Читать книгу Einführung in die deutsche Literatur des Mittelalters - Meinolf Schumacher - Страница 6
ОглавлениеI. Epochenbegriff
1. „Mittelalter“ – ein problematischer Begriff
Ambivalenz des Mittelalters
Vom „Mittelalter“ wird selten emotionslos gesprochen. Wo immer sich jemand über Dummheit und Aberglauben, über undemokratische Zustände oder gar über Menschenrechtsverletzungen entrüstet, da stellt dieses Wort wie von selbst sich ein. „Das ist ja finsterstes Mittelalter!“ oder „Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter!“ – solche und ähnliche Ausrufe drücken einen kaum zu überbietenden Abscheu aus vor allem, was als schlimm angesehen wird und zugleich als etwas, das längst nicht mehr vorkommen sollte. Die Antike, obwohl erst recht schon lange vergangen und von der Gesellschaftsform her zumindest für Frauen und Sklaven wenig attraktiv, hat offenbar nie eine entsprechende Abwertungsfunktion ausüben müssen. Das Mittelalter hingegen scheint ein negativer Gegenentwurf zur Gegenwart zu sein. Zugleich aber übt das Mittelalter auch gegenwärtig eine große Faszination aus. In Kinofilmen, Rollen- und Computerspielen, auf Mittelaltermärkten und in historischen Romanen sowie in der erstaunlich erfolgreichen Gattung des Mittelalterkrimis wird eine Epoche medial inszeniert, die offenbar ein Lebensgefühl vermittelt, das die Moderne nicht (mehr) bieten kann. „Mittelalter“ ist dabei „die Imagination einer Erinnerung an glückliche Zeiten von Einheit, Gemeinschaft und Ganzheit“ (Otto Gerhard Oexle). Diese aktuelle Mittelalter-Begeisterung beschränkt sich freilich weitgehend auf den Freizeit- und Unterhaltungsbereich, der die Möglichkeit bietet, zeitlich begrenzt in erwünschte Identitäten zu schlüpfen, ohne die (möglicherweise negativen) Konsequenzen für das Alltagsleben daraus übernehmen zu müssen. „Mittelalter“ benennt damit jedenfalls zugleich einen positiven Gegenentwurf zur Gegenwart. Trotz ihrer gegensätzlichen Tendenz ist beiden Haltungen gemein, dass sie mit der Wirklichkeit des Lebens im Mittelalter vermutlich wenig zu tun haben und dass sie keinen nüchtern-distanzierten Blick ermöglichen, der für die wissenschaftliche Beschäftigung mit einer Epoche und ihrer Literatur unerlässlich ist.
Sah man sich im Mittelalter im „Mittelalter“?
Die Menschen, die in dem Jahrtausend von ca. 500 bis 1500 nach Christus lebten, sind gewiss nicht verantwortlich für die Ambivalenz dieses Begriffs, da er in ihrem historischen Selbstverständnis keine Rolle spielte. Sie sahen sich nicht in einer Phase zwischen dem Altertum und einer später eintretenden Neuzeit. Wenn sie sich in einer Zwischenzeit begriffen haben, dann war diese durch das Erscheinen Christi bei seiner Geburt und seiner Wiederkehr am jüngsten Tag markiert. Dies entspricht einem verbreiteten dreistufigen Modell von Periodisierung der Heilsgeschichte, das die Zeit von der Erschaffung der Welt bis zum Empfang der Zehn Gebote durch Moses (ante legem), von Moses bis Christus (sub lege), sowie von Christus bis zum Jüngsten Gericht (sub gratia) unterscheidet: Die mittelalterlichen Menschen sahen sich in dieser letzten auf das Weltende zusteuernden Gnadenzeit, der aetas christiana, an die unsere Jahreszählung „nach Christi Geburt“ noch heute erinnert. Ähnliches gilt für andere Weltaltermodelle, die sich etwa an den Lebensaltern des Einzelmenschen oder an den Schöpfungstagen orientierten (LexMA s.v. Weltende, Weltzeitalter). Nicht einmal mit dem Schema einer Aufeinanderfolge von Weltreichen grenzte man sich von der Antike ab. Im Anschluss an den Traum von König Nebukadnezar aus dem biblischen Buch Daniel war nach dem babylonischen, persischen und dem griechischen das vierte und letzte Weltreich das römische. Man sah sich demnach noch im römischen Reich, das über historische Konstruktionen wie die translatio imperii als fortbestehend gedacht wurde (LexMA s.v. Translatio imperii). „Die Herrscher der Karolinger-, Ottonen-, Salier- und Stauferzeit wurden in der Reihe der römischen Kaiser fortgezählt wie die Päpste seit Petrus“ (Herbert Grundmann). Aus unserer Perspektive könnte man also vereinfachend sagen: Man sah sich noch in der Antike.
