Читать книгу Das Spiel - M.C. Cougar - Страница 5
Teil 1
ОглавлениеMary saß im Flieger von Helsinki-Vantaa auf dem Weg nach London und blickte träumerisch durch das Fenster auf den wie Watte aussehenden, wunderschön weißen Wolkenteppich. Ihre Gedanken waren immer noch bei Be, der in Kürze in Griechenland landen dürfte. Weiter entfernen kann man sich wirklich nicht!
Sie musste unwillkürlich grinsen, als sie an ihn und die Unterhaltungen mit diesem Verrückten dachte.
‚Schatz, ich gehe kurz mal Zigaretten holen.’
‚Okay, bring mir bitte gleich Feuer mit, am besten vom Vesuv, wenn du zufällig drüberfliegst.’
‚Wenn’s weiter nichts ist? Bis gleich.’
Sie vermisste ihn jetzt schon. Und das Schlimmste war, sie wusste genau, dass sie auf die täglichen Wortgefechte mit ihm in nächster Zeit wohl verzichten musste.
Sie landete pünktlich in Heathrow, wo Mary sich augenblicklich auf die Suche nach ihrem Gepäck begab. Sie wurde von den hektisch herumwuselnden Reisenden mitgerissen, die wie ein langer Bandwurm zielsicher auf den Baggage Claim zusteuerten.
Mary hasste solch unnützen Dinge wie warten oder suchen nach etwas, was einem ohnehin gehörte. Aber heute hatte sie ausnahmsweise einmal Glück, da ihre große Reisetasche als erste auf dem Band erschien und sie somit schnell aus dem Gebäude kam und in eines der im Dutzend herum stehenden, schwarzen Londoner Taxen stieg.
Sie wohnte mitten im chinesischen Viertel, in dem die Preise für Londoner Verhältnisse noch einigermaßen human gestalteten. Sie liebte die vielen kleinen, obskuren Kräuterläden, die man hier an jeder Ecke finden konnte. Für jedes noch so kleine Wehwehchen war hier garantiert ein Mittelchen zu bekommen, nur mit den tierischen Produkten hatte Mary so ihre Probleme, die empfand sie einfach als eklig.
Aber die Menschen hier waren alle nett und sehr zuvorkommend, auch wenn man sich anfangs erst an die Mentalität der Asiaten gewöhnen musste. Die war ja ohnehin eine Sache für sich! Es war alles ein bisschen „strange“, aber man konnte ja wegsehen, wenn einem was nicht gefiel.
Im Alter von 18 Jahren bin ich ganz alleine nach Atlanta, Georgia geflogen und von dort aus weiter nach Charlotte in North Carolina. Atlanta hat den größten Flughafen der Welt und ist die Heimatstadt von Coca-Cola. Wusstet ihr das?
Meine damaligen Englischkenntnisse waren echt beschissen, was sich bis dato eigentlich nicht geändert hat, aber ich arbeite daran. Deshalb kann ich es bis heute noch nicht fassen, dass ich überhaupt in Charlotte angekommen bin und nicht irgendwo im Nirwana.
Im Flieger nach Atlanta habe ich einen netten Army-Typen kennengelernt. Ein wahrer Held, der mich Gott sei Dank ein Stück begleitete und mir wertvolle Tipps gab, die ich mir alle im Gehirn notiert habe. (Hi)
Dieser Flughafen ist so riesig, das kann man sich kaum vorstellen. Von einem Terminal zum nächsten fährt man mit einem Zug, in dem immer die Stationen angesagt werden. Leider habe ich damals kein einziges Wort verstanden und bin zum Glück an der richtigen ausgestiegen. Zufall oder siebter Sinn? Ich weiß es nicht. Aber so habe ich meinen Anschlussflug nach Charlotte bekommen. Abenteuer und Adrenalin pur, das sage ich euch!
Zuhause angekommen schmiss Mary ihre Tasche beiseite, holte ihren Schreibblock hervor und setzte sich erst einmal, um die letzten Seiten ihres neuen Buches nochmals zu lesen.
Zufrieden ging sie nach zwei Stunden in die Küche und machte sich einen Kaffee. Normalerweise sollte sie jetzt ihre Klamotten auspacken, aber so richtig Lust hatte sie keine, außerdem fieberte sie danach, ihr schriftliches Werk fortzuführen.
Mary öffnete den Kühlschrank und ihre Augen begannen zu leuchten. Ihre liebe, ältere Vermieterin, die in der Wohnung unter ihr wohnte, hatte den Kühlschrank mit allerlei Leckereien aufgefüllt. Mrs Snider war ständig in Ängsten, sie würde verhungern. Kurz bevor Mary von Helsinki abflog, hatte sie telefonisch gebeten die Heizung aufzudrehen, damit es nicht so kalt ist, wenn sie ankommt. Aber die Überraschung mit den Futteralien war echt super. Genüsslich trank sie den dampfenden Kaffee und verdrückte dazu ein paar der Butter Cookies, die sie in der Schale auf dem Küchentisch gefunden hatte. Mrs Snider wusste eben, wie man sie kulinarisch verführen konnte.
Zu der Musik von Be und den Jungs machte sie es sich in ihrer Kuschelcouch gemütlich, fing an zu schreiben und hörte nicht auf bis ihr höllisch die Hand schmerzte und es draußen schon stockfinster geworden war. Als sie auf die Uhr schaute, machte sich ein vorsichtiges Misstrauen gegenüber ihrer antiken Wanduhr breit, die sie aus einer Bahnhofshalle in einem Dorf in Devon vor dem Abbruch gerettet hatte. Die beiden alten Zeiger hatten sich geeinigt, Mitternacht anzuzeigen, was bedeuten würde, Mary hatte fast neun Stunden durchgeschrieben. Das konnte nicht sein! Sie kramte das Handy aus ihrer Tasche und staunte. 00:02 zeigte der Handywecker und Mary rieb sich jetzt müde die Augen.
Mit schlurfenden Füßen wankte sie ins Schlafzimmer und krabbelte unter die kalte Decke – leider ohne Be. Ihre Gedanken rasten noch ein wenig in der Weltgeschichte herum, so zwischen Traum und Wirklichkeit, bis sie der Schlaf übermannte und sie in den Tiefen der Nacht versank.
Unterdessen waren am Nachmittag Be und seine Musikergang in Athen gelandet. Die Sonne brannte gnadenlos auf den nach dem ehemaligen griechischen Ministerpräsidenten Eleftherios Venizelos benannten Flughafen und die Temperaturen waren dementsprechend. Zudem förderten die ein bis zwei oder vielleicht auch mehr Drinks an Bord massiv die Produktion von Körperschweiß, und allen tropfte das Wasser vom Kopf in den Nacken und lief langsam den Rücken entlang, feine, dunkle Spuren auf der leichten Oberbekleidung der Herren hinterlassend. Zum Glück hatte ihr Manager eine Limousine geordert, deren hervorragende Klimaanlage den Schwitzattacken sehr erfolgreich entgegen trat.
Im Foyer des Hotels checkten sie alle schnell ein und verschwanden auf ihre Zimmer, spülten in der Dusche den leichten Alkoholvorhang weg und zogen frische, sommerliche Kleidung an.
Halbwegs wieder hergestellt trafen sie sich in der Lobby, von der aus Raphael in die schon geöffnete Hotelbar schielte, aber von Be unwirsch ausgebremst wurde.
„Reiß dich zusammen, du Suffkopf. Was sollen denn die Leute von den Finnen denken?“
„ ... hä? Das was die ganze Welt von den Skandinaviern denkt. Mach jetzt bloß keinen auf heilig, mein Lieber!“
Beide fingen an zu lachen und verschoben einvernehmlich die Einnahme von Hochprozentigem auf den Abend.
Ihre Limousine wartete noch vor dem Hotel, bereit die Jungs durch die Geschichte der griechischen Hauptstadt zu kutschieren.
Ihre Fahrt führte an vielen historischen Bauwerken vorbei, sie besuchten das Archäologische Nationalmuseum und die Nationalgalerie, besichtigten mehrere Byzantinische Kirchen bis ihre Sightseeing Tour an der Akropolis endete.
Endlich.
Mittlerweile war es den 5 Freunden auch wirklich genug der historischen Bildung und ihre Körper schrien nach einer Abkühlung. Von innen, wohlgemerkt!
Am schönen Syntagma-Platz fanden sie ein Restaurant und kippten jeder zuerst ein großes Glas Kühlflüssigkeit in Form von eiskaltem Bier in sich hinein. Als alle wieder atmen konnten und die Tränen, ausgelöst von der Kohlensäure, verschwunden waren, wollten sie sich etwas speziell Griechisches bestellen, natürlich nicht ohne vorher in ihrer alt bewährten Manier den Kellner fast zur Weißglut zu bringen.
„Haben Sie Steckrübenauflauf?“ fragte Be mit ernster Miene.
„Nein, tut mir leid. Nur was auf der Karte steht.“ entgegnete der Ober höflich.
„Ich hätte gerne auch Steckrübenauflauf“, sagte Raphael, „und etwas geschlagene Sahne darüber bitte.“
„Wir haben keinen Steckrübenauflauf!“ Der Hals des Kellners war schon am anschwellen.
„Ja, und ich hätte gerne Piroggen dazu“, bestellte Sheldon unbekümmert weiter, „haben sie auch frisch geräucherten Lachs? Von dem würde ich auch ein wenig probieren.“
Dem Kellner wurde es endgültig zu bunt und er sagte mit hochrotem Kopf und lauter Stimme. „Zum letzten Mal! Wir haben keinen Steckrübenauflauf! Und auch keine Pirdingsdas und Lachs. Nur was auf der Karte steht, verdammt!“
Er wedelte wild mit der Menükarte umher und wollte gerade theatralisch mit der Aufklärung über das heutige Speisenangebot fortfahren, hielt jedoch plötzlich inne, da ihn fünf breit grinsende Gesichter anstrahlten.
„Nehmen sie es uns nicht krumm“, sagte Be lachend, „eigentlich sind wir ganz nette Kerle.“ Er klopfte dem Ober, der sich völlig fertig in den Stuhl neben Be hatte fallen lassen, beruhigend auf die Schulter.
„Bringen sie uns doch bitte ein paar Platten mit ihren Spezialitäten des Hauses. Und ihnen ein schönes, kühles Bier auf den Schreck ... Wie heißen sie denn?“
„Fílippos“, antwortete der mittlerweile auch lächelnde junge Mann und stand kopfschüttelnd auf.
„Das wird aber ein großes und teures Bier, meine Herren!“
„Ist in Ordnung. Bringen sie uns auch noch welche, dann können wir anstoßen“, grinste Be ihn an.
Nachdem Filippos ihnen große Teller mit allerlei Köstlichkeiten serviert hatte und sie sich durch mehrmaliges zuprosten versöhnt hatten, widmeten sich die Jungs nun endlich der lang ersehnten Nahrungsaufnahme.
„Habt ihr den schon probiert?“ fragte Ogli und zeigte auf ein Stück angebratenen Tintenfisch, „der schmeckt ziemlich seltsam. Aber das muss wahrscheinlich so sein.“
Einer nach dem anderen steckte sich etwas davon in den Mund nur um sogleich das Gesicht angewidert zu verziehen.
„Ziemlich seltsam? Ich glaube du hast nicht mehr alle! Das ist schlichtweg ungenießbar. Ba! Pfui Teufel.“ Romeo spuckte den angekauten Fisch auf den Teller und trank schnell einen Schluck Bier, um den ekligen Geschmack wegzubekommen.
„Filippos“, rief Be in die Küche, „kannst du kurz mal kommen?“
Filippos trabte wohlgelaunt, ein großes Tablett vor sich her balancierend auf die Jungs zu.
„Kann ich euch helfen?“ grinste er unverschämt.
„Das Zeug hier schmeckt furchtbar. Was ist das?“
„Alter Tintenfisch in Lebertran gebraten“, schmunzelte Filippos, „Rache ist süß meine Freunde.“
Er stellte das Tablett mitten auf den Tisch. „Hier, der Ouzo geht aufs Haus ... Und nehmt es mir bitte nicht krumm. Eigentlich bin ich ein ganz netter Kerl.“
Be lachte laut auf, „das darf doch nicht wahr sein. Hut ab, Kleiner. Das hat noch keiner fertig gebracht!“
Der Kellner räumte den übel schmeckenden Rest vom Tisch, eilte in die Küche und tauchte kurz darauf mit schmackhaft duftendem, gegrilltem Fisch auf.
„So, lasst es euch schmecken. Und bevor einer blöde fragt. Ja, der ist jetzt essbar. Schmeckt sogar ausgezeichnet. Guten Appetit.“
Gesättigt und ein bisschen angeheitert verließen die Jungs gegen 23 Uhr das Restaurant, verabschiedeten sich lauthals von Filippos und schenkten ihm noch eine ihrer CD’s, sodass er auch wusste, mit wem er sich da angelegt hatte. Filippos blieb der Mund offen stehen als er die Gesichter auf der CD erkannte.
„ ... Was?!“
„Ja, ja, mein Lieber“, sagte Be, „hätte schlimm für dich ausgehen können.“ Er schüttelte ihm freundschaftlich die Hand und wünschte ihm noch einen schönen Abend.
„Bis bald, wir lassen uns was einfallen!“
Ein paar Tage später wurde Mary morgens unsanft durch ihr unverschämt laut klingelndes Handy aus ihren Träumen gerissen. Verschlafen griff sie nach dem Telefon.
