatte sie nun schon zum zweiten Mal heute mit voller Wucht erreicht. Steine, Äste, Erde, alles was die Natur so bot, prasselte auf sie nieder. Wieder mal lagen sie in einem Verschlag in der hintersten Ecke und bangten um ihr Leben. Wie mit tausenden von Nadeln hämmerte die Natur auf die beiden ein. Sie hielten sich fest umschlungen und Be konnte gerade noch rechtzeitig seine Hand an einer Wurzel festbinden, bevor der Sturm sie geradewegs heraussaugen wollte. Mary klammerte sich mit aller Kraft an ihm fest, der sich krampfhaft an der Wurzel festhielt. Es zerriss ihm fast den Arm, aber er wollte nicht aufgeben. Es kam den beiden wie eine Ewigkeit vor, als der Twister langsam von ihnen abließ.

Hustend und nach Luft ringend, glitten sie auf den Boden der Höhle und bleiben erstmal erschöpft liegen. Nach ein paar Minuten wischte sich Mary Sand und Dreck von den Augen und befreite Be aus der Wurzel. Seine Hand beziehungsweise sein ganzer Unterarm sah schrecklich aus. Sie eilten den kleinen Pfad hinauf auf das Plateau und Mary schaute sich dort seinen Arm genauer an. Die Wurzel hatte sich bis tief ins Fleisch eingeschnitten, gespickt von kleinen Steinen und Sand.

„Das müssen wir irgendwie säubern, nur ich habe kein Wasser.“

„Das geht schon.“

„Nein, tut es nicht“. Mary griff an ihre Bluse, die immer noch nass war. Von außen war sie zwar ziemlich schmutzig, aber innen noch einigermaßen sauber. Erneut zog Mary die Bluse aus und legte sie sorgfältig mit der Innenseite auf Be’s Arm. Vorsichtig tupfte sie den Dreck ab bis fast alles sauber war. Sie zerriss den Ärmel der Bluse und band ihn um sein Handgelenk, das am meisten abbekommen hatte.

„Tut es sehr weh? Kannst du ihn bewegen? Geht das?“

„Ja, es geht. Er ist nicht gebrochen.“

„Danke dass du mich gehalten hast“.

„Hey, so eine Nervensäge wie dich kann man doch nicht so einfach frei herumlaufen lassen. Und überhaupt, seit ich dich kenne und mit dir unterwegs bin, stürzen wir von Katastrophe zu Katastrophe. Du musst das wirklich magisch anziehen. Gib ruhig zu, du brauchst neuen Stoff für deine Romane, weil dir nichts mehr einfällt. Und ich kam gerade recht und darf jetzt Versuchskaninchen spielen.“

„Gut erkannt. Einer ist immer der Dumme, und du hast eben diesmal das Glückslos gezogen.“

„Jaja, Dr. Frankenstein. Hast wieder mal einen gefunden.“

„Hey, jetzt jammere hier bloß nicht rum. Narben sehen bei Männern mindestens genauso sexy aus wie Tatoos. Ich verschaffe dir gerade mords viele Pluspunkte bei den Mädels. Außerdem biete ich dir viel Antrieb für dein neues Album, das du jetzt endlich in Angriff nehmen kannst. Die Songs werden wohl ziemlich explosiv, das kannst du mir ruhig glauben, so was habe ich im Gefühl. Also hör auf, dich dauernd zu beschweren. Von Langeweile ist hier nämlich keine Spur.“

„Oh nein, ganz und gar nicht. Können wir eine kleine Pause einlegen?“

„Mal sehen. Für deine exorbitante Schönheit habe ich schon gesorgt, übrigens ohne OP und ohne dass es dich einen Cent gekostet hat. Da können wir einen Haken dahinter machen. Genug Auslauf für deinen Fitness-Faktor hattest du heute auch schon. Also gut, Pause sei genehmigt.“

„Du bist so gut zu mir!“

Mary lachte. „Ja das bin ich, immer auf dein Wohl bedacht. Ich hoffe, ich habe deine Erwartungen erfüllt.“

„Ja das hast du. Du hast sie sogar weit übertroffen.“

„Na dann bin ich ja beruhigt. Ich habe mir schon Sorgen gemacht, wie ich einen so berühmten Rockstar beeindrucken könnte. Hey, da fällt mir gerade etwas ein.“

„Sag es bloß nicht. Sonst landen wir wieder in irgendeinem Unwetter oder der Himmel fällt uns auf den Kopf.“