medium aevum als Kampfwort
Wenn „Mittelalter“ kein Eigenbegriff des Mittelalters ist, wie kam es dann zu dieser Bezeichnung? Wir verdanken den Ausdruck medium aevum zunächst den Humanisten, also jenen Gelehrten und Literaten, die seit dem 14. Jh. (zuerst in Italien) die antiken Bildungsideale wieder beleben wollten, welche, wie sie behaupteten, in den letzten Jahrhunderten entstellt, wenn nicht gar völlig verloren gegangen sein sollten (RLW s.v. Humanismus2). Vor allem die Qualität der lateinischen Sprache, die sich in den fast eineinhalb Tausend Jahren nach Cicero stark verändert und neuen Anforderungen angepasst hatte, war ihnen ein Indiz für kulturellen Niedergang. Für diese Zeit vermeintlicher Bildungsferne bis hin zu sich selbst, die das klassische Latein wieder aktivieren und damit Wissenschaft und Künste fördern wollten, fanden die Humanisten so abwertende Bezeichnungen wie Metaphern aus dem Bereich der Dunkelheit und eben Begriffe wie medium tempus und medium aevum, also „Mittelalter“. Darauf geht letztlich das erwähnte Schlagwort vom „finsteren Mittelalter“ zurück; es bekam im Verlauf der Neuzeit zunehmend eine anti-kirchliche Komponente, bis hin zum jungen Goethe, der vom „eingeschränkten, düstern Pfaffenschauplatz des medii aevi“ sprach (Von deutscher Baukunst, 1772). Wenngleich die Humanisten den Begriff „Mittelalter“ noch nicht im strengen Sinne einer Geschichtsperiodisierung verstanden, da sie selbst noch an heilsgeschichtlichen Konstruktionen fest hielten, so war dadurch doch ein Stichwort gegeben, das seit dem Beginn des 18. Jh.s in Geschichtsbüchern zu dem festen Drei-Epochen-Schema „Antike – Mittelalter – Neuzeit“ führte (LexMA s.v. Mittelalter I: Begriff), welches die alten Einteilungen nach Weltaltern und Weltreichen endgültig ablöste. Wenn es im 20. Jh. dann noch um die Phase „Frühe Neuzeit“ zu einem Vierer-Schema erweitert wurde (RLW s.v. Frühe Neuzeit), so bestätigt dies nur die grundsätzliche Annahme einer Zwischenzeit nach der Antike. Dennoch muss man fragen ob es sinnvoll ist, einen Begriff zu verwenden, der (1.) in keiner Weise dem Selbstverständnis der Menschen dieser Epoche entspricht, und der (2.) letztlich ein Kampf- wenn nicht gar Schimpfwort der Humanisten ist, deren Grundannahmen von der Bildungs- und Kulturarmut der nachantiken Jahrhunderte zwar als populäre Vorurteile hartnäckig fortleben, von der wissenschaftlichen Forschung jedoch seit langem aufgegeben worden sind.
Der sprachliche Befund: ein „deutsches“ Mittelalter?