„Ja? Hallo.“
Es war ihr Lektor, der sie freudig begrüßte und irgendetwas von ihrer unleserlichen Sauklaue und dem nicht verständlichen Kauderwelsch faselte, das er schon kläglich vermisst hatte. Sie war seine einzige Autorin, die noch alles mit der Hand schrieb, weil angeblich der Computer zu langsam war um ihre Gedankensprünge damit ordentlich wiedergeben zu können.
Natürlich war das vollkommener Quatsch. Sie konnte einfach nicht schnell genug tippen!
Außerdem hatte sie ja ihn. Und Mary wusste, er würde alles wieder ausbügeln. Dafür war sie ihm auch sehr dankbar und erwies ihm hier und da einen kleinen Gefallen! So wie jetzt.
Er bat sie, zusammen mit ihm und Humphrey Goles zu Mittag zu essen. Goles war ein großer Fan von Marys Geschichten und besaß all ihre Bücher. Sein großes Vermögen hatte er im Kunst- und Antiquitätenhandel gemacht.
‚Oh Gott’ dachte Mary, ‚über Kunst kann ich mich weiß Gott nicht unterhalten. Wie langweilig. Und alte Möbel mag ich auch nicht, wer weiß, wer die schon alles befingert hatte!’
Zögernd willigte sie ein. „Na gut Tom. Ich will nur hoffen, dass mich dieser Kerl nicht angrabscht, so wie der letzte, den du angeschleppt hast.“
„Nein, da kannst du sicher sein. Schreibst du schon an einem neuen Buch? Die Welt wartet auf dich.“
„Ja, ich habe schon angefangen. Aber lass mich das später erzählen. Ich muss erst einmal wach werden.“
„Okay, wir sehen uns dann oben im Harrods. Humphrey hat einen Tisch im Georgian Restaurant reserviert. Er liebt es.“
„Alles klar, bis später.“
Sie legte auf und ging in die Küche um endlich zu ihrem geliebten, und mittlerweile auch bitter notwendigen Kaffee zu kommen.
Harrods zählt zu den wohl berühmtesten, größten und exklusivsten Warenhäusern der Welt. Momentan in arabischem Besitz findet man dort so gut wie alles was das Herz begehrt. Mode der exklusivsten Hersteller, Accessoires, Wohnkultur, Spielwaren und vieles mehr. Aber das absolut spektakulärste sind die Food Halls im Erdgeschoss. Jedes europäische Spitzenrestaurant würde sich die Finger lecken nach so einer exquisiten Auswahl von frischen Lebensmitteln. Einige Abteilungen haben sogar Esstheken, an denen die Speisen sozusagen „fangfrisch“ zubereitet werden. Begleitet von dem einen oder anderen Gläschen Chardonney lassen sich hier ganz locker ein paar Stunden kulinarischen Hochgenusses verbringen.
Das Georgian Restaurant, indem sich Mary mit Tom und Humphrey treffen sollte, lag im vierten Obergeschoss und bot von der Terrasse einen fantastischen Blick über die Dächer von Kensington.
London ist wirklich eine sehr weltoffene, verrückte Stadt und jederzeit eine Reise wert, ich liebe sie! Letztes Jahr war diese Weltstadt an der Themse im Südosten Englands wochenlang in aller Munde. Die Queen feierte ihr 60 jähriges Thronjubiläum und im Sommer fanden die Olympischen Spiele und die Paralympics statt. Die Eröffnungsfeiern fand ich spektakulär, wie alles, was die Engländer in die Hand nehmen. Die großzügige Gastfreundschaft und die Herzlichkeit dieses Inselvolkes wurde von allen Teilnehmern und Gästen der Spiele aufs Höchste gelobt.
Ich muss unbedingt noch loswerden, dass ich den augenblicklichen Bürgermeister Boris Johnson echt cool finde. „Westminsters liebenswertester Clown" hat so das gewisse Etwas!
Nachdem Mary den ganzen Vormittag über alles Lästige wie Wäsche waschen, aufräumen, einkaufen und all den anderen stupiden Mist erledigt hatte, machte sie sich auf den Weg zum Harrods. Sie ging zu Fuß, weil sie noch genügend Zeit hatte und die Luft ihr gut tun würde.
Vorbei am Picadilly Circus lief sie die Regent Street zum St. James Park hinunter, weiter über The Mall am Buckingham Palace vorbei bis sie an der Hyde Park Corner angelangt war. Dort stieg sie in die Underground, fuhr das kurze Stück zur Knightsbridge Station und ging den Rest zu Fuß die Brompton Road entlang bis sie die heiligen Hallen des ehemaligen Hoflieferanten Harrods betrat.
Mary war als erste im Restaurant, was sie etwas verwunderte, da es schon ein paar Minuten nach 12 Uhr war. Und Männer sind ja schließlich viel pünktlicher als Frauen!
Sie nahm an dem in einer windgeschützten, sonnigen Ecke stehenden, reservierten Tisch Platz und bestellte sich mutig einen trockenen Weißwein.
Tom tauchte circa 10 Minuten später auf, einen kleinen, rundlichen Mann mit Nerdbrille im Schlepptau, der keuchend, leicht transpirierend hinter Tom her hechtete. Der begrüßte Mary herzlich und konnte sich ein paar außerordentlich charmante Bemerkungen über ihre Schrammen und Wehwehchen im Gesicht, die sie sich in Finnland zugezogen hatte, nicht unterdrücken.
Humphrey Goles kam aufgeregt auf Mary zugewackelt und umarmte die Überraschte, die so gar nicht wusste wie ihr geschah.
Bei einem ausgezeichneten französischen Sauvignon Blanc, begleitet von einem gegrillten Schollenfilet mit Butterkartoffeln erzählte Mary den beiden von ihren Erlebnissen in Finnland. Be erwähnte sie natürlich mit keiner Silbe. Ihr Privatleben ging niemanden etwas an.
Humphrey war derart von Marys Ausführungen gefangen, dass seine Augen förmlich an ihren Lippen klebten.
„Mary, geben sie mir doch bitte die Ehre, mich heute Nachmittag zu einer Hausbesichtigung zu begleiten“, sagte er zwischen einem Stück Scholle und einem Schluck Sauvignon, „ich habe von einem Makler den Schlüssel zu einem Haus in der Bond Street bekommen. Es ist zwar alt und ein wenig verfallen, aber ich möchte es gerne restaurieren. Bei ihrer Fantasie könnten sie mir doch ein paar Anregungen geben, oder?“
Humphrey biss sich vor lauter Nervosität in die Zunge und jammerte wie ein kleiner Junge vor sich hin. Mary sah Tom an und verdrehte die Augen, was Tom ein verstecktes Grinsen entlockte.
„Humphrey, trinken sie noch einen Schluck Wein, der kühlt und hemmt den Schmerz ein wenig“, riet sie ihm.
„Ohje, ohje, tut das weh. Ist ja nicht zum Aushalten“, memmte Humphrey unbeeindruckt weiter.
„Möchten sie vielleicht ein Eis zum Dessert? Das wird ihre Schmerzen mit Sicherheit in den Griff bekommen.“
„Oh ja, bitte! ... Und sie müssen mich begleiten!“
„Na gut. Ihnen zu Liebe. Wann können wir das Haus besichtigen?“
„Gleich jetzt im Anschluss.“
„Gut, abgemacht. Aber nur wenn wir zu Fuß gehen. Ist eine halbe Stunde und das Wetter ist heute so schön.“
„Wenn es unbedingt sein muss“, stöhnte Goles, „aber erst nach dem Dessert!“
Humphrey verspeiste mit großem Genuss einen Strawberry Cake mit Eiscreme aus weißer Schokolade und machte sich danach notgedrungen per pedes auf den Weg zur Bond Street.
Ja, die Londoner Bond Street – das selbst ernannte Mekka der Shopaholics. Es gibt nahezu keinen bekannten Markenhersteller, der etwas auf sich hält, der hier keinen eigenen Store betreibt. Sei es Mode, Schmuck oder von Hand gefertigte Schuhe – alle sind sie hier.
Das ungleiche Trio kam nur sehr schleppend voran, da Mr Goles sich in jeder erscheinenden Schaufensterscheibe peinlichst genau betrachten musste und immer irgendetwas an seiner Kleidung zurecht zupfte.
Aber endlich waren sie an einem sehr alten, baufälligen Gebäude angekommen und Humphrey verkündete stolz, dass dies das Objekt der Begierde sei.
„Sie wollen allen Ernstes mit mir da hinein?“ fragte Mary skeptisch, „sieht nicht sehr einladend aus.“
„Ach was, wird uns schon nichts passieren. Zudem freue ich mich auf ein kleines Abenteuer mit ihnen.“
Er schritt jovial die Treppen zum Eingang hinauf und wollte weltmännisch die Tür öffnen, die sich aber als sehr widerspenstig erwies. Mary schob ihn sanft beiseite und stemmte sich mit ihrem Körper gegen das grimmige Holz. Quietschend und ächzend öffnete sich die Tür und ließ von dem vergammelten Türrahmen jede Menge uralten Holzstaub auf die beiden herab rieseln.
„Ja ist das eine Schei ...!“ fluchte Mary und wischte sich den Dreck aus dem Gesicht.
‚Das geht ja gut los’ dachte sie, mir schwant gar nichts Gutes.’
Vorsichtig traten sie in die beeindruckende, steinalte Empfangshalle. Überall hingen Spinnweben herum und der sandige Staub türmte sich zentimeterhoch auf allen Möbeln, Lampen und Teppichen. Goles lief mit offen stehendem Mund sabbernd in die Mitte der Halle und konnte von Mary gerade noch rechtzeitig aufgehalten werden, bevor er in ein riesiges Loch im sonst gut erhaltenen Dielenboden gefallen wäre. Hier hatten sich wohl jahrhunderte lang ganze Generationen von Termiten und Holzwürmern kräftig den Bauch vollgeschlagen.
Mary sah in das dunkle Loch und ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter. ‚Das sieht aus wie eine Gruft’ dachte sie ‚sehr einladend!’
Am Ende der Lobby führte eine mächtige Treppe im Halbrund nach oben in die erste Etage. Im Inneren der Rundung war ein wunderschöner, alter Aufzug aus Schmiedeeisen und Mahagoniholz eingebaut, der aber auf Grund des fehlenden Stromes nicht zu benützen war. Mary traute diesem Gitterding sowieso nicht und ging die Treppe hinauf, peinlichst genau darauf achtend, wo sie hintrat. Der ganze Prunk vergangener Epochen versetzte sie in ihre Fantasiewelt und ließ in ihrem Köpfchen eine Geschichte nach der anderen entstehen.
Humphrey war überglücklich den ganzen Tag mit Mary verbringen zu dürfen und trottete unaufhörlich schwafelnd, wie ein kleines Hündchen hinter ihr her. Er legte eine sehr feminine Art an den Tag, die sie so ganz und gar nicht einordnen konnte.
Im letzten Zimmer, das sie sich anschauten, passierte dann das Unvermeidliche, vor dem Mary schon die ganze über Angst hatte. Humphrey stand vor einem großen Barockspiegel und beging den folgenschweren Fehler, ihn von der Wand nur ein kleines Stück nach vorne zu ziehen.
Sie traute ihren Augen nicht, als sie sah wie sich die Befestigungshaken von der feuchten Wand lösten und das schwere Monstrum mit lautem Getöse auf den Boden klatschte. Sie wollte Humphrey noch daran hindern, sprang zu ihm hin und schrie ihn an, was leider nichts nutzte, da er ununterbrochen quasselte wie ein Buch und auf nichts hörte.
Mit lautem Bersten des morschen Holzes, gepaart mit ohrenbetäubendem Knirschen uralten Lehmes schlug der Spiegel durch den Fußboden. Dicht gefolgt von einem laut schreienden und herumfuchtelnden Humphrey und einer überraschten aber sehr gefassten Mary, bahnte er sich seinen Weg zielsicher durch das Erdgeschoss in den Keller. Alle schlugen sehr unsanft in einer gigantischen Staubwolke auf dem knochenharten Naturboden des Kellergeschosses auf, wobei sich der Spiegel laut scheppernd in tausende kleiner Splitter auflöste.
Regungslos, die Körperteile irgendwie seltsam angeordnet, lagen Mary und Humphrey eine Weile in ihrem Verlies herum, begraben unter einer dicken Schicht aus Staub, Sand, Holz und weiß der Teufel was.
Mary kam langsam zu sich und hustete sich erst einmal die Seele aus dem Leib.
‚Nicht schon wieder! Hört das denn nie auf? Be ist doch gar nicht hier. Nur ich und diese Weichflöte ...’
Sie richtete sich auf, schaute umher, konnte aber nichts erkennen, da es stockfinster war. Tastend griff sie nach ihrer Tasche, die glücklicherweise noch quer über ihren Brustkorb geschnallt war und kramte die Taschenlampe heraus.
Jaa ... man mag nun denken, typisch Frau. Jede hat doch eine Taschenlampe, Allwetterstreichhölzer, Verbandsmaterial und ein kleines Taschenmesser in ihrer Handtasche. Oder etwa nicht? Seit ihren Erlebnissen in Finnland waren diese Utensilien untrennbar mit Marys Tasche vereint!
Mary leuchtete den Boden ab und entdeckte ein paar Schritte neben ihr einen friedlich atmenden Berg aus Brettern und Dreck. Sie befreite sich von dem Schutt des alten Hauses und krabbelte zu Humphreys Gesicht, das sie zwischen all dem Unrat ausmachen konnte. Sie tätschelte es ein paar Mal, als das nichts half gab sie ihm eine schallende Ohrfeige.
