Читать книгу Prophezeiung des Wolfskindes - Melanie Häcker - Страница 2
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Texte: © Copyright by Melanie Häcker
Umschlag: © Copyright by Melanie Häcker
Illustration: © Copyright by Melanie Häcker
Verlag: Melanie Häcker
Salierstraße 7
75417 Mühlacker
Webseite: http://www.melanies-buecherwelt.de
Facebook: Melanie Häcker
Instagram: me_l_ie
Druck: epubli, ein Service der
neopubli GmbH, Berlin
Printed in Germany
Prophezeiungssaga
Band I
Erwachen des Wolfskindes
Band II
Die Kardianische Königin
Band III
Erbe des Wolfskindes
Band IV
Coming Soon
2021
Prolog
Angespannt schritt er vor der Tür des Gemachs, das er mit seiner Gemahlin bewohnte hin und her, während sie in den Wehen lag und ihr erstes Kind gebar. Ihre heftigen Schreie ließen ihn erneut zusammenzucken. Am liebsten hätte er die Tür aufgerissen, um hineinzustürmen, denn er ertrug die Anspannung kaum noch.
Bei Agin, ich gehör an ihre Seite und sollte hier nicht dumm herumstehen.
Prompt drückte er die Klinke herunter, als von drinnen sofort ein Harsches - „Draußen bleiben!“ - erklang. Die Stimme der Hebamme. Er stoppte unverzüglich und zog widerwillig die Tür zu. Sein besorgter Blick glitt zu den beiden Leibwächtern, zugleich seine besten Freunde, die ihn zuversichtlich anlächelten, aber selbst das half ihm nicht. Wie ein Wolf im Käfig trottete er auf und ab, was zusehends an den Nerven zehrte.
Plötzlich hallte ihm ein heftiger schmerzvoller Schrei entgegen, dass selbst die Leibgardisten zusammenfuhren. Wie vom Blitz getroffen, fuhr er auf dem Absatz zur Tür herum.
Auf den Aufschrei folgte ein helleres, durch Mark und Bein dringendes Weinen.
Wie in Zeitlupe bewegte sich die Türklinke. Das Türblatt schwang nach innen auf, ehe eine Dienerin ihren Kopf zu ihm herausstreckte und lächelnd flüsterte: „Eure Majestät. Eure Gemahlin hat es geschafft. Ihr habt eine gesunde Tochter.“
Fast schon ruppig schob er die Zofe zur Seite, um an das Bett zu hasten, in dem seine erschöpfte Frau lag. Bei ihrem Anblick stockte er. Starrte wie gebannt auf das in weiße Tücher gewickelte Bündel, das auf ihrem Arm lag. Eine Flut von Gefühlen überwältigten ihn. Er sah in ihre leuchtenden, blaugrauen Augen, bevor er das winzige Bündel mit zittrigen Händen in die Arme nahm, um in das Gesicht seiner neugeborenen Tochter zu schauen. Eingehend betrachtete er ihre zierlichen Züge. Strich zärtlich mit dem Finger über ihre samtweiche Wange, als die Kleine ihre Lider öffnete. Augenblicklich erstarrte sein Lächeln zu einer Grimasse.
Nein, keuchte er in Gedanken. Das ist unmöglich!
„Alkijet? Warum bist du so ernst? Stimmt etwas nicht mit ihr?“ Die Stimme seiner Frau riss ihn aus seinen düsteren Gedanken. Er brauchte einen Moment, bis er - etwas zu hastig - den Kopf schüttelte.
„Es … es ist alles in Ordnung mit ihr, Kara. Sie ist ein bildhübsches Mädchen.“ Er legte seine Tochter behutsam in ihre ausgestreckten Arme und zwang sich zu einem beruhigenden Lächeln. Innerlich jedoch war er so aufgewühlt wie schon lange nicht mehr. Er zögerte, das auszusprechen, was ihm durch den Kopf ging. Als er es doch tat, war ihm, als würde eine unsichtbare Hand, sein Herz brutal zusammendrücken. „Sie hat die Augen meiner Mutter.“
Kara sah zuerst verwundert in die Züge des Kindes, bevor Alkijet bei Kara Bestürzung erkannte.
„Aber wie ist das möglich?“, fragte sie heißer flüsternd.
„Ich habe keine Ahnung. Die Einzige die uns da weiterhelfen kann, ist …“
„Deine Mutter“, vollendete sie den Satz, um andächtig zu bejahen.
„Ja. Ich denke, ich werde sie gleich morgen besuchen, auch um ihr zu erzählen, dass sie Großmutter geworden ist.“
Kara stimmte ihm zu, strich sanft über die rosigen Wangen der Kleinen.
„Sie ist wunderschön.“
Aber wenn ich diesen Augen glauben schenke, ist sie zu größerem vorhergesehen.
Er sprach nicht aus, was ihn beunruhigte, denn er wollte Kara nicht unnötig ängstigen.
„Wie soll sie den heißen Alkijet? Hast du dir mittlerweile einen Namen für sie ausgesucht? Mir würde ja Antina, oder Astana gefallen.“
Karbadianische Namen. Ist ja klar, dass Kara so einen wählt. Mir aber schwebt ein anderer vor.
Er gedachte an die Tage zurück, wo er mithilfe seines Bruders in alten Schriften gesucht hatte. Doch keiner, nicht ein Einziger, passte zu seiner Tochter. Gedankenverloren betrachtete er seine erschöpfte Gemahlin. Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn. Man sah ihr an, dass ihr Herz noch nicht zur Ruhe gekommen war und voller Freude in ihrer Brust schlug. Sein Blick glitt zu seiner Tochter, ehe er abschweifte und langsam zu einem der Fenster sah, durch welches die Sommersonne warm hereinschien.
„Naya“, flüsterte er. „Ihr Name ist Naya. Naya von Kardian.“
„Ein wunderbarer Name“, hauchte Kara an die Stirn ihrer Tochter.
„Ja, das ist er.“ Um Kara nicht noch mehr zu verunsichern, zwang er sich zu einem zuversichtlichen Lächeln. „Ruh dich aus, meine Liebe. Ich werde später nach euch sehen. Ich kläre derweil ein paar Angelegenheiten, du weißt ja ...“
Sie lächelte ihm wissend entgegen, woraufhin er aus dem Gemach verschwand.
Seine Gedanken kreisten, gerieten außer Kontrolle. Er drückte die Tür hinter sich zu, lehnte mit dem Rücken an das Holz und seufzte schwer, den Kopf zwischen den Händen haltend.
Wie ist das nur möglich? Haben wir irgendetwas übersehen? Solche Augen weißen deutlich darauf hin, dass die Prophezeiung nicht erfüllt wurde.
Diese Tatsache - nein - diese Gewissheit fesselte ihn. Er stemmte sich ruckartig von der Tür weg. Stürmte, mit den beiden Kriegern dicht auf den Fersen, den Gang entlang. Er hatte keine Zeit bis morgen zu warten. Er musste unbedingt wissen, warum seine Tochter die smaragdgrünen Iriden seiner Mutter besaß. Eine Augenfarbe, die eindeutig nichts Gutes verhieß.
Fest entschlossen, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, eilte er zu den Stallungen. Sattelte in Windeseile sein treues Ross, was die Leibwächter mit ihren Pferden gleichtaten. Keiner der beiden hinterfragte sein Handeln. Nicht nur da er ihr König war, sondern auch, weil sie um seine Herkunft wussten, wie so jeder in diesem Reich. Selbst wenn die Erzählungen über die Wolfskinder in der Vergangenheit lagen, so waren sie dennoch fest mit seiner Geschichte verwoben.
Kurze Zeit später saßen sie im Sattel.
„Öffnet das Tor!“, brüllte er von Weitem, zeitgleich hieb er dem Hengst die Fersen in die Rippen. Mit seinen Mannen im Rücken, stürmte er durch das halb geöffnete Tor aus der Burg hinaus. Sie preschte durch die gepflasterte Straßen von Osron. Das Klappern der Hufe hallte wie Donnergrollen von den Wänden wider. Die Menschen, welche die Gassen bevölkerten, sprangen erschrocken zur Seite, als die drei Reiter in rasantem Tempo an ihnen vorbei jagten.
Alkijet wollte so schnell wie nur möglich aus der Stadt hinauskommen. Sein Ziel. Ein Weg, den nur er und seine Geschwister kannten. Einen Weg in die Wälder bei Osron.
~~~
Knapp zwei Tage drängte er die Pferde im Galopp voran. Zu den Mittagszeiten rasteten sie, gönnten den Tieren Ruhe und füllten an kleineren Bächen ihre Trinkbeutel auf. Sie schliefen in der Nacht nicht viel. Die Ungewissheit, wieso seine Tochter die Augen der Prophezeiung hatte, trieb ihn stetig vorwärts.
Der Abend dämmerte, als der ersehnte Waldrand wie eine finstere Wand vor ihm aufragte. Kurz davor zügelten sie ihre Pferde, die schwer schnauften, nach dem letzten kräftezehrenden Sprint.
Alkijet glitt erschöpft aus dem Sattel. Doch er hatte keine Zeit, sich einen Moment Ruhe zu gönnen.
„Hier“, er drückte einem der Gardisten die Zügel in die Hand. „Kümmere dich um ihn. Ihr wartet hier, bis ich zurück bin.“
„Aber, Eure Majestät …“
„Derikan“, meinte er mit beschwichtigendem Unterton. „Hier passiert mir nichts. Bleibt bei den Pferden und wartet. Sobald ich mit ihr gesprochen habe, komme ich wieder.“
Der Leibgardist öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch Alkijet schenkte ihm sofort einen mahnenden Blick, woraufhin der Gardist zögerlich nickte. In Derikans Augen erkannte Alkijet, dass dieser wusste, wen er mit - ihr - gemeint hatte.
„Wie Eure Majestät befiehlt.“
Alkijet schenkte seinem Freund ein zuversichtliches Lächeln, trat an den Waldrand und verharrte kurz.
Hoffentlich kann mir Mutter weiterhelfen.
Er drückte die Büsche auseinander, schlüpfte hindurch und betrat den Wald, der ihn mit einem dämmrigen Licht empfing. Das Blätterdach über ihm war dicht bewachsen, weswegen nur einzelne Sonnenstrahlen sich zum Waldboden hin verirrten. Moos in verschiedenen Grüntönen dämpfte neben dem Laub vom letzten Herbst seine Schritte.
Hier zwischen den Bäumen war die Luft wesentlich kühler, erfrischender, was ein Schaudern verursachte. Er sah sich aufmerksam um, bevor er zügig seinen Weg einschlug. Für unwissende kaum zu entdecken, aber der schmale Trampelpfad war in seinem Kopf eingebrannt, auch wenn er ihn in der schwindenden Helligkeit nur mehr erahnte, als wirklich sah.
Alkijet kannte jede Eiche, die den Weg zu dem Ort wies, wo er hinwollte. Er kletterte über umgefallenen Stämme, die anscheinend der letzte Herbststurm entwurzelt hatte. Sprang über kleinere Bäche, stetig weiter in den Wald hinein. Zielstrebig den Pfad folgend, den er in all den Jahren nutzte. Immer dann, wenn er und sein Bruder bei etwas nicht weiterwussten und wo sie den Rat ihrer Eltern brauchten, was in den vergangenen Jahren deutlich weniger geworden war.
Das Zwielicht der Dämmerung wich mehr und mehr der Dunkelheit. Plötzlich lichtete sich der Wald vor ihm. Alkijet erblickte eine mit Gras bewachsene Lichtung, die er andächtig betrat. Ein idyllischer Ort, der eine wohltuende Ruhe ausstrahlte. Mittig stand ein Holzhäuschen umgeben von einem gepflegt eingezäunten Garten. In diesem Wuchs alles, was man zum Leben brauchte.
Alkijet trat bedächtig näher. Sein Blick schweifte dabei über die Beerenbüsche, die entlang des Zaunes wuchsen. Beäugte die dicht bewachsenen Beete mit dem erntereifen Gemüse und dem üppig bepflanzten Kräutergarten.
Mutter war wieder fleißig.
Schmunzelnd schritt er weiter. Bedachte kurz die zwei Obstbäume, dann das überdachte Lager, wo sein Vater säuberlich Holzscheite aufeinandergelegt hatte. Alkijet öffnete das Gatter zum Garten, trat auf das Haus zu, vor dessen Tür er einen Moment verweilte. Alles erschien ihm so friedlich. Keinerlei Geräusch deutete darauf hin, dass jemand da war. Trotzdem klopfte er fest an die Tür, doch wie erwartet, kam keine Antwort.
Sie sind bestimmt noch auf der Jagd.
Er drehte sich zum Garten, ehe er sich mit der Schulter an einen der Pfähle lehnte, die das Vordach stützten.
Was wenn die Prophezeiung wiedererwartet doch nicht erfüllt wurde, so wie wir bisher angenommen hatten? Das würde bedeuten, dass meine Tochter ein Wolfskind ist.
Irgendwie, trotz das seine Eltern selbst Wolfskinder waren, war dieser Gedanke befremdlich. Er schüttelte diese Überlegungen ab, um mit stoischer Ruhe unter der Überdachung zu warten.
Das spärliche Licht des dahinschwindenden Tages hüllte alles in einen Ort der Fantasie. Lächelnd erinnerte er sich daran, als seine Mutter ihnen hier die unmöglichsten Geschichten erzählt hatte. Legenden aus alten Zeiten. Erfundene Mären von allerlei Fabelwesen, die sie oft am nächsten Tag suchten. Ein Zeitvertreib an den er gerne zurückdachte. An die unbeschwerten Zeiten, die sie hier verbrachten, um dem Trubel der Burg zu entfliehen.
Ein Schrei über ihm holte ihn schlagartig aus diesen Erinnerungen. Es war der Ruf eines Adlers. Ruckartig drückte er sich von dem Pfeiler weg und trat unter dem Dach hervor. Er richtete umgehend den Blick nach oben. Suchte nach dem Greifvogel, bis er einen Schatten entdeckte, der seine Kreise zog.
Alkijet beobachtete das majestätische Tier am immer dämmriger werdenden Abendhimmel. Langsam sank der Adler tiefer, ehe er seine Flügel anlegte und in einem Sturzflug auf ihn zuschoss. Aus einem Impuls heraus, hob Alkijet den Arm zur Seite hin an. Bot damit dem imposanten Vogel eine Landemöglichkeit, wobei der Greifvogel einen Meter über ihm die gewaltigen Schwingen auseinanderbreitete. So den Sturz stoppte, um nach einer Kurve fliegend mit kräftigen Flügelschlägen auf seinem Arm zu landen. Die spitzen Klauen durchbohrten widerstandslos sein Hemd. Dennoch krallte sich der Vogel nur sanft an ihm fest.
Alkijet indes betrachtete den Greifvogel eingehend. Er wollte herausfinden, wer von seinen Eltern auf seinem Arm gelandet war. Er musterte das seidig glänzende, dunkelbraune Gefieder, dass an Brust, Rücken und den Schwungfedern weißmarmoriert war. Doch das allein sagte ihm nicht, wer es war. Am ehesten erkannte er es, an den durchdringenden smaragdgrünen Augen, die ihn fixierten.
Breit grinsend meinte er: „Hallo Mutter.“
Ein kurzes Schnabelgeklappere kam zur Antwort, wobei der Adler ihm neckend mit dem Schnabel die Haare zauste.
„Lass das“, lachte er. „Ich habe eine gute Neuigkeit für euch. Wo sind Vater und Alijana?“
Wie auf ein Stichwort hin raschelte es im Gestrüpp. Aufmerksamkeit beobachtete er, wie ein schwarzbrauner Wolf, gemächlich herangetrottet kam. Die Augenwinkel waren angegraut und auch seine Schnauze zeigte deutlich das gehobenere Alter des Tieres. Neben dem Wolf schlenderte eine braunhaarige Frau einher, die Alkijet zugut kannte. Sie trug - wie so oft - eine schwarze lederne Hose. Gleichfarbige Stiefel und dazu passend ein kurzärmeliges Leinenhemd.