Die Problematik verschärft sich noch weiter, wenn es, wie in diesem Buch, um die deutsche Literatur des Mittelalters geht. Das ist nicht so sehr eine Frage nach dem Entstehen einer deutschen Nation oder gar eines Nationalstaats; in der Zeit, um die es hier geht, bilden sich ja erst langsam politische Identitäten wie „deutsch“ heraus. Es ist vor allem zunächst ein linguistisches Problem: Kann man im Zusammenhang mit der Geschichte der deutschen Sprache sinnvoll den Begriff des Mittelalters anwenden? Stimmt doch keine der aktuellen sprachhistorischen Periodisierungen des Deutschen mit der üblichen zeitlichen Begrenzung um ca. 1500 überein. Im Hinblick auf die hochdeutschen Dialekte setzen wir die älteren Sprachstufen Althochdeutsch für die Zeit von etwa 750–1050, Mittelhochdeutsch für ca. 1050–1350 und Frühneuhochdeutsch für ca. 1350–1650 an; erst seit etwa 1650 sprechen wir von Neuhochdeutsch. Sprachgeschichtlich gesehen müsste demnach das Mittelalter entweder bereits im 14. Jh. enden oder aber erst in der Zeit des Barock. Denn für die niederdeutschen Dialekte ergibt sich ein ähnliches, wenn auch nicht ganz so differenziertes Bild: Altsächsisch (Altniederdeutsch) ab ca. 800; Mittelniederdeutsch von ca. 1200–1650; ab 1650 dann Neuniederdeutsch („Platt“). In keinem der beiden sprachlichen Großräume des Deutschen, weder im Hoch- noch im Niederdeutschen, lässt sich somit um 1500 ein relevanter Einschnitt erkennen, der den Beginn einer neuen Epoche rechtfertigen würde.
2. Kriterien für das Bestimmen der Epoche „Mittelalter“
Grenzen und Leistungen von Epochenbegriffen
Weshalb kann die Germanistik dennoch „Mittelalter“ als Fachterminus akzeptieren? Die Antwort mag ernüchternd klingen: Weil wir bisher keinen besseren Begriff dafür gefunden haben! Wenn man Literatur in historischer Perspektive betrachten, wenn man also Literaturgeschichte betreiben will (RLW s.v. Literaturgeschichte), dann braucht man dabei wie in der Geschichtswissenschaft das Instrumentarium einer Periodisierung, man benötigt eine Zeiteinteilung nach Epochen (RLW s.v. Epoche). Epochen sind allerdings keine festen, unveränderlichen Größen, sondern menschliche Konstrukte, die sich als Arbeitsbegriffe in der wissenschaftlichen Diskussion zu bewähren haben. Dabei darf man sie nicht überstrapazieren. Von einer Epoche kann man nur ein begrenztes Maß an gemeinsamen Merkmalen verlangen, die sie von der vorangegangenen wie von der nachfolgenden Zeit unterscheidet. Man muss sich immer bewusst machen, dass es viele andere Merkmale gibt, wenn nicht gar die meisten, die über kürzere oder über längere Zeiträume gelten und deshalb andere Periodisierungen verlangen. Akzeptiert man dies, dann kann man nüchtern fragen, in welcher Hinsicht sich eine Epoche „Mittelalter“ ansetzen lässt und in welcher nicht. Hier können nur ein paar Kriterien genannt werden, die für die Literatur besonders wichtig sind.
Epochenkriterium: Lateinkultur
Verlangt man ein zeitinternes Epochenbewusstsein als Kriterium, dann gab es das Mittelalter als Epoche nicht. Auch im Hinblick auf die deutsche Sprache sollte man, wie gezeigt, diesen Begriff besser vermeiden. Ganz anders steht dies in Bezug auf die lateinische Sprache. Wenn etwas für die Zeit etwa vom 6. bis zum 15. Jh. charakteristisch war, dann ist es die Form und die Stellung des Lateins. Hier hatten die Humanisten mit ihrem Spott über das „Küchenlatein“ insofern Recht, als sich dieses vom klassischen Latein in vielerlei Hinsicht unterscheidet – nur muss man ihre negative Bewertung nicht übernehmen. Als sich aus dem Latein der Spätantike verschiedene romanische Volkssprachen herausdifferenzierten, wurde es für immer weniger Menschen zur Muttersprache. Das heißt jedoch nicht, dass es dadurch an Relevanz verlor; eher im Gegenteil. Dieses Mittellatein, wie man es nennt, dominierte die Bereiche von Bildung und Religion beinahe vollständig; in Politik, Verwaltung und (Fern-)Handel war es kaum wegzudenken. Man lernte es in der Regel früh als Zweitsprache und konnte sich damit im ganzen mittleren, westlichen und südlichen Europa verständigen. Wichtige Korrespondenz wurde nahezu immer in dieser Sprache verfasst. Wegen der neuen Herausforderungen als Schrift- und Bildungssprache der nachklassischen Zeit, etwa im Bereich der christlichen Theologie, des Lehnswesens oder des Rechts, erweiterte es seinen Wortschatz aus