„Wach endlich auf, Mann! Wir sind hier nicht auf einer deiner Kaffeefahrten“
Humphrey öffnete erschrocken die Augen und fing augenblicklich jämmerlich zu husten an.
„Oh Gott, oh Gott, bin ich tot? Was ist passiert?“
„Nein“, versuchte Mary ihn zu beruhigen, „wir sind alle beide am Leben.“
Er setzte sich stöhnend auf, tastete seinen ganzen Körper auf der Suche nach irgendwelchen Ungereimtheiten ab und griff in seine Innentasche der Jacke.
Mary staunte nicht schlecht, als er eine kleine Flöte daraus hervorzog. „Was wollen sie denn damit? Sonst haben sie keine Sorgen! Das gibt es doch nicht. Jetzt sagen sie nur noch, dass aus einem Korb ein Seil aufsteigt, an dem wir hochklettern können. Da fällt mir nichts mehr ein!“
Ungerührt der Ausführungen Marys strich Humphrey liebevoll über sein kleines Musikinstrument, setzte es an die Lippen, trällerte ein kurzes Lied, das sich wie irres Vogelgezwitscher anhörte und packte das Ding wieder zurück in seine Jackentasche.
„Und wo ist jetzt das Seil?“
„Ach meine Liebe, sowas funktioniert doch nur in ihren Geschichten. Aber ich bin heilfroh, dass sie hier sind. Sie holen uns doch jetzt im Nu hier heraus, oder?“
Mary schüttelte sich und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. ‚Was war denn das für einer? Hält der mich für Superwoman?’
Sie bog ihren geschundenen Körper gerade, stellte sich langsam auf die Füße und lief vorsichtig mit der Taschenlampe durch den Raum. Über sich konnte sie die große Öffnung ausmachen, die ärgerlicherweise durch den herab fallenden Müll wieder komplett geschlossen war.
‚Was für ein Mist. Wie kommen wir hier nur heraus?’
Humpfrey hievte sich schwer atmend auf seine Knie und fing erneut an zu stöhnen. „Ooh heiliger Berg, mir tut alles weh. Mein armer Körper.“
„Ja, das kenne ich. Gewöhnen sie sich daran“, entgegnete Mary pfurztrocken, „sie wollten doch Abenteuer, jetzt sind sie hautnah dabei. Können sich was darauf einbilden. Ich nehme nämlich nicht jeden mit.“
Humphrey erhob sich schwerfällig, wollte hinter Mary hergehen und flog über einen quer liegenden Balken, krachte der Länge nach hin und verschwand in einer Staubwolke.
„Aua“, jammerte die Wolke, „was bin ich bloß für ein Schusselchen. Mary Liebste, können sie bitte herkommen? Ich habe mir weh getan und glaube, dass ich verblute.“
Marys Ohren klingelten jetzt schon. Dieses Gejammer ging ihr dermaßen auf den Senkel, dass sie kurz vor dem Ausrasten war und sich nur noch schwer im Zaum halten konnte.
„Mary! Hier bin ich, hier drüben, Sehen sie mich denn nicht? Geben sie sich doch mal ein bisschen Mühe.“
Mary biss sich auf die Lippen, dass sie jetzt ja nichts sagte, was sie vielleicht hinterher bereuen würde. ‚Natürlich sehe ich dich, du Trottel!’
Vorsichtig bahnte sie sich einen Weg zu ihm und kniete neben ihm nieder. „Alles klar bei Ihnen? Haben sie noch alle beisammen?“
Diese Bemerkung konnte sie sich dann doch nicht verkneifen.
„Ach Mary, sie sind so witzig.“
‚Der Kapiert auch überhaupt nichts! Was für eine Pfeife.’
„Ich blute bestimmt irgendwo. Ich fühle mich so schlapp.“
„Nein, sie bluten nicht. Aber da drüben sind ein paar Särge, da können sie in Ruhe von uns gehen.“
Humphrey sah Mary unverständlich an. „Wie haben sie denn das gemeint? Muss ich sterben?“
„Das sollte ein Witz sein! Sind sie so einfallslos oder tun sie nur so?“
Mary strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und merkte, dass sie Blut an ihren Fingern hatte. Aber das war ja nichts Neues!
„Mary, Mary ...“ der Jammerlappen meldete sich wieder, „was machen wir denn jetzt? Holen sie uns hier raus? Sie kennen sich doch aus mit solchen Dingen und können mit einem Draht und einem Stück Holz ein Flugzeug bauen, oder? ... So sagen sie doch was! Mann, wenn ich das in meinem Club erzähle.“
Er hielt kurz inne, betrachtete gedankenverloren seine Hände, nur um sofort mit dem nächsten Wortschwall fortzufahren. „Ach du grüne Neune, wie sehen die denn aus, ich muss sofort zur Maniküre!“
„Humphrey!“ Mary platzte jetzt gleich der Kragen. „Halten sie endlich mal ihren Schnabel sonst kann ich nicht klar denken. Sie bringen mich noch um den Verstand!“
Beleidigt und ein klein wenig eingeschüchtert holte Humphrey seine Flöte hervor und spielte zitternd wieder diese für empfindliche Ohren gänzlich ungeeignete Melodie.
Mary wandte sich von ihm ab und suchte im ganzen Raum nach einem Weg, um hier abzuhauen. Aber die einzige Tür war von außen verschlossen und sie musste sich eingestehen, dass es ein sehr schwieriges Unterfangen werden würde, sie beide zu befreien. Vor allem mit so einem Weichei!
Sie stand jetzt völlig genervt vor Humphrey, der unablässig flötete und ängstlich zu ihr hoch schaute. Ohne groß nachzudenken griff sie in ihre Tasche und holte ihr Handy hervor. Sie klickte die Nummer von Be an und freute sich tierisch, eine normale Männerstimme zu hören als er sich meldete.
„Hey Be, wie geht’s dir?“
„Hallo Schatz, wo steckst du gerade und was ist los? Du atmest etwas schwer?“ Er vernahm im Hintergrund eine jammernde Männerstimme.
„Super geht’s mir. Alles in bester Ordnung“, piepste Mary durch den Äther.
„Wer oder was ist dieses Jaulen?“
„Ooch das ist nichts“, na klar, Marys üblicher Spruch.
Humphrey, der sich zusammen mit Mary in einer, sagen wir mal prekären Lage befand, meldete sich heftig zu Wort.
„Bitte helfen sie mir! Sie will mich umbringen!“
Be’s Freunde kamen schnell her um Mary Grüße auszurichten. Sie waren kurz vor einem großen Auftritt.
„Hey Leute, es geht ihr blendend. Ich habe soeben eine Männerstimme gehört, die um Hilfe gewinselt hat!“
Die Jungs lachten so laut sie konnten, „ja, dann geht es ihr gut. Sie hat ein Opfer gefunden.“ Freudig klopften sie ihrem Boss auf die Schulter und nickten. „Da hast du ja Glück, dass du mit uns auf Tournee bist und deinen Kopf für andere Mädels frei hast.“
„Mary, hast du gehört? Viele Grüße von den Jungs und du sollst bitte sorgfältig mit deinem neuen Freund umgehen. Wer ist der Kerl überhaupt? Und was will er von dir?“
„Kennst du nicht. Der ist unwichtig, warte mal ... hören sie jetzt endlich mit dem ekligen Gejammer auf, sonst erschlage ich sie!“
„Bitte, bitte“, rief Humphrey, „wer auch immer sie sein mögen dort in der Leitung, retten sie mich!“
„Seien sie doch nicht so eine Memme“, schimpfte Mary, „reißen sie sich gefälligst zusammen, was sollen die Leute denken.“
Be sann so vor sich hin ‚Oh ja, das ist mir bestens bekannt', „Bist du in Schwierigkeiten, Schatz?“
„So würde ich es nicht ganz ausdrücken. Wir sind lediglich ein bisschen verrutscht!“
„Verrutscht?“ ‚Wie habe ich diese Andeutungen vermisst. Kein Aas kann damit was anfangen!’ „Er ist aus Versehen in dich hineingerutscht?“
„Um Gottes Willen, Be! Hast du den Verstand verloren? Hast du den Kerl mal gesehen?“
„Schätzchen“, säuselte er zuckersüß, „wie denn?
„Ach so, na klar, ich bin schon ganz durcheinander ... Humphrey, wie groß und wie schwer sind sie?“
„Wieso, wollen sie mich essen?“ jammerte Humphrey, „ich bin viel zu zart für ein Monstrum wie sie. Und außerdem liebe ich nur Männer, so!“
„Hast du gehört, Be? Er liebt nur dich, naja, und seine Flöte vielleicht, auf der er die ganze Zeit herumbläst. - Aah, jetzt weiß ich auch endlich warum!“
„Aha“ war alles, was Be intelligentes dazu einfiel.
„Mit wem telefonieren sie denn überhaupt“, brüllte Humphrey genervt.
„Ach, nur mit Be, meinem Freund. So eins neunzig groß und muskulös, also das krasse Gegenteil von ihnen.“
„He, sie da am anderen Ende. Ich habe Unmengen von Geld. Befreien sie mich von der Verrückten und ich werde sie damit zuschütten.“ Humphrey fing vor lauter Nervosität wieder an, auf seiner Flöte zu spielen.
„Be, bist du noch dran? Ich glaube, ich habe die Lösung gefunden. Humphrey hat mich ...“ Ein lautes Knacken war zu hören und die Leitung war tot.
„Verdammt, jetzt ist er weg.“
Sie versuchte es noch einmal, bekam aber keine Verbindung mehr. Sie hatte soeben eine geniale Idee gehabt, die sie ihm unbedingt noch mitteilen wollte.
Mary fotografierte alles, vor allem das große Schloss der Tür und schickte die Fotos mit einer Anmerkung zu Thess, ihrer Freundin in Finnland.
„Bin in einer ziemlich beschissenen Lage, vielleicht kannst du mir ja helfen. Sei aber bloß ruhig und sage ja nichts zu Be.
P.S. Wie kann ich so ein Schloss öffnen? Hast du ein paar Ideen? Vielen Dank, Mary.“
Zu ihrem großen Erstaunen ließ die Antwort von Thess, die sich große Sorgen um Mary machte, nicht lange auf sich warten.
“He Kleines, was ist denn mit dir passiert? Wo steckst du? Ist das wieder eins von deinen Höhlen – Schatzausgraben - in die Luft fliegen Dingern? Pass bloß auf dich auf, verstanden!“
Mary lächelte und las weiter. „Die Bilder habe ich im Internet gefunden. So müsstest du das Schloss knacken können. Was habe ich mir nur dabei gedacht, gerade dich als Freundin auszusuchen. Jetzt gebe ich schon Panzerknacker-Tipps! Viel Glück und melde dich sofort, wenn du da raus bist.“
„Humphrey!“ rief Mary laut und der ließ vor Schreck seine Flöte fallen. „Haben sie eine Haarklammer?“
„Äh wie? Nein ... habe ich nicht. Wie kommen sie überhaupt auf sowas?“
„Ja stimmt, ist ja völlig abwegig. Was sollen sie als harter Mann denn mit einer Haarklammer? Helfen sie mir wenigstens einen spitzen Gegenstand zu finden? Mit dem könnten wir vielleicht das Türschloss öffnen.“
Beleidigt packte Humphrey seine Flöte weg und tapste planlos im Raum umher. Zufällig machte er unter einem großen Haufen Holz drei riesige Schiffstruhen aus.
„Mary, schauen sie hier. In den Kisten könnte was Nützliches sein. Oder vielleicht ein Schatz? Dann werde ich noch reicher.“
„Gehen sie auf die Seite und hören sie auf, solchen Blödsinn zu verzapfen.“ Mary schob ihn weg und stemmte den Deckel der vorderen Kiste mit einer Eisenstange auf, die sie in einer Ecke des Zimmers gefunden hatte. Nägel sprangen heraus und Humphrey nahm die Abdeckung weg.
„Was soll das denn?“ wunderte sich Humphrey. „Lauter Stroh. So ein Mist.“
Mary griff hinein und legte unter dem Stroh ein schwarzes Teil frei. Sie erschrak heftig und Humphrey schrie entsetzt auf, ging ein paar Schritte zurück und legte sich die Hände vors Gesicht. Er fing am ganzen Körper an zu schlottern.
Die Kiste war vollgepackt mit Maschinenpistolen. Sie leuchtete hinein und konnte an einer Waffe die Beschriftung HK MP7 entziffern. Was ihr allerdings absolut nichts sagte.
„Oh Gott, wo sind wir denn hier hineingeraten?“ Humphrey war außer sich. „Das darf doch alles gar nicht wahr sein. Wo ist denn dein starker Freund? Den könnten wir jetzt gebrauchen, vor allem ich!“
„Seien sie ruhig“, sagte Mary, schubste ihn hinter die Kiste und warf sich neben ihn auf den Boden. Humphrey schaute ziemlich verblödet aus der Wäsche und wollte gerade etwas sagen, als die Tür von außen aufgestoßen wurde.
Mehrere schwarz gekleidete, finster aussehende Gestalten betraten das Zimmer. Sie unterhielten sich wild gestikulierend in englischer Sprache, mit hartem Akzent. Dem Anschein nach stammten sie aus Osteuropa oder vom arabischen Golf.
Instinktiv steckte Mary ihr Handy in den Stiefelschaft, die kleine Ausbeulung würde schon keinem auffallen.
In jeder größeren Stadt dieser Erde finden tagtäglich irgendwelche Waffengeschäfte, Menschenhandel und vieles mehr statt, ohne dass wir Normalos das mitbekommen. Das ist so und wird auch immer so sein. Leider!