Ich bin hier mein Sohn. Du sprachst von guten Neuigkeiten?
Alkijet bejahte. In dem Moment erhob sich der Adler mit zwei Flügelschlägen vom Arm, glitt zu Boden, um sich zusammen mit dem Wolf in ein schimmerndes Licht zu hüllen. Die Frau indes trat neben ihn, um lächelnd ihre Hand auf seine Schulter zu legen.
„Hallo Bruder. Du hast uns lange nicht mehr besucht. Ist in Osron alles in Ordnung?“
Sein Zögern entging ihr keineswegs. Das erkannte er von der Seite her an ihrer skeptisch hochgezogenen Augenbraue.
„Dein Hadern verheißt nichts Angenehmes, mein Sohn“, hallte die tiefe Stimme seines Vaters zu ihm. Er wand sich von Alijana ab. Sah zu dem Wolf und dem Adler, wobei diese mittlerweile, als Frau und Mann mittleren Alters dastanden. Beide waren wie seine Schwester gekleidet. Wogegen seine Eltern im Gegensatz zu ihr Waffen am Schwertgurt trugen. Sein Vater ein Dolch zur Rechten, einen Krummsäbel zur Linken. Seine Mutter ein Anderthalbhänder, wohingegen aus ihren Stiefeln die Schäfte von Dolchen herausragten.
Alkijet konnte nicht umhin, die Zwei seit langer Zeit einer genaueren Musterung zu unterziehen. Er erkannte, dass sein Vater an den Schläfen deutlich ergraut war – wie bei dem Wolf – während er die schwarzbraunen, langen Haare wie immer straff zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Wie Alkijet trug er den Bart am Kinn zu zwei Zöpfen geflochten, die durch Bartperlen gehalten wurden. Es gab dabei nur einen Unterschied. Alkijets Barthaare zeigten keine grauen Strähnen.
Die markanten Züge seines Vaters wiesen deutlich mehr Falten auf, als bei ihrem letzten Treffen. Was Alkijet zu einem verschmitzten Schmunzeln verleitete, das nicht unbemerkt blieb.
„Komm du erst in mein Alter“, grummelte sein Vater, dabei packte er Alkijet in eine Umarmung. Sie klopften sich einander freundschaftlich mit der Faust auf den Rücken.
„Welches Alter?“, neckte Alkijet ihn. „Du siehst nach wie vor aus wie der unbezwingbare Heerführer von Ashak.“
„Lob ihn nicht zu arg Alkijet, sonst bekommt er einen Höhenflug“, warf seine Mutter amüsiert ein, auf dass er zu ihr sah. Ihr langes, braunes Haar war komplett in viele kleinere Zöpfe und straff nach hinten verflochten. Sie hatte - wie es üblich bei Ashakischen Kriegerinnen war - Haarperlen eingearbeitet. Auch bei ihr zeigten sich bereits die ersten weißen Strähnen, ebenso sanfte Falten in ihren herzensguten, lächelnden Zügen. Sie holte ihn ebenfalls in eine feste Umarmung, ehe ihre Hände auf seine Schultern ruhte. Dabei runzelte sie fragend die Stirn.
„Du bist zu einem stattlichen Krieger herangewachsen, mein Sohn. Nun? Was sind das für gute Neuigkeiten, weswegen du zu uns gekommen bist?“
Man sah ihm augenscheinlich seine zwiespältigen Emotionen zu deutlich an. Was die Art verriet, wie seine Mutter ihre Augenbrauen hochzog, aber auch der argwöhnische Ausdruck, mit dem sie ihn ansah. Er holte tief Luft.
„Ich verkünde euch, dass du Alijana Tante und ihr vor zwei Tagen Großeltern geworden seid. Kara brachte eine gesunde Tochter zur Welt. Es würde mich freuen, wenn ihr sie euch anschaut, denn …“, er zögerte.
Wie erkläre ich es, ohne gleich mit der Tür ins Haus zu fallen?
Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Das war zwar nichts Ungewöhnliches für ihn als König, aber der eindringliche Blick seiner Schwester verursachte in ihm ein mulmiges Gefühl. Sie hatte ein Talent, schnell ihr Gegenüber zu durchschauen. Da sie ihn allzugut kannte, war er für sie wie ein offenes Buch.
Abschätzend dreinschauend, überkreuzte sie ihre Arme vor der Brust und lehnte sich rücklings an einen der Pfähle.
„Alkijet?“, murmelte sie mahnend mit einer Stimmlage, von der er wusste, dass sie auf Streit aus war. Er sah rasch in die smaragdgrünen Augen seiner Mutter, woraufhin ihm ein Schauer über den Rücken rann.
„Dir bereitet etwas ernsthafte Sorgen. Was ist los? Stimmt was nicht mit unserer Enkelin?“, hinterfragte seine Mutter.
Es kostete ihn große Mühe, ihre Frage zu bejahen. Aus dem Augenwinkel sah er, dass sein Vater ihn aufmerksam im Auge behielt. Was ihn nicht weiter beunruhigte, jedoch das alarmierte Blitzen in seinem Blick.
„Es ist“, er holte noch einmal tief Luft. „Naya hat die gleichen Augen wie du, Mutter.“
Jetzt ist es raus.
Seine Mutter erstarrte. Sie zog ihre Hände zurück und wechselte einen vielsagenden Blick mit seinem Vater.
„Als ich die smaragdfarbenen Augen sah, war mir klar, dass ich euch aufzusuchen hatte.“
„Da hattest du recht Alkijet“, brummte sein Vater, leicht verstimmt. „Kommt, lasst uns reingehen. Erzähl uns drinnen mehr über die Kleine Naya.“ Das zuversichtliche Lächeln entspannte die Situation nicht wirklich und die Hand auf seiner Schulter schien so schwer wie Hunderte Pferde zu wiegen.
„Alkje hat recht“, warf seine Mutter mit ein. „Wenn es stimmt, was du sagst, gibt es einen schwerwiegenden Grund, wieso die Prophezeiung solch einen Weg geht.“ Seine Mutter trat voraus, öffnete die Tür und schritt vor ihm in einen wohnlich eingerichteten Raum. Alkijet kannte jedes Möbelstück, zugleich entdeckte er neue, die hauptsächlich der Kräuterküche seiner Mutter dienten.
„Tarija? Ich hole uns was zum Trinken.“ Alkje sah einen nach dem anderen grinsend an, und noch bevor Tarija etwas erwiderte, verschwand Alkje aus dem Zimmer.
„Hat Vater wieder gebraut?“
„Was glaubst du denn, Bruderherz. Aber ich warne dich vor. Das Gebräu ist verdammt kräftig.“
Oh je, ich hatte doch vor, heute zurück zu reiten.
Gleich darauf kam Alkje mit einer Karaffe herein. Tarija stellte bereits vier Krüge auf den breiten Tisch und vollführte eine einladende Handbewegung. Alijana war die Erste, die sich auf einen der Schemel plumpsen ließ. Alkijet setzte sich neben sie, wohingegen er augenblicklich einen gefüllten Humpen vor der Nase stehen hatte, ehe auch Tarija und Alkje sich hinsetzten.
Alkje trank einen kräftigen Schluck und brummte: „Nun mein Sohn, leg los. Wem sieht die Kleine ähnlich?“
„Als wenn man das bereits erkennt“, kicherte Alijana, um ihrerseits nachzuhaken: „Wie alt ist sie?“
„Zwei Tage.“Alkijet nippte sachte an dem Gebräu, das zu seiner Überraschung ausgezeichnet schmeckte. „Hm, Vater. Diesmal ist es dir wahrlich gelungen.“
Alkje prostete ihm zu und trank auf die lobenden Worte einen weiteren kräftigen Zug.
„Du sagst, sie hat meine Augen?“, hinterfragte Tarija nachdenklich.
„Ja. Augen wie Smaragde.“
Tarija sah gedankenverloren auf irgendeinen Punkt in der Hütte, wobei sie von dem Gebräu kostete, ehe sie zu Alkje schaute.
„Was sagte Dorenik zu uns, bevor er in die Wälder entschwand?“
„Hm“, raunte Alkje in den Krug hinein: „Irgendetwas von geteilten Inseln und das vergessene Land, ach und er meinte noch, es gäbe einen heftigen Schnitt im Verlauf des Schicksals.“
Alijana stellte ihren Humpen ab. „Was mit geteilten Inseln gemeint ist, ist ja jedem hier klar.“
Alkijet bejahte. „Sill und Son. Aber was meint er mit vergessenes Land? Und was für ein Schnitt im Schicksal?“
Sie sahen sich alle grüblerisch an.
„Ach, was soll`s.“ Alkje wuchtete seinen Krug auf den Tisch und drückte Alkijets Schulter so kräftig, dass er etwas das Gesicht verzog. „Lasst uns nach Osron trotten. Ich will unsere Enkelin begrüßen.“
„Urplötzlich hast du es eilig“, amüsierte sich Tarija, die ebenfalls ihren Humpen leerte.
„Ja.“ Alkje erhob er sich, um alle der Reihe nach auffordernd anzusehen.
„Typisch Vater.“ Alijana verdrehte die Augen, stand ebenfalls auf und schlenderte zur Tür. „Ich werde dann mal Sona rufen.“
Alkijet runzelte fragend die Stirn, erhielt aber keine Antwort, da seine Schwester flink nach draußen verschwand, wohingegen Tarija fragte: „Bist du allein hergekommen?“
„Nein. Meine beiden Leibgardisten Derikan und Kekrik warten am Waldrand auf mich.“
Tarija drückte sich vom Schemel hoch, trat zur Tür, wo sie stehen blieb. „So denn, dann lasst uns zuerst zu ihnen aufschließen, bevor wir nach Osron trotten.“
„Trotten?“
Sie schmunzelte. „Ja, trotten. Alkijet, du vergisst mal wieder, dass wir im Grunde Wölfe sind.“
Ja, das vergesse ich wahrlich zu oft.
Er folgte Tarija nach draußen, wo ein schwarzbrauner Wolf bereits auf sie wartete. Tarija verwandelte sich sofort auch zu einem, wobei seine Schwester mithilfe ihrer Finger einen schrillen Pfiff ausstieß. Einen kurzen Moment darauf hallte ein Wiehern durch die Dunkelheit und ein Schimmel kam anmutig auf die Lichtung getrabt.
„Ist sie nicht eine Schönheit“, schwärmte Alijana, während sie zärtlich über den Hals der Stute streichelte.
„Das ist sie. Ich hatte keine Ahnung, dass du dir ein Pferd angeschafft hast.“
Alijana lachte amüsiert auf, packte die Mähne an der Kruppe, um sich mit einer geschickten Bewegung auf den blanken Rücken zu schwingen.
„Sie gehört mir, seit sie ein Fohlen war. Ein Bär hat ihre Mutter getötet, daraufhin habe mich ihrer angenommen. Nun sind wir die besten Freunde. Komm. Sie trägt uns beide ein Stück.“
Er musterte die Stute mit dem schlanken, kraftvollen Körper, nickte knapp und ließ sich von Alijana hinaufhelfen, was sich sonderbar anfühlte.
„Sonst sitzen mir die Frauen im Nacken“, witzelte er, auf dass hin er einen Rippenstoß von ihr kassierte, bevor er die Arme um ihre Taille schlang.
„Sieh es als Privileg, das du mitreitest.“ Alijana trieb ihre Stute voran. Folgte den beiden Wölfen, die in die Schwärze zwischen den Bäumen verschwanden. Alkijets Augen brauchten einen Moment, bis sie sich an das diffuse Mondlicht gewöhnten. Er bestaunte die träumerische Leichtigkeit, mit der seine Schwester das Pferd lenkte, das trittsicher über den Waldboden trottete.
Ist Kara in Kenntnis gesetzt mit den Augen? Die fragende Stimme seiner Mutter schreckte ihn aus seinen Gedanken hervor. Er sah neben sich zu Boden, wo die Wölfin dicht einherging.
„Nein. Ich habe es ihr nicht gesagt, um sie nicht zu verunsichern, nachdem sie meinen verdatterten Gesichtsausdruck bemerkt hatte.“
„Den hätte ich auch zu gerne gesehen“, neckte ihn seine Schwester, weiterhin den Blick nach vorne gerichtet.
Demzufolge müssen wir behutsam vorgehen. Alkijet, wenn sie wahrlich die Augen der Prophezeiung hat, weißt du, was das bedeutet.
Grimmig dreinschauend bejahte er grollend: „Dass sie ein Wolfskind ist.“
„Was unternehmt ihr, wenn es sich bestätigt?“, warf Alijana ein, die nun nicht mehr amüsiert klang. Auf ihre Frage hin, legte sich eine unheimliche Stille über sie alle, lediglich unterbrochen von den Geräuschen der Hufe und der Pfoten.
Wenn Naya wahrhaftig ein Wolfskind ist, mein Sohn, sollte sie auch unter solchen leben.
Zähneknirschend linste er zu seiner Mutter.
Ich hatte befürchtet, dass sie das sagt. Hoffentlich bewahrheitet sich mein Verdacht nicht und ich habe nur nicht ordentlich hingesehen.
Schweigend verbrachten sie den restlichen Weg zu dem Platz, an dem die Leibwächter lagerten. Ihm jagten unzählige Szenarien durch den Kopf in Bezug auf seine neugeborene Tochter.
Bei Agin! Lass sie kein Wolfskind sein.
Es war ein verzweifeltes Flehen, von dem er nicht wusste, ob es erhört wurde. Wenig später gewahrte er den Schein eines Feuers vor sich. Alijana ritt, ohne das er etwas sagte, nicht direkt hinter dem Lager aus dem Wald, sondern ein Stück daneben, bevor sie ihre Stute zu den Soldaten lenkte. Bei ihrem Erscheinen sprangen die Leibgardisten erschrocken auf. Sie zückten hektisch ihre Schwerter, während Alkijet donnerte: „Steckt sofort die Waffen weg!“
Zögerlich wurde seinen Worten folge geleistet. Die Männer schoben die Klingen zurück in die Scheide. Sie beäugten dabei misstrauisch seine Schwester, unterdessen Alijana ihr Pferd zum Stehen brachte. Alkijet rutschte prompt vom Rücken und wurde nur einen Herzschlag später von den Wölfen flankiert. Augenblicklich verneigten sich die Leibwächter ehrfurchtsvoll. Sie wussten, wie jeder in der Burg zu genau um die Bedeutung der Tiere.
„Derikan. Kekrik. Brecht das Lager ab. Wir reiten unverzüglich zurück nach Osron.“
Den Befehl bestätigend, agierten sie sofort wie geheißen. Kekrik löschte mit Erde das Feuer, wobei Derikan die Decken zusammenraffte, um sie auf den Sätteln zu verteilten. Alkijet trat indes zu seinem Hengst, tätschelte ihm den Hals, bevor er eine der Wolldecken an seinem Sattel festzurrte. Nachdem alles erledigt war, schwang er sich auf den Rücken seines Pferdes. Er wartete, bis die Soldaten auch auf ihren Rössern saßen. Danach nickte er den beiden Wölfen, ebenso Alijana zu, dass es losging.
Zuerst trotteten sie in gemächlichem Schritt durch die Nacht, bis der Morgen dämmerte. Daraufhin ritten sie in flottem Tempo weiter. Nur mit kurzen Pausen, um sich an Bächen und mit dem dürftigen Proviant zu stärken, hielt Alkijet das zügige Eiltempo bei.
