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Nach jeder Lösung ein neues Problem

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Auf meinem MP3-Player beginnt gerade das Lied „Mittendrin“, als ich kurz das Schreiben unterbreche. Sänger Hartmut Engler beschreibt in diesem Song, dass Aufgeben nichts bringt und dass es immer irgendwie weitergeht. Ich frage mich zum wiederholten Mal, ob ein Sänger sich darüber Gedanken macht, was seine Songs in Menschen auslösen können. Ein Lächeln huscht mir über die Lippen. Ich schlage die letzte Seite meines Notizbuches auf. Dort ist ein fliederfarbener Briefumschlag in die Buchinnenseite eingearbeitet. Darin bewahre ich zwei Tickets auf: Konzertkarten für PUR, heute Abend. Ich freue mich seit Wochen darauf. Doch bevor ich mich mit meiner Frau Sabine auf den Weg mache, will ich noch ein paar Gedanken, die gerade aus mir heraussprudeln, zu Papier bringen. Es sind Erinnerungen, die mich schon seit Langem innerlich blockieren. Daher stecke ich die Tickets zurück in den Umschlag, seufze und schreibe weiter.

Nachdem ich meinen Abschluss endlich in der Tasche hatte, stellte sich mir, wie fast jedem Schulabgänger, unweigerlich die Frage: Was macht man nach der mittleren Reife? Abi und ein Studium? Oder lieber eine Ausbildung und Geld verdienen? Ich war, um ehrlich zu sein, froh, die Schulzeit hinter mir zu haben, was mir wohl niemand verdenken kann. Ich freute mich regelrecht darauf, endlich zu arbeiten. Also entschied ich mich für eine Ausbildung. Meine Mutter nutzte ihre Kontakte zu einer Apotheke und verhalf mir zu einer Ausbildungsstelle als pharmazeutisch-kaufmännische Angestellte (PKA).

Als ich meine Ausbildung begann, hatte ich noch keinen Führerschein, was bedeutete, dass ich täglich mit der Straßenbahn fahren musste. Morgens und abends jeweils eine Stunde. Doch ich fand das nicht sonderlich schlimm. Ich bin ein Mensch, der stets versucht, selbst nervigen Umständen etwas Positives abzugewinnen. Und so habe ich in meinen drei Ausbildungsjahren dank der Straßenbahnfahrten so viel gelesen wie noch nie zuvor oder jemals danach wieder.

Die Apotheke befand sich in bester Lage: Man sah sie direkt, wenn man aus der Straßenbahn ausstieg, und in unmittelbarer Umgebung hatten mehrere Ärzte ihre Praxen, sodass für Kundschaft gesorgt war. In der Apotheke gab es einen großen, einladenden Verkaufsraum, dahinter zahlreiche Räume für die Herstellung und Lagerung von Medikamenten. Außerdem gab es ein kleines Zimmer, in dem sich die Kunden Blutdruck, Blutzuckerspiegel und das Körpergewicht messen lassen konnten. Ich war meist in der Annahme, direkt hinter dem Verkaufsraum, tätig. Dort nahm ich dreimal täglich neue Ware an, verbuchte sie im PC, zeichnete sie gegebenenfalls preislich aus und sortierte sie anschließend ein. Das war alles, was ich zu tun hatte. Meine Ausbildung war zum größten Teil kaufmännischer Art, daher hatte ich kaum Kundenkontakt. Das war auf die Dauer ziemlich öde. Grund dafür war vor allem, dass ich als Auszubildende nur bestimmte Artikel verkaufen durfte, verschreibungspflichtige Medikamente zählten nicht dazu. Ich absolvierte also eine kaufmännische Ausbildung in einer Apotheke, durfte jedoch die wichtigsten Waren einer solchen nicht verkaufen. Andererseits wurden mir aber schon Dinge beigebracht, die ich eigentlich erst als pharmazeutisch-technische Assistentin (PTA) hätte lernen sollen. Dazu zählte zum Beispiel die Herstellung von Kapseln.