den Volkssprachen heraus, prägte Neologismen und verschob auch die Bedeutung alter lateinischer Wörter (weshalb man mit einem lateinischen Schulwörterbuch bei mittellateinischen Texten schnell an Grenzen stößt). Im Bereich der Grammatik, vor allem auf der Ebene der Syntax, ist eine Tendenz zur Vereinfachung zu erkennen, welche das Latein für viele Lebensbereiche geeignet machte. Dennoch brachte es literarische Werke von höchster Qualität hervor (RLW s.v. Mittellateinische Literatur), die sowohl im Bezug zu den Werken der Antike wie zu den gleichzeitigen Dichtungen der mittelalterlichen Volkssprachen gesehen werden müssen. Da die Humanisten diese besonderen Qualitäten des Mittellateins nicht anerkannten und stattdessen das klassische Latein mitsamt den antiken Lebensentwürfen, die sie damit verbanden, rekonstruieren wollten, schufen sie eine anspruchsvolle, wenn auch wenig flexible Kunstsprache, in der zwar ebenfalls bedeutende Dichtungen entstanden (RLW s.v. Neulateinische Literatur), die aber im Unterschied zum Mittellatein letztlich nicht mehr alltagstauglich war. Es klingt paradox: Ausgerechnet die Humanisten, denen die Reinheit und Würde des Lateins so sehr am Herzen lag, haben es aus der Lebenspraxis Europas – mit Ausnahme des Fachlateins der Wissenschaften und der Liturgiesprache des Katholizismus – faktisch verdrängt. Und sie markierten damit durchaus eine Epochengrenze: Mittelalter wäre danach diejenige Zeit, in der das Latein eine lebende Sprache war, die sich kreativ weiter entwickelte, ohne zugleich für irgendjemanden noch Erstsprache gewesen zu sein.
Epochenkriterium: Kirchenkultur
Die große Bedeutung des Lateins für das Mittelalter hängt eng zusammen mit der starken Prägung jener Zeit durch die römische Kirche. Da für viele nachantike Jahrhunderte fast der ganze Bereich der Bildung in kirchlichen Händen lag, konnte eine Kultur entstehen, die bei aller sozialen, regionalen und zeitlichen Differenzierung doch eine erstaunliche Homogenität auszeichnet. Dazu gehörte eine unverbrüchliche Gültigkeit des christlichen Glaubens, der weder durch häretische Bewegungen noch durch das große Schisma von 1054, das die Trennung der römischen Westkirche und der byzantinischen („orthodoxen“) Ostkirche besiegelte, grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Setzt man den Beginn des Mittelalters mit der sog. Konstantinischen Wende an, also der Hinwendung Kaiser Konstantinus des Großen († 337) zum Christentum, in deren Folge es zur Staatsreligion des Römischen Reichs wurde, dann betont man damit diese relative Einheitlichkeit von Religion und Kirche. Die Frage ist nur, ob man sie mit der Reformation (RLW s.v. Reformation) und der katholischen Reaktion auf diese (RLW s.v. Gegenreformation) enden lässt, oder erst mit der Aufklärung und ihrem Bemühen, das Verhältnis von Glauben und Vernunft grundlegend neu zu bestimmen (RLW s.v. Aufklärung). Im Hinblick auf die Geschichte des christlich-abendländischen Mönchtums seit der Gründung des Klosters Montecassino durch Benedikt von Nursia († 547), die traditionell auf 529 datiert wird, ist gewiss mit der Reformation ein großer Einschnitt festzustellen. Auch Martin Luthers Kritik an der Heiligen- und Marienverehrung hat eine für das Mittelalter charakteristische Frömmigkeitsform in Frage gestellt. Gleiches gilt für die Einstellungen der Menschen zu Tod und Jenseits, die sich erheblich veränderten, nachdem die Reformatoren die Möglichkeit einer Buße für Sünden noch im Jenseits („Fegefeuer“) als einem dritten Seinszustand neben Himmel und Hölle bestritten. Diese religiös-kirchlichen Veränderungen gelten freilich nicht für den nachreformatorischen Katholizismus; nimmt man sie als Kriterien für ein Ende des Mittelalters, dann bezieht sich das nur auf die Protestanten. Im Hinblick auf die Katholiken scheitert dieses Konzept einer Epoche, da sie dann erst – wenn überhaupt – mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) abgeschlossen wäre. In einem Punkt freilich markiert die (Gegen-)Reformation auch hier einen Epochenabschluss: Zwar bleibt das Latein weiterhin die Sprache der katholischen Liturgie, doch hat die Hinwendung der Reformatoren zur Volkssprache dazu geführt, dass seither auch in katholischen Kirchen deutsche Kirchenlieder bei der Heiligen Messe erklingen, was im Mittelalter offiziell verboten war (RLW s.v. Kirchenlied).