Mir ist auch mal etwas sehr seltsames passiert. Ich war mit einer Freundin in Strasbourg (Elsass, Frankreich) und stand mit ihrer kleinen Tochter vor einem Schaufenster. Da kam ein kleiner, windiger Franzose auf uns zu gerannt und wollte sich das kleine Mädchen schnappen. So wie ich sein französisch verstanden habe, erzählte er irgendwas von seine Tochter suchen oder so. Aber hört mal, jeder wird doch in der Lage sein, sein eigenes Kind zu erkennen. Jedenfalls habe ich die Kleine nicht mehr losgelassen, bis die Luft wieder rein war. Höchst sonderbar, nicht?
Die Männer hatten riesige Lampen dabei, die den ganzen Raum erhellten. Sie schauten umher und wunderten sich über den Zustand des Hauses, welches sie anscheinend von ihrem letzten Besuch anders in Erinnerung hatten.
Einer von ihnen entdeckte jetzt die geöffnete Kiste und schlug Alarm.
‚Gleich bemerken sie uns’ da machte sich Mary nichts vor, ‚sobald sie die Truhen entfernen, sehen sie uns, und dann ... ? Ich hätte doch eine Einzelkämpfer-Ausbildung machen sollen, verflixt.’
Neben ihr schlotterte Goles am ganzen Körper, für sein zartes Seelchen war das überhaupt nichts. Er gehörte eher in die Abteilung Smalltalk, Champagner mit Erdbeeren und Kaviarschnittchen.
Die Herren in schwarz wurden zusehends unruhiger und schwärmten aus, die anderen Zimmer zu durchsuchen. Einer dieser netten Menschen, vermutlich ihr Anführer, blieb zurück und führte ein lautes, aufgebrachtes Telefonat in einer nicht zu erkennenden Sprache. Eine breit geschwollene Ader trat auf seiner Stirn hervor und zuckte, was ihn optisch um Jahre altern ließ. Mary hielt Humphreys Hand fest umklammert um ihn zu beruhigen und dass er nicht laut losheulte. Er schwitzte wie ein Schwein vor lauter Angst.
Warum sagt man das eigentlich? Können Schweine überhaupt schwitzen? Angst ist doch nur ein unkontrollierbares Gefühl in einer bestimmten Situation, von der man nicht weiß, wie sie ausgeht. Man kann Angst auch mit verliebt sein vergleichen. Der Puls geht schneller, das Adrenalin bringt einen zum Kochen und ein flaues Gefühl befällt die Magengegend. Das ist bei positiven wie bei negativen Ereignissen absolut das gleiche.
Angenommen, man begegnet einer fremden Person auf der Straße und fühlt sich aus irgendeinem Grund mit ihr verbunden, Schmetterlinge im Bauch oder was auch immer. Aber genauso könnte dieses Gefühl auch Angst bedeuten! Angst vor einer fremden Person. Alles an dieser Person ist NEU! Die Gedanken, der Körper, das Umfeld, und genau das macht es so spannend. Die Empfindung ist die gleiche wie in einer schwierigen Situation.
Ich nehme an, dass genau aus diesem Grund so viele Ehen in die Brüche gehen. Im Laufe der Zeit kennt man einander in- und auswendig, es wird langweilig und der Reiz fehlt.
Würde jetzt eine dieser Personen sagen, er sei ein ganz anderer als der, den er vorgibt zu sein, vielleicht ganz lapidar sogar ein Spion – kämen da nicht wieder diese Gefühle empor, die schon seit langer Zeit vermisst waren? Ich denke schon! Man kann sich sehr gut selbst manipulieren, da bin ich mir sicher.
So, falls das jetzt jemand nicht verstanden haben sollte. Hier eine kurze Zusammenfassung:
Angst ist ein fremdes Gefühl
Liebe ist ein fremdes Gefühl
Angst empfinden wir als negativ
Liebe empfinden wir als positiv
Beides ist aber von den Körpersignalen das absolut gleiche.
Der Mann griff sich an die Nase und sog die Luft tief ein. Er roch etwas, was nicht hierher passte. Ganz still stand er da und hörte in den Raum. Langsam atmete er ein, wie ein Spürhund, der gerade eine Fährte aufnahm.
Es war gespenstig still und Humphrey sabberte auf Marys Hand. Jeden Moment konnte er schreiend wegrennen, obwohl er wusste, dass er keine Chance hatte. Mary drückte immer stärker seine Hand, sie konnte seine Anspannung spüren.
Der erste der Ausgeschwärmten kehrte zurück und schüttelte grimmig den Kopf. Der Anführer mit der dicken Ader auf der Stirn, nennen wir ihn Aderman, schnippte mit den Fingern und gab ihm ein Zeichen, das Zimmer zu durchsuchen. Er griff in seine Tasche und zog eine Pistole heraus. Eine Beretta Px4 Storm, Kaliber 9 mm Luger mit 17-Schuss Magazin. Eine leichte Handfeuerwaffe, die auch gerne in Spionageabwehr- und Personenschutzkreisen benutzt wird.
Der Mann sah jetzt Mary und Humphrey hinter der Kiste kauern, riss sie unsanft hoch und schubste sie zu Aderman, der sich grinsend vor Mary postierte und ihren Duft einsog.
„Ich wusste es doch. So gut roch es in diesem Loch noch nie. Sie haben einen ausgezeichneten Geschmack.“ Er sah zu Humphrey und verzog das Gesicht. „Aber er hier, ist das ihr Ernst?“
„Hören sie, wer auch immer sie sind, ich möchte ihnen danken, dass sie uns hier gefunden haben. Mein Kunde und ich haben uns dieses Haus angesehen, da er es gerne kaufen möchte. Aber hier ist alles baufällig und wir sind durch den Boden gekracht. Gott sei Dank sind sie aufgetaucht. Alleine wären wir niemals hier heraus gekommen. Also nochmals vielen Dank – Humphrey, kommen sie, wir gehen. Ich denke sie haben kein Interesse mehr an dieser Bruchbude, oder?“
Aderman klatschte beeindruckt in die Hände und nickte anerkennend. „Kein schlechter Auftritt, meine Liebe. Bringt nur leider nichts. Aber du gefällst mir. Vielleicht können wir uns ja arrangieren? Aber jetzt muss ich mich zuerst um diesen Heini hier kümmern.“
Abfällig musterte er Humphrey. „Du bist nur Ballast für uns. Dich sollten wir sofort entsorgen.“
„Ich habe Geld. Viel Geld!“ jammerte Humphrey, „nennen sie mir eine Summe, wenn ich tot bin, kann ich es sowieso nicht mehr ausgeben.“
„Das überlege ich mir noch. Wir nehmen sie fürs erste doch mit. Jungs, packt alles ein samt den beiden hier und dann verschwinden wir.“
Die Männer, die mittlerweile von ihren Erkundungsgängen zurück gekehrt waren, nahmen die Kisten auf und verluden sie in einen schwarzen Chevy Suburban mit abgedunkelten Scheiben. Mary und Humphrey stopften sie hinter die Rückbank in den Laderaum. Dicht aneinander gepresst lagen sie in der „Löffelchen“ – Stellung auf dem harten Boden.
„Humphrey, sie wissen schon, dass sie gerade meine Brust in der Hand halten.“
„Ja, ja Schätzchen, aber ich brauche jetzt unbedingt ein bisschen Muttergefühl.“
„Wo ist denn ihre Flöte? Ist die nicht besser geeignet?“
„Püppchen, ich glaube, mir gefällt, was ich da in Händen habe!“
„Nehmen sie jetzt augenblicklich ihre Hand da weg, sonst hacke ich sie ihnen ab! Letzte Warnung.“
Frustriert zog Humphrey seine Hand weg und fummelte sie irgendwie hinter sich.
„So ist’s brav. Sie sollten doch lieber bei Altbewährtem bleiben. Wie wär’s denn mit dem Pistolen-Macho? Sie stehen doch auf Bad Boys, oder?“
„Unter anderen Umständen könnte er mir sogar gefallen.“
„Na sehen sie! Dann vernaschen sie den Chorknaben doch und wir haben viele Probleme weniger.“
„Nein Herzchen, das geht jetzt aber entschieden zu weit.“
„Einen Versuch war’s wert“, sagte sie, zwängte sich zu ihrem Stiefel vor und zog ihr Handy heraus. Glücklicherweise hatten die Männer es bei der Durchsuchung vorher übersehen.
Humphrey Goles hatte im Laufe des Tages erwähnt, er kenne den Polizeipräsidenten, und Mary bat ihn nun, diesen anzurufen. Naja, bitten ist ein wenig untertrieben. Sie hielt ihm das Handy vor die Nase und drohte sein Ohr abzubeißen, wenn er nicht sofort telefonierte.
Hektisch nahm er das Telefon und wählte.
Nachdem er eine genaue Beschreibung des Fahrzeuges und des alten Hauses durchgegeben hatte, versicherte ihm der Polizeiboss, dass sofort Fahndungsmaßnahmen eingeleitet werden würden.
Mary und Humphrey konnten jetzt nur noch hoffen, dass sie rechtzeitig gefunden werden.
In Athen hatten Be und seine Band soeben einen Auftritt beendet und fuhren erschöpft zurück ins Hotel. Sie legten sich an den Pool, tranken noch ein (zwei bis fünf) Bier zusammen und unterhielten sich über die abgefahrene Location, in der sie gespielt hatten. Sie traten im Odeon des Herodes Atticus, einem antiken Theater am Fuße des Akropolis-Felsens auf, das fast 5000 Zuschauer fasste. Gigantisch.
Müde verabschiedete sich Be von seinen Freunden, ging auf sein Zimmer und checkte seine Emails. Es klopfte an der Tür und Rafa stand draußen und wollte seinem besten Freund die Neuigkeiten von Thess erzählen. Sie hatte ja Be nichts sagen dürfen, aber von Rafa hatte Mary nichts erwähnt.
Er zeigte ihm die Fotos, die ihm Thess zugeschickt hatte, beruhigte ihn aber gleich, es war ja ansonsten nichts Schlimmes passiert.
„Und du meinst wirklich, ich soll mir jetzt keine Sorgen machen? Du kennst doch diese Irre, wenn sie in ein Wespennest hinein sticht, dann aber richtig. Ich glaube, ich rufe sie einfach an, dann wissen wir mehr.“
Mary spürte ihr Handy vibrieren und nahm flüsternd das Gespräch an. „Hallo, wer ist da?“
„Mary? Bist du das?“ fragte Be, „ich verstehe dich kaum. Sprich etwas lauter.“
„Hi Liebling, das geht im Moment nicht, Humphrey schläft neben mir.“
„Mary Schätzchen“, flötete Humphrey, „ist das der Polizeipräsident? Gib ihn mir doch bitte.“
Mary boxte ihn schmerzhaft in die Seite und er heulte laut auf. „Sie müssen mich doch nicht immer gleich schlagen. Das geht doch auch anders.“
„Das ist Be“, flüsterte Mary.
„Wer ist Be? Ist das ein Bisexueller? Ich will auch mit ihm sprechen.“
„Halten sie jetzt endlich den Rand, ich kann ihn nicht verstehen!“
„War das der schlafende Humphrey?“ meldete sich Be, „und nein, ich bin nicht bisexuell.“
Rafa schaute seinen Freund mit riesigen Augen an und grinste unverschämt. Damit er sich auch ein Bild von der Lage verschaffen konnte, stellte Be das Handy auf Lautsprecher, denn vier Ohren hörten mehr als zwei. Und das war in Marys Fall immer von Vorteil!
„Schatz, jetzt erkläre mir doch bitte, was du mit dem Polizeipräsidenten zu tun hast, Und schwindle mich nicht an. Das höre ich in deiner Stimme. Ich will wissen, was du angestellt hast und ob ich mir schwere Waffen kaufen muss, weil ein Krieg ausbricht. Oder hast du vielleicht doch ein Verhältnis mit diesem Humphrey?“
„Nein, um Gottes Willen! Da brauchst du dir wirklich keine Sorgen machen. Humphrey zeigt mir nur die Gegend. Wir fahren sozusagen ein bisschen spazieren. Alles andere mach ich ausschließlich mit dir! Außerdem hat er viel zu schwache Nerven für mich.“
„Mary, ist das der Mann von heute Mittag? Der tolle Kerl auf den sie so abfahren? Ich will auch mit ihm sprechen. Vielleicht kann er ja meinen gestressten Körper beruhigen.“
Be bekam jedes Wort mit und sah Rafa an, der wohl auch schon geschnallt hatte, dass hier etwas oberfaul sein musste.
„Wieso ist sein Körper denn gestresst?“ fragte Be, „du turnst doch hoffentlich nicht auf ihm herum?“
„Gott bewahre, nein“, säuselte Humphrey und winkte ab, „ihr Name ist Be, nicht? Ich lasse doch keine Frau an meinen Körper. Es ist schon schlimm genug, dass ich hier so zusammengequetscht mit ihrer Freundin herum liegen muss!“
Mary reichte es jetzt, sie kam überhaupt nicht zu Wort. Dieses homosexuelle Weichei quatschte wie ein Waschweib.
„Ruhe!“ zischte sie ganz leise in Humphreys Gesicht. „Wenn sie noch ein Wort sagen, stopfe ich ihnen ihre Zunge in den Rachen!“
Mit erschrockenem Blick starrte er Mary an und war schlagartig still.