~~~
Als sie Osron am späten Abend des zweiten Tages erreichten, war kaum jemand auf den Straßen vorzufinden. Er unterdrückte ein aufatmen, denn auch wenn er es gewohnt war, genoss er die Momente, in denen er wie jeder andere, ohne Trubel, durch die Gassen ritt. Alkijet kannte es nicht anders, wobei er sich hin und wieder wünschte, wie seine Eltern einfach von der Bildfläche zu verschwinden.
Vor ihm erschien das gewaltige Tor der Burg, dass sich bei seinem Erscheinen behäbig öffnete, so das sie ungehindert hineinritten. Vor den Stallungen stoppten sie die Pferde, gleichzeitig kamen Stallburschen herbeigeeilt. Sie ergriffen die Zügel der Rösser, auf dass hin Alkijet aus dem Sattel glitt. Er sah zu seiner Schwester, die mit beruhigenden Worten auf ihre Stute einredete. Der Schimmel scharrte unstet mit den Hufen, zugleich beäugte sie den Burschen vor sich, der angstvoll das Tier ansah.
„Brauchst du Hilfe Alijana?“, fragte Alkijet amüsiert.
Sie hingegen schüttelte den Kopf, rutschte vom Rücken ihres Pferdes und scheuchte den Stallburschen mit einem barschen Knurren davon.
„Sie sollen einfach die Finger von Sona lassen“, zischte seine Schwester, gleichzeitig versuchte sie weiter, das nervöse Tier zu beruhigen.
„Ihr habt gehört, was Mylady gesagt hat“, wand er sich an die Stallburschen, die ehrerbietig ihre Häupter beugten.
„Bruderherz. Wäre es vorstellbar, dass sie hier draußen auf der Koppel bleiben kann? Sie ist Fremde und einen Stall nicht gewohnt.“
Alkijet bestätigte knapp, sah die Burschen mahnend an, die ihre ganze Aufmerksamkeit den Pferden widmeten, die sie an den Zügeln hielten.
„Gut. Lasst uns hineingehen. Ich stelle euch Naya vor.“ Flankiert von den beiden Wölfen traten Alkijet und Alijana die breite Haupttreppe empor, zugleich vernahm er das Knarren des Haupttores, dass sich in seinem Rücken schloss. Ein Soldat öffnete derweil die doppelflügelige Tür des Haupteinganges, auf das sie den geweißelten Korridor betraten.
Hier hat sich eine Menge geändert, seit unserem letzten Besuch, bemerkte Tarija. Alkijet lächelte bescheiden auf diese Bemerkung.
„Nun ja. Kara ist der Meinung, dass alles in einer Burg wohnlich zu sein hat.“ Dabei musterte er die Wandgemälde, die im Wechsel mit grünen Stoffbahnen auftauchten.
Sie hätte es nicht besser hinbekommen können.
Er gab darauf kein Kommentar, denn seiner Ansicht nach fand er es zu übertrieben.
„Kommt. Sie ist bestimmt im Gemach.“
Aber wie sie dort ankamen, war Kara nicht da. Verwundert blieb er in dem gemeinsamen Zimmer stehen.
Frauen tun nie das, was man von ihnen denkt, belächelte Alkje das Ganze, woraufhin er von Tarija und Alijana einen gespielt empörten Blick erntete.
„Vater, ich glaube, du solltest behutsam sein, mit dem, was du sagst.“
Habe ich bemerkt.
Es sah seltsam aus, wenn ein Wolf grinste, was Alkijet lediglich am Rande wahrnahm. Sein nächster Weg führte ihn zum Burggarten, denn neben seiner Mutter war es auch Karas Lieblingsplatz.
Da ist sie ja und Naya bei ihr. Erleichtert erblickte er seine Frau, die auf einer Steinbank saß und Naya behutsam im Arm hielt. Ihre Lippen bewegten sich, was vermuten ließ, dass sie der Kleinen etwas vorsang, während sie das Kind sanft wiegte.
Sie ist so glücklich und jetzt komm ich daher. Bitte lass Naya kein Wolfskind sein. Mit diesem Gedanken trat er zu Kara, um vor ihr in die Hocke zu sinken.
„Meine Liebe, ich bin wieder zurück.“ Sein Blick glitt über das schlafende Kind, bevor er flüsterte: „Wie geht es ihr?“
„Gut. Hast du deine …“ Kara stoppte, als sie die Wölfe und Alijana erblickte. Sie zuckte erschrocken zusammen, woraufhin Alkijet ihr besänftigend die Hand auf das Knie legte.
„Sie sind beide gekommen, um ihre Enkelin zu sehen.“ Im gleichen Moment verwandelten sich seine Eltern, wobei er zu seiner Schwester sah und ergänzte: „Ebenso Alijana.“
„Oh“, war alles, was Kara erwiderte. Sie stand ungestüm auf, weswegen sie fast das Gleichgewicht verlor, doch Alkijet erhob sich blitzschnell, um seine Gemahlin zu halten.
„Eure … Majestät …“ Kara verbeugte sich ehrfurchtsvoll, die Kleine dabei weiterhin im Arm haltend.
„Mylady genügt. Ich habe mich nie als Königin gesehen und tue es auch heute nicht. Meine Glückwünsche zur Geburt Eurer Tochter.“
„Danke“, hauchte Kara, wobei sie verstohlen zu Alkje linste. Alkijet bemerkte ihren Blick, weswegen er sich ein Schmunzeln verkniff. Zu deutlich erinnerte er sich an den Tag vor zwei Jahren. An ihren Hochzeitstag. An diesem hatte sein Vater einen bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen, ebenso bei manchem anderen Gast.
Alkijet war eingeweiht in den Auftritt seiner Eltern, die über die Terrasse in Form der imposanten Adler hereingeflogen kamen. Sie ließen sich auf die jeweiligen Throne - rechts und links von seinem - nieder, bevor sie die menschliche Gestalt annahmen. Es war Alkje, der nach alter Tradition ihnen den Treueeid abgenommen hatte. Alkijet sah heute noch das Gesicht von Kara vor sich, als sie mit ehrfürchtigem Ausdruck in ihren weichen Zügen diesen respekteinflößenden Ashaker ansah. Sie kam aus einem eher kleineren Adelshaus, waren sich zufällig auf einem Fest in Kar Fralo über den Weg gelaufen, wo er sich Hals über Kopf in sie verliebte.
„Mylady“, Alkje verbeugte sich lächelnd vor Kara. „Ihr seid nach wie vor eine Augenweide.“
Alijana neben ihm verdrehte die Augen, bevor auch sie sich vor Kara verneigte.
„Typisch Ashaker. Hallo Kara.“
Kara reichte Alkijet kurzerhand seine Tochter, trat auf Alijana zu, woraufhin beide sich herzlich umarmten. Unterdessen kam Tarija zu ihm, um einen Blick auf die Kleine zu werfen.
„Sie ist wunderhübsch.“ Zärtlich strich Tarija über eine Wange, wobei die Kleine zu schmatzen begann.
„Wirst du sie wirklich zu dir holen, wenn es sich bewahrheitet?“, fragte Alkijet, so leise er es vermochte, um die Bestätigung in ihren Augen zu sehen.
„Sag mal“, vernahm er Alkjes Stimme. „Habt ihr in letzter Zeit was von Anjok gehört?“
„Ja, Mylord. Er und Daria erwarten ebenfalls bald ihr erstes Kind“, beantwortete Kara die Frage, auf das Alkje breit grinste.
„Noch mehr Enkel.“ Gleichzeitig trat er zu Alkijet. „Ich bin richtig stolz auf meine Söhne.“ Seine Züge entspannten sich beim Anblick der Kleinen. Alijana – von der Bemerkung ihres Vaters sichtlich angesäuert - kam mit Kara zu ihm.
„Sie ist ein Sonnenschein“, schwärmte Kara, „und hält mich ziemlich auf Trab, vor allem in der Nacht.“
Bei diesen Worten rutschte Tarijas linke Augenbraue ruckartig nach oben. Eine Bewegung, die Alkijet gar nicht gefiel. Ihn sogar augenblicklich alarmierte. Da war etwas in ihrem Blick, etwas das er nicht deuten konnte.
„Wie meint Ihr das?“
Mütterlich lächelnd meinte Kara: „Sie ist ein Nachtmensch. Tagsüber schläft sie viel, wacht nur zum Essen auf und nachts ist sie putzmunter.“
Der vielsagende Blick den Tarija mit ihm tauschte, jagte ihm einen eisigen Schauer über den Rücken.
Das verheißt nichts Gutes. Oh, bitte lasst sie kein Wolfskind sein.
Tarija strich erneut über Nayas winzige Wange. Als wenn die Kleine es spürte, dass es nicht ihre Mutter war, öffnete sie langsam ihre Lider. Alkijet hielt unweigerlich die Luft an. Klare smaragdfarbene Iriden sahen ihnen entgegen, weswegen Tarijas Finger in der Bewegung erstarrten.
„Du hast dich nicht geirrt mein Sohn“, flüsterte sie. „Diese Augen sind einmalig.“
Ein harter Kloß bildete sich in seinem Hals, den er nur schwer runterschluckte, als er den irritierten Blick von Kara bemerkte.
„Alkijet? Was meint Mylady damit?“
„Das Eure Tochter was einmaliges ist. Diese Augen sind das Erbe der Kardianer. Das Erbe einer einflussreichen Prophezeiung.“
Kara erbleichte. „Ihr … ihr meint … Naya …“
„Scheint ein Wolfskind zu sein, wie Alkje und ich.“
Entgeistert sank Kara auf die nahe gelegene Steinbank. Alkijet setzte sich sofort an ihre Seite, Naya in den Armen, zugleich ließ sich Alijana zur anderen neben Kara nieder. Seine Schwester legte beruhigend den Arm um die Schultern seiner Gemahlin.
„Kara. Ein Wolfskind zu sein ist nichts Schlechtes“, murmelte Alijana tröstend. „Sie besitzen eine bemerkenswerte Gabe und sie sind zu Großem vorbestimmt.“
„Aber … aber wieso … meine Naya?“
Tarija ging, mit bedauernder Mimik vor Kara in die Hocke. „Das wissen wir auch nicht. Die Wege der Prophezeiung sind verwirrend und manchmal nicht sofort erkennbar.“
Alkijet sah in die Augen seiner Tochter, bevor er flüsterte: „Gibt es Anzeichen, wenn sie sich verwandelt?“
„Alkijet!“, keuchte Kara und sah ihn entsetzt an.
„Nein“, entgegnete Tarija in aller Seelenruhe. „Gereon konnte mir nie genaue Hinweise darauf geben. Meine damalige Verwandlung vom Wolf zum Menschen kam urplötzlich über Nacht, als ich vier Sommer alt war. Es war bei jedem Wolfskind bisher unterschiedlich, wann es sich verwandelte. Gereon selber war ein Junge, bevor er die Gabe erkannte.“
„Ich ein Mann“, warf Alkje ein.
Karas Blick huschte von einem zum anderen, ehe sie Alkijet wieder ansah.
Bei Agin. Wieso geschieht das ausgerechnet uns.
Behutsam lugte er zu seiner Mutter. „Was machen wir nun?“
„Abwarten. Das Einzige was wir tun können, ist abwarten.“
Er reichte Kara die Kleine, die Naya beschützend an ihre Brust schmiegte. Gleichzeitig vernahm er ein leises Schniefen, bevor er sich von der Bank erhob. Alkijet sah grüblerisch zum dämmrigen Himmel, wo der Mond sich bereits als Sichel zeigte. Tarija stand ebenfalls auf. Ihre Hand ruhte auf seiner Schulter.
„Alkijet, wenn es dich beruhigt, so werde ich regelmäßig zu euch kommen. Bleibe für ein paar Tage hier, um in dieser Zeit mich mit Naya zu beschäftigen. Aber auch um ihre Entwicklung zu beobachten.“
Ein herzzerreißendes Schluchzen erklang. Er sah sofort zu Kara, an deren Wangen dicke Tränen herunterkullerte, während sie sich an Alijana lehnte.
„Was, wenn sie sich verwandelt, wenn Ihr nicht da seid?“, japste Kara, den Blick nicht von ihrer Tochter nehmend.
Tarija sank neben Kara und drückte sie tröstend an sich. „Dann komme ich, so schnell ich kann, und hole sie zu mir. Lehre sie alles, was sie als Wolfskind wissen muss, und erziehe sie, wie meine Tochter.“
„Aber … ich kann doch meine Tochter nicht …“
„Kara? Weißt du, wie man einen Wolf erzieht?“, fragte Alkijet bedächtig, woraufhin seine Gemahlin schniefend den Kopf schüttelte.
„Noch ist es ja nicht soweit. Es kann womöglich Jahre dauern. Allenfalls vergehen vier Jahre, oder sie ist eine erwachsene Frau, bis sie ihre Gabe erkennt. Wann sie sich verwandelt, das weiß nur das Schicksal.“
Kara gab Naya einen Kuss auf die Stirn, woraufhin die Kleine gluckste.
„Habe ich eine andere Wahl?“
Alijana holte Kara zurück in ihre Umarmung. „Wenn es um die Prophezeiung geht, leider nicht.“
„Bevor wir hier weiter darüber diskutieren, wie wir mit all dem umgehen, würde ich sagen, wir gehen rein. Der Wind frischt auf.“ Alle Blicke richteten sich auf Alkje, der ernst dreinschaute, zugleich zu den Arkadengängen deutete.
„Vater hat recht. Lasst uns reingehen.“ Er half Kara aufzustehen. Begleitete seine schluchzende Gemahlin in das Audienzzimmer, wobei sie Naya beruhigend wiegte.
Dort angekommen lächelte Tarija aufmunternd. „Darf ich sie mal halten?“
Man sah Kara an, dass sie haderte, bevor sie die Kleine an Tarija weiterreichte, die sich daraufhin in einen Sessel setzte.
Unverhofft klopfte es an der Tür, woraufhin alle verwundert das Türblatt anstarrten.
„Herein“, befahl er und einer seiner schlaksigen Boten trat ein. Er verbeugte sich flüchtig und reichte ihm einen versiegelten Umschlag.
„Ein Brief aus Ulso, Majestät.“
„Aus Ulso?“ Stirnrunzelnd nahm er das Schreiben entgegen, während der Bote verschwand. Alkijet brach das Siegel. Er lass sich in aller Ruhe die Zeilen durch, die mit einer eleganten geschwungenen Schrift auf dem Pergament zu sehen war.
„Mutter, das … das solltest du dir bitte durchlesen.“
Völlig perplex von den Worten reichte er Tarija den Brief, die Naya widerwillig Kara zurückgab.
Mit jeder Zeile, die seine Mutter las, wurde ihr Gesicht zunehmend zu einer versteinerten Maske.
„Was steht drin“, murrte Alkje und beugte sich über Tarijas Schulter, um ebenfalls den Text zu studieren.
Ein unheimliches Schweigen erfüllte den Raum, bevor Tarija murmelte: „Das klingt nicht sehr gut.“
„Was ist den los?“, entrüstete sich seine Schwester, die mit verschränkten Armen alle der Reihe nach ansah.
„Den Sehern von Ulso ist etwas in der Prophezeiung aufgefallen, dass nichts Erfreuliches verheißt. Sie haben sogar den Absatz dazugeschrieben. Hört zu: Geboren wird ein zweites Kind, von Gram und Missgunst zerfressen. Es trachtet nach des Herrschers Thron, sollt das Erste die Aufgabe nicht erfüllen.“
Alle schwiegen. Nur Nayas leise Schmatzen war zu hören.
„Das hört sich für mich an, als würde es ein zweites Wolfskind geben. Aber wo?“, grummelte Alkje, während er sich aufrichtete.
