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Die entzauberte Insel
ОглавлениеAm Rande des Inselgehölzes, unter verwachsenen wilden Laubbäumen, von denen ein paar Äste fast bis auf das Wasser herabhingen, schob sich ein junges Gesicht durch das niedere Gesträuch, ein nackter Arm folgte behutsam und stützte sich auf einen bemoosten Block des schmalen felsigen Ufers. Eine Wasserjungfer hielt in der Luft vor dem Gesichte zitternd an und flitzte wieder weg. Der Jüngling schaute in eine Lücke des dünnen Schilfgürtels hinein auf frisch erblühte weiße Seerosen und spähend in das klare Wasser hinab. Er sah dort unten zwischen den langen weichen Blattstengeln und weiter draußen gegen den abfallenden Grund einen Schwarm fremdartiger Fische; sie glichen großen, auf der Kante ruhenden Silberhänden, und es kam ihm geheimnisvoll vor, wie sie, gegen Osten gerichtet, unter den Seerosen und ihren schwimmenden grünen Blättern in verschiedener Tiefe regungslos verharrten. Nach einer Weile blickte er auf und sah draußen den See im heißen Sonnenlichte flimmern, während dieser Uferstreifen im Schatten lag, er sah das grüne Dach der überhängenden Äste, die schneeweißen Blüten auf dem klaren Wasser, darunter wieder die ruhenden Fische, und er begann mit seinem stillen Gesichte wie in einem wunderbaren Traum erstaunt und glücklich zu lächeln.
Ein Anruf weckte ihn. «Baschi, Baschi!», rief eine jugendliche Stimme, und damit war er gemeint, er hieß Sebastian. Langsam kroch er zurück, stand auf und ging in seiner verwaschenen roten Badehose durch das Unterholz des Inselwäldchens an das gegenüberliegende Ufer. Dort hatten seine drei Kameraden, mit denen er gelandet war, das entliehene, geräumige Stehruderboot des alten Fischers in einer Felsnische festgebunden und machten am Ufer unter Tannen und Buchen ihre Angelruten bereit. Sie fragten ihn, wo er die Würmer verstaut habe. Er gab flüchtig Antwort, teilte ihnen aufgeregt seine Entdeckung mit und griff nach seiner Angelrute.
Da bekamen sie glänzende Augen vor Unternehmungslust und beeilten sich mit ihren Vorbereitungen. Sie waren sechzehn Jahre alt, Lateinschüler, die manchen freien Nachmittag fischend oder badend auf dieser einsamen Insel verbrachten, in einem heiteren Frieden, den sie vor allen Schulsorgen, vor Gewissensängsten, Weltanschauungsfragen und anderen Gespenstern bewahrten. Sie erlitten, wie ihre brüchigen Stimmen, den schwierigen Wechsel, der sie aus Knaben zu jungen Männern machte; hier fanden sie, ohne es recht zu wissen, als Knaben eine letzte Zuflucht und widerstanden auch meistens der eitlen Versuchung, sich untereinander wie Erwachsene zu benehmen. Während sie mit geübten Fingern den Angelhaken in den Regenwurm steckten, meinte der naturkundige Anselm, dass Baschi wahrscheinlich Brachsen gesehen habe, schöne, aber hier nicht eben seltene Fische.
«Ganz klar!», sagte Karl, ein stämmiger, lebhafter kleiner Bursche, dem alles schlüssig über die Zunge kam und dessen Stimmbruch auch am weitesten fortgeschritten war. «Übrigens sind sämtliche Fische in diesem See so genau bekannt, dass von fremdartigen keine Rede sein kann. Und nach deiner Beschreibung, Baschi, können es nur Brachsen sein …»
Robert, ein hübscher, kräftiger Junge in einer keilförmigen, knallroten Badehose, die an seinem wohlgenährten Körper etwas spärlich aussah, schloß die Beratung recht einfach: «Brachsen oder nicht, wenn wir sie nur erwischen. Los!»
Sie gingen, ihre Angelruten hochhaltend, durch das Gestrüpp zum Schattenufer, wo Robert, Karl und Anselm erregt flüsternd ihre Schnüre dicht nebeneinander vorsichtig zwischen die Seerosen hinabgleiten ließen.
Für Sebastian war kein Platz mehr, und er drängte sich nicht hinzu, er hatte die Fische entdeckt und als Erster betrachtet, das genügte ihm, mochten nun die andern die Entdeckung nützen. So ging es ihm oft, und er fand sich damit ab, ja er ahnte auch schon, dass mit diesem Los in Zukunft höhere Dinge zu erwerben waren als die handgreiflichen, die etwa Robert im Sinn hatte. Er war ein tiefgründiger, schüchterner Bursche, der neben seinen nur zum Teil geliebten Schulfächern Gedichte las und geigen lernte, indes die andern sich vorläufig mit Indianergeschichten begnügten. Hier aber lebte er wie seine Kameraden und mit ihnen übereinstimmend, froh, unbefangen und noch ohne Richtung. Er trug die Angelrute an den Platz zurück, den sie Schifflände nannten, und streifte zu seinem Vergnügen ein wenig herum.
Der See mit seinen stillen, von Schilf, Ried und Wald begrenzten, von Bergen hoch umgebenen Ufern glänzte im frühsommerlichen Nachmittagslichte. Die Insel lag dem westlichen Waldufer gegenüber auf einer Klippe, einem unregelmäßig aus dem Wasser ragenden Felskopf, den seit Menschengedenken eine kleine Wildnis bedeckte. Sie war nicht größer als ein mittlerer Dorfplatz, aber voll heimlicher Winkel und Schlüpfe. Sebastian stieg auf eine von jungen Tannen, Kiefern und Stechpalmen bewachsene Kuppe und drüben zu einer Uferstelle hinab, wo zwischen bemoosten Blöcken eine Wildente im Mai zwölf Eier ausgebrütet hatte. Er fand im weich gepolsterten Nest noch Reste der Eierschalen und flaumige Federchen, von denen er sich einige hinter die Ohren steckte. Er kletterte dem Ufer entlang zur Eglibucht und sah einem kleinen Barsch zu, der schwänzelnd halbwegs auf dem Kopfe stand und sein Maul heftig in den kiesigen Grund stieß, dann drang er zwischen Weiden- und Haselbüschen wieder ins Innere, wo Buchen, Eschen, Eichen verschiedenen Alters sich gegenseitig in die Kronen gerieten, und trat zuletzt auf eine sonnige Ufernase hinaus, die sie Hechtekap nannten. Sie fiel mit goldgelb blühendem Ginster schräg ins Wasser hinab; ihr war auf Schritteslänge eine kleine Felsbank vorgelagert, die sich knapp über die Oberfläche erhob. Mit einem weiteren Schritt über das untiefe Wasser erreichte man einen kahlen Buckel, der zu dieser Jahreszeit schon bei leichtem Wellenschlag überspült wurde, aber jetzt zwei Füßen eben noch trockenen Stand gewährte. Diesen Buckel betrat Sebastian, reckte sich in der strahlenden Sonne, blickte auf den See hinaus und blieb da stehen.
Indessen spähten die Übrigen zu den Fischen hinab, die nicht anbeißen wollten. Es waren junge Brachsen, im Vergleich zu gewissen fingerlangen Beutestücken schon recht ansehnliche und daher begehrte Fische, obwohl man ihrer vielen groben Gräten wegen zu Hause die Nase rümpfte, wenn die jungen Fischer großartig mit einem pfündigen Muster davon anrückten. Robert wurde ungeduldig und erklärte, wenn keiner dieser offenbar schon vollen Fresssäcke beißen wolle, so werde er auf andere Art dennoch einen erwischen. Er versuchte nun mit dem leeren Angelhaken einen der Brachsen am Bauche anzureißen.
Anselm runzelte die Stirn. «Hör auf!», rief er. «Das ist nichts, das ist keine Fischerei! Außerdem verscheuchst du sie nur … da, bitte, da ziehen sie ab, kannst ihnen jetzt nachsehen, du Oberfischer!»