Rückblickend war die Ausbildungszeit für mich eine entspannte Phase in meinem Leben. Herr Sauer, der Apotheker und somit mein Chef, war ein netter älterer Herr. Ein Mix aus Mister Ollivander aus „Harry Potter“ und Gandalf aus „Der Herr der Ringe“. Die Aufgaben in der Apotheke machten mir Spaß und ich mochte meine Kolleginnen. Dennoch fehlte mir irgendetwas. Die Arbeit war eintönig und füllte mich nicht aus. Ich konnte mir nicht wirklich vorstellen, bis zur Rente jeden Tag diesen Job auszuüben. Aber Aufgeben kam für mich nicht infrage. Das war keine Option. Und so zog ich die Ausbildung durch. Drei Tage in der Woche war ich in der Apotheke, zwei in der Berufsschule. Meine Berufsschule lag sehr zentral in der Innenstadt, daher ging ich nach Unterrichtsschluss häufig noch durch eine der vielen dort angesiedelten Buchhandlungen. Obwohl mein Bücherregal kurz vor dem Zusammenbrechen stand, war ich und bin ich noch heute davon überzeugt, dass man nie genügend Bücher haben kann. Am schönsten war es allerdings, im Winter durch die Stadt zu bummeln. Sobald der Weihnachtsmarkt eröffnet hatte, verbrachte ich dort gerne meine Freistunden.

Das Schulgebäude war zwar nicht so groß wie die Zauberschule Hogwarts aus „Harry Potter“, aber man konnte sich genauso gut darin verlaufen, obwohl es von außen recht überschaubar wirkte. Der Unterricht lief ähnlich ab wie in der Realschule, nur mit dem Unterschied, dass ich nicht mehr gehänselt wurde. Das war Erholung für meine Ohren und Nerven. Mit etwa der Hälfte meiner Mitschülerinnen verstand ich mich gut, mit den anderen hatte ich kaum zu tun. Sie zogen ihre Ausbildung durch und wollten für sich sein. Aufgrund dieser guten Ausgangslage entschied ich mich dazu, mich zu outen. Zuerst erntete ich verdutzte Blicke, dann wurde ich mit Fragen bombardiert. Als wäre eine Lesbe ein Weltwunder. Die ersten fünf Plätze meiner Hitliste der besten Kommentare, die ich zu hören bekam, waren:

Platz fünf: „Du siehst gar nicht aus wie eine Lesbe.“

Platz vier: „Wie merkt man eigentlich, dass man auf Frauen steht?“

Platz drei:„Was ich schon immer mal wissen wollte: wer ist denn in einer lesbischen Beziehung der Mann und wer die Frau?“

Platz zwei: „Du bist die erste Lesbe, die ich kennenlerne.“

Platz eins: „Wie bitte schön, machen Frauen denn Sex miteinander? Das geht doch gar nicht.“

Um weiteren Fragen vorzubeugen, beschloss ich, am nächsten Schultag ein Aufklärungsbuch für Lesben mit dem trefflichen Titel „Schöner kommen“ mitzubringen. Das Buch wurde mehr herumgereicht als jedes Schulbuch, was wohl an den vielen interessanten Fotos darin lag. Dieses Buch hatte mir bei vielen Fragen, die ich niemanden stellen konnte, weitergeholfen. Vor allem aber machte es mir Mut, weil ich lange Zeit gedacht hatte, das einzige lesbische Mädchen auf der Welt zu sein.

Meine erste feste Freundin Cindy hatte ich in einem SMS-Chat kennengelernt. Als Teenie musste ich ein wenig kreativ sein, da meine Eltern noch nichts von meiner Homosexualität wussten und mitbekommen sollten. Der Kontakt zu Cindy war allerdings nicht von langer Dauer und nicht sonderlich intensiv. Sie wohnte in Magdeburg. Ich habe sie zweimal besucht, ansonsten beschränkte sich unsere „Beziehung“ aufs Briefeschreiben. Ich erinnere mich daran, dass ich mich bei ihr nie wirklich wohlgefühlt habe. Es fühlte sich fremd und kühl an, wenn wir zusammen waren. Irgendwann verkündete sie mir, dass sie auch mit anderen Mädels was am Laufen hatte. Meine erste Freundin entpuppte sich also als Lesben-Schlampe. Daraufhin brach ich die Verbindung zu ihr ab.