„Mary?“
„Ja Be?“
„Willst du mir jetzt nicht endlich sagen, warum du neben diesem Humphrey liegst?“
„Nein, will ich nicht. Es ist alles in Ordnung. Genieße du ruhig dein Griechenland.“
„Ach ja, bevor ich es vergesse. Rafa ist bei mir und er möchte dich auch gerne begrüßen.“
„Hi Mary“, sagte Rafa, „tolle Bilder, die Thess mir da geschickt hat. Sieht aus wie am Filmset eines Katastrophenfilms. Seid ihr noch dort?“
„Scheiße ...!“ entfleuchte es Mary. „Nein ... äh wieso?“
„Ach, eigentlich nichts“, antwortete Be, „interessiert uns nur so am Rande. Sieht ziemlich chaotisch aus dort.“
„Ja, du hast Recht. Wir haben die Düse gemacht und ...“
„Schätzchen“, fiel ihr Humphrey wieder jäh ins Wort, „Jetzt sag ihm schon, dass wir im Kofferraum eines Waffenhändlers liegen. Der kann das locker verkraften, wenn ich das schon hinbekomme!“
Zwei sprachlose Jungs saßen in Athen und trauten ihren Ohren nicht. Was hatte der Typ gesagt? Waffen – und Kofferraum?
„Ihr verarscht uns doch. Ihr übt gerade eine Szene für dein nächstes Buch, oder?“
„Nein, nein mein Herzblatt“, flötete Humphrey, „Aderman sitzt da vorne und möchte mit deiner Liebsten eine flotte Nacht verbringen. War das jetzt deutlich genug?“
„Be, bitte glaube ihm kein Wort, es geht gerade mit ihm durch. Er hat die ersten Seiten meines neuen Buches gelesen und ist gerade ein bisschen geistig umnebelt.“
„Das nehme ich dir nicht ab, Kleines. Dein neues Buch spielt in Finnland, ich habe es selbst gelesen. Vielleicht erinnerst du dich – wir beide auf der Couch – und des Lesens mächtig bin ich auch. Also rede jetzt Klartext. Wie tief sitzt du in der Scheiße ... und wer zur Hölle ist Aderman?“
„Bis zum Hals sitzen wir drin“, rief Humphrey, „aber ich kann sie beruhigen, mein Freund der Polizeichef lässt schon nach uns suchen. Ach ja, und Aderman haben wir so getauft, weil ihm immer eine große, fette Ader auf der Stirn steht, igitt, das sieht vielleicht unästhetisch aus. Ist wahrscheinlich der Anführer von denen.“
„Also ich muss schon sagen Humphrey. Es bereitet mir eine große Freude, mich mit ihnen zu unterhalten. Mary ist ja in mancherlei Hinsicht sehr wortkarg – nicht wahr Schatz?“
Mary presste die Lippen aufeinander und ihre Augen wurden zu kleinen, angriffslustig aussehenden Sehschlitzen.
„Humphrey“, fuhr Be fort, „wie gefährlich schätzen sie denn Marys neuen Verehrer ein. Sagen wir auf einer Skala von eins bis sieben?“
„Dem gebe ich eine glatte sieben oder eher noch mehr. Kommt sehr ruppig daher, der Zeitgenosse, und dann immer seine Schlagader ... Uaah. Aber das sagte ich ja schon.“
„Okay. Jetzt habe ich genug. Humphrey, sie geben mir sofort die Nummer ihres Freundes. Ich werde ihm Marys Telefonnummer durchgeben, damit sie geortet werden kann!“
„Was? Kann man mein Handy ...“
„Sei ruhig, Mary, sonst verstehe ich Humphrey nicht.“
Er wählte und wunderte sich, dass sich eine Polizeistation meldete anstatt der Polizeipräsident persönlich. Aber wahrscheinlich war er gerade nicht erreichbar. Be erklärte dem Beamten in kurzen Zügen die Lage und gab Marys Handynummer durch. Es war ein hartes Stück Arbeit, den Mann im Londoner Revier zu überzeugen, dass dies kein dummer Jungenstreich war, sondern bitterer Ernst. Aber nach langem Hin und Her schaffte es Be, dass Marys Handy per GPS ausfindig gemacht wurde. Trotzdem fragte er sich, warum dies nicht schon nach dem Anruf Humphreys beim Polizeipräsidenten geschehen war.
Der Beamte teilte ihm mit, dass das Signal aus der Nähe des Port of London kam und sich schnell dorthin bewegte.
Das war nicht gut! Denn gegenüber dem Hafen lag der London City Airport. Be durfte den Gedanken gar nicht weiter verfolgen, sonst würde ihm sofort übel werden.
Er hatte den Anruf mit Rafas Telefon gemacht, so dass er mit seinem weiterhin auf ‚Hör-Kontakt’ mit Mary war.
Rafa war vollkommen daneben und gönnte sich einen Cognac zur Stärkung aus der Minibar.
„Hallöchen Be, hören sie mich?“
„Ja Humphrey, laut und deutlich. Was ist los?“
„Ich wollte ihnen nur versichern, dass Mary nichts für diese missliche Lage kann. Ich habe sie hier hinein gezogen“
„Dann passen sie mal ein bisschen auf sie auf, so groß ist sie nämlich noch nicht, sie tut immer nur so!“
„Ich tue mein Möglichstes ... Aber jetzt verstehe ich Mary endlich, sie ist immer so ruhig und gelassen, wenn sie mit ihnen gesprochen hat.“
„Soo ... ist sie das? Das ist ja schön. Ich muss mich nur noch an ihr Tempo gewöhnen, mit dem sie von einer Katastrophe zur nächsten jagt.“
Humphrey grinste und bedeutete Mary, dass sie jetzt gefälligst was sagen sollte. Kleinlaut sprach sie in das Handymikro.
„Tut mir Leid, dass du dir immer Sorgen um mich machen musst, das brauchst du nicht, ehrlich. Ich schaffe das alles schon alleine.“
„Weiß ich ja, versprich mir aber, dass du auf dich acht gibst, ich wollte dich eigentlich in diesem Leben noch mal wieder sehen.“
„Versprochen! Ich will dich auch sehen!“
„Ich will ihn auch sehen!“
„Halten sie die Klappe, Humphrey.“
Be musste lächeln, da war sie wieder, seine liebliche, reizende Freundin. „Ach was ich ganz vergessen hatte, die Jungs haben ein paar schrille Sexspielzeugchen besorgt. Sind hier der allerletzte Schrei, an jeder Straßenecke werden sie verkauft.“
„Iih, das ist ja eklig. Du wirst doch nicht glauben, dass ich diese Drecksdinger mit dir ausprobiere. Da sind bestimmt tausend Bakterien dran.“
„Ich würde sie mit ihnen ausprobieren“, flötete Humphrey.
„Humphrey!“ fuhr ihn Mary an.
„Ist ja schon gut, tschuldigung.“
Sie merkten wie der Wagen langsamer wurde und schließlich zum Stehen kam.
„Be“, flüsterte Mary, „wir haben angehalten, sag jetzt nichts mehr, ich lasse das Handy an und stecke es in meinen Stiefel, dann kannst du alles mit anhören.“
„Gut, passt auf euch auf!“
Rafa lag auf dem Boden und hatte seine Freundschaft mit der Minibar deutlich vertieft. „Jetzt unterhältst du dich mit einem Stiefel ... Is ja irre, hahaha.“
„Sei still, du Hohlkopf, und trink nicht noch dein letztes bisschen Verstand weg!“
„Sorry“, Rafa schüttelte sich und konnte wieder klar sehen. Beide waren nun mucksmäuschenstill und verfolgten alles, was im fernen London irgendwo am Hafen vor sich ging.
„Be? Sag mal, wieso hat denn die Polisei nicht gleich Marys Handynummer verfolgt? Ich denke dieser Humpy hat dem Minister Bescheid gegeben? Mann, die sind ganz schön doof da auf der Insel.“
„Wie viel hast du denn getrunken? Hol dir erst einmal einen Kaffee. Der Kerl heißt Humphrey ... „
„Geenau.“
„... und das war der Polizeipräsident nicht der Minister! – Toll, dass dir das mit dem Anruf auch schon aufgefallen ist!“
Be machte sich schon die ganze Zeit darüber seine Gedanken und wusste nicht mehr so recht, was er nun davon halten sollte. Er wusste nur, dass er einen Ortungschip in Marys Handy hatte einbauen lassen, der unabhängig arbeitete und keine externe Stromzufuhr benötigte. Ein guter Freund aus seiner mehr oder weniger erfolgreichen Studienzeit auf der Universität Helsinki hatte ihn auf diesen Gedanken gebracht – er arbeitete als Entwickler in einer großen Elektronikfirma und hatte immer den neuesten Schnickschnack auf Lager. Wenn alles schief ginge, müsste er nur diesen Freund anrufen und er könnte im Nu Marys Position bestimmen, unabhängig ob das Handy eingeschaltet war oder nicht.
Ist das nicht schlimm, wenn man jemandem helfen möchte und kann nicht? Oder darf sogar nicht! So erging es mir schon mehrere Male und da frage ich mich immer, warum passiert diesen Personen das. Meistens geschehen immer denselben Menschen ganz furchtbare Dinge. Sollen sie etwas lernen oder ist das purer Zufall? Wir werden es wohl nie erfahren!
Der Kofferraum öffnete sich und die beiden blickten in das unrasierte Grinsegesicht von Aderman. Er beförderte sie unsanft aus ihrem Gefängnis und schubste sie abfällig gegen den Geländewagen. Sie befanden sich an einem Hafen und Mary konnte in der Nähe die Thames Barrier erkennen. Sie gehört zu den weltweit größten beweglichen Flutschutzwehren. Ihre Hauptaufgabe ist es, London vor außergewöhnlich hohen Fluten der Nordsee zu schützen, insbesondere vor Sturmfluten.
Nun wusste sie, wo sie waren.
Der unfreundliche Zeitgenosse und zwei seiner Spießgesellen führten sie mürrisch zu einer großen Yacht, auf deren Heck Mary gerade noch den Namen „Sunrise Speed“ und eine ihr nicht bekannte Flagge erkennen konnte. Blau mit einem schmalen roten Streifen entlang des oberen und unteren Randes, im Zentrum eine große weiße Scheibe mit einem Wappen.
Als sie die Gangway aus feinstem Teakholz passiert hatten, wurde diese sofort eingeholt und die kräftigen Dieselmotoren wirbelten das Wasser hinter dem Boot auf.
„Eine nette Nussschale haben sie hier. Können sie und ihre Hilfsgangster überhaupt mit sowas technischem umgehen, ohne gleich ins Höschen zu pinkeln?“
Aderman kam auf Mary zu und packte sie hart am Arm.
„Immer zu Scherzen aufgelegt, was? Das wird ihnen bald vergehen, wenn wir in kühleren Gefilden angelangt sind.“
„Oh, kühl. Ist ja mal was anderes. Im warmen Süden, besonders in Frankreich war ich schon zur Genüge. Ich hoffe, sie können mir wenigstens die skandinavischen Länder etwas schmackhaft machen. Norwegen oder Schweden würde ich vorziehen, die Fjorde sollen wunderschön romantisch sein.“
Aderman strich über Marys Haar. „Haben sie keine Angst vor der Kälte und den Wölfen, die soll es nämlich dort geben.“
„Nein, im Moment steht beides direkt vor mir! Sehen sie etwa Angst in meinen Augen?“
Er kam jetzt ganz dicht zu Mary. „Ich weiß nicht, was ich in ihren Augen sehe, aber das was ich sehe hält mich davon ab, sie gleich zu töten oder besser noch zu verkaufen. – Wobei, wenn ich recht überlege – verkaufen wird auch nicht ganz leicht werden. Mit ihrer eigenwilligen Art wird sich manch einer meiner Kunden die Zähne an ihnen ausbeißen und sein Geld zurück verlangen. Für sie brauche ich einen außergewöhnlichen Käufer. Einer, der ihren Kampfgeist, ihr Feuer und ihre Leidenschaft schätzt und dies auch zu beherrschen weiß. Denn sind wir mal ehrlich, mit ihrer Jugend und Reinheit können wir nicht mehr groß punkten.“
Er legte eine kleine Pause ein und betrachtete eingehend Marys Figur. „Aber sie können mir hier an Bord gerne Gesellschaft leisten und mir das Gegenteil beweisen. Vielleicht werden auch sie dann erkennen“, er warf einen Seitenblick auf Humphrey, „dass nicht alles so ist wie es scheinen mag.“
Mary erhaschte einen kurzen, ärgerlichen Blick von Humphrey, der sie stutzig machte. Wie hatte Aderman das gemeint und auf wen bezog er es? Aber sie schob diesen Gedanken schnell wieder beiseite, weil sie sich viel mehr um ihre Aussagen gegenüber ihrem Entführer Sorgen machen musste. Dieser Mann war äußerst gefährlich und extrem schlau, ihm war alles zuzutrauen. Er blickte einen aus eiskalten Augen an und seine aggressive Körpersprache bedeutete nichts Gutes.
Mary und Humphrey wurden jetzt unter Deck in zwei getrennte Kabinen verfrachtet. Dabei konnte Mary beobachten, dass sich ihr Mitgefangener eigenartig ruhig verhielt und immer wieder Blickkontakt mit ihrem Kidnapper hatte. Aber wahrscheinlich ging ihre Fantasie wieder mal mit ihr durch. Oder er hatte sich in seinen Peiniger verliebt, das soll es ja auch geben – so ein Täter-Opfer Ding.