Anselm, ein schlanker, sehniger Junge in blauer Badehose, war sehr darauf bedacht, dass mit den Fischen, mit den Tieren überhaupt, keine Schindluderei getrieben wurde, und er duldete zum Beispiel nicht, dass man zwecklos, nur so zum Vergnügen, kleine Fische fing, um sie nachher wegzuwerfen. Er hatte ein längliches Gesicht mit klugen, dunklen Augen, die ausnahmsweise sowohl vor Heiterkeit wie vor Entrüstung sprühen konnten, aber sonst mit einem freundlichen Ernst ins Leben blickten und eine Art verrieten, der man nichts Unedles zutraute. Er verurteilte das unsportliche Benehmen Roberts, doch ihn selber mochte er aus anderen Gründen wieder gut leiden und nahm ihm seinen Verstoß jetzt auch nicht übel, wie denn auf dieser Insel überhaupt nichts übel oder schwer genommen und auch kein triftiger Anlass dazu geboten wurde.
Sie gingen auf andere Plätze, fingen ein paar Gründlinge und kleine Barsche, die sie als Köder an dreifache Angeln steckten, und verteilten sich gespannt zum Hechtfang. Als sich auch dabei vorläufig nichts ereignete, «setzte» jeder die Angelrute, indem er ihre Mitte auf einen Steinblock oder eine Astgabel legte, ihren Schaft in ein Loch steckte oder mit Steinen beschwerte; geduldig stand er dann da, beobachtete den unruhigen Korkschwimmer und ergriff die Rute nur noch, um das ängstlich zum Ufer strebende Köderfischchen behutsam wieder ins tiefere Wasser hinauszuschwingen.
Eine Stunde lang war es still auf der Insel, die Baumkronen standen regungslos im wärmeren Lichte des vorrückenden Nachmittags, ihre Schatten auf dem ruhigen Wasser verschoben sich unmerklich, und im vielfältigen Grün des Ufergehölzes schimmerte da und dort der helle Körper eines jugendlichen Fischers. Ein langschnabliger, wunderbar bunter Vogel, der unversehens aus den Bäumen flog und die Insel umkreiste, brachte wieder alle in Bewegung. Anselm kam hastig dem Ufer entlang zu Sebastian, der, in die laubigen Äste spähend, seinen Platz eben auch verließ, und rief gedämpft: «Ein Eisvogel, ein Königsfischer!» Sebastian hatte ihn gesehen, wie er vom Ufer wieder unter die Bäume geflogen war, sie gingen ihm nach und trafen Karl und Robert, die ihnen wie aus einem Munde zuriefen: «Habt ihr den Eisvogel gesehen?» Sie alle hatten ihn gesehen, einen kleinen rotfüßigen Vogel mit blaugebändertem Nacken, bläulich-grün schillernden Flügeln und seidig glänzender rostroter Brust, und sie zerstreuten sich suchend, um ihn noch einmal vor Augen zu bekommen, doch er war und blieb verschwunden wie im Traum ein flüchtiger schöner Gedanke.
Sie trafen sich wieder und stellten fest, dass heute das Wetter zum Fischen nicht günstig sei. Keiner hatte etwas gefangen. Das verdross sie nicht, sie zogen die Angelruten ein, stiegen ins Wasser und schwammen voller Wohlgefühl herum, bis die Schattenspitze des waldigen Abendberges die Insel streifte, dann brachen sie auf.
Am nächsten freien Nachmittag betraten sie die Insel abermals, gespannt und neugierig wie je, da hier kein Nachmittag ganz dem andern glich. Karl fing denn auch im Verlauf einer Stunde mit Gründlingen zwei viertelpfündige Barsche, worauf alle den Barschen nachstellen wollten und den bewölkten Himmel priesen, der baldigen Regen verhieß. Während sie nun zwischen ihren Fangplätzen und der Schifflände, wo ein Kessel mit Gründlingen und eine Wurmbüchse standen, geschäftig hin und her gingen, kam aber Anselm, Schweigen gebietend, mit erhobenen Brauen und geheimnisvoller Miene aus einem Ufergebüsch und winkte ihnen. «Die Alte kommt», flüsterte er. «Die Schlange.» Sie folgten ihm leise ans westliche Ufer und spähten stumm aus dem Unterholz.
Eine Schlange schwamm auf die Insel zu; den dunklen Kopf über das Wasser erhoben, doch mit den Windungen des geschmeidigen Leibes kaum einmal die Oberfläche berührend, nahte sie rasch und unauffällig. Sie züngelte, als sie landete, man sah ihre gespaltene, fadendünne Zunge und ihre gelben Backenflecken, dann tauchte lang wie ein Menschenarm ihr schwarzgefleckter graubrauner Rücken auf; sie kroch, eine feuchte Spur hinterlassend, über eine schräge Steinplatte und verschwand am Ufer. Es war eine Ringelnatter, die Jünglinge kannten sie und empfanden keinen Abscheu, sie alle hatten schon Nattern aufgehoben, wenn auch nicht ohne einen geheimen leisen Schauder; sie waren übereingekommen, diese alte Schlange, die schon vor ihnen die Insel besucht, ja zu ihr gehört und Unberufene ferngehalten hatte, zu dulden und auch dann nicht zu stören, wenn sie sich nach ihrer Gewohnheit auf den warmen Steinen eines Fangplatzes sonnte. Am Anfang hatten sie freilich noch geschwankt, ob sie die Natter töten wollten oder nicht, dann war dank Anselms Fürsprache und gewissen rätselhaften Andeutungen Sebastians in ihrem unentschieden dämmernden Innern eine achtungsvolle Scheu erwacht, die Scheu vor dem Unheimlichen, Abgründigen, das sie als etwas Wirkliches wenigstens ahnten, obwohl sie nichts darüber aussagen konnten, und für das sie die Schlange heimlich als naturgegebenes Zeichen anzusehen begannen. Sie forschten jetzt nicht nach, wohin sie verschwunden war, sie gingen leise an ihre Plätze zurück, fischten ruhig weiter, ruhiger als vorher, als ob nun sie geduldet würden, doch heiter wie immer, und ruderten am Ende still von dannen.
Oft fuhren auch nur ihrer zwei oder drei zur Insel, manchmal aber kamen wieder andere Eingeweihte mit, Xaver zum Beispiel, ihr ältester Klassenkamerad, siebzehnjährig, ihnen allen ein wenig überlegen um die Erfahrungen dieses einen, entscheidungsreichen siebzehnten Jahres, und dann benützten sie neben dem alten Fischerkahn noch ein kleines Ruderboot.
Als endlich mit heißem Glanz und grell durchblitzten schwülen Nächten ihr Feriensommer anbrach, betraten sie die Uferklippe schon eines frühen Morgens hochbeglückt wie Entdecker ein märchenhaftes Eiland. Anselm schwang als Erster auf der Felsbank des Hechtekaps den kleinen Barsch an der Dreiangel hinaus, und kaum hatte der Korkschwimmer die vom Frühwind gekräuselte Wasserfläche berührt, als er zum freudigen Schreck des Fischers jäh in die Tiefe fuhr. Karl und Robert rannten auf Anselms Ruf herbei und erkannten beim ersten Blick auf die Schnur erregt, dass ein Fisch gebissen hatte. «Warten, warten!», rief Karl. «Nur nicht zu früh ziehen! Gib Schnur!» Anselm tat dies gespannt und schweigend schon selber, er bedurfte keiner Ratschläge. Sie alle hatten als Anfänger erfahren, dass man höchstens die leere Angel aus dem Wasser riss, wenn man zu früh anzog, und sie wussten jetzt, dass der Hecht mit dem lebenden Köder in eine gewisse Tiefe fuhr, nachdem er ihn gepackt hatte, um ihn erst dort unten zu verschlingen. Sie waren nur nicht einig, wie lang man warten müsse, der eine zählte klopfenden Herzens auf zehn, der andere auf fünfzehn oder gar auf zwanzig. «Jetzt!», rief Karl. «Zieh!» Anselm hörte nicht auf ihn, er rollte zuerst noch ein Stück lose Schnur auf, dann aber, während Robert schon draußen auf dem Felsbuckel kauerte, um die Beute in Empfang zu nehmen, dann riss er mit einem Ruck an, und die Rutenspitze bog sich so, dass die drei Fischer in Rufe des Erstaunens ausbrachen und die Größe des Gefangenen bewunderten, eh sie ihn sahen. Anselm zog mit gestraffter Schnur und gebogener Rute den Fisch behutsam und stetig heran, und alle erwarteten atemlos sein Auftauchen; er tauchte auf, verblüfft, wie es schien, ohne Widerstand, ein großer Fisch, ein Hecht. Erst als Robert nach ihm griff, schlug er mit dem Schwanze kräftig aus. Robert fuhr ihm mit der Rechten wie mit einem Raubvogelfang ins Genick und drückte ihm Daumen und Zeigefinger in die Kiemenspalten; er packte ihn so, dass er beim wildesten Zappeln nicht mehr entschlüpfen konnte, und es war zu erwarten, dass dieser entschlossene Junge dereinst auch im Leben nicht anders zupacken würde. Er hob ihn hoch empor und trug ihn lachend ans Ufer. Karl öffnete dem Räuber das scharf bezahnte weite Maul, und Anselm löste ihm die Angel aus dem Schlund, dann stellten sie Gewichtsschätzungen an, die zwischen zwei und drei Pfund schwankten, trugen ihn zum Fischkasten ins Boot und brachen sogleich zu neuen Taten auf.