„Jetzt übertreibst du aber. Mir kam da nur so eine Idee. Angenommen, du könntest nicht mehr singen, was wir natürlich alle nicht hoffen, könntest du bei einem Actionmovie mitmachen. Übung genug hast du ja jetzt.“

„Bin begeistert. Wie auffallend rührend du dich um deine Mitmenschen kümmerst.“

„Ja so bin ich eben. Klein aber klug und fürsorglich. Weißt du, was uns noch fehlt? So ein richtig toller Vulkanausbruch. Ansonsten wären wir mit den Naturkatastrophen fast durch. Ach nein, ein Erdbeben hatten wir noch nicht. Das habe ich ja ganz vergessen.“

„Denke bloß nicht daran. Sonst geht es hier gleich los mit Erde hin und her rütteln und so ein Quatsch. Deine Vorstellungskraft kann einem ja die glatte Angst einjagen.“

„Kommt darauf an. Ich könnte mir ja auch etwas Schönes vorstellen.“

Mary schmunzelte genüsslich vor sich hin.

„Kannst du das überhaupt?“

„Na klar, bis in die kleinsten Details. Wenn du bereit bist, kannst du mir ja ein Zeichen geben.“ Sie grinste ihn verwegen an. „Jetzt gib doch ehrlich zu. Solche Adrenalinstöße hattest du bei einer Frau noch nie.“

„Nein, kann man nicht sagen.“

„Also Sweetheart, lass uns doch gleich weitermachen, damit dein Blutdruck ordentlich am dampfen bleibt.“

„Jaja, ich hab dich auch lieb.“

„Na geht doch, jetzt bin ich zufrieden. Welcome to my life - Hast du nicht in einem deiner Lieder gesungen, es ist nicht leicht? Aber deine Träume sind die Einzigen, die dich verstehen! Karma, du hast mich automatisch angezogen, ich kann gar nichts dafür.“

„Ah ... so habe ich das noch nicht betrachtet. Geschieht jetzt all das, was ich je gesungen habe?“

„Vielleicht, weiß ich nicht. Sag du‘s mir.“

„Mann wir sind hier doch nicht in Hollywood oder in einem deiner Bücher, die da noch kommen sollen.“

„Vielleicht bin ich ja eine Voodoo-Hexe und du weißt es gar nicht.“

„Nein, an so ein Zeugs glaube ich nicht.“

„Na dann ist ja alles bestens.“

Er blickte Mary immer intensiver an. Meinte sie das ernst oder nicht? Mann, diese Frau ist wirklich unergründlich. Doch gerade das zog Be immer mehr in ihren Bann. Sie hatte etwas an sich, das ihn nicht mehr los ließ. Waren es ihre Augen, ihr Lachen, das Spontane oder ihre ganze Art und ihre Bewegungen, wenn sie sich mit ihm unterhielt? Sie hatte ein regelrechtes Energiefeld um sich, dem man sich nur schwer entziehen konnte. Oder war es einfach ihr aus dem Inneren kommendes freudiges Strahlen? Ist auch egal, verschickt war sie ja sowieso. Be musste bei diesem Gedanken schmunzeln.

‚Crazy, einfach crazy dieses Weib‘ dachte er sich.

„Weißt du was?“ sagte Mary.

„Nein, sag jetzt bitte nichts, ich beruhige mich gerade etwas und hatte einen überaus charmanten Gedanken.“

„Okay, bin ja schon ruhig. Ich akzeptiere deine positiven Gedanken. Die bringen uns ja hoffentlich hier raus.“

„Bestimmt.“

„Also gut. Ich vertraue dir vollkommen.“ Sie strahlte Be an, als ob die ganze Welt jetzt wieder in Ordnung wäre. Er war etwas verwirrt ob ihrer Gabe, von einer Sekunde zur anderen umschalten zu können. Wie wenn sie einen Hebel umlegen würde. Faszinierend. Er ließ sich von dieser mentalen Kraft anstecken und war plötzlich wie aufgeladen.

Vergleichbar ist dies mit dem Aufladen einer Autobatterie. Die Volle füllt die Leere auf, aber immer nur soviel, dass noch beide gut funktionieren und keine mehr ausfällt. Dies klappte bei den beiden aufs Hervorragendste.

„Lass mich mal deine Kopfwunde ansehen. Ich glaube, sie hat aufgehört zu bluten. Sieht ganz gut aus.“

„Ha“ sagte Be.