„Ich könnte es herausfinden“, ereiferte sich Alijana, woraufhin Tarija ihr zweiflerische Blicke zuwarf. „Was denn? Ihr wisst, ich komme gut allein zurecht. Umso eher wir wissen wo und wer, umso eher können wir es verhindern, dass der oder diejenige am Thron meines Bruders sägt.“
Alkijet wusste nicht, was er zu solchen euphorischen Worten sagen sollte, als sein Vater ihm die Bürde abnahm.
„Jetzt mach mal die Pferde nicht Scheu. Wenn dieses Kind, im gleichen Zeitraum auf die Welt kommt wie Naya, dann ist es die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Eher macht es Sinn, die Suche dann anzufangen, wenn Naya sich wandelt. Denn so, wie ich die Prophezeiung kenne, wird das dann auch das andere Kind tun.“
„Außer das Schicksal geht mal wieder seinen eigenen Weg“, murrte Tarija.
Alkje verdrehte die Augen, erwiderte aber nichts dazu.
„Jetzt zu spekulieren wer, wo und wieso bringt vorerst nichts“, gab Tarija zu bedenken und erhob sie behäbig. „Ich würde sagen, lasst uns alle zur Ruhe kommen. Vielleicht bringt der morgige Tag bessere Ideen und ausgeruht lässt sich auch besser über dieses Thema reden.“
Keiner widersprach, weswegen sie sich zurückzogen.
Alkijet fand in dieser Nacht jedoch keinen Schlaf. Die Ereignisse überschlugen sich regelrecht, was seine Gedanken im Kreis drehen ließ.
Erst bewahrheitet es sich, dass meine Tochter ein Wolfskind ist. Dann gibt es angeblich auch noch ein Zweites. Warum nur. Bei Agin! Was haben wir übersehen? Was haben wir falsch gemacht in all den Jahren, dass die Prophezeiung so darauf reagiert?
Innerlich fluchend suchte er Ablenkung in der Bibliothek. Er ergriff irgendein Buch, blätterte wahllos darin herum, bis die Müdigkeit in endgültig übermannte.
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Die Stimmung am darauffolgenden Morgen spiegelte deutlich wieder, wie sich jeder nach dem Brief des Sehers fühlte. Alle hingen ihren Gedanken nach. Kaum jemand sagte etwas. Selbst seine Schwester, die sonst mit einem üppigen Redeschwall von ihren Ausflügen in die Wälder berichtete, schwieg.
Alkijet deprimierte diese Atmosphäre zunehmend. Nicht nur, dass er sich damit abfinden musste, dass seine Tochter ein Wolfskind war und er sie an seine Eltern abgeben musste. Nein. Es kam sogar noch ein zweites Wolfskind ins Spiel und wenn er es richtig verstanden hatte, ein Gegenpart zu seinem Kind.
Er linste zu Kara. Man sah ihr deutlich an, wie all das ihr zusetzten. Die ganze Nacht hatte sie sich hin und her gewälzt. War mehr als einmal schreiend aufgewacht, um zu der Liege zu eilen, wo Naya friedlich schlief. Er selbst war sich im Klaren, dass er die Kleine - sollte sie sich verwandeln - nicht weiter in der Burg halten konnte. Er hatte die Erfahrung mit Wolfskinder zwar nur mit seinen Eltern und seinem Großvater gemacht, aber allein das reichte aus, um zu wissen, dass sie in der Form eines Wolfes unberechenbar waren. Das hatte er am eigenen Leib schmerzlich zu spüren bekommen, als er einmal zu heftig mit seinem Großvater gespielt hatte.
Nachdem alle gesättigt waren, begaben sich Alkje und Tarija hinaus in den Burghof. Sie wollten heute noch zurückfliegen, denn die Ernte stand an.
Alkijet beobachtete den Aufbruch mit gemischten Gefühlen. Wie gerne hätte er sie noch ein paar Tage länger hiergehabt, damit sie ihm bei manchen Entscheidungen halfen. Vor allem, um gemeinsam die alten Schriften zu wälzen, die er oftmals nicht imstande war zu entschlüsseln.
Neben seinen Eltern hielt er inne. Tarijas Hand fühlte sich wie eine Last auf seiner Schulter an, da half auch ihr aufmunterndes Lächeln nicht.
„Es ist noch nicht soweit. Aber sei dir bewusst, dass deine Tochter für das Kardianische Reich mehr wie entscheidend ist.“
„Das ist mir klar und das ist es, was mir Sorgen bereitet.“
„Ach komm schon“, brummte Alkje. „Genießt die Zeit mir der Kleinen und schieb den Kummer beiseite. He … Alijana …“
Seine Schwester trat, ihren Vater skeptisch musternd, zu ihnen. „Wetten, Vater heckt wieder was aus“, grummelte sie, ehe sie laut fragte: „Was ist?“
„Nebenbei bemerkt. Du könntest doch bei deinem Bruder und Kara bleiben. Ihnen bei Naya helfen, bis…“, er sprach es nicht aus, aber sie begriffen, was er meinte.
Alijana sah alle der Reihe nach mit ernster Mimik an.
„Nein. Ich werde mich trotz allem auf die Suche nach dem anderen Wolfskind begeben. Es muss ja nicht heißen, dass es genau wie Naya in diesem Zyklus auf die Welt kam. Vielleicht ist es ja schon älter und hat sich bereits gewandelt.“
Obwohl die Stimmung schon bedrückend war, so verstärkte sich jetzt dieser Eindruck immens.
Ganz unrecht hat sie mit ihrer Vermutung nicht.
Tarija wechselte einen vielsagenden Blick mit ihm, was ihm sagte, dass auch sie sich so ihre Gedanken darüber machte.
„Ich kann dich nicht davon abhalten, oder mein Kind“, hinterfragte Tarija mit einem mütterlichen lächeln.
Alijana schüttelte bestimmend den Kopf.
„Nun, dann machen wir es so“, resignierte Tarija. „Ich komme euch sobald wie möglich besuchen und Alijana begibt sich auf die Suche nach dem zweiten Wolfskind.“
Keiner erwiderte etwas, womit das Gesagte beschlossene Sache war. Gleich darauf hüllten sich seine Eltern in das Schimmern und verwandelten ihre Form in die der Adler. Mit einem kurzen Schrei stießen sie sich von der Treppe ab, glitten dem Himmel entgegen und entschwanden rasch aus dem Sichtfeld.
„Wann wirst du aufbrechen?“ Er sah seine Schwester an, die einen Blick zu ihrer Stute warf, die friedlich dösend auf der Koppel stand.
„Morgen. Zuerst werde ich in der Stadt mich noch mit ein paar Sachen eindecken, die ich für so eine Reise brauche und Proviant wäre auch nicht schlecht.“
Alkijet schmunzelte, legte seinen Arm um Karas Taille, die alles nur unbeteiligt mitverfolgt hatte.
„Du kannst alles haben, was du brauchst, das weist du.“
Alijana nickte, woraufhin sie sich mit Kara zurück in die Burg begaben.
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Seine Mutter hielt sich an das, was sie gesagt hatte. Sie kam in regelmäßigen Abständen zu Besuch, um für ein paar Tage sich völlig auf Naya zu konzentrieren.
Alkijet ließ es sich nicht nehmen, hin und wieder seine Mutter zu bespitzeln, während sie sich mit Hingabe um seine Tochter kümmerte. Mit ihr spielte. Sie wickelte. Obgleich es die Aufgabe des Kindermädchens war, aber wenn Tarija auf der Burg weilte, waren einige Diener überflüssig.
Mit Genugtuung beobachtete er, das Naya die Zeit mit ihrer Großmutter genoss. Oftmals weinte sie heftig, war kaum zu beruhigen, wenn Tarija sie verließ. Das wiederum zeigte ihm deutlich, was für eine enge Bindung das Oma-Enkel-Gespann entwickelte.
Die Einzige, die dem Ganzen nach wie vor mit gemischten Gefühlen entgegensah, war Kara. Auf der einen Seite entzückte es Kara, dass Naya so oft ihre Großmama sah. Aber zum anderen war ihr klar, dass es die gleiche Frau war, die ihr in Zukunft das Kind wegnehmen würde. Dieser Gedanke brachte Kara mehrmals dazu, in Tränen auszubrechen, wenn sie die Kleine im Arm wiegte.
Wann es nur möglich war, legte er tröstend seinen Arm um sie, wobei sie gleichzeitig von den wachen Augen ihrer Tochter beobachtet wurden. Hin und wieder lächelte Naya, so als wolle sie ihnen damit sagen, sie brauchten nicht trübsinnig zu sein.
Er war sich bewusst, dass Kara versuchte, stark zu bleiben und ihre aufgewühlten Emotionen nicht zu deutlich zu zeigen. Alkijet verstand sie, aber er wusste nicht, wie er ihr beistehen konnte, zumal er als König einiges um die Ohren hatte, um sich immer den Belangen seiner Gemahlin zu widmen.
So verflog das erste Jahr. Schneller als es Alkijet recht war.
Heute saß er in einem der Sessel im Audienzzimmer und fixierte seine Mutter. Ihre Mimik verhieß nichts Erfreuliches, das hatte er schon erkannt, als sie hier mit einem Pferd angekommen war und nicht wie das restliche Jahr über hergeflogen.
„Was ist so dringlich, dass du mich unter vier Augen sprechen willst?“
Tarija beugte sich nach vorne, bettete ihre Ellbogen auf die Oberschenkel und verschränkte ihre Hände, auf die sie ihr Kinn ablegte.
„Du weißt, weswegen ich dich aufsuche.“
Ich hatte gehofft, sie würde uns mehr Zeit lassen.
„Ja. Dessen bin ich mir bewusst. Willst du sie wirklich jetzt schon zu dir zu holen? Sie ist erst knapp ein Jahr alt.“
„Alkijet. Ich verstehe, sie ist deine Erstgeborene und ihr beide hängt an ihr. Trotzdem, ich habe das untrügliche Gefühl, dass sie sich früher verwandelt als ich. Zumal ich noch nichts von Alijana gehört habe, zwecks dem zweiten Wolfskindes.“
Überlegend kratze er sich am Bart, ehe er schwer seufzte. „Mir kam auch noch nichts zu Ohren. Ich hoffe nur, ihr ist nichts zugestoßen.“
„Vertrau deiner Schwester. Sie ist zäher, als du denkst.“
Er lächelte verkniffen. „Dessen bin ich mir bewusst. Dann ist es so. Hast du schon einen genauen Zeitpunkt wann?“ Erfragte er niedergeschlagen, denn er wusste, dass er gegen seine Heerführerin nicht ankam. Nicht gegen die mächtigste Frau des ganzen Reiches.
„Nach ihrem ersten Geburtstag hole ich sie mit zu uns. Du solltest dich danach intensiv um Kara kümmern. Schieb die Regierungsangelegenheiten etwas beiseite, das tut dir auch gut.“
Er nickte, auch wenn er nicht überzeugt davon war. Aber es gab nichts mehr zu sagen. Er selber hatte sich ebenso mit dem Gedanken abzufinden, dass er sein bisher einziges Kind weggeben musste.
„Ach und Alkijet.“ Tarija erhob sich, trat neben ihn, zugleich legte sie ihm eine Hand auf die Schulter. „Es ist euch beiden untersagt in den Wald zu kommen, ab dem Moment, wo ich Naya mitnehme. Bevor wir keine Ahnung haben, warum Naya ein Wolfskind ist, darf niemand wissen, wer sie wirklich ist.“
Alkijet atmete tief ein, gab ein kaum sichtbares Nicken von sich, auf das hin Tarija den Raum verließ. Er hingegen presste fest die Kiefer aufeinander und ballte seine Fäuste.
Verdammte Prophezeiung!
~~~
Alkijet sah mit gemischten Gefühlen zu den beiden Hengsten, die von zwei Stallburschen an den Zügeln gehalten wurden. Es waren prachtvolle Rappen und er wusste zu genau, zu wem sie gehörten, denn sein Vater stand bereits bei einem der Tiere. Er wartete nur noch darauf, dass Tarija zu ihm kam.
„Ich werde mich gut um sie kümmern“, beteuerte sie ihm zum tausenstenmal.
Er sah zu seiner Mutter, schluckte den harten Kloß runter, ehe er, wenn auch nicht sehr überzeugt, bejahte. Neben sich schniefte Kara herzerweichend, doch er kannte Tarija. Kannte die gnadenlose Heerführerin, die ein nein nicht akzeptierte. Wenn sie sich was vornahm, zog sie es durch. In dieser Hinsicht brauchte man lediglich den Geschichten lauschen, die man über sie erzählte. Vor allem wie sie Sarkon eingenommen hatte.
Seine Gedanken schweiften zurück zu seiner Tochter, die auf seinem Arm saß und mit den Bartperlen spielte. Unvermittelt hielt sie inne, um ihre Aufmerksamkeit auf Tarija zu richten.
„Kann sie nicht noch ein Jahr bei uns bleiben?“, wimmerte Kara.
Noch ehe Alkijet zu seiner Mutter sah, ahnte er, dass sie verneinte.
„Kara. Wir müssen jeden Tag damit rechnen, dass sie sich verwandelt. Glaub mir. Eine Burg ist nicht der richtige Ort für einen Wolfswelpen.“
„Mooooma.“ Naya streckte ihre zierlichen Hände nach Tarija aus, auf das sie die Kleine behutsam auf den Arm hievte.
„Ja, Oma ist da meine Kleine. Kara“, Tarija sah zuversichtlich zu seiner Gemahlin. „Ich werde für Naya stets die Oma bleiben. In einigen Jahren sage ich ihr, wer ihre Mutter ist. Ich erzähle ihr alles von euch, nur eines lasse ich aus.“
Kara runzelte irritiert die Stirn, schmiegte sich, die Tränen zurückdrängend an Alkijet, der sofort seinen Arm um sie schlang.
„Ich werde ihr nicht sagen, dass sie eine Thronerbin ist. Nicht bevor wir ihr wahres Schicksal kennen und eventuell Informationen von dem zweiten Wolfskind haben.“
Alkijet bekräftigte ihre Worte nicht, denn sie hatten alles gesagt, wobei Kara lange brauchte, bis sie die Lage einsah. Schwer seufzend, legte sie ihre Hand auf den gewölbten Bauch. Tarija warf ebenfalls einen flüchtigen Blick darauf, lächelte und wand sich zu den Pferden um. Sie gab Alkje die Kleine in die Hände, schwang sich in den Sattel, um Naya vor sich zu setzten. Sofort gluckste das Mädchen, zog spielend an der Mähne des Hengstes, woraufhin Tarija sanft mit der Hand die schwarzen Haare des Kindes zauste. Danach richtete seine Mutter ihr Augenmerk auf ihn und Kara.
„Passt gut auf Naya auf“, zwang er sich zu sagen, auch wenn es ihm unendlich schwerfiel. „Du weist selber, sie ist ein ordentlicher Wirbelwind.“
Tarija lachte von Herzen. „Als wenn du kein Wirbelwind warst. Da ist Naya noch harmlos, wenn ich das so bemerke. Nun denn.“ Tarija ergriff mit der Rechten die Zügel, legte ihren linken Arm um die Kleine, so, dass Naya beschützt vor ihr saß. Mit einem Schnalzen der Zunge gab Tarija das Kommando zum Aufbruch. Alkje erklomm rasch den Rücken seines Pferdes, hob grüßend die Hand und ritt Tarija hinterher.
Alkijet sah ihnen lange nach. Zwiegespalten in seinen Gefühlen. Er drückte Kara fest gegen sich, die ihre Tränen nicht mehr zurückhielt und haltlos schluchzte.