Sebastian und Xaver beugten sich über den Fischkasten und betrachteten den Hecht. «Er hat ein Gesicht wie ein böser alter Wucherer», sagte Sebastian. «Ich habe einen abgebildet gesehen mit flachem Schädel, tückischen Augen und grämlich vorgeschobener Unterlippe, der hatte diesen Ausdruck.»
«Jawohl, das gibt’s auch im Leben», stimmte Xaver zu. «Leute, die so aussehen, sollte man angeln dürfen; die würden auf jeden Dreck anbeißen.»
Sie schlenderten lachend weg.
Ein blauer Sommermorgen strahlte über dem See, auf der Insel war es still, an ihren laubgrünen, bemoosten und steingrauen Ufersäumen stand da und dort ein ruhig fischender Jüngling, oder einer trat aus dem Schatten der Bäume ins Licht und leuchtete auf, ein anderer wandelte im Innern herum, und es schimmerte von ihm aus Gebüschlücken wie aus der Tiefe des Waldes von Spänen frischgeschälter Stämme. Sie fischten geduldig, wechselten manchmal ihre Plätze und blieben heiter und glücklich, obwohl sie nichts mehr fingen. Um Mittag schwammen sie in den See hinaus, alle in derselben Richtung und leise, um keine Fische zu stören, dann machten sie bei der Schifflände ein Feuerchen, brieten Käse, bähten Brot und kochten Tee, nachmittags fischten sie wieder oder taten nichts, und abends, später als sonst, ruderten sie still von dannen. Hinter ihnen glühte der Abendhimmel gewaltig auf, glühte sie an und glühte goldrot aus dem Wasserspiegel wider, zwei Reiher flogen über sie hin, und vom östlichen Berghang blitzten wie große feurige Sterne die Fensterscheiben menschlicher Wohnungen. Sie ruderten dem Ufer zu, wo sie ihre Kleider geborgen hatten, zufrieden mit dem Tag und freudig schon den nächsten bedenkend, in einem tieferen Frieden, als sie bei ihrer Unkenntnis der lauten Welt ermessen konnten, und durch ihre ungebrochene Jugend noch in einem letzten Einklang damit.
Eines Nachmittags aber, als sie geduldig hinter ihren Angelruten standen, kam Xaver dahergerudert, und auf dem vorderen Rand des kleinen Bootes saß ein Mädchen im Badekleid, Ilse, seine Base. Sie kannten sie nicht, hatten aber von ihr gehört und wussten, dass sie aus der Stadt, wo sie wohnte, zu Xavers Eltern in die Ferien gekommen war. Xaver hatte ihnen angekündigt, dass er sie auf die Insel mitbringen werde, und das tat er nun also. Es war seine Sache, es ging sie nichts an, die Insel war groß genug, um auch einem Mädchen noch Platz zu bieten. Sie sahen dem Besuche kühl entgegen und wollten sich nicht stören lassen.
Vetter und Base kehrten einander den Rücken. Die Base ließ ihre nackten Beine über den vorderen Bootsrand hinabhängen und schleifte die Zehen durch das laue Wasser. In der Nähe der Insel wandte sie sich nach Xaver um, schaute dann lächelnd auf die Fischer am Hechtekap, schwang die Beine ins Boot, zog Badeschuhe an und setzte sich ordentlich hin. Sie war fünfzehn Jahre alt.
Die Fischer, Robert und Anselm, standen ruhig da und schienen nichts anderes zu beachten als den Korkschwimmer. Sie fanden es immerhin ungewöhnlich, dass sie im Badekleid kam; sie hatten noch kein badendes Mädchen in der Nähe gesehen, da in der hiesigen Badeanstalt die Geschlechter streng getrennt waren. In der Stadt aber gab es natürlich Strandbäder, wo alles kunterbunt durcheinander badete, das war ganz natürlich, und sie brauchten kein Wort darüber zu verlieren.
Xaver ruderte in einem wohl bedachten Abstand am Kap vorbei zur Schifflände, legte an, ließ die Base aussteigen und machte das Boot fest. Niemand war zum Empfang da.
«Du, das ist aber reizend hier», sagte Ilse.
«Hab ich dir ja gesagt. Geh nur ein bisschen herum und schau alles an! Ich mache jetzt die Fischrute bereit.»
Ilse ging leise ins Gehölz hinein, sah sich neugierig lächelnd um und stieg drüben auf eine Uferklippe der Eglibucht, wo sie verblüfft mit der Hand zum Munde fuhr, um einen Laut zu unterdrücken. Unter ihr kletterte ein Junge in einer verwaschenen rötlichen Badehose auf den Steinen herum, er hatte ein Haselrütchen in der Hand und blickte an verschiedenen Stellen aufmerksam ins Wasser hinein. Sie schaute ihm erheitert zu, gespannt und jeden Augenblick gewärtig, entdeckt zu werden.
Sebastian, der hier kleinen Barschen nachstellte, sah sie denn auch plötzlich, verharrte wie gebannt in seiner kauernden Haltung und staunte zu ihr hinauf. Er hatte gewusst, dass Xaver mit der Base dahergerudert kam, aber nun sah er ein schönes Mädchen in einem leuchtend blauen Stoff, der den leicht gebeugten schlanken Körper nicht verhehlte, mit nackten Beinen, Armen und Schultern, mit einem braungelockten Kopf und heiteren Augen. Er sah sie wie eine märchenhafte Erscheinung im blättergrün gedämpften Sonnenlicht dort oben stehen und zu ihm hinablächeln, und sein empfängliches Herz begann heftig zu schlagen.
Ilse sah das gutmütige Jungengesicht mit der Stumpfnase, das schweigend zu ihr hinauf staunte, und fand auch ihrerseits kein passendes Wort, sie lachte nur in leisen, hohen Tönen auf, belustigt von der Überraschung des regungslos Kauernden, und trat zurück.
Sebastian setzte sich offenen Mundes auf einen Stein, und sein Herz schlug heftig weiter. Er sah sie noch greifbar vor sich, und sie war ganz anders, als man sich die Base eines Kameraden vorstellt, sie stand ihm vielmehr vor Augen wie im Traum eine heitere junge Halbgöttin, von der man augenblicklich bezaubert wird, ohne sie im Einzelnen genau zu sehen und den Grund des Zaubers zu erkennen. Sie war süß und vollkommen, schöner als jedes andere Wunder dieser geliebten kleinen Insel. Langsam erhob er sich und schaute auf der Uferklippe die Stelle an, wo sie gestanden hatte, dann blickte er vorsichtig herum, ob niemand zusehe, und legte seine Hände auf die Stelle. Von einer ihm unbekannten verwirrenden Wärme durchhaucht, stieg er auf die Klippe und schlich spähend in das Gehölz hinein, bis er Stimmen hörte. Er sah gegen das Hechtekap hin die Halbgöttin in Begleitung ihres Vetters aus dem Grünen schimmern und erkannte Roberts brennend rote Keilhose, die sich ihr vom Kap her zögernd näherte. Scheu blieb er im Gebüsche stehen und sah zu.