Epochenkriterium: Adelskultur
Als charakteristisch für das Mittelalter gilt diejenige Gesellschaftsform, die abwertend als „Feudalismus“ oder wertneutral als „Lehnswesen“ bezeichnet wird. Sie beruht auf der Herrschaft einer privilegierten Elite, des Adels, die in einem komplizierten Abhängigkeitsverhältnis, der Lehnshierarchie, untereinander stand, sich aber als ganze Gruppe sehr scharf abgrenzte von den Bauern, die in der Regel als Unfreie von jeder politischen und kulturellen Beteiligung ausgeschlossen blieben. Obwohl die Bibel keinen Adel kennt, besetzten die Adelsfamilien meist auch die wichtigsten Funktionen innerhalb des Klerus. So blieb der Adel die bestimmende Gruppe in Gesellschaft, Politik und Kirche auch noch dann, als seit dem Spätmittelalter das Stadtbürgertum zunehmend an Bedeutung gewann. Zunächst eine Kaste von Kriegern, welche die Macht mit Gewalt erlangte und behauptete, legte sie sich ein exklusives Standesbewusstsein zu, das in vielerlei Hinsicht literarischen Ausdruck fand. Herkunftsgeschichten und (oftmals höchst phantastische) Genealogien der Adelsgeschlechter sollten die Legitimität ihrer Herrschaft aufgrund von Alter garantieren. Lehrhafte Dichtungen wie der Welsche Gast des Thomasîn von Zirklaere formulierten Standards für das Verhalten an Adelshöfen, die der adligen Jugend vermittelt werden sollten (RLW s.v. Höfische Verhaltenslehre). Das dort aufgestellte Zivilisationsideal der hövescheit, des Höfischen, bestimmte weite Teile der hochmittelalterlichen Dichtung (RLW s.v. Höfische Klassik), vor allem die neue Gattung des „höfischen“ Romans (RLW s.v. Höfischer Roman). Es misst die Sonderstellung des Adels aufgrund von Herkunft an dem ethischen Anspruch, diesem Privileg im Handeln gerecht zu werden: Swer tugent hât, derst wol geborn:/ ân tugent ist adel gar verlorn (Freidank, Bescheidenheit, vv. 54, 6f.). Dies ist keineswegs als Perspektive für Bauern gemeint, durch Tugend in den Adel aufsteigen zu können. Die Forderung, den Tugend- und vor allem den Bildungsadel dem Geblütsadel gleichzustellen oder gar überzuordnen, wird wohl erst von den Humanisten erhoben, die auch in dieser Hinsicht einen Epochenwandel einzuleiten scheinen. Dies änderte freilich nichts daran, dass die faktische Vorherrschaft des Adelstandes auch über das Mittelalter hinaus weitgehend unangefochten blieb. Nichtadlige Menschen konnten sich allerdings „höflich“ verhalten, indem sie die vom Adel des Mittelalters geforderten Umgangsformen für sich übernahmen (RLW s.v. Anstandsliteratur). Das gilt im Grunde bis heute.
Epochenkriterium: Handschriftenkultur
Als eine der wichtigsten Innovationen der Frühen Neuzeit gilt der Buchdruck: die serienmäßige Herstellung von Büchern durch maschinelle Beschriftung mit Hilfe von beweglichen Lettern (Typographie). Die langfristigen Folgen von Gutenbergs Erfindung seit ca. 1450 sind bekannt. Nimmt man sie als eine Epochenmarke, dann lässt sich sagen: Das Mittelalter ist eine Zeit, in der Literatur grundsätzlich (nur) handschriftlich überliefert ist. Mit dieser Feststellung kann man das Mittelalter zwar nicht von der Antike abgrenzen, da für sie dasselbe gilt, wohl aber von der Neuzeit. Das ist für die Germanistik ohnehin wichtiger, da es keine deutschsprachigen Texte aus der Antike gibt. Für die deutsche Literaturgeschichte lässt sich damit zumindest in medialer Hinsicht ein klarer Einschnitt um 1500 erkennen.