Mary tastete vorsichtig seinen Kopf ab. „Weißt du eigentlich, dass ich Reiki kann? Ich habe magische Hände.“

„Dein Wort in Gottes Gehörgang. Aber ich glaube dir, Hautsache ich habe meine Ruhe.“

„Du kannst so witzig sein. Und du musst nicht immer zusammenzucken, wenn ich dich berühre. Entspanne dich.“

„Dein Energiefeld ist zu stark für mich niedrige Kreatur, deshalb fange ich an zu zucken. Jedes Mal bekomme ich einen Stromschlag. Physikalisch korrekt nennt man dies Überspannung.“

„Ach so, ja..., Physik, da hatte ich immer eine fünf. Da kann ich nicht mitreden.“

„Das wundert mich jetzt überhaupt nicht.“

Beide fingen an zu lachen. Mary hob sich ihren Bauch, da die Wunde vor lauter Lachen wieder sehr schmerzte. Ihr Top war vom Blut schon völlig durchweicht, das jetzt auch schon durch die Hose drang. Sie lag auf dem Rücken und presste ihre Hand auf den Blutfleck, damit Be ihn nicht sah. Aber Be, der es sich neben ihr auf dem Boden bequem gemacht hatte, bemerkte es sofort.

„Hey Sonnenschein, lass mich das mal anschauen.“

„Nein, lieber nicht.“

„Ach, du darfst an mir herumdoktern und ich nicht an dir. Das ist ziemlich unfair. Lass mir doch auch meinen Spaß.“

„Nein, nein du darfst keinen Spaß haben.“ Mary wandte sich von ihm ab. Sie hatte mächtig viel Schiss. Er drehte sie wieder zu sich und nahm ihre Hände von der Wunde. Mary zitterte innerlich, weil sie im Verdrängen von unangenehmen Sachen besser war, als der Wahrheit direkt ins Gesicht zu sehen.

„Sei jetzt nicht so ängstlich, verflucht noch mal.“

„Bin ich gar nicht.“

„Dann lass mich das jetzt anschauen.“

„Also gut, wenn du unbedingt willst.“

„Und zick jetzt hier nicht so rum!“ Er öffnete ihre Hose, um alles besser zu sehen und schob Marys Top ein klein wenig nach unten.

„Es blutet immer noch sehr stark. Wir müssen etwas auf die Wunde machen, damit sie sich schließen kann. Wie wär’s mit Maden? Nehmen das nicht die Urwaldbewohner zum desinfizieren?“

„Keine schlechte Idee. Auch wenn sie von dir ist.“

Be ließ seinen Blick schweifen, irgendetwas gab es hier, das ihnen helfen konnte, er wusste nur noch nicht genau was.

„Hältst du es einen Augenblick alleine aus?“ fragte er, „ich schaue mich hier mal um.“

„Habe ich eine Wahl?“

„Finger aber nicht an deiner Wunde rum, bleib einfach still liegen und tue nichts! Bin gleich wieder da.“

„Toll, ich wollte schon immer halbnackt alleine auf einem einsamen Berggipfel rumliegen.“

„So ein Glück, dann genieße es jetzt.“ Be lief vom Plateau in Richtung der Hängebrücke, die vor einigen Jahren extra für Wanderer und Touristen gebaut wurde.

„Es muss doch verdammt noch mal irgendetwas geben das uns helfen kann“ sagte Be zu sich selbst. Er fand eine Holzbank, die wohl zum Betrachten der wunderschönen Aussicht ins Tal hier angebracht worden war. Daneben stand ein Metallmülleimer, der in den Boden zementiert war, in dem aber nichts Brauchbares zu finden war. Dann entdeckte er hinter der Bank eine wahrscheinlich von einem Wanderer liegen gelassene Tasche. Wie gut, dass Menschen doch manchmal vergesslich sind! Er schnappte sie und lief schnell zu Mary zurück.

„Hallo, hab eine Tasche gefunden. Mal sehen, ob wir was Nützliches finden.“

„Falls nichts Brauchbares drin ist, kann ich wenigstens in die Tasche bluten, ist dann wie ein Eimer.“ Mary lächelte gequält.

„Meine Güte, wie habe ich deine Scherze in den letzten Minuten vermisst.“

„Siehst du?“

Be stülpte die Tasche um, leerte alles auf eine einigermaßen saubere Stelle am Boden und breitete die Sachen aus.