„Kara. Komm, lass uns reingehen“, flüsterte er ihr ans Ohr. Gleich darauf führte er seine zitternde Gemahlin zurück in die Burg. Bevor er diese betrat, sah er zu dem sich schließenden Tor, hinter dem seine Eltern mit seiner Tochter verschwanden.
Wir sehen uns wider, meine Naya. Eines Tages.
Kapitel 1
Sie gähnte herzhaft. Streckte ausgiebig ihre Glieder, als der Duft nach fruchtigem Haferschleim an ihre Nase drang, die sie schnuppernd in die Luft reckte. Augenblicklich meldete sich ihr Magen lautstark knurrend zu Wort, während sie behäbig unter der dünnen Leinendecke hervorkroch. In ihrem Zimmer herrschte das übliche Zwielicht, da es nur ein schmales Fenster gab, das gen Norden gerichtet war. Dafür aber einen angenehmen Blick auf den dichten Wald hinter der Hütte gewährte.
Verschlafen sah sie sich um, bevor sie auf ihre Hände sah und erschrocken aufjaulte. Hektisch rief sie nach ihrer Großmutter, aber alles was sie hervorbrachte, waren sonderbare kläffende Laute.
Ihre Zimmertür wurde mit Schwung aufgerissen. Ihr Großvater, gefolgt von ihrer Großmutter traten herein und blieben beide wie vom Donner gerührt stehen. Völlig überrascht sahen sie Naya an.
„Na so rasch habe ich jetzt nicht erwartet, dass du dich wandelst“, grummelte ihre Großmutter und ehe sich Naya versah, hüllte diese sich in ein Schimmer, bis eine dunkelbraune Wölfin vor ihr stand.
Bleib ruhig meine Kleine. Das ist ganz normal bei uns. Du hast heute zum ersten Mal deine wahre Gestalt angenommen.
Naya starrte ihre Großmutter irritiert an, dann ihre Hände, die zu Pfoten geworden waren. Schwarze Tatzen, mit gleichfarbigen Krallen.
Was bin ich?
Die Wölfin stupste sie mit der Nase hinterm Ohr an, um ihr gleich darauf fürsorglich über das Gesicht zu lecken.
Du bist ein Wolfskind. In deiner natürlichen Form ein Wolf, aber dazu fähig dich in einen Menschen zu verwandeln.
Aber ich bin ein Mensch, begehrte sie auf.
Unablässig fuhr die Zunge der Wölfin über ihr Gesicht, ihren Rücken, was beruhigend auf sie wirkte.
Ja du bist ein Mensch, aber in deinem Herzen ein Wolf. Alkje, die Wölfin sah zu ihrem Großvater. Auch Naya richtete ihr Augenmerk auf ihn, um gleich darauf kurz zusammenzuzucken. Wo ihr Großvater gestanden hatte, weilte nun ein schwarzbrauner Wolf mit angegrauten Augenwinkeln. Kannst du auf die Jagd gehen und unserem Welpen etwas zu essen holen?
Es sah seltsam aus, als der imposante Wolf nickte, um sofort aus dem Zimmer zu verschwinden.
Und du mein liebes Kind, stehst jetzt auf und erkundest mal deinen neuen Körper.
Unschlüssig sah sie die Wölfin an. Dann erhob sie sich mit zittrigen Beinen, richtete sich auf und tapste unbeholfen von ihrem Bett herunter, um augenblicklich auf die Nase zu fallen. Alles fühlte sich so falsch an. Ihre Sinne waren überempfindlich. Allein ihre Nase nahm Gerüche wahr, von denen sie noch nie etwas gerochen hatte. Ihre Ohren zuckten für sie unkontrolliert bei jedem kleinsten Geräusch.
Ich will wieder ein Mensch sein, jammerte sie am Boden liegend, doch ihre Großmutter hatte andere Absichten. Behutsam, auch wenn Naya halb so groß war wie die Wölfin, packte diese sie mit ihren Fängen im Genick und drängte sie mit sanfter Gewalt nach draußen.
Großmutter, ich will nicht. Ich hab Angst. Warum bin ich so?
Erst vor der Hütte gab ihre Großmutter sie wieder frei, stellte sich vor sie und sah ihr tief in die Augen.
Weil du wie ich ein Kind einer mächtigen Prophezeiung bist. Du brauchst keine Angst haben. Lass alles auf dich zukommen. Du stehst mit dieser Situation nicht allein da, denn wir sind immer an deiner Seite.
Naya sah ihre Großmutter zweiflerisch an. Plötzlich raschelte es im Gebüsch und ihr Großvater kam zurück. In seinem Maul, ein erlegter Hase, bei dessen Anblick sich Nayas Magen zusammenkrampfte.
Das ess ich nicht, begehrte sie naserümpfend auf. Doch entgegen ihrer Worte legte ihr Großvater das tote Tier vor ihren Pfoten ab.
Versuche es wenigstens, denn in dieser Form ernähren wir uns von dem, was wir jagen, und zwar ungekocht. Glaub mir, wir haben auch schon gekochtes als Wölfe probiert und ich muss zugeben, es schmeckte fürchterlich.
Angewidert starrte sie auf den Hasen, bevor sie sich demonstrativ hinsetze.
Ich ess das nicht!
Die beiden Wölfe wechselten einen vielsagenden Blick miteinander, ehe ihre Großmutter in die Hütte trottete. Als sie wieder herauskam, trug sie die Schüssel Haferschleim zwischen den Fängen und stellte sie vor ihr ab.
Bitte, dann iss das.
Sofort machte sich Naya über den Haferschleim mit Äpfel her, doch bereits nach dem vierten Happen wurde ihr dermaßen schlecht, dass sie alles würgend erbrach. Entsetzt starrte sie auf die Schüssel, auf das Frühstück, das sie eigentlich liebte.
Ich habe es dir gesagt, Naya. Nun? Willst du jetzt doch den Hasen probieren?
Völlig mit der Situation überfordert fing sie an zu heulen und zu wimmern. Sie kauerte sich wie ein Häufchen Elend auf den Boden, zitterte am ganzen Leib, bis sie von beiden Seiten eine behagliche Wärme wahrnahm. Ihre Großeltern hatten sie in ihre Mitte genommen, spendete ihr Trost und Geborgenheit, die sie jetzt dringend brauchte.
Den Tag verbrachten sie damit, ihr zu helfen mit den neuen, empfindsameren Sinnen klarzukommen. Erst zum Abend hin überwand sie ihren Ekel ein totes Tier zu essen. Denn der Hunger quälte sie zunehmend.
Daraufhin brachte ihr Großvater einen zweiten erlegten Hasen und zu ihrer Verwunderung schmeckte er gar nicht mal so schlecht. Gesättigt, sowie behütet von ihren Großeltern schlief sie zu später Stunde ein.
~~~
Naya fand sich mit den Tagen damit ab, dass sie vorerst in dieser Form umher wandelte. Wobei sie von Tag zu Tag mehr gefallen daran bekam, denn diese Gestalt eröffnete ihr Möglichkeiten, sich heimlich davonzuschleichen und die Welt auf ihre Art zu erkunden. Was jedoch jedes Mal eine heftige Standpauke seitens ihrer Großmutter mit sich brachte. Doch Nayas Neugierde war unersättlich.
Nur am Rande bemerkte sie, wie eine Taube ihrer Großmutter eine Nachricht überbrachte, denn Naya selbst war vollauf damit beschäftigt, sich vor ihrem Großvater zu verstecken.
Naya, jetzt komm schon raus. Du kannst dich doch nicht ständig davor drücken jagen zu lernen.
Ihre Großmutter trat neben ihn, vergrub flüchtig ihre Schnauze unter seinem Halsfell und seufzte erleichtert: Noela zeigt weiterhin keinerlei Anzeichen.
Das sind positiven Nachrichten, erwiderte ihr Großvater. Nun war Naya neugierig geworden. Vorwitzig streckte sie ihre Schnauze aus einem dichten Brombeerbusch, den sie als ihr Versteck auserkoren hatte.
Wer ist Noela?
Beide Wölfe sahen sie an, wobei es ihre Großmutter war, die zu ihr kam, um ihr mütterlich über das Gesicht zu lecken.
Das ist deine kleinere Schwester.
Ich hab eine Schwester?
Erneut fuhr die Zunge über ihre Nase, weswegen sie sich schüttelte.
Ihhh Großmutter, lass das.
Mit einem wölfischen Grinsen schleckte ihre Großmutter noch einmal über Nayas Gesicht.
Ja das hast du. Aber du musst dich noch eine Weile gedulden, bist ihr euch beide kennenlernt. Zuerst lerne, ein Wolf zu sein, dann dich wieder in einen Menschen zu verwandeln. Danach werden wir sehen, wie es weitergeht.
Gefrustet über diese Worte, schnaubte Naya und wandt sich unter der Fürsorge ihrer Großmutter. Widerstrebend trottete sie doch mit ihrem Großvater mit, nur, um außer Reichweite ihrer Großmutter zu kommen. Dabei stellte sie fest, dass ihr das Jagen ziemlich Spaß machte.
Die Mondphasen zogen dahin. Der Winter kündigte sich unbarmherzig an, indem morgens alles zu Eis erstarrt war. Ihre Großeltern hatten sich in der Erntezeit oftmals gewandelt, um die Vorräte zu versorgen und alles winterfest zu machen.
Während ihre Großmutter Kräuter verarbeitete, flackerte im Kamin ein wohltuendes Feuer, vor das sich Naya allzu gerne legte. Die Wärme lullte sie bald in den Schlaf und so auch in einen unruhigen Traum.
Naya rannte durch einen Wald. Einen Wald, den sie nicht kannte. Der ihr unheimlich war. Plötzlich tauchte ein Schatten neben ihr auf. Sie wandt ihren Blick dorthin und erkannte einen zweiten Wolf. Pechschwarz. Als er sie ebenfalls ansah, starrte sie in Augen so blau wie er Sommerhimmel.
Es kann nur ein Wolfskind geben, knurrte eine tiefe Stimme, die wohl von dem Wolf stammte. Gleich darauf sprang er sie an, während Naya versuchte, sich so gut sie konnte zu wehren.
Ein brennender Schmerz durchzuckte ihren Rücken. Ihre linke Schulter, woraufhin sie jaulend aus dem Traum hochschrak.
„Naya!“, vernahm sie den erschrockenen Schrei ihrer Großmutter. Erst jetzt erkannte sie, was so höllisch schmerzte. Sie war im Schlaf zu dicht an das Feuer gekommen. Flammen sprangen auf ihr Fell über, versengten es, was einen beißenden Geruch in ihrer Nase hinterließ. Das Feuer fraß sich in ihre Haut. Naya jaulte, wandt sich unter den Schmerzen. Rollte sich hin und her, doch nichts half. Nichts außer das eiskalte Wasser, das über sie geschüttet wurde. Sie japste erschrocken nach Luft, bevor sie wimmernd zusammensackte.
„Alkje“, kreischte ihre Großmutter, was wie aus weiter Ferne klang. „Hol mir sofort Efeublätter! Rasch!“
Die Pein an ihrem Rücken, an ihrer Schulter umnebelte ihre Wahrnehmung. Der Schmerz verstärkte sich, als etwas Warmes, feuchtes auf die pochenden Stellen gelegt wurde.
„Naya? Naya hörst du mich?“
Sie blinzelte. Sah mit verschleiertem Blick – durch die Tränen – in das besorgte Gesicht ihrer Großmutter.
„Bei den Alten sei Dank, du bist bei Bewusstsein. Pass auf, wir heben dich jetzt behutsam hoch und bringen dich weg vom Feuer.“
Mehr als ein Wimmer brachte sie nicht zustanden. Im gleichen Augenblick, wie ihre Großeltern sie vorsichtig anhoben, wurde ihr Schwarz vor den Augen.
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Naya rannte schon wieder durch einen Wald, den sie nicht kannte. Hinter sich riefen irgendwelche Menschen ihren Namen, doch die Stimmlage deutete darauf hin, dass sie ihr nicht wohlgesonnen waren. Ein Rascheln neben sich erweckte ihre Aufmerksamkeit und sie sah zum zweiten Mal den schwarzen Wolf mit den himmelblauen Augen.
Du entkommst uns nicht, knurrte er sie drohend an. Verringerte im gleichen Maße den Abstand zu ihr. Angst schnürte ihr die Kehle zu, gleichzeitig setzte sie zu größeren Sprüngen an und ... der Schmerz holte sie brutal in die Wirklichkeit zurück. Sie winselte. Versuchte aufzustehen, doch zwei große Hände drückten sie unbarmherzig auf eine Strohmatratze nieder. Panik erfüllte sie, woraufhin sie sich aufbäumte, aber sie hatte keine Möglichkeit, sich zu befreien.
„Naya, beruhige dich wieder. Wir tun dir nichts, aber du musst liegen bleiben, damit ich deine Wunde versorgen kann.“
Wie aus weiter Ferne vernahm sie die Stimme ihrer Großmutter. Nur langsam beruhigte sie sich. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie zitterte am ganzen Körper und die Pein in ihrem Rücken, in der Schulter pochten im Gleichklang mit ihrem Herzenschlag.
„Alkje halt sie still, damit ich den Kamillenverband erneuern kann.“ Pranken drückten sie unbarmherzig auf die Matratze, während etwas Kühles anfing, den Schmerz zu lindern.
Was ist passiert?, wimmerte sie zu ihrer Großmutter schielend.
„Du warst zu dicht am Feuer und hast dir ordentlich den Pelz versengt. Ein paar Tage musst du nun das Bett hüten, bis die Wunde sich geschlossen hat, aber auch dein Fell nachgewachsen ist.“
Mit einem resignierten Jaulen legte sie den Kopf auf ihren Pfoten ab. Ließ die Prozedur der Behandlung wimmernd über sich ergehen.
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Es dauerte eine ganze Weile, bis die Brandwunde vollständig verheilt war und Naya mit ihren Großeltern wieder herumsprang. Doch seit diesem Tag hielt sie einen gebührenden Abstand zu jeglicher Art von Feuer. Auch behielt sie ihre Träume lieber für sich, aus Angst, ihre Großmutter würde sie für verrückt halten, oder es auf das Fieber schieben, dass sie heimgesucht hatte.
Naya lernte von dem Tag an mit großer Wissbegier, mit und von der Natur zu leben. Trainierte lautlos zu jagen, wobei sie dabei ihre eigenen Techniken entwickelte, die ihre Großeltern oft zum Verzweifeln brachten. Hin und wieder, wenn die beiden im Haus mit irgendwelchen menschlichen Angelegenheiten beschäftigt waren, stahl Naya sich in den dämmrigen Wald davon.
Die Träume, die sich bis dahin nicht mehr wiederholt hatten, gingen ihr nicht aus dem Kopf.
Hier im Zwielicht der Bäume, wo nur das Zwitschern der Vögel, so wie das Rauschen der Blätter die Stille unterbrach, konnte sie in Ruhe darüber nachdenken.
Zielgerichtet steuerte sie wie so oft ihren Lieblingsplatz an. Ein abgeflachter Findling auf einer kleineren Lichtung, der umgeben war von hellgrünem Gras, das aus der Moosdecke sprießte. Die Sonnenstrahlen, die durch das hier dünn bewachsen Blätterdach hereinschienen, zauberten ein Spiel aus Licht und Schatten, was dem Ganzen einen verzauberten Eindruck beschied.
Mit einem Satz erklomm sie den Felsen. Ließ sich auf einem sonnenbeschienenen Flecken nieder und bettete ihren Kopf auf die Vorderpfoten.
Was wenn der Traum wirklich nur vom Fieber kam? Aber es fühlte sich so real an.
Langsam zweifelte sie an ihrem eigenen Verstand. Sie öffnete ihre Augen und blieb wie versteinert liegen. Am Waldrand, im Halbdunkel zweier gigantischen Eichen starrten sie zwei tiefblaue Iriden an.