Xaver stellte dort den Kameraden seine Base vor. «Das ist nun also meine Kusine, Fräulein Ilse», sagte er und nannte darauf die Namen der jungen Herren. Anselm nickte nur errötend, ohne ihre Hand zu ergreifen, trat einen Schritt zurück und blieb mit einem scheuen, ungläubigen Blick auf das halbnackte Fräulein befangen stehen. Robert errötete ebenfalls und griff mit der Rechten vor Verlegenheit oder Aufregung zuerst fehl, aber dann erwischte er die schmale Hand und umschloß sie fest wie einen Fisch. Karl, der auch hinzugekommen war, benahm sich auffallend gewandt, obwohl er als der kleinste Mann hier wenig vorstellte, er rückte stramm die Fußballen zusammen, verbeugte sich leicht und sagte, dass er sich freue, Fräulein Ilse als Gast auf dieser Insel begrüßen zu dürfen; darauf trat er ein wenig zurück und schwieg.
Ilse selber blieb unbefangen und lächelte jeden der Herren mit derselben freundlichen Neugier an.
Xaver, der die Befangenheit seiner Kameraden erkannte und ihnen darüber hinweghelfen wollte, schloss die Vorstellung scherzhaft, aber offenbar ganz unangebracht: «Bei uns zu Hause hat das Fräulein natürlich einen Rock an.»
Ilse stieß einen schnippisch missbilligenden Laut aus und schüttelte den Kopf gegen ihren Vetter, dann fragte sie: «Habt ihr schon etwas gefangen?»
Karl trat vor und erklärte: «Heute noch nicht. Das Wetter ist nicht besonders günstig zum Fischen. Es kommt nämlich sehr auf das Wetter an. Vielleicht wird es gegen Abend besser. Aber es ist noch nicht lange her, da habe ich zum Beispiel nacheinander zwei halbpfündige Barsche herausgezogen. Und kürzlich haben wir einen großen Hecht gefangen. Dann gibt es hier noch Brachsen, Haseln, Rotteln …»
Anselm ließ Karl reden und kehrte an seinen Fangplatz zurück. Robert folgte ihm, statt seinen eigenen Platz aufzusuchen, sah sich mehrmals nach Ilse um und sagte leise: «Verdammt noch mal! So hab ich sie mir nicht vorgestellt.»
Anselm nahm schweigend die Hechtrute auf und begann zu fischen.
«Hast du gesehen, was für Beine sie hat?», fuhr Robert fort. «Klassische Beine, kann ich dir sagen. Überhaupt, wie sie gewachsen ist! Und ein Badkleid hat sie, so etwas gibt’s bei uns nicht. Es liegt ganz eng an, hast du das gesehen?»
Anselm hatte es nicht geradezu übersehen, doch er hatte vor allem den unländlichen schmalen Schnitt ihres kindlich beseelten Gesichtes bemerkt und einen so freundlichen, klugen und offenen Blick auf sich gefühlt, wie ihn die einheimischen Mädchen in ihrer spröden Befangenheit nicht besaßen. Er zuckte über Roberts Wahrnehmungen die Achsel.
Robert merkte das kaum, er hatte auf seine Art Feuer gefangen und musste reden. «Sie ist ein Jahr jünger als wir, aber du, sie hat schon ganz reizende kleine Brüste, ist dir das nicht aufgefallen?»
«Sieh du lieber einmal nach, wie’s mit deiner Fischrute steht!»
Robert winkte ab, als ob ihm das Fischen gleichgültig geworden wäre, er hatte dagegen noch dies und jenes zu erwähnen und ging erst, als er durchaus kein Gehör dafür fand; leicht befremdet und nun seinerseits die Achseln zuckend, begann er vor sich hin zu pfeifen, ging und strich dem Mädchen nach.
Ilse blieb nicht lange, sie wollte noch ein wenig herumfahren, und Xaver ruderte sie weg. Sie kehrte der Insel den Rücken, aber dann wandte sie sich auf ihrem Sitz anmutig um und winkte. Karl und Robert standen auf dem Hechtekap und winkten auch, Anselm stand, ohne zu winken, hinter ihnen im Gebüsch, und noch weiter hinten schaute Sebastian aus dem Schatten der Bäume mit traumverlorener Miene dem ruhig fortgleitenden Boote nach.
Wenige Tage darauf betrat Ilse die Insel zum zweiten Mal. Hochsommerschwüle lag auf dem See, die Mücken tanzten dicht über dem Wasserspiegel, die Fische sprangen, und hoch im flimmernd blauen Himmelsgrunde standen gewaltige weiße Wolkenballen. Die jungen Fischer kannten die Gunst dieses gewitterverheißenden Nachmittags, sie hatten untereinander den bevorstehenden Besuch mit keinem Worte erwähnt und schienen nun eifrig beschäftigt. Karl aber konnte sich nicht enthalten, das Fräulein auf seinen Fangplatz einzuladen. «Fräulein Ilse, jetzt passen Sie auf», sagte er, «jetzt werde ich Ihnen einmal etwas vorfischen.» Ilse sah, wie der stramme und eifrige Bursche den Köder an der langen Rute weit hinausschwang, und hörte eine Weile gutmütig seinen Erläuterungen des Hechtfangs zu, aber als der Hecht nicht beißen wollte, begann sie sich zurückzuziehen. «Wenn Sie noch einen Augenblick Geduld hätten …», rief Karl, «ich werde es jetzt mit einem Egli versuchen, mein Gründeli da ist schon zu matt …»
Ilse hörte nicht recht darauf, sie ging ein wenig spazieren und traf an der Schifflände ihren Vetter Xaver. «Ich möchte am liebsten baden», sagte sie. «Aber wenn sie hier alle fischen …»
«Ja, es ist ein fabelhaftes Fischwetter, weißt du», erwiderte Xaver und suchte sich im Kessel ein Köderfischchen aus.
«Ach ja! Eben war ich bei diesem … wie heißt der Kleine, der so viel schwatzt?»
«Karl?»
«Ja, der. Er wolle mir etwas vorfischen, sagte er, und dann schwatzte er mir nur die Ohren voll. Er hat krumme Beine. Ich finde ihn komisch …»
Karl stand zu seinem Unglück ein paar Schritte hinter ihnen und hörte es, er war hierhergekommen, um den Köder auszuwechseln, und hatte nur darauf gewartet, dass Xaver den Kessel freigab. Jetzt wartete er nicht länger, er ging mit geröteter Stirn an seinen Platz zurück und blieb dort stehen, tief gekränkt, ja erbittert und im Augenblick unfähig, sich aus diesem Wirrsal von Weh und Zorn herauszufinden.
«Du solltest nicht auf die Beine sehen», entgegnete indessen Xaver seiner Base. «Übrigens gibt es noch krümmere. Karl spielt sich ja ein wenig auf, aber das tun die Kleinen meistens, wenn sie Rasse haben. Und was sein geöltes Maul betrifft, das kann er später brauchen, er will Advokat werden. Er ist ein ganz patenter Bursche.»
«Ja, kann schon sein … Aber dann ist da noch einer, den du mir noch gar nicht vorgestellt hast …»
«Baschi, jawohl! Ein feiner Typ und sehr intelligent. Er ist etwas scheu … aber vielleicht macht er sich nichts aus dir, du kannst nicht verlangen, dass dir hier alle den Hof machen wie Robert …»
«Pf! Ich weiß nicht, was er von mir will … Aber jetzt geh’ ich diesen Baschi suchen.»
Sebastian saß auf einem Stein zwischen Fels und Gestrüpp einer verborgenen Uferstelle. Er hatte die Hechtrute gesetzt, aber der Korkschwimmer lag still, und an der Angel war kein Köder mehr. Er blickte ins Wasser hinein und sah kleine Weißfische nach Mücken schnappen, er sah zwischen schlammgrauen Steinen einen Barsch auftauchen und sah eine Wasserjungfer auf dem grünen Teller eines Nixblumenblattes landen, aber er freute sich nicht darüber. Er empfand mit seinen äußeren Sinnen den Frieden, die Stille und Wärme des Inseltages, aber in seinem Innern hatte er nichts mehr damit zu tun, dort zitterte alles vor Spannung und strahlte eine sanfte Glut aus, die noch auf seinen Wangen widerschien. Er stand unruhig auf und spähte über die Böschung weg durch Buschlücken ins Wäldchen hinein, er setzte sich wieder, schaute ins Wasser und spürte von neuem, dass die Wunder der Insel ihn nicht mehr lockten. Er allein wusste, was seine Kameraden erst ahnten, dass hier der alte Zauber gewichen war, in dessen Bann sie gestanden hatten, und er trauerte darüber. Aber vom Grunde dieser leisen Trauer lohte sein Herz wie eine Flamme vom Opferaltar dem halbgöttlichen Mädchen entgegen, das die Insel entzaubert und alle ihre Eigenschaften in einer geheimnisvollen süßen Steigerung auf sich vereinigt hatte. Er wagte nicht, ihr selber zu begegnen, er hätte denn fähig sein müssen, zu singen, zu knien oder zu schweben; mit dem Reste seiner Vernunft stellte er fest, dass dies nicht anging, da zwischen seinem Entzücken und der wirklichen Lage ein Unterschied bestehen könnte. Ein Schimmer ihrer nackten Schultern, die Anmut einer flüchtig wahrgenommenen Bewegung oder ein verwehender Silberklang ihres Lachens genügten, ihm Herz und Seele berauschend mit ihrer Gegenwart zu erfüllen.