„Oh gut“ sagte Mary.

„Was meinst du?“

„Die gehört einer Frau. Da sind Binden und Tampons, was für ein Glück.“

Be konnte noch nicht ganz nachvollziehen, wie Mary das mit dem Glück meinte. Es gab weder etwas zu essen noch zu trinken in der verdammten Tasche. Von wegen Wanderer hätten immer Proviant dabei. Mary nahm eine Binde, entfernte die Plastikhülle und steckte sie Be in die Hand.

„Und jetzt?“ fragte Be und schaute fragend auf das komische Ding in seiner Hand.

„Jetzt legst du die Binde mit der Mullseite auf die Wunde, so dass die Klebeseite oben ist. Dann kleben wir eine zweite obendrauf, damit das ganze Halt bekommt.

„Aha....Mullseite.“ Aber für einen Mann stellte er sich dann doch nicht so blöde an, wie man es erwartet hätte im direkten Zweikampf mit einer Damenbinde. Er machte das sehr professionell bis alles versorgt war.

„Ich glaube, das hält einigermaßen.“

„Gut, ich bin sehr zufrieden mit dir, Doc Hollywood. Die Tampons heben wir besser auf, falls du Nasenbluten bekommst, dann können wir sie dir in die Nase stecken.“ Mary lachte erleichtert.

„Hey, sie kennen meinen Namen“, sagte Be scherzend.

„Ja, aus You Tube, da sind sie ja bekanntermaßen eine gefragte Koryphäe“.

„Was man im Internet nicht alles über einen erfahren kann? So, wo darf ich sie denn noch verarzten?“

„Am Herzen“, sagte Mary.

„Da kann ich leider nicht mit dienen. Das übersteigt bei weitem meine Kompetenzen“.

„Schade, Herr Doktor. Dann kann ich meine Hose jetzt ja wieder zumachen“.

„Selbstverständlich, gnädige Dame, das obliegt ganz ihnen.“ Mary schob ihr zusammengerolltes Top um hundertachtzig Grad herum, sodass die durchgeblutete Seite nun hinten war und legte den trockenen Teil über die Bindenkonstruktion, damit der Hosenbund nichts wegscheuerte. Sie knöpfte ihre Hose zu und rückte alles noch mal zurecht.

„So, fertig. Bin wieder wie neu und für alle Schandtaten bereit, die du für mich bereit hältst. Aber zuerst lass uns deinen Arm auch mit den Binden versorgen, das sieht richtig schick aus. Dann wissen alle sofort, dass wir beiden Durchgeknallten zusammen gehören. Vielleicht bekommen wir sogar in der Klapse eine Zelle zusammen.“

Mary streifte den provisorisch angelegten Verband aus ihrem Blusenärmel von Be’s Handgelenk und schichtete mehrere Binden auf die Wunde. Danach band sie den Ärmel wieder darüber, dass alles fixiert war.

„So Liebling, jetzt können wir essen gehen, wir sehen wieder gesellschaftsfähig aus. Hast du schon im Ivys reserviert?“

„Nein, konnte ich nicht, mein Handy hat den Geist aufgegeben“.

„Aber Schatz, das kannst du mir nicht antun. So lange arbeiten wir schon darauf hin“.

„Ja, tut mir auch wahnsinnig Leid.“

„Tut dir Leid. Das sagst du immer!“

Sie lachten sich an. Immerhin war ihnen der Humor nicht abhanden gekommen.

Mittlerweile hatte sich das Wetter beruhigt und das Sturmtief war weitergezogen. Sie standen auf und gingen zur Hängebrücke, die die einzige Verbindung zur Außenwelt darstellte. Vor der Brücke blieben sie stehen und sahen noch mal in den Himmel.

„Siehst du was?“ fragte Mary angespannt.

„Nein, nichts schlimmes. Wir können rübergehen. Es kommt kein weiterer Sturm.“

„Das will ich auch hoffen, so eine Hängepartie im Sturm muss ich heute nicht auch noch haben.“

„Nein, diesen Hochseil-Akt brauche ich auch nicht.“

„Na dann sind wir uns ja einig. Wie immer Doc Hollywood.“

„Jub.“

Mary und Be bewegten sich mit sehr gemischten Gefühlen, aber recht schnell über die Hängebrücke.

„Habe ich dir schon einmal erzählt, dass ich in San Franzisco mitten in einem Erdbeben war?“ plapperte Mary drauflos.