Aderman öffnete eine Kabinentür und schob Mary hinein. Sie war positiv überrascht über die sehr geschmackvolle Einrichtung des Zimmers. Ein großes Bett in der Mitte des Raumes, Einbauschränke und ein Tisch aus blankpoliertem Mahagoniholz, bequeme Sessel und ein extra angepasster Schminktisch komplettierten das weitestgehend in cremefarben gehaltene Boudoir. Ein angrenzendes luxuriöses Badezimmer war in diesem Fall nur selbstverständlich.
Der Mann stand dicht hinter ihr und Mary konnte seinen warmen Atem in ihrem Nacken spüren. Sanft strich er über ihr Haar und ließ seinen Blick an ihr hinab gleiten. Wie versteinert stand sie da und wusste im Augenblick nicht, wie ihr geschah. Als sich ihre Verkrampfung löste und ihr Gehirn wieder zu arbeiten anfing, drehte sie sich ruckartig um und starrte Aderman direkt in die kalten, gierigen Augen.
„Vielen Dank, ab jetzt finde ich mich selbst zurecht. Ich läute, wenn ich was benötigen sollte.“
Überrascht von soviel Schlagfertigkeit, drehte er sich grinsend um, nickte ihr noch zu und verlies die Kabine. Mary hörte den Riegel von außen zufallen. Sie war eingesperrt!
Schnell rannte sie ins Badezimmer, schloss die Tür und holte ihr Telefon aus dem Stiefel.
„Be, hast du das alles mitbekommen?“
„Ja natürlich.“ Be, der mit Rafa gespannt alles verfolgt hatte, war um Jahre gealtert. Er legte seine Hände vors Gesicht und musste mehrmals kräftig durchatmen, bevor er mit Mary sprechen konnte.
„Ihr seid auf einem Boot und fahrt nach Norwegen oder so. Weißt du, wie der Kahn heißt?“
„Ja, Sunrise Speed und er fährt unter einer blauen Flagge mit roten Streifen oben und unten. In der Mitte ist sie weiß mit einem Wappen.“
„Gut, wir werden sehen, was wir rausbekommen. Aber du musst auf diesen Kerl acht geben, der hat sie nicht mehr alle. Vollkommen durchgeknallt und er will was von dir!“
„Oh Gott, was soll ich denn tun?“ fragte Mary aufgeregt. „Irgendwann ist das Handy leer oder es wird entdeckt, was dann? Soll ich es hier im Bad verstecken? Was meinst du? Weiß die Polizei schon, wo wir sind? Und Humphrey ist auch ganz komisch, seit wir hier sind. Ich habe ein verdammt schlechtes Gefühl.“
„Mary – tief Luft holen, beruhige dich. Bei diesem Humphrey habe ich auch ein ungutes Gefühl. Trau ihm nicht, verstanden? Sag ihm nichts mehr! Höre mir jetzt genau zu, es ist sehr wichtig!“
„Mache ich – komme ich hier wieder raus?“
Be warf Rafa einen skeptischen Blick zu, der mit der Situation gänzlich überfordert war und schon wieder mit der Minibar liebäugelte.
„Mary, ich habe in dein Handy einen Ortungschip einbauen lassen, für Notfälle. Ich erkläre dir jetzt, wie du ihn ausbauen kannst, Dann musst du ihn an deinem Körper verstecken, sodass er immer bei dir ist, verstanden?“
„Ja, nur wo soll ich ihn denn verstecken? Soll ich ihn schlucken? Aber dann kommt er irgendwann wieder heraus.“
„Das überlegen wir uns später. Jetzt baust du ihn erst aus. Merke dir gut. was ich dir jetzt sage. Du öffnest zuerst dein Handy. Neben dem Akku siehst du dann ein kleines, längliches goldfarbenes Teil mit der Aufschrift FF, das ist der Chip. Den nimmst du heraus. Dann schließt du das Gerät wieder, schaltest ein und rufst mich sofort an. Hast du alles verstanden?“
„Ja, und das klappt?“ In Marys Stimme war jetzt leichte Panik zu hören und ihr wurde das erste Mal so richtig bewusst, dass sie Be vielleicht nie wieder sehen würde. Zwei kleine Tränen kullerten ihr die Wangen hinunter.
„Mary, bist du soweit? Das funktioniert sicher. Ist nicht schwer“, versuchte Be seine Freundin zu beruhigen.
„Okay, ich fange jetzt an. Bis gleich.“ Ein Rauschen und die Leitung war tot.
Verzweifelt saß Be mit Rafa im Hotelzimmer und starrte auf sein Telefon. „Klingel endlich, du blödes Ding!“
Er hasste dieses untätige Rumsitzen und hoffte nur inbrünstig, dass Mary alles hinbekam. Rafa saß mittlerweile wieder vor der Minibar und wollte gerade einen Wodka zu sich nehmen, als Be’s Handy klingelte und er vor lauter Schreck alles über sein Hemd schüttete. „Verdammte Scheiße.“
Be, der am Fenster gestanden hatte, hechtete zum Telefon und war sichtlich erleichtert, als er die Stimme von Mary vernahm.
„Gott sei Dank Kleines. Du hast es geschafft. Jetzt werden wir dich finden. Ich habe einen Freund, der kann deine Position bestimmen und dann hole ich dich dort raus!“
Rafa sah seinen Freund etwas verstört an, blickte dann auf sein Glas und wieder zurück zu Be. Der nickte ihm ernst zu sprach weiter mit Mary.
„Ich gebe der Polizei Bescheid, dass sie deine Position gesagt bekommen und sobald wir wissen, wohin sie dich bringen, komme ich mit dem nächsten Flieger. Du musst mir aber versprechen, den Chip immer bei dir zu tragen, ansonsten ...“
„Ich weiß, ansonsten findest du mich nicht!“ Mary liefen jetzt die Tränen übers Gesicht und sie konnte nicht mehr dagegen ankämpfen.
„Be, ich wollte dir eigentlich noch soviel sagen ...“
„Ist schon gut, musst du jetzt nicht. Hab keine Angst, ich komme dich holen!“
Mary wurde immer nervöser, sie konnte ihren Körper nicht mehr kontrollieren. Vor ihrem Auge rasten viele Bilder vorbei, Be, wie er sie findet tot in einer Ecke liegend, der Wald, die Fähre, Chida und die Wölfe, alles raste durch ihren Kopf. Doc Martens, ihre Wunde ... ihre Wunde? Das war’s!
„Be, ich weiß jetzt, wie wir’s machen. Ich stecke den Chip in meine alte Wunde, die Naht ist noch nicht ganz verheilt.“
Be rieb sich die Augen. „Rafa, hast du das auch gehört? Was macht sie?“
Rafa schüttelte nur mit dem Kopf, warf sein Glas auf den Boden, griff zur Wodkaflasche und nahm einen ordentlichen Schluck.
Mary war unterdessen schon am Suchen eines spitzen Gegenstandes, um ihre Bauchwunde zu öffnen, die ihr der Doc vor ein paar Tagen vernäht hatte. Im Spiegelschrank fand sie eine kleine Nagelschere, streifte ihren Hosenbund nach unten und entfernte das Pflaster von der Naht.
„Mary“, rief Be außer sich, „sprich mit mir. Wo willst du das Ding verstecken? Ich habe dich nicht verstanden.“
Rafa hatte schon wieder die Flasche im Mund.
„Ich habe etwas gefunden, eine Nagelschere“, sagte Mary mit zitternder Stimme.
„Was willst du mit der Schere? Bist du jetzt ganz verrückt?“
„Nein Be“, Marys Nerven lagen blank, „ich muss dir jetzt etwas sagen.
Be lief angespannt durch Zimmer und ahnte Schreckliches. „Was? Sag schon!“
„Ich liebe dich“ kam es leise durch das Telefon.
„Aah ...“ Be fiel eine Wagenladung Steine von der Brust und Rafa grinste blöde hinter seiner Flasche hervor.
„Das wollte ich nur loswerden, es verpflichtet dich aber jetzt zu gar nichts ...“
„Mary ..“
„... ich wollte es nur sagen, damit ...“
„Mary ..“
„... du das weißt, kann ja sein ...“
Mary ..“
„... dass ich dich nicht mehr wieder sehe.“ Laut schluchzend, kaum mehr ihre Tränen bändigend, brachte sie gerade noch die letzten Worte hervor. Sie stand da mit ihrer Schere in der Hand kurz vor dem Zustechen, hatte aber höllische Angst und zitterte wie Espenlaub.
„Mary, verdammt, hörst du mir jetzt zu?“
„Ja verdammt“, brüllte Rafa.
„Ich liebe dich auch und hole dich da raus. Hast du gehört?“
„Ja.“
„So, und jetzt erkläre mir bitte, was du da vorhast.“
„Okay. Ich schneide ein kleines Stück der Naht auf und schiebe den Chip hinein. Dort kann ihn keiner finden.“
Be und Rafa schauten sich entsetzt an und einen kurzen Augenblick hatte man den Eindruck, Rafa wäre nüchtern geworden. War das ihr Ernst? Sie wollte sich den Bauch aufschneiden und sich selbst einen Chip implantieren?
Allein die Vorstellung führte dazu, dass sich Rafa in die Hand biss und sofort ein Schmerzmittel in Form eines hochprozentigen Getränkes zu sich nahm.
Be musste sich schwer zusammen reißen. Das war der beste und zugleich bescheuertste Plan, den er je gehört hatte. Aber er durfte sich nichts anmerken lassen und sprach weiterhin sehr ruhig mit Mary.
„Bist du dir sicher, dass du das fertig bringst?
„Nein“, Mary zog schniefende die Nase hoch, „aber ich mache es jetzt einfach.“
Heulend lachte sie vor sich hin. „Falls jetzt einer schreien sollte, das bin nur ich.“
„Okay, gehen wir's an. Bitte schau in dem Zimmer nach, ob du irgendwo Alkohol findest.“
Mary ging vom Bad vorsichtig in das Schlafzimmer und öffnete die Schränke einen nach dem anderen. Im Schminkschrank war eine Tür an der Seite, hinter der sie eine kleine Bar fand. Sie nahm einen weißen Rum mit und ging ins Badezimmer zurück.
„Ich habe einen Rum gefunden.“
„Gut, schütte ihn jetzt über die Schere und den Chip, dann sind sie einigermaßen desinfiziert – hast du das?“
„Ja“, antwortete Mary und starrte zittrig auf ihren Bauch. Im Hintergrund hörte sie Be und konzentrierte sich auf seine beruhigende Stimme.
Dann stach sie präzise in den Anfang der Naht. Blut floss heraus und ihr wurde vor Schmerzen kurz schwindelig, was sich aber sofort wieder legte. Behutsam öffnete sie die Naht ein wenig und steckte den Chip hinein. Die Schmerzen waren fast nicht zum aushalten und ihr Kreislauf fuhr Achterbahn. Mary setzte sich auf den Boden, schloss die Augen und strengte sich an, nicht ohnmächtig zu werden. Das Pflaster benetzte sie auch mit ein paar Tropfen Rum und klebte es wieder über die Wunde. Die Blutreste tupfte sie mit Toilettenpapier ab und lehnte sich dann erschöpft an die Tür.
„Hey Babe, bist du noch da?“
„Ja“, kam die schwache Antwort zurück, „der Chip ist drin.“
„Ich bin so stolz auf dich. Rafa übrigens auch. Dem ist so schlecht, dass er wohl die nächsten Tage nicht aus dem Bett kommt.“
Mary lächelte.
„So, jetzt rufe ich Sven an, der gibt mir deine Position durch und morgen früh bin ich bei dir und nehme dich mit zu mir nach Hause. Dort bist du in Sicherheit und bleibst auch eine Weile, ob du nun willst oder nicht. Hast du gehört?“
„Ja, du glaubst gar nicht, wie gerne ich jetzt bei dir wäre.“
Marys Körper war am Ende. Sie zitterte am ganzen Leib. Langsam stand sie auf und tastete sich zum Waschbecken um ihre blutigen Hände zu waschen.
„Mir ist ganz übel, ich glaube, mein Kreislauf macht gerade schlapp.“
„Halte dich irgendwo fest, dass du nicht umkippst, und trinke einen Schluck Wasser.“
Mary hörte noch, wie Be Wasser sagte und kotzte in hohem Bogen ins Waschbecken. Vollkommen erledigt hielt sie sich am Beckenrand fest.
Die beiden Männer konnten das alles mit verfolgen und waren immer noch fassungslos über das, was Mary gerade eben getan hatte. Be musste sich schwer konzentrieren, dass seine Stimme ausgeglichen und beruhigend klang.
„He Babe, geht es jetzt besser? Du bist ein tapferes Mädchen. Rafa hätte das nicht geschafft! Außerdem ist er total besoffen.“
„Ich bin übershaupt nicht bezoffen“, lallte Rafa von der Couch herüber, drehte sich ein wenig zu heftig und krachte auf den Boden, „aua, verdammt! Wieso ist denn das Sofa hier schon aus.“
Mary schmunzelte trotz ihrer Erschöpfung. „Be ...?“
„Ja Kleines?“
Sie war jetzt wieder den Tränen nah. Irgendwie wollten die gar nicht mehr verschwinden. Tatsächlich machte im Moment ihr Körper sowieso was er wollte. Sie setzte sich wieder auf den Badezimmerboden und heulte wie ein Schloßhund. Die Anspannung und die Angst waren zu groß und sie musste dies alles jetzt rauslassen.
„Warum ...“
Be hörte sie weinen und fragte sanft nach. „Was meinst du?“
„Warum immer ich? Ich will nicht mehr!“
Be konnte sie sehr gut verstehen, waren doch die letzten Tage und Stunden sehr aufregend.