Nun suchte aber Ilse den Verborgenen und fand ihn. Sie kam im Wasser dem Ufersaum entlang, ein wenig schwankend, mit ausgebreiteten Armen, um sich auf dem steinigen Grund im Gleichgewichte zu halten, und stand mit einem leisen Laut der Überraschung plötzlich vor ihm.
«Störe ich?», fragte sie.
«Nein, nein!», entgegnete er, heftig errötend.
«Es ist furchtbar, auf den Steinen hier zu gehen … Ja, ich möchte nämlich nicht stören, es soll ja so günstiges Fischwetter sein …»
«Ja», sagte er, und ein Lächeln tiefster Verlegenheit zog über sein gutmütiges Gesicht.
«Noch nichts gefangen?»
«Nein!»
«Dann ist es vielleicht doch nicht so günstig … die andern haben auch noch nichts gefangen … Aber jetzt geh’ ich hier nicht weiter, es ist wirklich furchtbar …» Sie stieg aus dem Wasser und blickte, drei Schritte von Sebastian entfernt, ins Ufergestrüpp hinein. «Hier wird man wohl durchkommen … oder hat’s hier Dornen?»
«Ich glaube nicht, nein.»
Sie kletterte über zwei kleine Felsblöcke hinauf, verweilte einen Augenblick, schlüpfte ins Gebüsch und verschwand.
Offenen Mundes stand Sebastian da, hastig atmend, eine wechselnde Röte auf Stirn und Wangen, verwirrend beschämt und beglückt zugleich und in dieser Verwirrung ganz ohne Urteil über das eben Geschehene.
Ilse schlenderte zu ihrem Vetter hinüber, der wieder mit Würmern fischte und einen ansehnlichen Hasel gefangen hatte, den er eben von der Angel nahm.
«Ilse, halt mir den Hasel da!», rief er zum Scherz und streckte ihr den zappelnden schleimigen Fisch hin.
«Äh pfui!», rief sie, mit beiden Händen abwehrend.
Er lachte sie aus, ließ den Fisch in den Kessel gleiten und nahm einen neuen Wurm aus der Büchse. «Hast du den Baschi jetzt getroffen?», fragte er.
«Hach ja … du, das ist ein Blöder!»
«Du hast eine Ahnung!»
«Der Netteste hier ist noch Anselm, finde ich.»
«Außer mir, hoffentlich!»
«Uh, du Dreckfink!», rief sie mit einem Blick auf den Wurm, der sich in Xavers Fingern ringelte, wich zurück, schüttelte Kopf und Schultern, dass die Locken flogen, und lief weg.
Anselm stand an der Eglibucht und fischte auf Hechte. Er hielt mit beiden Händen die lange Rute und beobachtete den Schwimmer, aber manchmal vergaß er das auch und begann etwas anderem nachzusinnen, das mit dem Fischen nichts zu tun hatte. Er sann unbestimmt und müßig dem Mädchen Ilse nach, er sah ihr feingeformtes Gesicht, bedachte den freundlich offenen Blick, den sie bei der Vorstellung auf ihn gerichtet hatte, und fand sie sympathischer als alle ihm bekannten Mädchen. Er fand es fast wider seinen Willen und folgerte nichts daraus, denn im Grunde spürte er, wie sehr sie als Unberufene die Heimlichkeit des Inselfriedens bedrohte. Als er sich einmal umwandte, stand sie seitlich hinter ihm und blickte unbefangen auf den Korkschwimmer hinaus.
«Darf man ein wenig zusehen?», fragte sie.
«Ja gern!», erwiderte er und blickte auch seinerseits auf den Schwimmer. Nach einer Weile schaute er sie flüchtig an und sagte: «Kurzweilig ist es zwar nicht, einem Fischer zuzusehen.»
«Nein, nicht immer. Aber vielleicht fangen Sie etwas … Xaver hat vorhin etwas gefangen, einen Hasel, glaub ich.»
«So? Ja … damit kann man wenig anfangen.»
«Kann man Hasel nicht essen?» Sie trat einen Schritt vor und stand an seiner Seite.
«Doch, gebacken geht’s, aber es ist nichts Besonderes.»
Ilse schwieg darauf, sie wollte nicht den Eindruck erwecken, als ob sie hierhergekommen sei, um zu schwatzen. Die Hände mit den Daumen oberhalb der Brust in die schmalen Tragbänder des Badekleides eingehängt, stand sie gelassen da und schien es ganz in Ordnung zu finden, dass auch Anselm schwieg.
Er hätte nicht für möglich gehalten, dass man halb nackt so unbefangen nebeneinanderstehen könnte, und war froh, dass man es konnte. Es bewies ihm, dass sie ein natürliches, ernsthaftes Wesen war und keine liederliche Nixe, aber auch keine gezierte Unschuld, die sich schämen musste in ihrem enganliegenden Badekleid, mit ihren entblößten Schultern, Armen und Beinen; es bewies ferner, dass er erwachsen und reif genug war, um so etwas ohne Scheuklappen ertragen zu können und sich seiner eigenen Nacktheit nicht vor ihr schämen zu müssen.
«Essen Sie gern Fische?», fragte er.
«Ja, wenn sie nicht zu viel Gräten haben. Bei uns zu Hause gibt’s fast jeden Freitag Fische, aber Meerfische, glaub’ ich …»
«Süßwasserfische sind auch nicht zu verachten, Hechte oder Barsche zum Beispiel. Am besten sind ja allerdings Forellen …»
«Uh ja, die hab’ ich gern.»
«Aber Sie sollten auch einmal einen Hecht probieren …»
«Das möchte ich schon, ja …»
Sie plauderten so und blickten einander lächelnd an. Anselm errötete manchmal, wenn er ihren Augen begegnete, und verstummte auch wieder. Er spürte das Bedürfnis, die Unterhaltung auf einer etwas höheren Stufe fortzuführen, die seiner glücklichen Gehobenheit und diesem seltenen Augenblick angemessener wäre, doch zugleich fand er es schön, schweigend neben ihr zu stehen und zu fühlen, dass auch sie nicht ungern hier so still neben ihm stand.
Aber während eines solchen doch immerhin bedrängten Schweigens fuhr Ilse plötzlich mit der Hand an den Nacken, wandte sich um und drang erheitert auf Robert ein, der sie mit einem Schilfrohr gekitzelt hatte. Sie riss ihm das Rohr aus der Hand, schlug ihn damit und verfolgte ihn lachend ins Gehölz hinein.
Anselm fand das unverschämt von Robert und wartete mit gerunzelter Stirn, dass sie an seine Seite zurückkehre. Er wartete fünf Minuten lang bangen Herzens umsonst, dann bemerkte er zu seiner Entrüstung, dass Ilse und Robert dem Inselufer entlang schwammen und sich gegenseitig bespritzten. Das konnte nur Robert angestiftet haben, Ilse allein hätte es nie getan. Es war unkameradschaftlich und gegen die Regel, die bisher hier gegolten hatte, es machte jede weitere Fischerei unmöglich und verpfuschte diesen ganzen verheißungsvollen Spätnachmittag. Anselm blickte wütend auf seinen Freund hinaus und zog die Angelrute ein.
Karl ging auf der Insel herum, empört, mit einem verbissenen Gesicht, und streute giftige Bemerkungen aus. «Ist hier vielleicht ein Strandbad eröffnet worden?», rief er Anselm zu. «Das hat man davon! Ich meinerseits bin fertig mit ihr, sie braucht nicht mehr hierherzukommen, ich danke für diesen Besuch.»
Anselm blickte ihn befremdet an und schwieg.