„Nein, muss ich mir das jetzt anhören?“ stöhnte er gequält.

Ohne darauf überhaupt nur ansatzweise zu reagieren, quatschte Mary ohne Pause weiter.

„Dort habe ich wirklich gebetet, dass doch bitte die Golden Gate Bridge nicht in dem Augenblick über mir zusammenbricht, in dem ich drüberfahre.“

„Wie schön für dich.“

„Ja, ich bin ein Glückskind, das ich das hier und jetzt mit dir erleben darf.“

„Ja, du erkennst hoffentlich mein freudestrahlendes Gesicht. Ich stehe zutiefst in deiner Schuld, dass ich dein Auserwählter sein darf. Hättest du dir kein anderes Opfer suchen können?“

„Nö, die haben mir alle nicht so gefallen wie du. Dein Pech auch, dass ich genau auf deinen Typ stehe.“

„Ich glaube, ich färbe jetzt meine Haare rot und lasse mir einen Bart stehen. Nimmst du dann vielleicht einen anderen?“

„Nein, aus Prinzip nicht. Du weißt doch, Peace and Love and Rock ist mein Motto!“

„Aha, das mit dem Peace musst du mir noch erklären, hab ich noch nichts davon gemerkt“.

„Sei nicht so ungeduldig, das kommt schon noch.“

„Ach so, das kommt noch, na da bin ich mal gespannt! Sicherlich meinst du R.I.P., Rest in Peace, dann habe ich es auch kapiert.“

„So isses, bist halt doch mein Käpsele.“

Auf der anderen Seite der Hängebrücke angekommen, standen sie vor einem riesigen Waldstück.

„Ich finde, bevor wir uns auf den Weg in den tiefen Wald machen, könntest du mir noch ein paar Pfannkuchen braten, da hätte ich jetzt Lust drauf.“ säuselte Mary.

„Nö, aber du könntest einen Elch schießen, dass ich ein schönes Stück Fleisch bekomme. Habe Hunger wie ein Bär.“

„Ja wie jetzt, Elch ... Bär, du verwirrst mich total.“

„Hör jetzt sofort auf oder ich erschlage dich.“

„Dann hast du keinen mehr, der den Elch ausnimmt.“

„Mann oh Mann, wieso nur ausgerechnet ich?“

„Jetzt aber mal Spaß beiseite. In welche Richtung müssen wir denn? Du bist hier der Naturbursche von uns beiden und außerdem bist du hier aufgewachsen, also mach mal los jetzt!“

Be war so langsam etwas entnervt. „Das stimmt leider. Der Weg wird ein sehr, sehr langer sein, wenn wir keine Straße finden.“

„Du Be, gibt es hier eigentlich Bären?“ fragte Mary mit einem leicht ängstlichen Unterton in ihrer Stimme.

„Darauf werde ich dir jetzt lieber nicht antworten, das ist besser für dein Gemüt. Außerdem hörst du sonst gar nicht mehr auf zu reden. Denn, wann immer du nervös wirst, schnatterst du los wie eine alte Ente.“

„Dann sag mir doch einfach was liebenswertes, das mich wieder beruhigt.“

„So ein Mist, da fällt mir gerade absolut nichts Passendes ein.“

„Oh Mann, du brauchst doch nicht immer so furchtbar ehrlich zu sein.“

„Was ist denn nun schon wieder? Ich denke Frauen wollen, dass Männer ehrlich zu ihnen sind.“

„Es gibt Situationen, da machen sogar wir Frauen eine Ausnahme. Aber dies herauszufinden, würde natürlich ein gewisses Quäntchen an Feinfühligkeit voraussetzen.“

Ein sehr intelligent klingendes „Aah“ entfleuchte daraufhin Be‘s Lippen.

„Okay, gehen wir jetzt nach links oder rechts?“ fragte Mary und riss ihn aus seiner Lethargie.