Eine ganze Weile verging, in der sie einander nur ansahen, bevor Naya den Kopf hob. Wer bist du?
Schritt für Schritt trat ein schwarzer Jungwolf aus dem Zwielicht und verharrte unterhalb des Felsens. Neugierig sah er zu ihr auf, wobei ihr nicht entging, wie sein Blick sie eingehend musterte.
Das würde ich auch gerne von dir wissen.
Naya antwortete nicht sofort, sondern besah sich den Fremden etwas genauer. Er schien nur ein paar Jahre älter zu sein als sie. Er hatte schlaksige Beine und einen, entgegen zu seinem Körperbau, breiten Kopf. Aber am auffallendsten waren diese himmelblauen Augen.
Ich bin nur eine Jungwölfin, die Ruhe sucht vor ihren Lehrern.
Der Wolf vor ihr gab so etwas wie ein Lachen von sich. Mit einem federleichten Satz sprang er auf den Stein, um mit respektvollem Abstand neben ihr sitzen zu bleiben.
Da haben wir was gemeinsam. Auch ich hab mich in einem geeigneten Moment davongestohlen. Mein Lehrer ist sehr streng und jeden Tag muss ich mehr und neues lernen. Wie ist das bei dir?
Sie beäugte ihn, überlegte, ob sie ihm trauen konnte, aber irgendwie machte er ihr einen netten Eindruck.
Sie sind nachsichtig, wenn ich mal etwas länger brauche, aber auch ungehalten, wenn ich meinen eigenen Weg zum Lernen wähle. Eigentlich ist das Lernen mit ihnen angenehm, denn sie drängen mich zu nichts. Beantworten alle meine Fragen mit stoischer Ruhe.
Der Fremde ließ sich nieder. Er fixierte einen Punkt irgendwo im Wald.
Da hast du richtig Glück gehabt mit deinen Lehrern. Wenn doch meiner auch so wäre. Ach, im Übrigen, ich heiße Fenrir.
Ein wenig verschüchtert sah sie auf ihre Pfoten, nicht nur, weil er der erste andere Wolf neben ihren Großeltern war, sondern auch, weil er sich so offenherzig ihr gegenüber gab.
Ich heiße Naya. Bist du oft hier in dieser Gegend?
Nein, leider nicht. Mein Lehrer reist viel umher. Wir bleiben nie zu lange an einem Ort, was mir ziemlich auf die Nerven geht. Seit ich vor neun Jahren das Licht der Welt erblickte, bin ich in seiner Obhut und ziehe mit ihm durch das Land. Seine blauen Augen fixierten sie, während ein keckes Feuer darin flackerte. Darf ich fragen, wie alt du bist?
Ohne ihm zu antworten erhob sie sich. Streckte sich ausgiebig und sprang von dem Felsen herunter.
Ich kenn dich doch gar nicht. Zudem finde ich es unfreundlich, so etwas zu fragen.
Er ging ihr nach, um sie entschuldigend an der Schulter anzustupsen.
Entschuldige. Ich wollte dich nicht kränken. Hättest du Lust, ein wenig mit mir die Zeit zu vertreiben? So lange, wie mein Lehrer hier verweilt? Es tut so unheimlich gut, auch mal andere Wölfe kennenzulernen.
Unschlüssig sah sie Fenrir an.
Soll ich annehmen? Außer meinen Großeltern habe ich ja auch keine anderen Wölfe um mich herum.
Sie wägte noch einen Moment ab, was sie sagte, ehe sie lächelte. Die Idee finde ich gut. Aber wann und wo?
Sagen wir zur Mittagszeit hier?
Naya bejahte, ehe sie Richtung Waldrand trottete.
In Ordnung. Dann morgen Mittag wieder hier.
Fenrir schenkte ihr ein lächeln, ehe er mit ausgreifenden Sprüngen in die andere Richtung in das Halbdunkel des Waldes verschwand. Aus einem unerfindlichen Grund sah sie ihm nach, bevor auch sie sich zurück zu ihren Großeltern begab.
Von da an, traf sie sich jeden Tag, so unauffällig sie es hinbekam, mit Fenrir. Der Jungwolf wurde ihr zunehmend symphytischer. Auch er kannte seine Eltern nicht, oder erinnerte sich nicht mehr an sie. Sein Lehrer hatte ihn zufällig in einer Höhle gefunden, nachdem er von seinen Eltern verlassen worden war.
Die Zeit, die sie miteinander hatten, verbrachten sie damit, über ihr Leben zu erzählen. Auf gemeinsamen jagten ihre Techniken auszutauschen. Für Naya war es eine angenehme Abwechslung, auch wenn Fenrir sie an den Wolf aus ihren Träumen erinnerte.
Bestimmt nur ein Zufall, redete sie sich ein. Denn sie fing an, den Wolf gernzuhaben.
Der Herbst färbte die Blätter des Waldes langsam, aber beständig in ein Meer aus Orange, Rot und Brauntöne. Naya schlich sich wieder einmal von der Hütte ihrer Großeltern weg, als ihre Großmutter unvermittelt vor ihr stand.
Wo willst du denn schon wieder hin, du Streunerin.
Großmutter ... ich ... wollte nur ein wenig jagen gehen.
Der skeptische Ausdruck in den Augen ihrer Großmutter sprach Bände. Naya unterdrückte ein zusammengezuckt, als ihre Großmutter meinte: So nennst du das also, wenn du dich mit diesem Jungwolf triffst.
Wie ... woher ... es ist nicht so, wie du denkst, wir ...
Ich beobachte euch schon eine Weile. Wer ist er?
Eingeschüchtert starrte sie zu Boden. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. War sie doch davon ausgegangen, dass ihre Großeltern nichts mitbekommen hatte, so wurde sie eben eines Besseren belehrt.
Er heißt Fenrir, druckste sie herum. Er reist mit seinem Lehrer viel umher. Es kann jeden Tag soweit sein, dass er wieder weiter muss. Er hat mich gefragt, ob wir in dieser Zeit etwas miteinander unternehmen könnten, da er nur selten auf andere Wölfe trifft. Ich hatte nichts dagegen, denn außer euch kenne ich auch keine anderen.
Ein abfälliges Schnauben ließ Naya aufblicken.
Was seinen Grund hat. Aber gut. Ändern kann ich daran nun nichts mehr. Außenseiter sind ruhelos und es wundert mich, dass sein Lehrer es schon so lange hier ausgehalten hat. Doch Kind, tue mir bitte einen Gefallen, wenn ich dich jetzt weitergehen lasse.
Naya horchte auf und sah voller Erwartung ihre Großmutter an.
Sei weiterhin achtsam in seiner Gegenwart. Ich glaube, heute Abend ist es Zeit, dir etwas Wichtiges zu erzählen.
Irritiert fixierte sie die Wölfin, die zur Seite trat und den Weg zu ihrem Lieblingsplatz freigab. Wortlos trottete sie los und fand nur einen leeren Felsen vor. Von Fenrir keine Spur.
Ist er vielleicht schon weitergezogen?
Traurigkeit beschlich sie. Sie hatte gehofft, sich wenigstens von ihm verabschieden zu können, bevor er weiterreiste.
Das Unterholz knackte. Ihr Kopf ruckte herum. Sofort erkannte sie Fenrir, der mit betrübt gesenktem Kopf zu ihr getrottet kam. Er sprang auf den Felsen, sank dicht neben sie und legte zu ihrer Verwunderung seinen Kopf auf ihre Schultern.
Fenrir? Was ist mit dir?
Sein nächstes Tun jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Er vergrub seine Schnauze unter ihrem Halsfell. Sie hörte, wie er ihren Duft tief einsog und an ihren Hals murmelte: Das ist unser letztes Treffen. Wir reisen morgen weiter.
Das ist ... schade. Ich hatte so sehr gehofft, mit dir noch im Schnee herumzutollen.
Seine hellblauen Augen fixierten sie. Naya erkannte darin die gleiche Traurigkeit, die sich um ihr Herz legte.
Nein Naya. Wir werden keinen gemeinsamen Winter erleben. Mein Lehrer will weiter in das Land, das man Pralat nennt und dass ist ein sehr langer Weg.
Nach seinen letzten Worten schwiegen sie. Sie lagen nur nebeneinander und lauschten auf den Atem des anderen. Naya bemerkte nur am Rande, dass die Sonne sich unaufhörlich dem Horizont näherte, bis Fenrir aufstand.
Wir hatten eine schöne Zeit, Naya. Vielleicht sehen wir uns ja irgendwann einmal wieder. Bis dahin, er vergrub seine Nase hinter ihrem Ohr. Stupste sie mit der Schnauze an die Wange und sprang vom Felsen. Kurz vorm Waldrand hielt er noch einmal inne, sah zu ihr zurück und murmelte: Lebwohl.
Wie versteinert lag sie auf ihrem Findling. Starrte dorthin, wo er verschwunden war, bis sie ein zaghaftes Heulen anstimmte. Erst jetzt erkannte sie, wie sehr sie diesen Wolf als ihren Freund angenommen hatte und bereits schmerzlich vermisste. Betrübt sprang sie vom Felsen, trottete mit gesenktem Kopf zurück zur Hütte, wo sie von ihrer Großmutter erwartete wurde. Wortlos nahm sie Naya tröstend in ihre Obhut.
Du magst ihn, stimmts?
Sie sah ihre Großmutter an, gab aber keine Antwort darauf, denn sie wusste es selbst nicht so genau.
Er war irgendwie wie ein großer Bruder. Wir verstanden uns, aber sein Abschied ... sie vergrub ihre Schnauze in das Fell ihrer Großmutter, die ihr beruhigend über den Kopf schleckte.
Du wirst in deinem Leben noch viele Abschiede durchstehen müssen mein Kind.
Verwundert sah sie auf.
Ich denke, es ist an der Zeit dir etwas über dich zu erzählen und warum du die bist, die du bist.
Wer bin ich denn?, fragte sie irritiert und kuschelte sich dichter an ihre Großmutter.
Du bist ein Wolfskind. Das Kind einer mächtigen Prophezeiung und zu größerem auserkoren. Ein Zeichen dafür, ist die Gabe, die du besitzt. Die Form eines Wolfes anzunehmen. Der zweite Hinweis sind deine Augen. Nur wir Kinder der Prophezeiung haben smaragdgrüne Augen.
Die Worte stimmten Naya nachdenklich.
Fenrir hat auch untypische Wolfsaugen. Aber ich glaube, das behalte ich für mich. Vielleicht bilde ich mir ja auch nur etwas ein.
Warum ich?, murmelte sie, wobei sich langsam Müdigkeit in ihren Gliedern breitmachte.
Weil du meine Enkelin bist. Es scheint, dass ich damals meine Aufgabe nicht komplett erfüllt habe, weswegen die Prophezeiung nun der Meinung ist, dass du mein Werk vollendest.
Hm, war alles, was sie noch von sich gab, ehe der Schlaf sie einlullte.
~~~
Fenrir stand vor ihr. Sie erkannte ihn rein an seinen Augen, denn sonst sah er ganz anders aus. Gigantisch für einen Wolf. Mit einem furchteinflößenden Gebiss, dass er in ihre Richtung bleckte. In seinem Blick war keinerlei Freundlichkeit zu erkennen, nur abgrundtiefer Hass.
Du gehörst mir Naya!, kläffte er in einem aggressiven Ton, der ihr sämtliche Nackenhaare aufstellte. Im nächsten Augenblick sprang er auf sie zu und ... sie saß kerzengerade in ihrem Bett. Keuchend rang sie nach Atem. Schweiß rann über ihren Rücken, klebte an ihrer Stirn, den sie sich mit dem Handrücken wegwischte. Noch in der Bewegung hielt sie abrupt inne und starrte auf ... „Hände?“, japste sie entgeistert. „Was ... Großmutter“, schrie sie aus vollem Halse. Es dauerte nur einen Bruchteil eines Herzschlages, als diese, nur in einem Nachtgewand gekleidet, in ihrem Zimmer stand.
„Ich ... ich habe ...“, sie hielt ihre Hände auf Augenhöhe, während ihre Großmutter vielsagend schmunzelte. „Das ist nicht witzig“, keifte Naya und sah zweiflerisch an ihrem plötzlich menschlichen Körper herunter.
„Es war zu erwarten, dass du irgendwann wieder eine Wandlung durchmachst. Aber das es genau zu deinem zehnten Sommer passiert.“
„Aber wir wollten doch heute einen großen Ausflug machen.“ Tränen sammelte sich in ihren Augenwinkel, woraufhin ihre Großmutter sich auf die Bettkante setzte, um sie tröstend in den Arm zu nehmen.
„Den können wir auch machen, vorausgesetzt, du schaffst es, dich bewusst wieder in einen Wolf zu wandeln.“
„Hä?“
Das bedeutungsvolle Grinsen gefiel Naya keineswegs. Sie runzelte skeptisch die Stirn, während sie sich von ihrer Großmutter wegdrückte.
„Ich habe es dir vor einigen Sommern erklärt. Wir Wolfskinder sind in der Lage jederzeit unsere Form zu ändern. Es ist nur eine Frage des Übens.“
Na toll. Jetzt soll ich auch noch an meinem Geburtstag lernen.
Genervt verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Muss das echt heute sein?“
„Wenn du den Ausflug machen willst. Aber vorher, hole ich dir Kleidung, denn so kannst du nicht herumrennen.“
Naya starrte auf ihre nackte, blasse Haut. Nur feine Härchen bedeckte ihre Arme. Von ihrem wunderschönen schwarzen Fell war nicht die geringste Spur zu erkennen. Lediglich ihre hüftlangen Haare, schimmerten in der gleichen Farbe. Behutsam schob sie ihre langen Beine über die Bettkante. Sie sah fasziniert zu, wie sie ihre Zehen zum Wackeln brachte.
„So, ich hoffe, die Sachen passen dir.“ Ihre Großmutter kam mit einem Berg an Kleidung herein, den sie neben Naya auf dem Bett ablegte. „Ich sehe schon, da kommt jetzt einiges an Arbeit auf mich zu.“
„Wie meinst du das?“, grummelte Naya in dem Haufen wühlend.
„Nun, ich sollte zusehen, dass du ordentliche Sachen zum Anziehen bekommst. Zudem musst du ab jetzt gänzlich andere Dinge lernen, die in deiner Wolfszeit nicht von Belangen waren.“
In ein zu weites Hemd schlüpfend maulte Naya: „Und das wären?“
„Wie man sich als Mensch benimmt. Höfische Etikette ...“
„Höfische, was?“
Ihre Großmutter holte eine Leinenhose aus dem Kleiderberg und reichte sie ihr lächelnd.
„Jetzt, da du menschlich bist, können wir einen alten Freund von uns besuchen, der uns schmerzlich auf seinen Festen vermisst. Aber zuvor, solltest du wissen, wie man sich auf solchen Festlichkeiten verhält.“
Naya verdrehte sie Augen, denn sie ahnte, auf was das hinauslief. Lernen, lernen und nochmals lernen.
Nachdem sie endlich eingekleidet war, wackelig auf nur zwei Beinen ihr Gleichgewicht hielt, begleitete sie ihre Großmutter in den Gemeinschaftsraum, wo gekocht und gegessen wurde. Naya erblickte auf einem Schemel sitzend ihren Großvater, der eifrig ein Stück Holz mit einem Messer bearbeitete. Beim Klang ihrer Schritte sah er übers ganze Gesicht grinsend auf.
„Na hoppla. Was kommt da für eine hübsche junge Maid.“
Ihr entfuhr ein verstimmtes Knurren, zog dabei ihre Lippen etwas zurück und bleckte die Zähne.