Indessen hatte der Himmel sich da und dort verfinstert, und über den östlichen Bergen donnerte es ein wenig. Das war ungefährlich; solang es nicht schwarz und blitzend von Westen heraufquoll, durfte man ruhig auf der Insel bleiben. Ilse aber floh ans Ufer, sie erklärte, vor Gewittern Angst zu haben, und überredete ihren Vetter, mit ihr abzufahren. Niemand hielt sie zurück. Die Fischer setzten noch einmal ihre Hechtruten, aber das Glück war für heute verscherzt, und da hier sonst nichts mehr zum Bleiben lockte wie früher, fuhren sie, noch eh der Abend dämmerte, verstimmt und wortkarg heimwärts.
Die Hochsommerschwüle hielt an, die Mücken tanzten, die Fische sprangen, und abends pflügte schon manchmal ein Gewitterwind schäumende Furchen auf. Kurz nach Mittag aber lag der See noch glatt und friedlich da, die Jünglinge standen zerstreut auf der Insel und blickten schweigend der blau leuchtenden, bräunlich schimmernden schmalen Mädchengestalt entgegen, die im Ruderboot dahergefahren kam. Am Hechtekap stand Anselm, und als Ilse nahe genug war, gab er sich so dem Fischen hin, als ob er sie nicht gewahrte. Er sah aber, dass Robert weglief, um sie an der Schifflände zu empfangen, ein wehes, bitteres Gefühl stieg in ihm auf, dergleichen er noch nie erlebt, und sein Herz bebte vor Spannung, was nun geschehen werde. Es geschah, was er inbrünstig gehofft, aber kaum zu erwarten gewagt hatte, Ilse kam von der Schifflände zu ihm, ohne sich viel um die andern zu kümmern, und trat mit einem freundlichen Gruß an seine Seite. Er blickte sie begeistert an, obwohl er sich beherrschen und die Entscheidung von ihrem weiteren Benehmen abhängig machen wollte; denn es ging ihm wirklich um eine Entscheidung, er glaubte, keine süße Halbheit und bloße Spielerei anzetteln zu dürfen, seine Neigung hatte heimlicherweise zugenommen und ihn so um alle Ruhe gebracht, dass er in seiner herben und ehrlichen Art sie nur noch ernst nehmen konnte.
Ilse stand nun wieder neben ihm, als ob das schon selbstverständlich wäre, aber sie hatte ein kleines Anliegen und brachte es alsbald vor. «Ich muss mich bei Ihnen noch entschuldigen», sagte sie und blickte ihm sanft in die fragenden Augen. «Ich habe mich ja letztes Mal leider zum Baden verleiten lassen … mir war so schwül … und vielleicht sind dann die Fische doch gestört worden. Es war mir nachher gar nicht recht … darum wollte ich mich bei Ihnen entschuldigen …»
«O, also deshalb, Fräulein Ilse», entgegnete er, tief und ernst gerührt, «deshalb brauchen Sie sich nicht zu entschuldigen, nein …»
«So haben Sie es mir also nicht übelgenommen?»
«Nein, gar nicht … ich kann Ihnen nichts übelnehmen, gar nichts kann ich Ihnen übelnehmen, im Gegenteil … ich freue mich so, dass Sie wiedergekommen sind, Fräulein Ilse, und … und dass Sie da bei mir sind … und …» Er legte die Angelrute unbedacht hin, sodass sie mit der Spitze ins Wasser schlug, eine unverzeihliche Sünde für jeden ernsthaften Fischer, er wurde rot und stammelte, ihm war unsäglich zumut.
Ilse senkte ein wenig den Kopf, dann sah sie ihm mit einem scheuen Kinderblick in die Augen und sagte: «Ich bin ja gern da.»
«Ja, und ich möchte … man kann es nicht sagen …»
«Nein … man kann nicht alles sagen … und es ist auch nicht notwendig … Aber vertreiben Sie jetzt nicht die Fische, wenn Sie die Rute so ins Wasser legen?»
«Doch, selbstverständlich … aber das macht nichts … wenn ein Hecht da gewesen wäre, hätte er schon vorher gebissen …» Er nahm nun immerhin die Rute auf und schwang das Köderfischchen wieder hinaus, Ilse fragte, wie lange denn ein solches Fischchen an der Angel leben könne und ob man nicht auch künstliche Fische dafür brauche, er gab eine sachkundige Antwort, und der unsägliche Augenblick war überwunden.
Sie stellte ein paar weitere Fragen, er antwortete und blickte, noch immer erregt, bald voll inniger Wärme auf sie, bald flüchtig auf den Schwimmer. Nachdem sie plaudernd oder schweigend eine Weile nebeneinandergestanden und ihre Fassung wiedergefunden hatten, sagte Ilse: «Ich gehe jetzt ein wenig auf der Insel herum, und nachher komme ich wieder hierher.» Sie entfernte sich zögernd, und er nickte ihr zu.
Sie ging dem nördlichen Ufer entlang und kam auf ein schmales, kiesiges Strandstück, das fast flach ans Wasser grenzte und ihr als geeigneter Badeplatz erschien. Es war aber der Fangplatz Karls, und während sie noch mit dem Gedanken spielte, hier ganz in der Ufernähe heimlich zu baden, kam der stämmige kleine Fischer von der Schifflände her, wo er den Köder ausgewechselt hatte, durch das Gehölz zurück. Er entdeckte Ilse an seinem Platz und ließ sich keinen Augenblick aufhalten, er kam, die Angelrute wie einen langen Spieß vor sich hinstreckend, grimmig unter den Bäumen hervor, berührte das Mädchen mit einem Schlag der Rutenspitze und drängte es, vorrückend, mit der Rute heftig beiseite.
Ilse wandte sich mit einem verblüfften Laut nach ihm um, noch ungewiss, ob es Scherz oder Ernst sei, dann wich sie aus und sah, wie er mit verbissener, ja böser Miene ans Wasser trat, ohne sie auch nur mit einem Blick zu beachten. Erschrocken über so viel Feindseligkeit, zog sie sich eilig zurück und erwog empört, ob sie nicht sogleich wegfahren sollte. Sie ging aber vorerst zu Anselm und erzählte es ihm.
Anselm runzelte die Stirne und nannte Karls Betragen rüpelhaft anmaßend, aber er beruhigte Ilse und versprach ihr, dafür sorgen zu wollen, dass sich so etwas nicht wiederhole. «Ich werde das gleich in Ordnung bringen», erklärte er finster. «Bitte bleiben Sie nur ruhig hier!»
Er ging zu Karl und stellte ihn zur Rede. Ein lauter Wortwechsel entstand zwischen ihnen, der rasch ihre Kameraden herbeilockte. Anselm war dicht am Wasser vor Karl hingetreten und verlangte, dass er sich bei Ilse entschuldige. Xaver suchte den Streit zu schlichten, Robert und Sebastian, die etwas höher oben im Buschrand stehen geblieben waren, mahnten auch zur Vernunft.
Karl aber sprühte vor Entrüstung über das Mädchen, das hier Unfrieden stifte, und vor Hohn auf jene, die es nicht merken wollten. «Ihr habt ja kein Urteil», rief er, «ihr seid alle auf diesen Stadtfratz hereingefallen und merkt als naive Landknaben gar nicht, dass sie euch am Gängelband herumführt. Sie gehört nicht hierher, ich verlange, dass sie abfährt, unsere Insel ist viel zu schade für sie. Haben wir jemals auch nur den leisesten Krach gehabt, bevor diese schöne Gans darauf verfallen ist, uns ausgerechnet hier mit ihrem blöden Geschnatter zu beglücken?»
In diesem Augenblick, während Xaver und Robert dem Erzürnten schon dreinredeten, geschah etwas, das alle verstummen ließ. Anselm gab Karl eine Ohrfeige.
Karl blickte seinen Kameraden, den er gernhatte, fassungslos an und sagte kein Wort mehr. Er stand wie gelähmt da, entwaffnet vor Trauer und Verwunderung, dann wandte er sich langsam ab und begann die Angelrute einzuziehen.
Xaver trat zu Anselm, der aufgeregt war, doch über seine Tat auch selber ein wenig erschrocken schien, und sagte leise: «Das wäre nicht nötig gewesen.»