Die erste ernsthafte Beziehung führte ich schließlich mit Andrea. Mit ihr pflegte ich zuvor über einen längeren Zeitraum hinweg eine platonische Brieffreundschaft, da sie zum damaligen Zeitpunkt noch in einer festen Beziehung mit einer anderen Frau war. Zudem wohnte sie in Sachsen. Erst als sie sich von ihrer Freundin trennte, wurde unsere Bekanntschaft intensiver und irgendwann trafen wir uns schließlich zum ersten Mal. Wir bezeichneten dieses Treffen zwar nicht offiziell als Date, wussten aber insgeheim, dass es sehr wohl eins war. Wir bummelten durch die Stadt, tauschten vielsagende Blicke aus und hielten Händchen. So verstrich die Zeit bis zum späten Nachmittag. Als wir anschließend in der Straßenbahn zu mir nach Hause fuhren, kam ich ins Grübeln. Denn ich wusste genau, dass Andreas Besuch bei mir unweigerlich ein Outing gegenüber meiner Familie mit sich bringen würde. Andrea war eine typische „Butch“, also eine sehr maskuline Lesbe, die sich dementsprechend kleidete. Ich hätte mir daher direkt ein Schild mit der Aufschrift „Ich bin lesbisch“ um den Hals hängen können.

Kaum bei mir daheim angekommen, bugsierte ich Andrea sofort in mein Zimmer. Da mein kleiner Bruder an diesem Tag Geburtstag hatte, war unsere gesamte Verwandtschaft bei uns zu Gast. Trotz aller Vorsicht kam eins zum anderen und wir wurden von einigen meiner Tanten in flagranti erwischt. Nachdem Andrea am nächsten Tag die Heimreise angetreten hatte, musste ich meinen Eltern Rede und Antwort stehen. Meine Mutter erwartete mich mit einem finsteren Gesichtsausdruck. Das war das Startsignal für die kleinen Äffchen. Sie kamen – wie immer ohne Vorwarnung – aus allen Richtungen in meinem Kopf herbei und erstickten beinahe all meine Gedanken.

„Erklärst du mir das bitte?“, forderte meine Mutter mit einem Unterton in der Stimme, der die Hölle hätte zufrieren lassen können.

„Tja, … Ich bin lesbisch“, gestand ich, traute mich aber nicht, sie dabei anzusehen.

„Was?!“ Ihre Stimme wurde leicht schrill.

„Ja, ich steh auf Frauen, Mama“, erklärte ich etwas mutiger, denn ich hatte erkannt, dass sie mir eigentlich nichts anhaben konnte. Was hätte sie ausrichten können? Mir meine Gefühle verbieten? Mein Vater lachte, meine Mutter war todernst.

„Woher willst du das wissen?“, fragte sie. „Das ist sicher nur eine Phase. Du warst doch noch nie mit einem Jungen zusammen.“

Sie redete sich um Kopf und Kragen und ich glaube, ihr war das durchaus bewusst.

„Warst du denn mit Frauen zusammen, bevor du verstanden hast, dass du auf Männer stehst?“, konterte ich.