„Wie, was, ich weiß nicht.“

„Ich würde sagen, der linke Weg geht abwärts zum Anleger und zur Fähre, dann müsste der rechte Weg wohin gehen?“

„Meine Güte, Frauenlogik, wenn wir die nicht hätten.“

„Jaja, ich weiß, der rechte Weg führt dann aufwärts in die Richtung, aus der wir mit dem Auto gekommen sind. Oder?“

„Wenn du meinst. Du hast Recht und ich meine Ruhe.“

„Kannst du mir mal sagen, warum ihr Männer immer so genervt reagiert, wenn ihr selbst nicht wisst, wo’s lang geht?“

„Wir wissen immer, wo’s lang geht. Und falls wir es mal nicht wissen sollten, wissens wir trotzdem! Außerdem ist das für uns harte Jungs überhaupt nicht schlimm. Bahnen wir uns einfach einen Weg durch die Mitte.“ Be machte eine kleine Pause und dachte kurz nach, „wir gehen nach links, da kommen wir hoffentlich zur Fähre, wo auch Menschen sind, vor allem ist das Richtung Heimat.“

„Vielleicht haben wir später auch Glück, und das Wasser ist aus deinem Handy, dass wir telefonieren können.“

„Ja, sobald wir wieder Empfang haben, versuche ich es. Aber hier oben ist es witzlos, da bräuchte ich schon ein Satellitentelefon.“

Mary und Be schlugen nun den abwärts führenden, linken Weg ein, voller Hoffnung bald auf Menschen zu stoßen.

Unterdessen machten sich Be’s Freunde und Bandmitglieder große Sorgen um ihn. Sie hatten erfahren, dass er mit Mary zusammen auf die Fähre gegangen war. Ob die beiden jedoch das Unglück überlebt hatten, wussten sie nicht. Das Chaos war riesengroß. Die Hilfsteams protokollierten sorgfältig die Namen aller Überlebenden und auch, soweit möglich, die der vielen Toten, die bis jetzt aus den kalten Fluten gefischt worden waren. Die ersten Namenslisten wurden schon an dem schnell eingerichteten Informationsstand ausgehängt.

Mary und Be waren darauf nicht zu finden.

Alle großen Fernsehsender waren mit ihren Ü-Wagen schon vor Ort und schickten pausenlos ihre Berichte über das Unglück zu ihren Sendezentralen. Auf sämtlichen Social Network Seiten veröffentlichten die Mitglieder im Internet die ersten Handyaufnahmen, sodass die Angehörigen der Opfer vielleicht ihre Familienmitglieder entdecken konnten, und doch noch ein, wenn auch kleiner Hoffnungsschimmer aufkam.

Auch Be’s Freunde durchforsteten diese Aufnahmen, um ein Lebenszeichen der beiden zu finden. Sehr lange waren sie erfolglos, und erst als die Aufnahmen der Helikopter im Netz veröffentlicht wurden, entdeckten sie die beiden, die auf der Landzunge standen, bevor Mary vor Schreck ins Wasser stürzte. Nun wussten sie, dass beide zumindest zu diesem Zeitpunkt noch am Leben waren, und sie konnten sich denken, in welche Richtung sie aufbrechen würden. Immer wieder versuchten sie Be über das Handy zu erreichen (welches aber leider nass war). Irgendwann beschlossen sie, ihn und Mary auf eigene Faust mit dem Auto zu suchen. Einen Versuch war es wenigstens Wert.

Mary und Be waren jetzt schon eine Weile unterwegs, immer noch in der Hoffnung, bald auf eine Straße zu treffen, die sie in das Dorf führen würde. ‚Die Hoffnung stirbt zuletzt‘ sagten sie sich immer wieder. Ohne sie können wir nicht überleben. Menschen, die keine Hoffnung in sich tragen, sind verlorene Menschen. Das war Marys Credo. Und sie hatten eine ganze Menge Hoffnung. Außerdem hatten sie ja sich. Sie waren in der Lage, sich immer gegenseitig aufzupäppeln, wenn der andere nicht mehr weiter konnte.

Ach, wisst ihr übrigens was Vampirismus ist? Da passiert das krasse Gegenteil. Beim Vampirismus wird man ausgesaugt, bis eure Energie vollkommen aufgebraucht ist, und sich der imaginäre Akku auf absolutem Tiefstand befindet. Dies nur so am Rande.

Sie mussten verteufelt aufpassen, damit ihnen nichts geschah, obwohl der Weg sich ihnen soweit ganz passabel darbot und mit nahezu gleichmäßigem Gefälle nach unten führte. Hier und da lagen vereinzelt ziemlich spitze Geröllsplitter herum, diese umgingen sie aber wie zwei, man könnte, wenn man es nicht besser wüsste, fast sagen, geübte Kletterer.

„Schau, da vorne ist ein kleiner Bachlauf“ sagte Be erleichtert.