„Kind, das solltest du ab sofort unterlassen. Es sieht in menschlicher Form unschön aus“, tadelte ihre Großmutter, auf das hin Naya bockig ihre Arme verschränkte.
„Ich will wieder ein Wolf sein.“
„Alles mit seiner Zeit, mein Kind.“ In aller Gemütlichkeit trat ihre Großmutter an die Feuerstelle, hängte einen gusseisernen Topf an den dafür vorgesehenen Haken, um Wasser hinein zu schütten.
Weiterhin murrend, setzte sich Naya auf einen der freien Schemel. Sie starrte, ihren Gedanken nachhängend, aus dem Fenster. Draußen indes schien bereits die Sonne. Hüllte alles in ein mildes Licht. Neben den Kochgeräuschen, vernahm sie auch das Zwitschern der Vögel, aber auf irgendeine Art gedämpft.
„Hören Menschen immer so schlecht?“
„Du wirst dich daran gewöhnen“, grummelte ihr Großvater, der weiter an seinem Holz arbeitete. „Mit der Zeit bekommst du ein Gefühl dafür und kannst auch deine menschlichen Sinne schärfen. Denn du wirst merken, auch dein Geruchsinn ist nicht mehr so ausgeprägt.“
Eine geraume Weile vor sich hinstarrend, stellte ihre Großmutter eine Schüssel neben sie auf den Tisch. Der Duft nach etwas Süßlichem kitzelte ihre Nase, woraufhin sie vorsichtig an dem dampfenden Brei schnupperte.
„Was ist das?“
Auf ihre Frage hin erntete sie ein verwundertes Stirnrunzeln von beiden.
„Dein Lieblingsfrühstück. Haferschleim mit Apfel. Mir scheint, die Zeit als Wolf hat dir einige Erinnerungen genommen.“
„Nein, ich weiß noch was ich damals mochte, aber, es riecht so anders.“
Ihre Großmutter setzte sich zu ihnen, den Blick weiter auf Naya gerichtet.
„Dann probier es mal, vielleicht täuschen dich deine Sinne.“
Widerwillig hob sie die Schüssel mit beiden Händen an, die ihre aber sofort aus diesen entwendet wurde. Kopfschüttelnd drückte ihre Großmutter ihr etwas aus Holz in die Hand.
„Ab heute isst du mit einem Löffel.“
Naya fixierte das Ding in ihrer Hand. Bis sie einigermaßen den Dreh damit heraushatte, war ihr Haferschleim erkaltet. Brummelnd stopfte sie einen Löffel nach dem anderen in den Mund, stetig unter der Beobachtung ihrer Großeltern.
„Alkje? Willst du versuchen, es ihr beizubringen?“
Verwundet sah sie ihren Großvater an, der schelmisch grinsend verneinte.
„Das machst lieber du. Ich muss dich nicht daran erinnern, dass auch ich meine Probleme mit der Verwandlung hatte.“
„Stimmt“, kicherte ihre Großmutter. Nachdem sie mit dem Abwasch fertig war, trat sie an die Tür und meinte auffordernd: „Komm Naya. Versuchen wir, dich zurückzuverwandeln.“
Nichts sehne ich mir mehr herbei.
Weiterhin auf wackeligen Beinen folgte sie ihr, doch dieser Tag wurde für Naya zu einer herben Enttäuschung. Es gelang ihr nicht ein einziges Mal, sich wieder in einen Wolf zu verwandeln, weswegen sie sich am Abend ohne Essen in ihr Bett verkroch und still vor sich hin weinte.
Auch die darauffolgenden Tagen brachten nicht das erhoffte Ergebnis, was sie zunehmend frustrierte. Sie wollte doch nur wieder ein Wolf werden. Das Moos unter ihren Pfoten spüren. Den Wind um ihre Schnauze.
Stattdessen ergab sie sich, nach langem verweigern, den menschlichen Bräuchen. Lernte täglich mit Widerwillen, wie man sich zu Hofe benahm. Lediglich der Unterricht im Kräutergarten ihrer Großmutter war etwas, das ihr lag. Hier lauschte sie aufmerksam jedem Wort, bis sie eines Tages von einem Adler, hoch oben über den Wipfeln abgelenkt wurde.
Der ist frei und kann dorthin, wo er will, seufzte sie innerlich, um sofort erschrocken festzustellen, dass sie schrumpfte.
Hektisch wedelte sie mit den Armen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, bis sie mit diesen Wind erzeugte und zur Salzsäule erstarrte. Aus ihren Armen waren Schwingen geworden. Breite dunkelbraune, fast schwarze Flügel mit weißen Spitzen. Unbeholfen hüpfte sie zwischen den Rosmariensträucher hervor auf eine lichtere Stelle. Dort angekommen erntete sie einen überraschten Blick seitens ihrer Großmutter.
„Bei Agin“, stieß diese erstaunt aus. „Das kommt jetzt aber unverhofft.“
„Tarija?“ Ihr Großvater sah neugierig hinter seinem Holzstapel hervor, den er bis zum kommenden Winter versorgt haben wollte. „Ist was passiert?“
„Kann man so sagen. Unserer liebe Naya ist ein besonderes Wolfskind.“
Hastig trat ihr Großvater um den Stapel herum. Verdattert sah er auf Naya hernieder, was ihr mehr als nur unangenehm war.
Könnt ihr Mal aufhören, mich anzustarren. Erklärt mir lieber was jetzt schon wieder mit mir passiert ist.
Ihre Großeltern tauschten einen Blick miteinander, den Naya nicht deuten konnte.
„Du hast dich in einen Adler verwandelt“, kommentierte ihre Großmutter das Geschehen. Gleich darauf sank sie vor Naya in die Hocke, um ihr den Arm entgegenzustrecken. „Setzt dich drauf.“
Ich kann mich doch nicht auf deinen Arm setzen. Ich bin doch viel zu schwer.
„Nein, bist du nicht. Komm.“
Auch wenn es ihr missfiel, so hüpfte sie wenig elegant auf den Arm ihrer Großmutter, die sie daraufhin zu ihrem Großvater brachte.
„Hier.“ Prompt saß Naya auf seinem Arm. Sie sah zu, wie sich ihre Großmutter ebenfalls in einen Adler verwandelte. Ein imposantes dunkelbraunes Tier, mit leicht weißmarmoriertem Deckgefieder.
Dann auf in die Lüfte. Alkje? Gibst du mir Starthilfe?
Mit einem frechen Grinsen nahm er ihre Großmutter auf den anderen Arm und katapultierte sie regelrecht hinauf. Mit weit ausgebreiteten Schwingen, sowie kräftigen Flügelschlägen erklomm der braune Adler das Firmament. Naya indes sah ihr erstaunt nach.
„So, nun bist du dran. Bereit?“
Sie wollte schon Nein sagen, doch im gleichen Augenblick vollführte ihr Großvater die gleiche Armbewegung, um sie in die Luft zu bringen. Hektisch flatterte sie mit ihren Flügeln, ehe sie unsanft in einem der Brombeerbüsche landete. Die Dornen piksten sie schmerzhaft, wo sie durch ihr dichtes Gefieder drangen, bevor Naya von ihrem Großvater gerettet wurde.
„Eleganter hätte es Tarija damals auch nicht hinbekommen.“
Du meinst, sie konnte am Anfang auch nicht fliegen?
Lachend schüttelte er den Kopf. „Nein, aber psst. Sie hat einen ganzen Tag gebraucht, bis sie sich vom Boden erhob.“
Das sind ja tolle Aussichten.
Doch murren brachte nichts, denn schon bald stieß der braune Adler zu ihnen herunter. Für Naya begann ein kräftezehrender Tag, an dem sie lernte, wie man sich vom Boden in die Lüfte erhob. Zum Abend hin war sie so erschöpft, dass sie nur am Rande mitbekam, wie sie ihre menschliche Gestalt annahm und wie ein Stein in ihr Bett fiel.
Die kommenden Tage gestalteten sich nicht viel anders, jedoch mit einem kleineren Unterschied. Naya musste lernen, sich bewusst zu verwandeln, was sie auch endlich schaffte, zum einen auch wieder in die Form des Wolfes.
~~~
Das Kleid das sie trug war mehr als nur unbequem. Die Korsage drückte ihr ständig gegen die Rippen, aber ihre Großmutter hatte darauf bestanden, dass sie all dies anzog. Sie stand neben ihr in einem gigantischen Saal und wusste nicht, wo sie zuerst hinsah.
Unmengen an Menschen versammelten sich hier. Manche wirbelten über den blank polierten Parkettboden, aber alle hatten eins gemeinsam. Jeder trug edelste Kleidung. Naya schielte zu ihrem Großvater, der ganz in schwarz gekleidet zu ihrer anderen Seite weilte. Nachdem er aus dem Gemach - das sie hier auf dieser Burg anscheinend bewohnten - herauskam, hatte sie ihn nur mit offenem Mund angestarrt. Gleich darauf folgte ihre Großmutter, die sie kaum wiedererkannte in dem grünen Brokatkleid.
„Ah, da vorne ist Bijan“, bemerkte ihr Großvater und schritt sofort auf einen großgewachsenen Mann mit breiten Schultern zu.
„Wer ist das, Großmutter?“, flüsterte sie, ehrfürchtig den Mann im Auge behaltend.
„Ein sehr guter Freund von uns“, erwiderte ihre Großmutter, gleichzeitig legte sie Naya die Hand in den Rücken und dirigierte sie zu den beiden Männern. Beim Näherkommen fiel ihr ein Junge auf, der dicht neben diesem Freund stand und ihr interessiert entgegensah.
„Ah, Tarija ich hab mich schon gefragt, wo du bist.“
Naya trat rasch beiseite, als der Mann ihre Großmutter überschwänglich begrüßte.
„Hallo Bijan, schön dich nach all den Jahren wiederzusehen. Du siehst gut aus.“
„Na ja, meine Kinder halten mich auch ziemlich auf Trab“, johlte der Angesprochene, bevor er sein Augenmerk auf Naya richtete. „Na was für eine hübsche Dame habt ihr denn da bei euch?“ Er verbeugte sich vor ihr, woraufhin ihre Wangen warm wurden.
„Unsere Enkelin, Bijan. Darf ich dir vorstellen, Naya.“
Bijan klappte wortwörtlich die Kinnlade herunter. Er japste für einen Bruchteil eines Herzschlages wie ein Fisch auf dem trockenen, bevor er den mahnenden Blick ihrer Großmutter bemerkte, der auch Naya nicht entging. Augenblicklich fasste sich Bijan, setzte ein heiteres Lächeln auf, um sich erneut vor ihr zu verbeugen.
„Es ist mir eine Ehre, Euch kennenzulernen, Mylady.“
Ihre Wangen wurden heißer. Sie fühlte sich dermaßen unbeholfen, dass sie hilfesuchend zu ihrer Großmutter sah. Diese verkniff sich deutlich, mit zusammengepressten Lippen, ein Grinsen, während sie beruhigend ihren Arm um Nayas Schultern legte.
„Bijan, bring sie doch nicht so in Verlegenheit. Das ist ihr erster Ball, also sei bitte etwas Taktvoller.“
„Das bin ich doch, Tarija“, empörte sich Bijan, ehe sie ausgelassen lachten. Außer Naya.
Am liebsten würde sie in diesem Moment im Boden versinken, als sie in die nussbraunen Augen des Jungen sah, der sich ebenfalls vor ihr verbeugte. Bijan klopfte dem Jungen beherzt auf die Schulter.
„Darf ich euch vorstellen. Mein Sohn Bjarkar.“
„Hätte mich auch gewundert, dass du was anderes sagst“, witzelte Alkje, packte Bijan in eine freundschaftliche Umarmung, bevor die Männer von dannen stapften.
„Möge das Bier reichlich fließen“, kicherte ihre Großmutter und sah den Jungen fragend an.
„Bjarkar? Würdest du Naya ein wenig Gesellschaft leisten? Ich sollte lieber auf die beiden da aufpassen, nicht das sie noch vor Mitternacht unterm Tisch liegen.“
Das verschmitzte Grienen des Jungen sagte Naya sofort, dass sein Vater wohl öfters in diesem Zustand war und bejahte die Frage ihrer Großmutter, die daraufhin den Männern folgte.
„Schön dich kennenzulernen, Naya.“
Nervös knetete sie die oberen Falten ihres Rockes, bevor sie seinen angewinkelten Arm aus dem Augenwinkel bemerkte. Verschüchtert sah sie in sein aufmunternd lächelndes Gesicht, ehe sie ihre Hand auf dem dargebotenen Arm ablegte. Nur langsam kamen sie ins Gespräch, während Bjarkar sie herumführte.
Nachdem sie mehr Vertrauen zu ihm gefasst hatte, versuchten sie ein paar Tanzschritte auf dem Parkett, doch Naya konnte nicht tanzen, was Bjarkar mit einem Trost bringenden Schmunzeln zur Kenntnis nahm. Daraufhin suchten sie sich einen Platz in dem gigantischen Saal und Bjarkar fing an, ihr Tanzen beizubringen.
Mit jedem weiteren Besuch entstand zwischen ihnen eine feste Freundschaft, die Naya schmerzhaft an Fenrir erinnerte. Anfangs träumte sie noch von ihren Treffen mit Fenrir. Aber nach ein paar Jahren und dem geschwisterlichen Verhältnis das sie zu Bjarkar hatte, war Fenrir bald vergessen.
~~~
Schweißperlen rannen an ihren Schläfen runter. Perlten über ihren Nasenrücken bis zur Spitze, wo sie sich zu Tropfen bildeten. Sie unterdrückte den Reflex sie wegzuwischen. Ihre komplette Konzentration war auf den Hasenbau vor ihr gerichtet, während sie hinter einem Busch lauerte, den Speer fest mit der Hand umklammert.
Sie wird schon sehen, dass ich auch als Mensch eine gute Jägerin bin.
Naya war nach wie vor sauer darauf, dass ihre Großmutter ihr nicht zutraute auch in der menschlichen Form einen Hasen zu erlegen. Daher starrte sie unbeirrt weiter auf den Bau. Jedes Wort dieser ausgiebigen Diskussion hallte noch in ihren Ohren nach. Nur, weil Naya hauptsächlich als Wolf jagte. Die Gestalt, die ihre natürliche war. Jetzt wollte sie beweisen, dass dem nicht so war und harrte hinter dem Gebüsch aus.
Ein Knacken in ihrem Rücken ließ sie zusammenzucken. Gleich darauf stand die dunkelbraune Wölfin mit deutlich ergrauter Schnauze neben ihr.
Hm. Du weißt, dass ein Hasenbau mehr als einen Ausgang hat.
„Alle blockiert“, zischte Naya flüsternd.
Dennoch ist deine Mühe umsonst, mein Kind. Der Bau ist leer.
„Nein ist er nicht“, knurrte sie unwirsch über die Lektion, die sie eben erhielt.
Doch. Sieh dir den Boden ganz genau an. Vor allem am Eingang. Sag mir, was du siehst.
Naya runzelte die Stirn, starrte zu der Öffnung im Erdreich, aber sie entdeckte nichts Eigenartiges.
„Was soll da sein?“
Ganz genau. Siehst du Pfotenabdrücke? Essensreste? Einen anderen Hinweis darauf, dass hier Hasen leben?
Die Lektion saß.
Mist, hätte ich nur besser aufgepasst. So glaubt sie mir nie.
Naya legte den Speer weg, wischte sich endlich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, bevor sie in die smaragdfarbenen Augen der Wölfin schaute.
„Ich habe es kapiert. Aber ich beherrsche diese Art zu jagen, ich werde es dir beweisen.“
Die Wölfin setzte sich auf ihre Hinterläufe, wohingegen ihr Blick über die Lichtung schweifte.