Mit diesen Worten ließ ich sie sitzen und verschwand in mein Zimmer. Meine Mutter war sprachlos. Für meinen Vater hingegen war mein Outing fast schon eine Erleichterung. Seine größte Sorge war immer gewesen, dass ich irgendwann ungeplant schwanger werden könnte. Und diese Angst hatte sich nun in Luft aufgelöst. Für meine Mutter, die rumänisch-konservative Wurzeln hatte, war das etwas ganz anderes. Das war wahrscheinlich ein Grund dafür, dass ich schon immer ein besseres und innigeres Verhältnis zu meinem Vater gehabt hatte als zu meiner Mutter. In ihren Augen gehörte meine Neigung bestraft und daher verbot sie mir den Kontakt zu Andrea. Ich als total verknallter Teenie wusste mir jedoch zu helfen: Ich rebellierte, und zwar so richtig. Dafür brauchte ich allerdings eine Komplizin – und fand sie in Sarah. Mit ihr schmiedete ich den Plan, meinen Eltern vorzuschwindeln, dass ich übers Wochenende bei ihr sei. Stattdessen fuhr ich heimlich nach Sachsen. Dort lernte ich Andreas Familie und dieses kleine Dorf im Nirgendwo kennen, wo sie wohnte. Dagegen schien mein Heimatort riesig zu sein. Während dieses Besuchs dachte ich ständig daran, dass meine Eltern gegen meine Art zu leben und zu lieben waren. Ich verstand jedoch nicht, warum. Mein Vater fand schließlich heraus, dass ich nicht bei Sarah war. Er hatte dort angerufen und ihre Mutter nach mir gefragt. Nach meiner Rückkehr erging daher ein wahres Donnerwetter über mich. Von dem Gezeter meiner Mutter dröhnten mir abends noch die Ohren. Natürlich waren sie aufgebracht, weil ich sie angelogen hatte. Doch vor allem, dass ich bei Andrea gewesen war, machte meine Mutter wütend. Ich wollte nur noch weg von zu Hause und Abstand gewinnen. Also packte ich meine Sachen und floh zu Sarah. Für meine Eltern und Verwandten war das ein No-Go, für mich allerdings die einzig mögliche Maßnahme. Als Teenie weiß man sich manchmal nicht anders zu helfen als mit Flucht. Den Streit daheim konnte und wollte ich nicht ertragen. Ich fragte mich immer wieder, warum meine Eltern, vor allem meine Mutter, eigentlich so empört waren. War es denn falsch, wie ich war? War es falsch, so zu empfinden? Ich war doch immer noch derselbe Mensch, auch wenn ich statt Männern Frauen liebte. Meine Patentante Christel versuchte schließlich, zwischen mir und meinen Eltern zu vermitteln, damit ich freiwillig heimkehrte. Ich erklärte ihr, dass ich so reagiert habe, weil ich mir nicht anders zu helfen gewusst hatte. Ich wusste zwar, wer ich war, aber ich musste mich erst mal selbst in der neuen Situation zurechtfinden und mit meinen Gefühlen klarkommen. Dabei half mir das kontraproduktive Verhalten meiner Eltern, die eigentlich meine Vorbilder sein sollten, nicht wirklich. Dank Tante Christels Hilfe wurde meinen Eltern jedoch endlich klar, dass meine Homosexualität keine Laune war. Sie holten mich bei Sarah ab und hoben das Kontaktverbot zu Andrea auf. Ab diesem Zeitpunkt belegte ich täglich für mehrere Stunden das Telefon und fuhr einmal im Monat übers Wochenende nach Sachsen. Ganz offiziell. Meine Mutter versuchte, es zu ignorieren, oder redete es sich schön, dass ich anders war, als sie es gerne gehabt hätte. Anfangs hatte sie, um den Schein zu wahren, sogar meiner Oma weismachen wollen, dass Andrea ein Junge sei. Das war wirklich lachhaft. Mit ihrem burschikosen Äußeren und ihrem männlichen Auftreten, hätte sie zwar tatsächlich als Junge durchgehen können, aber meine Oma war nicht dumm. Während meine Mutter etwas gegen meine sexuelle Orientierung hatte, konnte mein Vater Andrea einfach nicht leiden. Später behauptete meine Mutter, dass auch sie meine Freundin von Anfang an nicht gemocht habe. Im Nachhinein betrachtet hatten meine Eltern mit ihren Vorbehalten Andrea gegenüber sogar recht. Doch als Teenie sah ich das natürlich anders. Ich wollte damals vor allem auf Teufel komm raus beweisen, dass es richtig war, wie ich mein Leben gestaltete.

Um dem Nachdruck zu verleihen, beschlossen Andrea und ich darum kurzerhand, heimlich zu heiraten. Da meine Eltern Andrea nicht leiden konnten, hätten sie einer Heirat nie zugestimmt. Ich war zwar zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits 20 Jahre alt und brauchte ihren Segen nicht mehr. Meine Geburtsurkunde, die bei ihnen lagerte, benötigte ich hingegen unbedingt. Daher blieb mir nichts anderes übrig, als diese zu stibitzen. Es war eine echte Blitz-Hochzeit. Wir haben uns Kleider besorgt, so schnell wie möglich einen Termin beim zuständigen Standesamt in Sachsen organisiert und eine Suite in einem Schlosshotel gebucht. Für mehr war keine Zeit. Bei der Trauung anwesend war nur Andreas Schwester, die auch alles auf Fotos festhielt. Als ich zwei Tage später wieder heimkam, sagte ich meiner Familie noch nichts. Erst Wochen später lüftete ich das Geheimnis. Meine Oma und meine Tanten nahmen die Nachricht gelassen auf meine Eltern hingegen nicht. Sie waren enttäuscht. Aber ändern konnten sie es nicht.