„Lass uns hier kurz pausieren und etwas trinken. Soll ich dir eigentlich ein paar Spinnen zum Dinner fangen, Darling?“

„Wenn das hier so weitergeht, bestimmt. Ich habe richtigen Hunger. War in der Tasche wirklich nichts zu essen?“

„Nein, weder Essen noch etwas Trinkbares. Ganz zu schweigen von anderen Nützlichen Sachen, die wir hätten gebrauchen können.“

„Okay, dann trinken wir eben soviel Wasser, bis wir meinen uns platzt gleich der Bauch. Dann sind wir fürs erste satt. Man muss das positiv sehen, wir können später alles nachholen.“

„Wie schön du das immer umschreiben kannst.“ entgegnete Be mit einem süffisanten Grinsen im Gesicht.

„Ich bin nicht umsonst eine berühmte Schriftstellerin.“

„Wo du Recht hast, hast du Recht, allerdings...“ er machte eine kleine Pause „...berühmt?“

„Ach Schatz, wenn du nicht so unverschämt wärst, wäre es richtig schön, sich mit dir zu unterhalten. Hast du dir schon mal Gedanken über einen Berufswechsel in die Unterhaltungsbranche gemacht?“

„Nein, sollte ich?“

„Du hättest großes Potential, zwar nur als Hilfssprücheklopfer (was für ein Wort), aber immerhin.“

„Na gut, kann es ja mal im Auge behalten, falls mir sonst nichts mehr einfällt.“

„Ach das glaube ich jetzt nun auch wieder nicht.“ Be musste über ihren Kommentar leicht schmunzeln und sah sie lächelnd an.

Da war er wieder – dieser Augenblick! Sie unterhielten sich, als ob sie sich schon Jahrzehnte kennen würden. Er fühlte sich sehr wohl in Marys Gegenwart. Irgendwie unbekümmert und locker, immerhin war er ja ihr Romanheld, also musste sie ja eine gewisse Vorstellung von ihm haben. Ob diese nun stimmte oder nicht. Be dachte bei sich, sie könnte mit jeder Situation fertig werden. Sie würde ihn so nehmen, wie er ist, sie kannte in ja sozusagen. Auf jeden Fall war er trotz der augenblicklich prekären Lage auf eine ganz undefinierbare Weise sehr entspannt.

Wenn da tief in seinem Inneren sich nicht noch dieses andere Gefühl andauernd vordrängen würde! Ständig machte er sich Sorgen um Mary, wollte sie beschützen und berühren und in ihrer Nähe sein. Ganz nahe!

„Hallo, Erde an Be.“ hörte er Mary rufen.

„Machst du gerade ein Entspannungsprogramm? Du siehst so beseelt aus.“

„Tatsächlich? Merkt man das?“

„Gib zu, das ist ganz alleine meine Gegenwart, die dich so beglückt.“

Be musste lachen. „Beglücken lasse ich mich gerne. Allerdings habe ich da eine etwas andere Vorstellungen davon.“

„Ach nee, das kann ich jetzt aber nicht glauben“, sagte Mary grinsend. „Ja so in freier Natur – das hat schon was. Hast du schon deine Erfahrungen in der Natur gesammelt?“

„Wo sind wir hier, in einer Quiz-Show?“ entgegnete er gespielt brüskiert.

„Nein, in freier Natur. Hier gibt es kein Fernsehen. Nur Live-Action.“

„Ich mache gleich Live-Action mit dir, wenn du nicht sofort Ruhe gibst.“

„Aber Herr Doktor, wegen der Ruhe bin ich nicht hier, sondern wegen des zwischenmenschlichen Austausches von Erfahrungen.“

„Wenn sie die seelische Variante meinen, muss ich sie leider enttäuschen, gnädige Frau Ich bin ausschließlich für den körperlichen Erfahrungsschatz zuständig. Zur Behebung psychischer Beschwerden müssen sie meinen Kollegen in der Anstalt um Rat fragen.“

„Nein danke, dann bleibe ich lieber bei ihnen. Da weiß ich, was mich erwartet. Nämlich nichts.“