«Xaver, ich muss mit dir reden», entgegnete Anselm und zog ihn am Arm beiseite, ins Gebüsch hinein. «Ich kann nicht mehr dulden, dass Ilse beleidigt wird, von jetzt an nicht mehr, verstehst du?»
«Ach was! Ilse ist ein harmloser Backfisch, und den Karl kennen wir ja; wenn er sie nicht mag und darüber rhetorisch wird, so ist das noch kein Grund für dich, den Ritter zu spielen und ihn zu ohrfeigen.»
«Aber du, es ist mir ernst mit Ilse, es ist keine Spielerei, das muss ich dir sagen …»
«Hör auf! Sie ist fünfzehn, und du bist sechzehn … was heißt da ernst?»
«Das Alter spielt keine Rolle, man kann warten …»
Xaver blickte seinen ergriffenen Freund belustigt an und schüttelte den Kopf, dann fragte er mit nachdenklich heiterer Miene: «Und wenn nun ich gewisse Ansprüche auf sie hätte?»
«Dann», sagte Anselm rasch, mit einer edelmütigen Aufwallung, «dann trete ich zurück.»
«Alle Achtung!», erwiderte Xaver lachend. «Aber ich bin nicht sicher … und sie vermutlich auch nicht. Geh du jetzt nur wieder zu ihr und schau, dass sie dich ein bisschen für die Ohrfeige belohnt. Ich überlasse sie dir, sie ist ein Schatz.» Er nickte freundlich und ging.
Anselm kehrte ziemlich verwirrt und unsicher zu Ilse zurück, die ihm mit großen, bang fragenden Augen ein paar Schritte entgegenkam. «Es ist in Ordnung», sagte er, «dieser Bursche wird Sie nicht mehr beleidigen.»
Da streckte sie ihm zaghaft ihre Hand hin und sagte mit einem vertrauensseligen Lächeln: «Ich danke Ihnen!»
Er nickte gerührt, hielt ihre schmale kleine Hand einen Augenblick mit sanftem Druck in seiner Rechten, von neuer Wärme durchströmt, und begann dann entschlossen wieder zu fischen.
Ilse setzte sich an den Uferhang und sah ihm abermals zu, bald schweigend, bald harmlos plaudernd, als ob sie nun wieder beruhigt wäre, aber sie merkte, dass seine Haltung um einen Hauch kühler geworden war, und sann darüber nach, ob sie sich vielleicht nicht ganz richtig benommen habe. Anselm sah bald Karl vor sich, der sich stumm und traurig von ihm abwandte, bald rätselte er an Xavers Andeutungen herum, die ihn beunruhigten, doch war er entschlossen, nichts davon merken zu lassen.
Nachdem so eine Stunde still vergangen war, fühlte sich Ilse wieder am Nacken gekitzelt, sie warf sich herum, sprang auf und stand vor Robert, der mit seinen warmen Händen wie zur Abwehr ihre Oberarme erfasste, doch vorsichtigerweise gleich wieder losließ. Heiter, blühend und unternehmungslustig stand er in seiner brennend roten dürftigen Hose vor ihr und überrumpelte sie mit dem Vorschlag: «Kommen Sie mit mir, Fräulein Ilse, ich rudere Sie zum Waldufer hinüber, dort können Sie doch endlich baden, in einer Viertelstunde sind wir dort.»
«O ja, fein!», rief Ilse lebhaft, wie es ihr eben einfiel, und erst dann stutzte sie und blickte Anselm an.
«Du erlaubst doch, Anselm!», sagte Robert, als ob es wirklich schon ausgemacht wäre, dass Anselm so etwas zu erlauben hätte.
«Bitte!», antwortete Anselm. Da Ilse sich so rasch und lebhaft entschieden hatte, blieb ihm nichts übrig als kühle Großmut, auch wenn sie noch so bitter schmeckte.
«Ich bleibe nicht lange, ich komme bald zurück», rief Ilse noch tröstlich, dann ließ sie den Fischer stehen und ging mit Robert.
Anselm spürte eine heiße Röte im Gesicht. Jedem anderen Kameraden hätte er Ilse ohne Bedenken anvertraut, nur diesem nicht. Ihm fiel ein, wie Robert über sie gesprochen, mit welchen Augen er sie angesehen hatte, und er erschrak beim Gedanken, dass die beiden nun da drüben am einsamen Waldufer … Er dachte es gar nicht zu Ende, er warf die Angelrute hin und lief zur Schifflände.
Ilse wollte eben ins Boot steigen, und Robert half ihr angeregt dabei.
«Ich hab’ es mir anders überlegt», rief Anselm und trat entschlossen hinzu. «Ich fahre selber mit Fräulein Ilse hinüber.»
Robert vertrat ihm den Weg, gespannt, aber heiter noch, und entgegnete unnachgiebig: «Nichts da! Fräulein Ilse fährt mit mir, das haben wir so ausgemacht.»
Anselm ging nicht darauf ein. «Sei so gut!», sagte er und wollte Robert beiseiteschieben, um ans Boot zu gelangen, aber Robert ließ sich nicht verdrängen, er wurde auf einmal zornig, und beim nächsten Atemzug standen sich die zwei Freunde gegenüber, als ob sie einander wütend anfallen wollten.
«Ach, bitte, streiten Sie doch nicht!», rief Ilse. «Ich bleibe da, ich bleibe ganz bestimmt da, ich will nicht hinüberfahren.»
Hinter ihnen im Gebüsch ging Xaver vorbei. «Ja, es ist vielleicht am besten, wenn du dableibst, Ilse», rief er und hielt einen Augenblick an. «Es sieht ein bisschen gewitterhaft aus, und du mit deiner Gewitterangst … Wenn du etwa plötzlich heimfahren möchtest und bist noch da drüben, dann geht das nicht so rasch.» Damit schlenderte er gelassen weiter.
Ilse drehte den hitzig entzweiten Freunden den Rücken und lief ihrem Vetter nach. «Du, wenn du wirklich meinst, dass ein Gewitter kommt, dann wollen wir doch gleich wegfahren», sagte sie ängstlich.
«Vorläufig ist keine Gefahr», erwiderte er. «Wir bleiben noch.»
«Ja, nur … mir ist etwas unbehaglich, ich möchte doch eigentlich heimfahren …»
«Das wäre aber schade, du! Bei dieser Hitze ist es doch hier am allerschönsten. Warte ruhig ab, zuletzt baden wir vielleicht alle. Ich will noch ein wenig fischen … Das könntest du übrigens auch einmal versuchen, es ist sehr amüsant. Anselm zeigt dir das gern, komm! He, Anselm!»
Ilse senkte den Kopf und blickte dem Nahenden schuldbewusst von unten her in die treuen Augen. Xavers Vorschlag aber kam nun ihnen beiden gelegen, er gab ihnen das Mittel in die Hand, sich zwanglos wiederzufinden, ohne den zarten Kern des neuen peinlichen Vorfalls berühren zu müssen. Sie gingen eilig ans Werk. Anselm machte ein Haselrütchen zum Fischen bereit, Ilse nahm es lernbegierig in Empfang und ließ den Wurm an einer untiefen Stelle auf den Grund des Wassers gleiten. Sie hatte Glück, ein Barsch verschluckte den Wurm vor ihren Augen, sie zog und hob ihn verblüfft heraus, einen dunkel gestreiften kleinen Räuber, der die stachlige Rückenflosse stellte. Anselm nahm ihn ihr ab, erneuerte den Köder und zeigte ihr einen noch günstigeren Fangplatz, einen Uferstreifen, der mit Steinblöcken und Gestrüpp sich zwischen Hechtekap und Eglibucht hinzog. Dort begann Ilse wieder zu fischen.
Dort aber lag, zwischen warmen Steinen halb verborgen, die Schlange, die alte Natter, die von den Jünglingen dank Anselms Fürsprache und Sebastians Andeutungen geschont worden war, die geheimnisvolle Urbewohnerin, die ihnen das Unsagbare bedeutete. Ilse, die noch nie eine freilebende Schlange gesehen hatte, aber das Grauen davor mit allen Stadtkindern teilte, musste ihr hier wohl früher oder später begegnen. Die Haselrute in der Rechten, den schlanken Leib mühelos vorgebeugt, sodass ihr die Locken über die Schläfen hinaushingen, den Blick suchend auf dem Grund des Wassers, wo die Angel mit dem Wurme lag, stand sie eine Weile geduldig da, dann trat sie leise auf den nächsten Stein hinüber und versuchte es hier von neuem.