Andrea und ich planten, nun zusammenzuziehen. Da unsere finanziellen Mittel begrenzt waren, nahmen wir das Angebot an, in eine kleine Wohnung im Souterrain des Hauses der Eltern einer meiner Onkel zu ziehen. Unsere erste gemeinsame Bleibe war nicht einmal 35 m² groß. Mein Onkel hatte dort in seiner Jugend gewohnt. Für einen Single war es eine einigermaßen annehmbare Wohnung, doch für zwei war sie einfach zu klein. Das Appartement war komplett eingerichtet, allerdings mit hässlichen und uralten Möbeln. Aber es reichte uns für den Anfang. Jedoch gab es einige andere deutlich schwerwiegendere Nachteile. Durch die Lage im Souterrain war es immer dunkel in der Wohnung, weshalb wir enorm hohe Stromkosten hatten. Zudem verirrten sich häufig Spinnen zu uns, sobald wir ein Fenster öffneten. Das war für mich ein großes Problem, denn ich ekle mich ungemein vor diesen Viechern. Aufgrund der minimalen Größe unserer Bleibe, hatten wir zudem keinen Platz für eine Waschmaschine. Daher mussten meine Eltern unsere Wäsche waschen. Es war mir wirklich peinlich, dass meine Mutter mir als 20-jähriger die Unterwäsche wusch und feinsäuberlich zusammengelegt nach Hause brachte. Das größte Manko waren jedoch unsere Vermieter, die uns ständig mit Argusaugen beobachteten. Sie registrierten, ob wir zu Hause waren, was wir taten, ob wir den Müll richtig trennten, wer zu Besuch kam und noch vieles mehr. Das nervte uns. Aber solange wir keine andere passende und vor allem bezahlbare Wohnung fanden, mussten wir es akzeptieren.

Ein paar Mal im Jahr fuhr das ältere Ehepaar mit dem Wohnmobil in Urlaub. Darüber wurden wir von den beiden stets informiert, da wir währenddessen die Blumen in ihrem Garten gießen sollten. Einmal vergaßen sie jedoch, uns Bescheid zu sagen. Und sie vergaßen außerdem, den Heizofen anzulassen. Das war unglücklicherweise im Frühjahr, als es noch sehr kalt war. Draußen herrschten -15 °C. Es war die längste Woche meines Lebens. Wir froren in unseren vier Wänden, als hätten wir unter freiem Himmel gehaust. Unsere Vermieter verstanden nach ihrer Rückkehr allerdings nicht, warum wir uns so aufregten. Denn sie glaubten uns schlicht nicht, da es bei ihnen, wo auch immer das war, wärmer gewesen war. Etwas Gutes hatte diese Erfahrung jedoch: Danach ging es ganz schnell voran mit unserer Wohnungssuche.

Unsere finanzielle Situation hatte sich zwar kaum verbessert, nichtsdestotrotz fanden wir in der Nähe eine schöne, größere Wohnung, die uns zusagte. Dass unsere finanziellen Mittel so begrenzt waren, lag vor allem daran, dass ich mich noch in der Ausbildung befand. Denn nachdem ich meinen Abschluss als PKA gemacht hatte, hängte ich direkt die Ausbildung zur PTA dran. Diese verlief allerdings nicht so entspannt ...

Die Berufsschule besuchte ich zum ersten Mal am Tag der offenen Tür gemeinsam mit meiner Kollegin Carla aus der Apotheke, die bereits dort zur Schule ging. Mir gefiel dieser kalte graue Klotz, den ich ab sofort täglich besuchen sollte, nicht. Schon das verhieß nichts Gutes. Damit ich überhaupt aufgenommen wurde, legte Carla beim Direktor ein gutes Wort für mich ein. Mein Notendurchschnitt lag nämlich 0,2 Punkte über dem geforderten Wert. Meine Kollegin hatte mich vorab bereits gewarnt, dass der Unterricht kein Zuckerschlecken sei. Das nahm ich allerdings nicht so ernst. Bis sich mein Klassenlehrer vorstellte. Er begrüßte mich und meine Mitschüler mit folgenden Worten:

„Ich bin Herr Thomas und über die gesamte Ausbildungszeit hinweg Ihr Klassenlehrer. Ihre Namen werde ich mir nicht merken, da die Hälfte von Ihnen ohnehin spätestens nach sechs Monaten abbrechen wird. Vergessen Sie nicht: Dass Sie aus 500 Personen, die sich jedes Jahr an dieser Schule bewerben, ausgewählt wurden, heißt noch lange nicht, dass Sie die Ausbildung auch erfolgreich abschließen werden.“

Bei diesem überaus unsympathischen Mann hatte ich fortan jeden Tag Unterricht. Die Ausbildung setzte sich aus zwei Jahren Blockunterricht in der Berufsschule und einem halben Jahr Praxis in der Apotheke zusammen. Ein Ausbildungsgehalt erhielt ich nicht. Und aufgrund der Tatsache, dass sowohl die Einkommen meiner Eltern als auch das meiner Frau Andrea zu hoch waren, bekam ich zudem keine Unterstützung vom Staat. Dabei war meine Mutter quasi Alleinverdienerin, weil mein Vater aus gesundheitlichen Gründen arbeitslos geworden war, und Andrea lebte ebenfalls von Arbeitslosengeld. Doch die offizielle Berechnung ergab, dass diese Einnahmen hoch genug waren. Darum erhielt ich keine BAföG-Leistungen und lediglich 15 € Wohngeld. Nichts zu verdienen und vollständig von anderen abhängig zu sein, gefiel mir überhaupt nicht. Hinzu kam, dass ich in der Schule nicht wirklich gut zurechtkam. Die Lehrer zogen einfach nur schnell ihren Stoff durch, ohne darauf zu achten, ob wir Schüler alles verstanden hatten oder nicht. Sie erinnerten mich an Roboter. Auf uns Azubis gingen sie in keinster Weise ein. Es herrschte ein permanenter Druck und wir standen ständig unter Stress. Wie wir notenmäßig abschnitten, war den Lehrkräften völlig egal. Meine Gedanken-Äffchen tanzten Polka und ich spürte, dass die Zeit für eine Veränderung gekommen war.

Nach einem halben Jahr reifte deshalb in mir die Erkenntnis, dass mir eine Ausbildung mit schlechten Noten nichts brachte. Daher verließ ich die Schule, so wie Herr Thomas es vorausgesagt hatte. Ich hatte mir sowieso nicht vorstellen können, auf Dauer in einer Apotheke zu arbeiten. Mein Realismus siegte. Der Beruf der PKA war nichts für mich, viel zu eintönig und ohne Herausforderungen. Und die Ausbildung zur PTA wollte ich nicht um jeden Preis durchziehen. Also begab ich mich auf Jobsuche. Ich arbeitete mal hier und mal da, aber nirgends wirklich lange. Entweder war der Job zeitlich begrenzt oder die Tätigkeit füllte mich nicht aus.

Beim Schreiben erlebte ich in dieser Zeit hingegen ein wahres kreatives Hoch. Ich hatte das Genre Fan-Fiction für mich entdeckt und erfand zu bereits existierenden Filmen, Serien und dergleichen neue Storys, in denen ich mir Abenteuer für die bekannten Charaktere ausdachte. Die Geschichten sprudelten nur so aus mir heraus. Einmal schrieb ich eine ganze Nacht durch und fühlte mich einfach wunderbar danach. Außerdem entdeckte ich auf diesem Wege die Helden meiner Kindheit wieder: die Figuren aus Mangas und Animes. Dazu gibt es ein sehr weit verzweigtes Netzwerk von Anhängern und eine noch größere Fangemeinde. In Deutschland zum Beispiel finden über das ganze Jahr verteilt sogenannte Conventions statt. Das sind riesige Fantreffen, bei denen sich die Mitglieder der Szene meistens kostümiert in die Rolle ihrer Lieblingscharaktere hineinversetzen um ein tolles Wochenende zusammen zu verbringen. Auf einer dieser Conventions, der „Hanami“, entdeckte ich, durch Zufall an der Eingangstür einen Aushang. Eine Showgruppe suchte neue Mitglieder. Singen konnte ich zwar nicht, aber Tanzen machte mir großen Spaß. Daher fasste ich mir ein Herz und ging mit Andrea zum Casting. So wurden wir Teil einer kleinen chaotischen Truppe, deren Mitglieder sich alle drei Wochen trafen, um Tänze, kurze Rollenspiele und Showkämpfe einzustudieren. Die Kostüme und Requisiten stellten wir selbst her und ungefähr alle vier bis sechs Monate traten wir bei einer Convention auf. Ich war Feuer und Flamme dafür, weil ich endlich etwas, neben dem Schreiben, gefunden hatte, was mir körperlich und seelisch Freude bereitete. Ich war schon immer und bin bis heute noch ein absoluter Sportmuffel. Aber ich hatte überhaupt kein Problem damit, mir von 10:00 bis 18:00 Uhr eine Choreografie einzuhämmern, bis sie mir in Fleisch und Blut übergegangen war. Selbst im Sommer bei 34 °C machten mir die ständigen Wiederholungen Spaß.