„Das kann ich dir leider nicht sagen, Liebling, Vielleicht bist du ja eine einsame Kriegerin, die das aushalten muss.“
„Nein, muss ich nicht!“
„Ich glaube, das hast du soeben bewiesen. Du schaffst alles. Nicht einmal die komplett irre Colin hätte sich einen Chip verpasst.“
Mary konnte jetzt nicht mehr und wollte nur noch nach Hause, all dies hinter sich lassen.
„Holst du mich?“
„Natürlich Schatz. Das habe ich dir doch versprochen. Hab keine Angst, morgen bin ich bei dir, hole dich da raus und dann fahren wir ein paar Tage nach Hawaii. Wie findest du das?“
„Das wäre toll!“ Schweißgebadet und zitternd saß sie zusammengekauert am Boden, umklammerte ein Handtuch und träumte davon, sich einfach weg zu beamen. Aber da war wohl der Wunsch des Gedankens größer als die nackte Wahrheit. Sie dachte an Be, die Jungs und Hawaii und versuchte ruhiger zu werden. Mit der Bande hatte sie immer so viel Spaß. Ein zaghaftes Lächeln wurde auf ihren Lippen sichtbar und langsam viel die Anspannung von ihr ab.
„Wie geht es Rafa?“
„Och dem geht’s bestens. Wenn er jetzt auch noch anfängt Trinklieder zu singen, werfe ich ihn aus dem Fenster.“
„Be ... vielen Dank, dass du da bist. Es tut mir leid, dass du ausgerechnet mir begegnen musstest.
„Spinnst du? So viel Spaß wie mit dir hatte ich mein ganzes Leben noch nicht.“
„Tas is richtig, so luztig war der Brummbär noch nie“, Rafa lachte laut und schlug sich beim Versuch aufzustehen den Kopf an der Tischplatte an.
„Der hat morgen höllische Kopfschmerzen“, sagte Be.
„Das hast du bestimmt auch wegen mir“, gab Mary zur Antwort.
„Lass dir mal wegen mir keine grauen Haare wachsen, wäre schade! Bist du jetzt schon ein bisschen ruhiger?“
„Ja, du hast es wieder mal geschafft. Wie Humphrey schon sagte, du bist ein “Beruhiger“, oder vielmehr ein Mords Kerl. Bilde dir aber bloß nichts darauf ein. Er ist stockschwul!“
„Meinst du, ich hätte Chancen bei ihm?“
„Au Backe, das möchte ich mir gar nicht erst vorstellen. Außerdem musst du ja mich schon ertragen, und das noch eine ganze Weile!“
Be lächelte. „Ich werde den Doc anrufen, dass er uns noch so eine Überraschungstüte mit vielen bunten Spielsachen schicken soll, einverstanden?“
„Auf die Idee kann ja nur wieder ein Mann kommen. Ich schneide mir hier den Bauch auf und du denkst wieder ausschließlich an das eine! Aus euch Kerlen soll mal einer schlau werden.“
Sie hörte Be laut auflachen und Rafa faselte im Hintergrund irgendwelche unzusammenhängende Wörter. Das waren ihre Jungs, immer für sie da, egal in welchem Dilemma sie gerade steckte. Ihr ging es schon wesentlich besser, weil sie ganz genau wusste, dass sie sich felsenfest auf Be verlassen konnte. Er würde sie hier rausholen, koste es, was es wolle!
Be war jetzt sehr erleichtert und klopfte Rafa aufmunternd auf die Schulter, der über seine eigenen Füße stolperte und kopfüber in der Obstschale landete, die auf einem Sideboard neben der Balkontür stand, bevor er wieder mal zu Boden ging. Verdutzt schaute er hoch, im Gesicht Spuren von zermantschten Erdbeeren und einer Kiwi.
„Warum schlägst du mich? Ich habe doch gar nichts getan? Das is fies!“
„He, ihr beiden Radaubrüder“, meldete sich Mary, die sich nur mit Mühe das Lachen verkneifen konnte, „soll ich jetzt das Handy ausschalten? Der Akku ist bald leer.“
„Warte noch eine Sekunde. Ich rufe kurz Sven an. Melde mich sofort wieder.“
Er kappte die Verbindung mit Mary und erreichte Sven noch in der Firma, erzählte ihm in kurzen Zügen um was es ging, worauf sich Sven sofort an die Ortung von Marys Chip machte. Binnen Sekunden konnte er Be sagen, wo sie sich im Augenblick befand. Er schlug Be vor, dass er ihn anrufen sollte, sobald sich das Signal nicht mehr fortbewegt. „Es wird irgendwo in Norwegen sein. Sie sind schon an Stavanger und Bergen vorbei, also würde ich dir einen Flug nach Trondheim vorschlagen. Da liegst du auf jeden Fall richtig. Mach’s gut Alter, wir hören.“
„Hallo Mary“, sagte er schnell, als er seine Freundin wieder an der Strippe hatte, „ich weiß jetzt, wo ihr seid und schalte die Behörden ein. Du bist auf dem Weg nach Norwegen, Sven verfolgt dein Signal, bis er weiß, wo ihr an Land geht. Dort holen wir dich dann.“
Mary, immer noch auf dem Boden sitzend, schickte eine Telefonnummer auf Be’s Handy. „Das ist die Nummer von Tom, meinem Lektor. Erzähle ihm alles, vielleicht kann er helfen, er hat eine Menge guter Kontakte. Frage ihn auch gleich über Humphrey Goles aus, er hat uns zusammengebracht. Vielleicht ist Humphrey ja doch nicht der, der er vorgibt zu sein. Wäre ja möglich, ich weiß gar nichts mehr.“
Be lief aufgeregt im Zimmer umher und würde am liebsten schon im Flugzeug sitzen. „Rafa, kannst du mir einen Flug nach Trondheim ... oh Gott, mit dem ist nichts mehr anzufangen.“ Er gab den Versuch auf, seinem sich grölend am Boden wälzenden Freund nur ansatzweise eine Aufgabe zu übertragen. Musste er eben selber buchen. Auch gut!
„Okay Mary, höre mir zu. Morgen bin ich bei dir. Egal wie. Achte solange auf dich und vertraue keinem. Wirklich keinem! Falls dein Verehrer dir heute Nacht einen Besuch abstatten sollte, schlage ich ihm den Schädel ein. Das schwöre ich dir. Lass dir irgendwas einfallen, dass du ihn loswirst. Am besten du kotzt ihn einfach an, das wirkt immer. Wir Männer hassen sowas.“
Mary lachte. „Das ist eine hervorragende Idee. Könnte glatt von mir sein.“
„Ist von dir. Habe sie mir nur ausgeliehen.“
„Was hasst ihr Männer denn sonst noch so? Gib mir mal ein paar Tipps.“
„Besoffene Frauen, oder pausenloses Gequatsche, das geht gar nicht!“
„Okay, ich lasse mir was Dummes einfallen. Das Handy schalte ich jetzt aus.“
„Du kannst mich aber jederzeit anrufen, das weißt du.“
Be fiel es sichtlich schwer, sich von Mary zu trennen, aber er musste es. Je schneller er zum Flughafen kam, desto schneller war er in Norwegen. Es würde eine sehr lange Nacht und ein noch längerer Tag für ihn werden. Aber das war egal, Hauptsache, er würde sie finden.
Mary hielt krampfhaft ihr Telefon in Händen, auch sie wollte nicht auflegen. Wiegte sie sich doch immer in Sicherheit, wenn sie mit Be verbunden war. Doch sie musste, und dann würde sie wieder alleine sein. Alleine mit einem Psycho, der nicht einzuschätzen war. Alleine mit ihren Gedanken, und nur die Sicherheit, dass Be bald kommt, ließ sie hoffen.
„Also gut“, sagte sie traurig, „legen wir auf. Ich sehe dich ja morgen. Hawaii ist zwar schön zu dieser Jahreszeit, aber Finnland würde mir auch schon genügen!“
„He, was heißt da genügen? Das ist meine Heimat und wunderschön.“
„Du Dummkopf, du weißt ganz genau, wie ich das meine – und jetzt leg endlich auf, ich schaffe das nicht.“
„Wir sehen uns morgen. Ich liebe dich!“
Schweren Herzens beendete Be das Gespräch, schnappte seine Tasche und warf wahllos Klamotten aus dem Schrank hinein. Währenddessen telefonierte er mit der Hotline der Scandinavian Airlines und machte seinen Flug nach Trondheim klar. Danach ließ er vom Concierge ein Taxi bestellen, das ihn in 15 Minuten abholen sollte. Er hatte jetzt noch etwas Zeit und beschloss, seinen Freund Rafa, der mittlerweile fürchterlich betrunken war, wieder einigermaßen herzustellen.
„Komm her, mein Lieber“, sagte er und griff ihm unter die Arme, hob ihn hoch und schleppte ihn ins Badezimmer.
„He, wer bis du denn? Und warum has du so ein großen Kopf?“
Be setzte ihn mitsamt seinem Herrengedeck und Klamotten in die Dusche und drehte das kalte Wasser an.
Zunächst verfehlte der Wasserschwall allerdings seine Wirkung. Rafa fing an zu singen und verlangte nach einem Regenschirm. „So ein scheiß Wedder, mitten im Sommer.“
Doch nach und nach bemerkte er, dass hier etwas nicht stimmte. Sein Alkoholvorhang lichtete sich zusehends und er fing an zu fluchen. „Verdammt, ist das kalt. Hast du nicht mehr alle Tassen im Schrank? Willst du mich umbringen?“
„Der Gedanke kam mir, ja. Aber ich war das nicht. Du wolltest ein Bad nehmen, hast nur die Wanne verfehlt.“
„Ach Quatsch, welcher Trottel setzt sich denn angezogen in die Dusche?“
Be grinste ihn an und jetzt blickte auch Rafa, dass sein Freund ihn auf den Arm nahm.
„Mein lieber Kamerad, du warst so zugedröhnt, was sollte ich denn machen. Ich muss sofort weg zum Flughafen und du liegst hier fantasierend sternhagelvoll in der Gegend herum und wirfst mit Wodka um dich“
„Ja, ja. Hab's verstanden. Wo musst du hin?“
„Das gibt’s doch nicht. Weißt du denn nichts mehr? Ich muss nach Norwegen, Mary steckt in Schwierigkeiten.“
„Nach Norwegen? Also los, gehen wir!“
Rafa stand auf, rutschte weg und verfing sich im Duschvorhang, der zusammen mit ihm samt Aufhängevorrichtung der Länge nach hinknallte.
„Du meine Güte“, Be hielt sich die Hand an die Stirn, „hast du dich verletzt?“
„Ha, ich doch nicht. Da muss schon mehr kommen wie so ein blöder Vorhang“, er lag auf dem Rücken und strampelte wie ein Maikäfer, um das lästige Plastikteil los zu werden.
Be half ihm und gemeinsam schafften sie es, ihn zu befreien. Rafa wankte ins Schlafzimmer und ließ sich aufs Bett fallen.
„Bist du noch aufnahmefähig?“ fragte ihn Be.
Aber sein Kumpel hatte schon die Augen geschlossen und schnarchte zufrieden ins Kissen.
Be lächelte ihn an, klopfte ihm auf den Rücken und verabschiedete sich, auch wenn Rafa schon im Reich der Träume war. „Mach’s gut. Du weißt, wie du mich kriegen kannst. Und gehe morgen den anderen wegen deinem Brummschädel nicht auf die Eier!“
Er ging jetzt hinunter, durch die Lobby nach draußen und stieg in das Taxi, welches sich sofort mit Vollgas in den vorabendlichen Verkehr stürzte.
Während der Fahrt rief er Tom an und erzählte ihm alles. Der fiel aus allen Wolken und bot sofort seine Hilfe an.
„Ich setzte mich gleich mit Interpol in Verbindung, dort habe ich einen sehr guten Freund. Geben sie mir bitte die Telefonnummer ihres Freundes, der den Chip orten kann. Die Spezialisten von Interpol sollen sich dann direkt mit ihm in Verbindung setzen.“
Be bedankte sich artig und war nun doch etwas beruhigter.
Am Flughafen angekommen, natürlich wieder einmal sehr knapp in der Zeit, spurtete er zum Schalter und checkte ein. Gerade noch rechtzeitig!
Die Maschine hob ab, mit Be an Bord, der fest entschlossen war, sich diesen Aderman zur Brust zur nehmen!
Unterdessen irgendwo in der norwegischen See im Bauch einer weißen, schnellen Hochseeyacht, rappelte sich Mary hoch und überlegte, wie sie die Situation in den Griff bekommen könnte. Zu allererst wusch sie ihr verheultes Gesicht, damit man ihr nichts anmerken konnte, falls sie unerwarteten Besuch bekäme. Sie lief durchs Schlafzimmer und legte ihr Ohr an die Tür zum Flur, aber alles war ruhig. Nur die Schiffsdiesel gaben ihr monotones Gebrummel von sich.
Mary ließ ihren Blick durch den Raum gleiten und blieb am Bullauge haften. Draußen war es stockfinster, nur der Mond, der sich im Meer spiegelte, war zu sehen. Ihre Gedanken schweiften ab und sie stellte sich die Menschen vor, die jetzt zur gleichen Zeit aufs Meer blickten, nur dass diese glücklich und zufrieden waren.
Warum war das immer so im Leben?
Einer stirbt, ein neues Leben wird geboren. Die einen weinen, die anderen lachen. Mary verstand vieles nicht, was das Leben ihr so bot. Immer wieder fragte sie sich, Muss ich das überhaupt verstehen?’