Anselm, der sie nicht aus den Augen verlieren wollte, folgte ihr mit der Hechtrute in einigem Abstand, er sah sie wie eine hochgestielte Blume zierlich über das Wasser gebeugt und wartete auf einen Blick, ein Lächeln oder einen Anruf. Ilse aber war nun, angeregt durch den ersten Erfolg, so in ihr Tun versunken, dass sie ihren Beschützer zu vergessen schien, ja unter der noch unverhüllt brennenden Sonne nicht einmal das im Westen finster aufsteigende Gewölk beachtete; sie zog den Wurm aus dem Wasser, ging leise ein paar Schritte weiter und trat auf die Schlange. Mit einem hohen, heiseren Aufschrei warf sie sich herum, glitt aus, stürzte und schlug grauenhaft kreischend mit der Haselrute um sich.
Anselm sprang ihr sofort bei, sie umfasste ihn, auffahrend, mit beiden Armen und schrie, den entsetzten Blick auf die Natter gerichtet, zitternd und flehentlich: «Eine Schlange! Eine Schlange! Schlagen Sie sie tot, um Gottes willen, schlagen Sie sie doch tot!»
Anselm, von der bebend an ihn Geschmiegten nun endlich ganz aus seinem inneren Gleichgewichte geworfen, bestürzt von ihrer unsäglichen Angst und um der Schutzflehenden willen ritterlich zu allem fähig, packte in dieser Verwirrung die Natter, hieb ihr die Haselrute in den Nacken und erschlug sie.
Auf einem Steinblock, zehn Schritte vor ihm, tauchte Sebastian auf. «Anselm!», rief er erschrocken, hob beschwörend die Rechte und ließ sie langsam wieder sinken.
Ilse aber zog sich, in ein krampfhaftes Weinen ausbrechend, unter bitteren Anklagen zurück: «Warum habt ihr mir nicht gesagt, dass es hier Schlangen gibt? Ich wäre niemals hierhergekommen, und ich will sogleich fort, Xaver, ich will fort. Keiner von euch allen hat mir ein Wort gesagt, es ist abscheulich, ich will euch nicht mehr sehen, ich werde nie mehr hierherkommen …»
Anselm hörte es. Er stand noch da, die leblos hängende Schlange in der Hand, blickte betroffen dem erzürnt weglaufenden Mädchen nach, schaute noch tiefer betroffen die tote Natter an und kam erschüttert zu sich. Der aufsteigende Schmerz, den er knabenhaft trotzig zu verhalten suchte, zuckte in seinem ganzen Gesicht und drang ihm tränenfeucht aus den Augen.
«Anselm!», rief Sebastian noch einmal und kam herbei und blickte ihn an.
«Ich habe sie erschlagen», klagte Anselm dumpf. Langsam wandte er sich ab und trug die Schlange ins Gehölz hinein. Die Kameraden scheu vermeidend, schlich er auf die düstere Kuppe und verbarg sich mit der erschlagenen Natter im Dickicht.
Die Insel lebte verlassen ihr eigenes einsames Leben. Ein Gewittersturm peitschte den Regen schräg in die Kronen ihrer Bäume und warf die Wellen klatschend an ihre steinigen Ufer, nachts darauf wandelten wieder Sterne über sie hin, und die Bäume tropften leise weiter. Ein Hecht stieg aus der Tiefe und verweilte lauernd zwischen den langen Blattstengeln der längst verblühten Seerosen, ein weißer Falter, der gaukelnd den See überquerte, ruhte hier aus, und eines Morgens stand ein grauer Reiher am Ufer hinter dem dünnen Schilfgürtel. Viele Tage und Nächte lang regnete es eintönig rauschend ins Laub, der See schien leise zu sieden, das Wasser stieg. In diesen Tagen aber bewegte sich von einem überschwemmten flachen Seeufer her ein sonderbares dunkles Köpfchen gegen die Insel, landete züngelnd am Hechtekap und zog einen langen geschmeidigen Leib hinter sich her; eine Schlange war hier angekommen, eine Natter. Sie rastete am Ginsterhang und verschwand wieder, aber nach der Regenzeit lag sie manchmal auf einem Uferstein in der warmen Spätsommersonne.
Endlich erschien eines Nachmittags auch wieder ein Mensch in einem alten Stehruderboot. Er ruderte sehr leise und zögernd, als ob er eine Scheu empfände, sich der Insel zu nähern, und landete ebenso leise zwischen zwei Uferklippen. Behutsam machte er das Boot fest und ging ins Gehölz hinein, ein Jüngling in einer verwaschenen roten Badehose, Sebastian. Gespannt und neugierig wie ein glücklicher Entdecker, der zum ersten Mal ein märchenhaftes Eiland betritt, streifte er still herum. Eine schöne junge Halbgöttin hatte ihn hier mit ihrem Zauber fast den Wundern der Insel entfremdet; aber er hatte sie nur angeschaut, nie berührt, nur geliebt, nicht begehrt und daher auch nicht verloren. Sie lebte als reines, süßes Bild beglückend in ihm weiter, und ihm allein war die Insel um dies Geheimnis reicher; während die tatkräftigen andern hier alles verloren hatten, war seiner tiefgründigen Schüchternheit dieser Preis von selber zugefallen.
An einem der nächsten Tage schon aber kamen mit Sebastian auch Karl und Robert auf die Insel zurück. Karl hatte recht bekommen mit seinem Hass auf Ilse, das Unheil war eingetroffen und mit der Flucht des Mädchens am Ende nach seinem Wunsche verlaufen. Außerdem hatte sich Anselm bei ihm entschuldigt, und so war auch dieser Schatten verschwunden. Er verriet mit keinem Worte, ja sich selber gegenüber mit keinem Gedanken mehr, dass er noch eine tiefere Wunde empfangen hatte und sich jetzt die Insel zurückeroberte wie ein erstes verlorenes Stück seines Knabenparadieses. Eifrig ging er mit der Hechtrute ans Werk. Robert trat sehr unbekümmert auf, aber ihn erinnerte hier fast jeder Schritt und Tritt an die holde Beute, die seinen lebenskräftig erwachenden Sinnen entgangen war. Er empfand darüber ein dumpfes Missvergnügen, und so verweigerte auch ihm das Eiland die lautere Beglückung noch, die er früher hingenommen hatte wie eine beliebig erreichbare Lust. Anselm, der am wenigsten hoffen durfte, sein Paradies hier unverändert wiederzufinden, mied die Insel am längsten. Xaver aber, der alle Schuld auf sich nehmen wollte, bat ihn inständig um seine Rückkehr, und eines Nachmittags brachte er ihn mit. Anselm betrat den Schauplatz seiner Verstrickung, seiner Schuld und ritterlichen Niederlage reifer, denn er allein hatte sich hier ganz eingesetzt. Es war ein Lohn, den er nicht berechnen, ja noch nicht einmal erkennen konnte.
So verbrachten die Jünglinge wieder manchen freien Nachmittag auf der Insel, als ob hier nichts den heiteren Frieden unterbrochen hätte. Aber ein Sturm hatte ihn unterbrochen, eine geheimnisvolle Macht hatte sie alle berührt, zaubernd und Verwirrung stiftend mit ihrer Süße und Gefahr, eine Lebensmacht, von der sie wohl gelesen und reden gehört, aber vordem nichts gespürt hatten. Sie verschwiegen es voreinander, sie stellten sich noch einmal unter das stillere Gesetz der Insel und fischten ruhig weiter; mit dem Haselrütchen kletterte hier einer im Ufergestein herum und blickte auf den Grund des Wassers nach kleinen Barschen aus, ein anderer stand am Hechtekap, auf dem rechten Beine ruhend, die Hüften ein wenig verdreht, mit dem Unterarm den Schaft der langen Hechtrute stützend, und sah geduldig dem Korkschwimmer zu, ein Dritter setzte die Rute und schlenderte lautlos im Gehölz herum oder schaute durch eine Buschlücke versunken auf den See hinaus. Kein Lüftchen kräuselte die Fläche. Die wolkenlose Bläue wölbte sich in das lautere Wasser hinab, und auf diesem Spiegelbild des Himmels ruhte die Insel mit ihren bräunlich schimmernden Fischern und farbig glühenden Laubkronen wundervoll im klaren Herbsttag.