Eines Tages erzählte ich Sarah begeistert von meinem neuen Hobby in der Hoffnung, dass auch sie der Gruppe beitreten würde und wir somit wieder mehr Zeit miteinander verbringen könnten. Sie kam dann eines Samstags mit zur Probe, um sich von allem ein Bild zu machen. Dort lernte sie prompt Andy kennen, mit dem sie zusammenkam und noch heute ist. Das erfuhr ich jedoch als Letzte in der Gruppe, worüber ich ziemlich enttäuscht war. Sarah erklärte mir später, dass sie vor meiner Reaktion Angst gehabt habe. Andy hatte damals ein sehr einnehmendes Wesen, was mich an die Grenze meiner Selbstbeherrschung brachte. Mit Sarah alleine bei einer Probe zu sprechen, war kaum noch möglich. Wenn wir telefonierten, hörte ich im Hintergrund Andy. Und wenn Sarah mich besuchte, klingelte schon nach kurzer Zeit ihr Handy. Andy war dran und verkündete ihr, dass er vor dem Haus stehe und sie abholen wolle. Es schien, als ob er etwas gegen mich hatte. Manchmal kam es mir so vor, als wollte er mit seinem Verhalten bewirken, dass sich Sarah zwischen ihm und mir entschied. Ich wollte hingegen einfach nur meine beste Freundin behalten, mehr nicht. Es freute mich sogar, dass sie verliebt war, und ich wollte, dass sie glücklich war. Warum konnte nicht beides zusammen funktionieren?

An einem Probenwochenende kam es schließlich zum Fiasko: Wir hatten uns am Samstag mit der Gruppe in Würzburg zum Training getroffen und wollten danach dort bei Freunden übernachten, um am nächsten Morgen direkt weiter trainieren zu können. Aber Andy wollte abends lieber heimfahren, weil es ihm nicht gut ging. Er hätte sich allerdings genauso gut in Würzburg hinlegen und ausruhen können. Ich verstand nicht, warum er stattdessen lieber mitten in der Nacht eine Stunde nach Hause fahren wollte. Ich empfand das als unverantwortlich und versuchte, Sarah dazu zu bringen ihn zum Bleiben zu überreden. Doch das war zwecklos. Am nächsten Tag kamen dann beide nicht zur Probe. Denn wenn Andy nicht kommen konnte, sollte seiner Meinung nach auch Sarah nicht kommen. Dadurch geriet unsere gesamte Planung durcheinander, und das kurz vor dem nächsten Auftritt. Nach dem Training am Sonntag fuhren wir daher zu viert zu Sarah, wo wir auch Andy antrafen. Wir wollten mit den beiden reden. Dabei kam einiges ans Tageslicht, wovon vorher nie die Rede gewesen war. Sarah hatte sich von den anderen Gruppenmitgliedern nicht akzeptiert gefühlt, was Andy allen krumm nahm. Deshalb entschied er kurzerhand, dass entweder beide oder keiner von beiden in der Gruppe bleiben würde. Aus dem geplanten klärenden Gespräch wurde ein Desaster. Irgendwann brüllten wir uns nur noch an, Tränen flossen und am Ende war alles viel schlimmer als zuvor. Die Fronten, die mir vorher nicht aufgefallen waren, hatten sich verhärtet. Ich saß plötzlich zwischen den Stühlen und war unsanft auf den Boden der Tatsachen gerutscht. Wir waren genau an dem Punkt angelangt, den ich auf keinen Fall erreichen wollte: Sarah hatte sich zwischen Andy und mir entschieden. Gegen mich.