Nein, heute Nacht nicht, es ist, wie es ist. Mehr gab's dazu nicht zu sagen. Sie war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, das war alles.
Besonnen und klug handeln, das war ihre einzige Chance, sofern sie überhaupt eine hatte.
Die letzten Tage in Finnland zusammen mit Be waren so schön, also hey, warum sich beschweren. Lass es einfach auf dich zukommen und regiere dann. Ja, so bestärkte Mary ihren Willen und war plötzlich wie ausgewechselt. Ihre Energie meldete sich zurück und die Gehirnwindungen warfen ihre Motoren wieder an. Sie setzte sich gefasst auf das Bett, die Tür im Blick und wartete auf das, was da passieren würde.
Nach einiger Zeit wurde es laut auf dem Gang, die Tür wurde polternd aufgestoßen und Mister Charming persönlich schubste Humphrey unsanft ins Zimmer.
„Hier, beruhigen sie diese Memme. Er bringt uns alle mit seinem dauernden Geheule auf die Palme. In 20 Minuten bin ich wieder da, und wehe, er hält dann nicht sein Maul ...“
Aderman ging erbost hinaus und verschloss die Tür.
Prüfend blickte sie in Humphreys Gesicht, der schon wieder am Jammern war. Sie wollte irgendetwas erkennen, das ihn vielleicht verriet.
Ich war auch einmal in so einem Psycho Kurs. „Erkenne deinen Nachbarn“. He, das ist gar nicht so einfach. Ich dachte immer, ich habe eine gute Menschenkenntnis, aber wenn dich einer gekonnt belügt bemerkt man das nicht. Man kann nicht einfach ein Gesicht lesen, dazu braucht man jahrelange Erfahrung und eine sehr gute Schulung. Klar, bei Normalos sieht man ob sie gelassen sind oder dich reinlegen wollen. Aber bei echten Profis bemerkst du nichts. Du bist schon in ihren Fängen, bevor du überhaupt hallo sagen kannst.
Du weißt nichts, bevor du es weißt! Klar?
Humphrey sah Mary leidend an, ging auf sie zu und legte seine speckigen Arme um sie.
„Oh, Schätzchen, ist das nicht schlimm, was die mit uns machen? Ich wurde die ganze Zeit über verhört, und geschlagen haben sie mich auch, diese bösen Burschen!“
Er zeigte auf ein paar Schrammen an der Schläfe und am Kinn. Die konnten aber genauso gut von ihrem Sturz in den Keller des baufälligen Hauses herrühren. Mary traute ihm nicht mehr, spielte aber das Spiel mit. Tröstend sprach sie auf Humphrey ein und versuchte dabei, ihn gleichzeitig so unauffällig wie nur möglich auszufragen.
„Was wollten sie denn von ihnen wissen?“
„Na, wie sie an mein Geld kommen, was haben sie denn gedacht, Schätzchen?“
„Ich weiß auch nicht. Wir kennen die doch gar nicht. Und? Kommen sie jetzt an ihr Geld? Wie soll das funktionieren? Haben die Kerle ein Bankkonto auf den Cayman Islands? Sollen sie ihr Geld dorthin transferieren, und dann? Umbringen können die sie dann erst recht. Wenn sie das Geld eh schon haben?“
Humphrey sah Mary ziemlich verdutzt an und fing sofort an zu heulen.
„Oh Gott, meine Liebste, sie haben ja so Recht, ich bin vielleicht ein kleines Dummchen, daran habe ich natürlich nicht gedacht. Sie haben mir sogar ein Handy in die Hand gedrückt und gesagt, ich solle meinen Banker anrufen. Gott sei Dank habe ich ihn nicht erreicht.“ Er machte eine kleine Pause, legte seine Stirn in Falten und warf einen durchbohrenden, fordernden Blick auf Mary.
„Haben sie eigentlich ihr Handy noch? Haben sie zwischenzeitlich schon mit ihrem Freund gesprochen? Der holt uns doch sicher hier raus, oder?“
„Nein, leider konnte ich ihn nicht mehr erreichen. Entweder funktioniert mein Handy hier nicht oder es hat einen Schaden bei unserem Sturz abbekommen. Ich habe es jetzt ausgeschalten um den Akku zu schonen. Wir können es später wenn wir an Land sind, noch mal versuchen. Dort sollte der Empfang besser sein – Haben sie etwas mitbekommen, wohin es geht?“
Sichtlich erleichtert nahm Humphrey Mary in den Arm und beteuerte ihr, dass sie bestimmt bald gefunden werden. Er hatte sich ja persönlich beim Polizeichef dafür eingesetzt. Wo es hingeht, wisse er auch nicht. Er mache sich nur Sorgen um sie, weil sie durch ihn in diese Lage geschlittert sei, und er könne sich beim besten Willen nicht vorstellen, was die Entführer von ihr wollten und was sie mit ihr vorhätten.
„Sie lassen uns bestimmt bald frei. Irgendwo im Nichts. Alleine auf weiter Flur. Meinen sie nicht auch meine Liebe?“
„Ja bestimmt, Humphrey. Ich bin sowieso nutzlos und nur Ballast, ich bin ein Niemand.“
„Oh nein, mein Kind. So dürfen sie das jetzt nicht sehen. Sie schreiben tolle Bücher, die ich im Übrigen alle verschlungen habe.“
„Meine Bücher, ja – die werden die Herrschaften da draußen brennend interessieren. Ich glaube nicht, dass sie viel Zeit ins Lesen investieren oder je investiert haben.“
Humphrey lachte und stimmte ihr kopfnickend zu.
Das Türschloss knackte, die Tür wurde aufgestoßen und Aderman erfreute die beiden mit seinem Erscheinen. Humphrey verschwand sofort hinter Mary, duckte sich und spielte ‚Unsichtbarer Mann’.
„Ich sehe, sie konnten das Jammermaul beruhigen“, sagte Gangster Nummer eins grinsend, „ich wusste sie haben eine betörende Ausstrahlung, die Männer müssen ihnen zu Füßen liegen!“
„Ich sehe hier keine herum liegen, sie etwa?“
Er schnippte mit den Fingern und Gangster Nummer zwei trabte an, schnappte Humphrey, zog ihn aus dem Zimmer und verschloss die Tür.
Mary war jetzt alleine mit ihrem Psychopaten. Ihr Herz raste und ein leichtes Unwohlsein breitete sich in ihr aus.
Aderman kam auf sie zu, drehte sie um und drückte sie gegen den Spiegelschrank. Er stand hinter ihr und presste seinen Körper gegen den ihren. Sie blickten sich im Spiegel an und er begann, Mary abzutasten. Sein gieriger Blick ließ darauf schließen, dass es ihm sehr viel Freude bereitete. Langsam, keinen Zentimeter ihrer gut geformten Figur auslassend, arbeitete er sich von oben nach unten. Je näher er den Stiefeln kam, desto nervöser wurde Mary. Langsam strich er die Innenseiten ihrer Beine hinunter, fasste in ihren linken Stiefelschaft und zog das Handy heraus.
„Ja was haben wir denn da? Hast du wirklich gedacht, du kommst damit durch? Ganz schön blauäugig, muss ich schon sagen.“
Er ließ es in der Innentasche seines Field Jackets verschwinden und schaute Mary nun wieder im Spiegel an. Seine Hände wanderten tastend über ihren Oberkörper, streiften ihre Brüste und legten sich fest um ihren Hals.
‚Oh Gott, das war's jetzt’ dachte Mary, aber unerwartet lockerte sich sein Griff, er strich ihre Haare aus dem Nacken und küsste sie auf den entblößten Hals unterhalb des Ohres.
Mary verfolgte gebannt jede seiner Bewegungen.
Wild riss er sie plötzlich herum, drückte seine Lippen auf ihren Mund und steckte ihr die Zunge in den Hals. Mary würgte es, aber geistesgegenwärtig biss sie zu, so fest sie konnte. Ein kurzer Aufschrei und sie blickte in das wirr lachende Gesicht ihres Gegenübers, dessen Zahnfleisch sich blutrot färbte. Sie hatte die Zunge erwischt, aus deren Wunde jetzt das Blut in die Mundhöhle pulsierte.
Wütend packte er Mary am Arm und warf sie aufs Bett.
„Wie du willst, du kannst es auch auf die harte Tour bekommen. Gefällt mir ohnehin besser. Bin schon gespannt, wie du unter mir winseln wirst, wenn ich dich breche!“
Mary wollte schnell auf die andere Seite des Bettes flüchten, wurde aber am Bein erwischt und hart zurück gezogen. Sie trat wie wild um sich, hatte jedoch wenig Erfolg. Aderman sprang auf sie und begrub sie unter seinem Körper. Kalt blickte er ihr in die Augen und drückte ihre Arme wie mit Stahlklammern ins Bett.
Gierig fing er an sie überall zu küssen. Er rieb seinen Unterleib an ihr und sie konnte sein erigiertes Glied spüren. Er keuchte wie ein asthmakranker Pavian. Sein Rausch machte ihn für einen Augenblick unachtsam und Mary rammte ihm mit aller Gewalt ihr Knie zwischen die Beine.
Aderman krümmte sich, hielt sich seine höllisch schmerzenden Eier und schnappte nach Luft. Dies nutzte sie, sprang aus dem Bett und rannte zur Tür. Aber sie war verschlossen! Verzweifelt schloss Mary die Augen und trommelte gegen das Holz, das sich jedoch keinen Millimeter bewegte.
Mit einem Satz stand Aderman hinter ihr und hieb ihr seine Faust gegen die Schläfe. Krachend schlug Mary auf den Boden und ihr schwanden kurz die Sinne. Er stürzte sich auf sie und schrie sie an.
„Wehr dich nur, so macht mir das Spaß, das turnt mich richtig an. Lassen wir die Spiele beginnen!“
Mit eiskaltem Blick hämmerte er Mary mit seinen Handflächen ins Gesicht und hinterließ rote Striemen seiner Finger auf ihrer Haut. Wütend zerriss er ihre Bluse und griff hart an ihre Brüste, mit seinem linken Knie drückte er ihre Beine auseinander und stieß unsanft in die Genitalien.
Mary wurde es schwarz vor Augen, die Schmerzen waren unmenschlich, aber sie gab nicht auf und erwischte eine Buchstütze, die vom Tisch gefallen war und knallte sie mit all ihrer Kraft gegen Adermans Schädel. Sein Körper fiel wie ein nasser Sack über ihr zusammen, Blut tropfte aus der Kopfwunde auf ihre Stirn und sie bekam kaum noch Luft wegen des auf ihr lastenden Gewichtes. Sie drehte sich zur Seite, der Schläger fiel von ihr ab und sie rettete sich schnell ins Badezimmer, verschloss die Tür und setzte sich schwer gezeichnet auf den Boden. Tränen liefen ihr die aufgeplatzten Wangen hinunter und sie zitterte am ganzen Leib.
Ein lautes, ungestümes Rütteln an der Tür riss sie aus ihrer Lethargie. Ihr Peiniger war zu sich gekommen und außer sich vor Wut.
„Du kannst mir nicht entkommen, du kleine Raubkatze. Ich liebe dich, du bist meine Domina!“ Mit einem irren Lachen trommelte er gegen die Tür und Mary stemmte sich mit aller Gewalt dagegen.
„Was machst du denn da? Bist du wahnsinnig?“ hörte sie eine Stimme schreien. „Ich brauche sie noch. Du solltest sie nur einschüchtern, nicht umbringen, du Vollidiot! Hebe dir das für später auf und verschwinde.“
War das etwa Humphrey den sie da schreien hörte? Die Stimme hatte den gleichen Klang, nur sehr viel männlicher.
Es wurde ruhiger, das Trommeln hörte auf und Schritte entfernten sich.
Mary glitt wieder auf den Boden und lehnte sich erschöpft gegen die Tür. Jetzt drang kein Laut mehr von draußen herein. Nach und nach beruhigte sie sich und begann, ihren furchtbar misshandelten und schmerzenden Körper zu begutachten. Ihre Wunde am Bauch blutete, sie hatte Kratzer und Risse an den Knöcheln ihrer Hände, die Wangen waren übel zugerichtet und schwollen an und ihr Kopf war kurz vor dem Zerplatzen. Die Kleidung hatte den Anschein, als ob sie mit einem Mähdrescher geknutscht hätte.
Was war das nur für ein Tier, das solch eine Freude an den Tag legte, einen Menschen so zu quälen. Be würde ihm den Schwanz abschneiden und ihn in sein vorlautes Maul stopfen, dessen war sie sich sicher.
Die Anspannung ließ nach und sie begann zu frieren. Mit einem Badetuch deckte sie sich notdürftig zu.
‚Nur noch ein paar Stunden, dann bekomme ich Hilfe’. Sie musste lediglich noch solange durchhalten.
Mühsam zog Mary sich am Waschbecken empor und trank einen Schluck Wasser. Aus dem Spiegel schaute ein ihr völlig fremdes Wesen entgegen. Die Haare konnte sie gerade noch erkennen, der Rest glich einem Leichtgewichts-Boxer, der gerade von zwei Schwergewichtlern durch den Wolf gedreht worden war. Sie grinste, zumindest meinte sie das, der Spiegel warf nur eine verschobene Ausgabe des Boxergesichtes zurück.
„Diese Runde ging an dich“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild, „wenn ich auch noch nicht richtig weiß, wer du bist.“
Sie setzte sich wieder, deckte sich mit dem Badetuch zu und schloss die Augen. Sie musste jetzt Kraft sammeln.