„Wie meinst du das jetzt?“

„Soo wie ich das sage“ prustete Mary lachend heraus und fetzte Be immer wieder in die Rippen. Sie verstrickten sich in einen unerbittlichen Ringkampf, bei dem sie vor lauter Lachen fast keine Luft mehr bekamen. Als Mary nach einer Weile völlig erschöpft, Be war eben doch ein klein wenig stärker, unter ihm auf dem Boden lag, beugte er sich über sie und küsste sie zärtlich auf die Lippen. Langsam glitt er über die Wangen zum Hals und wieder zurück zu ihrem leicht geöffneten Mund. Er konnte nicht mehr von ihr ablassen. Die ganzen aufgestauten Anspannungen der letzten Stunden waren im Begriff sich aufzulösen. Mary erwiderte aufs heftigste seine Liebkosungen. Ihre Küsse wurden immer intensiver – sinnlich und leidenschaftlich. Die beiden steuerten auf eine im wahrsten Sinne des Wortes Explosion der Gefühle und der Leidenschaft zu. Sie vergaßen alles, was um sie herum geschah. Sie saugten sich auf, wollten bis auf das Innerste des anderen stoßen. Riechen, tasten, fühlen, Mary konnte gar nicht mehr aufhören, seinen Körper zu berühren. Am liebsten wäre sie ganz in ihm versunken, selbst beim Küssen war sie nicht mehr bereit Luft zu holen, um ja keine Sekunde zu verlieren, diesen Mann zu liebkosen. Trotz aller Leidenschaft gingen sie sehr sanft und vorsichtig mit sich um, da beide auf Grund der heutigen Geschehnisse körperlich ziemlich ramponiert waren. Doch ihre Einigkeit war unbeschreiblich. Zwei Menschen, die der Tod schon zweimal entkommen ließ, und die sich jetzt endlich gefunden hatten. Mit zärtlichen Blicken schauten sie sich an, ihnen war aber auch klar, dass sie die anbrechende Nacht so nicht weitermachen konnten. Außerdem waren sie nicht auf ein ausgiebiges Liebesspiel eingerichtet, und dafür war ihnen das Risiko auch zu groß. Beide waren sich in diesem Punkt ausnahmsweise einmal einig.

„Was meinst du, ist es noch weit bis ins Dorf?“ Mary lag in Be’s Armen und kuschelte sich an ihn.

„Kann ich nicht genau sagen. Wenn der Mond wenigstens scheinen würde und die Wolken verschwänden, hätten wir Licht und könnten weitergehen. Aber so stockfinster wie es hier ist, sollten wir lieber nach einem Unterschlupf suchen, der uns Schutz für die Nacht bietet. Nichts zu sehen kann hier böse enden.“

„Na gut, dann lass uns ein Plätzchen ausfindig machen, wo wir die Nacht verbringen können. Ich bin sowieso müde, auch wenn das jetzt nicht den Anschein hat.“

Mary raffte sich nur ungern auf und half Be liebevoll aufzustehen. Sie umarmte ihn noch mal, drückte ihn fest an sich und küsste ihn. Nachdem sie sich voneinander losreißen konnten, nahm er Mary an der Hand und sie folgten weiter dem Pfad. Ein recht großer Baum tauchte vor ihnen im Dunkel auf, der unten am Stamm eine leichte Öffnung in Form einer nach innen gebogenen Wölbung hatte. Für den Fall, dass es wieder zu regnen anfangen sollte, hatten sie hier wenigstens einen kleinen Schutz. Die Baumkrone sah sehr dicht aus, was darauf hoffen ließ, dass kein Regen durchkommen würde. Sie machten es sich in dem Hohlraum des Baumes so bequem als möglich, eng aneinander gekuschelt küssten sie sich noch ein paar Mal und schliefen dann völlig erschlagen von den Erlebnissen des Tages ein.

Hey liebe Leute, ich habe euch noch viel zu erzählen. Ich sehe Menschen auf der Straße, in Cafés. Sie grinsen mich an oder auch nicht. Ich könnte euch zu jedem eine Geschichte erzählen. Ist er ein Dealer, cool oder verzweifelt, jeder dieser Menschen spricht mich an. Ich fühle was sie denken. Ihre Körpersprache teilt mir dies mit. Ich muss der Welt erzählen, was sie zu sagen haben. Sonst habe ich umsonst gelebt. Vielleicht begegne ich auch dir eines Tages und irgendwann liest du deine Geschichte? Ich freue mich auf euch. Doch jetzt mache ich eine kurze Pause. Der Tag war lang und ich bin müde, obwohl wie schon gesagt, ich ewig weiterschreiben könnte. Doch der Körper verlangt nach seinem Recht. Keep cool, wir sehen uns morgen wieder. Love M.C.

Wolfsfelsen

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