Die Zeit verging und ich begann, viele Dinge anders zu sehen als früher. Im Nachhinein begriff ich, dass ich zu diesem Bruch unserer Freundschaft genauso viel beigetragen hatte. Ich hätte in der Gruppe mehr Partei für Sarah ergreifen müssen und mich bei jenem Gespräch klar dazu bekennen sollen, dass ich auf ihrer Seite stand. Eine Showgruppe ist eine Showgruppe, mehr nicht. Eine richtig tiefe Freundschaft hingegen ist unersetzlich. Es wäre falsch, die Schuld an deren Scheitern einer Person allein zu geben. Leider kam mir diese Erkenntnis zu spät. Sarah war verletzt und ließ jeden Gesprächsversuch ins Leere laufen. Ich schrieb ihr, rief sie an, schickte ihr SMS und E-Mails. Doch ich bekam keinerlei Antwort. Ihr Leben ging genauso weiter wie meines, nur ohne dass wir uns hatten.

Erst fünf Jahre später ergab sich für uns die Chance, uns richtig auszusprechen und unsere Freundschaft wiederaufzubauen. Ich hatte mich noch nie so allein gefühlt, wie in dieser Zeit. Ich fiel in ein tiefes emotionales Loch, aus dem mir keiner heraushelfen konnte. Ich versuchte, meine Gedanken und Gefühle aufzuschreiben. Ich suchte wie früher Halt beim Schreiben. Aber vergeblich. Meine Notizen bestanden aus zusammenhang- und emotionslosen Sätzen ohne tieferen Sinn. Irgendwann gelang mir nicht mal mehr das und ich starrte Tag für Tag auf einen Stoß leerer Seiten. Ich hatte Angst, alles verloren zu haben, nicht nur meine beste Freundin, sondern auch die Freude am Schreiben. Doch was blieb dann noch von mir? Was war ich dann noch? Wehmütig dachte ich an all die Tage und Nächte zurück, in denen ich Seite um Seite beschrieben hatte. So schnell, dass ich manchmal meine eigenen Gedankengänge überholte. Um wieder Zugang zum Schreiben zu finden, wagte ich mich an kurze Geschichten, so wie in meiner Anfangszeit. Es fiel mir sehr schwer und ich war überaus kritisch mit mir selbst. Das Schreiben wurde mit der Zeit zwar entspannter, jedoch noch nicht wie früher. Ich spürte aber, dass es der richtige Weg war. Das Schreiben ist schlussendlich ein Handwerk. Man muss es regelmäßig praktizieren, um in Übung zu bleiben. Manchmal hat man eine Schreibblockade, aber sobald diese innere Mauer eingerissen ist, geht es leichter.

Was ich in dieser Phase meines Lebens gelernt habe, ist, dass es verschiedene Arten von Freunden gibt. Man sollte sie alle gleich behandeln, aber für wen sich dieser Aufwand tatsächlich lohnt, merkt man erst viel später. Jede Freundschaft wird irgendwann auf die Probe gestellt. Erst dann zeigt sich, auf wen man sich wirklich verlassen kann. Es gibt immer wieder Menschen, von denen man enttäuscht und fallen gelassen wird. Das tut zweifelsohne weh, aber es macht auch stärker. Manchmal tut man auch selbst anderen weh. Daher sollte man, bevor man einen Streit anfängt, genau überlegen, wie wichtig einem die Freundschaft ist, die infolgedessen vielleicht zerbricht. Ich habe gelernt, dass es kein Patentrezept für Freundschaften gibt. Mit der Zeit habe ich realisiert, wer wirklich meine Freunde sind und wer nicht. Und ich habe gelernt, dass es wichtig ist, bei Problemen miteinander zu reden. Dabei ist es entscheidend, sich gegenseitig zu respektieren und die Freundschaft als etwas Besonderes und nicht als selbstverständlich anzusehen.

Ich atme erleichtert durch und schaue von meinen Notizen auf. Das Lied „Der Dumme“ erklingt gerade in meinen Ohren und erinnert mich schonungslos ehrlich daran, dass auch ich immer scheinbar an allem schuld war. Ein kurzer Blick auf meine Armbanduhr verrät mir, dass ich noch fast drei Stunden Zeit habe, bis das Konzert beginnt. Also setze ich den Stift erneut an und beschließe, noch ein Kapitel zu schreiben, auch wenn mir dieses besonders schwer fallen wird …

Affen in meinem Kopf

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