Ich glaube dir ja. Du bist nicht gezwungen, es uns mit aller Gewalt zu beweisen. Naya, weswegen ich dich suche …
Dass die Wölfin nicht weitersprach, weckte in Naya Argwohn. Es war bisher selten vorgekommen, dass ihrer Großmutter die Worte fehlten.
„Ist irgendetwas passiert?“
Nein … na ja … eigentlich schon. Ach, es ist nicht mit einem Satz erklärt. Komm mit zurück zur Hütte. Alkje findet eher die Worte, dir die Lage zu schildern.
Naya war mehr wie nur irritiert. Sie ergriff ihren Speer. Ächzend, da sie zu lange in dieser Haltung ausgeharrt hatte, erhob sie sich. Mittlerweile flimmerte die Luft auf der Lichtung und mit jedem Schritt zurück rann ihr der Schweiß in Strömen herab.
Bei Agin. Wieso ist es dieses Jahr nur so heiß.
Mit spitzen Fingern ergriff sie ein Stück Leinenhemd, um es von ihrem verschwitzten Körper wegzuziehen, was unnötig war. Denn kaum ließ sie es los, klebte der Stoff sofort wie eine zweite Haut an ihr. Von ihrer ledernen Hose war sie es ja gewohnt, aber heute fühlte es sich äußerst unangenehm an.
Die Wölfin trottete vor ihr her. Naya sah zu, dass sie ihr flink folgte, ohne sich zu verwandeln, auch wenn es wahrscheinlich die angenehmere Variante wäre. Selbst die dünnen Zöpfe mit den Haarperlen, die ihr Haupt zierten, klebten an ihrem Nacken.
Heute Abend lieg ich definitiv im Bach.
In gemächlichen Trott hielten sie sich im Schatten der Bäume auf, bis sie die Lichtung erreichten, auf der die Hütte stand. Die Hütte, in der Naya ihre ganze Kindheit verbracht hatte. Ein Kind war sie wahrlich nicht mehr und nach dem letzten Fest, das sie bei ihrem Onkel Anjok miterlebt hatte, war ihr mehr als bewusst geworden, wie die Männerwelt auf sie reagierte. Aber auch, warum ihre Großmutter sie mit zwei Dolchen ausgestattet hatte, die jeweils in einem ihrer Stiefelschäfte steckte.
Wie es dem gut aussehenden Lamarer wohl geht? Vielleicht sehe ich ihn beim nächsten Fest wieder.
Sie schwelgte in Gedanken an den Abend, an dem ihr ein Baron aus Lamar seine Aufwartung gemacht hatte. Naya war sich unschlüssig gewesen, hatte lange hin und her überlegt, ob sie sein Werben annehmen sollte. Denn mit der Männerwelt hatte sie trotz allem so ihre Probleme.
Auch wenn man es ihr nicht ansah. Aber jedes Mal, wenn sie von einem dieser Gentleman angesprochen wurde, hatte sie das Gefühl, sofort im Boden zu versinken. Weswegen sie solche Kontakte, wo es nur möglich war, vermied. Doch der Lamarer war hartnäckig.
Vielleicht zu beharrlich, sinnierte sie, während sie den Zaun der Hütte erreichte.
Sie öffnete das Gatter, ließ ihre Großmutter eintreten und umrundete das Holzhaus, um ihren Großvater zu erblicken. Er saß locker mit dem Rücken gegen die Hauswand gelehnt auf einer Holzbank. Seine kräftigen Arme vor der breiten Brust überkreuzt, den Blick starr in den Wald gerichtet.
Er kann ziemlich einschüchternd wirken, wenn er so dreinblickt. Wie hat Großmutter mal gesagt? Onkel Anjok und mein Vater wären die jüngere Variante von ihm. Hm. Ob alle Ashaker so stattliche Kerle sind?
„Naya, du grübelst wieder zu viel.“
„Hä?“
Ihr Großvater verzog frech die Lippen, dabei ließ er bewusst seine Muskeln spielen und sah vielsagend zu der Wölfin.
„Tja, sie ist eben kein kleines Mädchen mehr Alkje. Ich erinnere dich nur an Anjoks letztes Fest.“
Naya bemerkte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss, auf das ihr Großvater lachte.
„Oh ja. Ich glaube, der Baron träumt heute noch von unserer Naya, auch wenn sie ihn ziemlich hingehalten hat.“
Ihre Großmutter trat in menschlicher Form an ihr vorbei, um sich neben ihm auf die Bank zu setzten.
„Amüsiert euch nur über mich“, schmollte sie. „Ihr wisst genau, dass ich mit solchen Kerlen nichts zu tun haben will.“
„Wir erheitern uns nicht über dich, mein Kind. Es ist nur …“, setzte ihre Großmutter an, wobei ihr Großvater augenblicklich ins Wort fiel.
„Du bist mittlerweile erwachsen und damit kommt was auf uns zu, dass wir lange von uns geschoben haben.“ So war das Thema Festball auf Anhieb in den Hintergrund gerutscht. Die heitere Stimmung war sofort verschwunden und ihr Großvater sah sie mit ernster Miene an.
„Was ist den passiert? So besorgniserregend kenn ich dich nicht Großvater.“
„Geschehen ist bisher nichts“, warf ihre Großmutter ein. „Aber es kann bald was passieren. Erinnerst du dich an die Geschichten, die wir dir erzählt haben?“
Sie bejahte. Zu genau kannte sie diese, die sich um eine Prophezeiung drehten und um die gewaltige Schlacht der geeinten Reiche. Ebenso wusste sie, wer sie war, und das sie ein Kind dieser Prophezeiung war.
„Gut. Dorenik ist bisher nicht wieder aufgetaucht, wie wir gehofft hatten, weswegen wir uns auf eine weite Reise begeben müssen.“
„Eine Reise? Wohin denn?“ Schlagartig war Nayas Neugierde geweckt. Außer zu Onkel Anjok und Bijan war sie mit ihren Großeltern nicht wirklich im Land herumgekommen.
„Eine Reise, um herauszufinden, wieso du ein Wolfskind, vor allem, warum du ein besonderes Wolfskind bist“, brummelte ihr Großvater.
Diese Geschichten kannte sie ebenfalls, woraufhin sie murmelte: „Begeben wir uns etwa zu den Sehern?“
Schmunzelnd sah ihr Großvater neben sich.
„Ziemlich gewitztes Mädchen, oder meinst du nicht auch, Tarija?“
„Hm … so sieht es aus. Ja. Es ist unverzichtbar nach Markot zum obersten Seher zu gelangen, der uns hoffentlich weiterhilft.“
Nayas Finger fingen an zu kribbeln.
Nach Markot. Ich glaub es nicht. In die nördlichsten Gefilde des ganzen Reiches. Ich hoffe, dass ich mitdarf.
Als hätte ihre Großmutter diese Gedanken in ihrem Gesicht abgelesen, meinte sie in aller Ruhe: „Wir haben noch einige Vorbereitungen zu tätigen, bevor wir drei uns auf den Weg begeben. Zumal wir einen Abstecher nach Rurgold machen, zu König Artes. Ich habe den alten Haudegen schon lange nicht mehr gesehen.“
„Da sagts du was. Der Greis sollte langsam an Asjek abgeben“, kicherte ihr Großvater, auf das hin er einen derben Rippenstoß von ihrer Großmutter erntete.
„Gib Ruhe. Du bist nur ein paar Jahre jünger als er. Dein Vater saß noch mit achtzig Sommern auf dem Thron.“
Weiterhin feixend konterte er: „Ist ja schon gut, ich habe es kapiert. Aber bevor wir uns an die Vorbereitungen wagen. Willst du ihr nicht erst unser Geschenk geben?“
Geschenk? Was für ein Geschenk?
Ihre Großmutter erhob sich ungelenk, schritt durch den Garten zum Zaun, wo sie mithilfe der Finger einen Pfiff ausstieß. Voller Neugierde beobachtete Naya ihre Großmutter, die einen zweiten Pfiff von sich gab, ehe das Wiehern eines Pferdes aus dem Wald schallte. Wie angewurzelt stand Naya da. Starrte die drei stattlichen Rappen an, die durch die Büsche auf die Lichtung getrabt kamen. Langsam trat ihre Großmutter auf die Tiere zu, um jedem behutsam über die Stirn zu streicheln, ehe sie Naya zu sich winkte.
„Komm. Ich stelle dir jemanden vor.“
Naya zögerte. Sie trat vorsichtig auf die Drei zu, die mit aufgeblähten Nüstern dastanden. In ihren Augen entdeckte sie reine Neugierde, aber auch ein Funken Wildheit.
„Dies hier sind Kashim, Hertos und Kejell.“ Tarija deutete bei dem jeweiligen Namen auf eines der Tiere. „Wir haben sie von unseren treuen Hengsten Kajajell und Haros mit Stuten aus den Wäldern Karbadas gezüchtet. In ihnen vereinen sich das Temperament der Karbadianischen Pferde, deren Schnelligkeit, zudem ihre Gelassenheit und die Ausdauer der Ashakischen Schlachtrösser. Hertos hört auf Alkje, Kashim auf mich und Kejell hier, haben wir eigens für dich trainiert. Die Hengste sind alle unsere Gestalten gewohnt und mit ihnen treten wir die Reise an.“
Fasziniert betrachtete Naya die eleganten Tiere, deren Fell in der Sonne wie schwarzes Wasser schillerte.
Behutsam trat sie auf den Hengst zu, den ihre Großmutter für sie auserwählt hatte. Hielt ihm ihre flache Hand entgegen.
Abwarten stand er da, die Ohren aufmerksam nach vorne gerichtet und schnaubte sanft in ihre Handfläche.
„Kejell“, flüsterte sie ehrfurchtsvoll, bevor sie zögernd ihre Linke auf seine Stirn legte. „Er ist bildhübsch, Großmutter.“
„Ja das sind sie alle drei. Ich würde sagen, lerne Kejell zuerst kennen. Lass dir Zeit, denn erst wenn ihr beide eine Verbindung zueinander habt, treten wir unsere Reise an.“
Den Hengst nicht aus den Augen lassend nickte sie. Naya konnte es nicht glauben, dass dieser Prachtkerl nun ihr gehörte.
Schwere Schritte kamen auf sie zu, woraufhin sie über ihre Schulter linste. Verdutzt starrte sie auf den Sattel, den ihr Großvater auf seinen Armen trug.
„Damit du eine bequeme Reise hast, war ich nicht untätig und habe in Osron Sattel und Zaum besorgt“, lächelte er verschmitzt.
„Das ist nicht dein Ernst Großvater. Aber wie … woher … der hat doch bestimmt viel gekostet.“
„Das mein Kind lass unsere Sorge sein“, entgegnete ihre Großmutter. „Nun, ich würde sagen, lasst uns nachdenken, was wir für die Reise benötigen.“
Ihr Großvater hievte den Sattel auf den Zaun. „Als wenn du darüber grübeln musst, was wir brauchen.“
„Da ist er ja wieder. Der überhebliche Ashaker, wie ich ihn kennengelernt habe.“
Mit raschem Schritt war ihr Großvater neben ihrer Großmutter, schnappte sie in seine Arme und küsste sie ungestüm, woraufhin Naya amüsiert kicherte.
Die zwei sind unmöglich.
„Den du von Herzen liebst“, brummte er.
„Na ja … ich habe es auf jeden Fall schon ziemlich lange mit dir ausgehalten“, neckte Tarija ihn, wobei er anfing, schallend zu lachen. Unvermittelt war die ausgelassene Heiterkeit zurück, die Naya bei den beiden liebte. Ihre Großeltern schäkerten, wie ein frisch verliebtes Paar, was Naya vergnügt beobachtete.
„Meinst du wir schaffen es durch den Wald und am Rande des Ashakischen Gebirges entlang nach Rurgold? Schließlich sind wir nicht mehr die Jüngsten.“
Naya trat zu ihrem Großvater, boxte grinsend gegen seine Schulter und meinte: „Von wegen nicht mehr der Jüngste, Großvater. Im Schwertkampf macht dir auch heute noch keiner was vor. Da bewegst du dich wie ein flinker Mann und nicht wie ein alter Opa.“
„Achtung Naya, nicht das er einen Höhenflug bekommt durch deine Worte.“
„Ach was. Aber Naya, du hättest mich vor über vierzig Jahre sehen sollen. Da war ich wahrlich ein flinker Mann …“
„Der nur Frauen, Bier und Kämpfen im Kopf hatte. Ein Berserker im Kampf. Ein Barbar ohne Skrupel und ein Liebhaber, nach dem sich alle Damen sehnten.“
Naya ahnte, was auf diese Worte folgte. Ihr Großvater schnappte ihre Großmutter stürmisch an der Hüfte, drückte sie an seinen Leib und brummte: „Einem Barbaren, dem du verfallen bist, meine Liebe.“ Er küsste sie, wobei Naya bemerkte, wie die Hand ihrer Großmutter an den Dolch wanderte, den ihr Großvater am Gürtel trug. Ehe sich dieser versah, lag die Klinge an seinem Hals.
Hastig zog er seine Finger zurück, und hielt sie neben dem Kopf in den Himmel.
„Du hast meine Krallen vergessen, mein Gemahl.“
Naya liebte es, wenn ihre Großeltern so unbekümmert mit sich und dem Leben umgingen. Sie lachten nach diesem spielerischen Stelldichein alle ausgelassen, bevor ihre Großmutter den Dolch zurücksteckte und sie sich ins Haus begaben.
~~~
Es vergingen ein paar Tage, bis sich Naya mit Kejell angefreundet hatte, zudem, bis ihre Großeltern sich einig waren, welche Strecke sie ritten.
Früh am Morgen holte ihre Großmutter sie aus dem Bett, woraufhin sie ziemlich unleidig war, da früh aufstehen nicht zu ihren Stärken zählte. Naya rieb sich, vor sich hin brummend, den restlichen Schlaf aus den Augen. Schlurfte aus der Hütte und blinzelte gegen das Licht der Morgensonne.
Der Tau spiegelte sich im Gras. Fing die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne auf, als ihr Großvater die Pferde herbeirief.
In aller Gemütlichkeit sattelten sie die Tiere. Banden ihre Satteltaschen mithilfe von Lederbänder an den Eisenringen der Sättel fest, ehe sie diese mit reichlich Proviant und ein paar Habseligkeiten befüllten. Naya war ein wenig verwundert, dass sie trotzt der heißen Sommertage dicke Felle, nebst ihren wärmenden Fellumhänge an den Sätteln festzurrten. Aber ihr war klar, dass ihre Großeltern nie etwas ohne Grund taten.
Na gut. Sie haben ja gesagt, dass wir nach Markot reiten. Wer weiß, wann wir dort ankommen.
Naya beobachtete, wie ihr Großvater in die Hütte schritt. Wahrscheinlich um sich zu vergewissern, dass sie nichts vergessen hatten. Das Knarren der Holztür ließ sie vom Festzurren der Riemen aufschauen, wobei sie augenblicklich im Erdboden versank.
„Ich weiß du stehst nicht gerne früh auf. Dennoch lass nie deine Waffe irgendwo herumliegen.“ Er kam auf sie zu und hielt ihr den Waffengurt, mit dem dazugehörigen Schwert entgegen.
„Danke Großvater … ich habe es … vergessen.“ Betreten ergriff sie ihre Klinge, gürtete sie auf der Stelle um die Hüfte, während sie verhalten zu dem Krummsäbel schielte, den er an seinem Gürtel trug.
Würde mich ja schon interessieren, wie er gegen einen Feind kämpft. Nachdem was ich alles von Großmutter über ihn gehört habe.
Ihr Blick schweifte zu der Waffe, die ihre Großmutter bei sich hatte. Eine spezielle Klinge, die es so in dieser Machart kein zweites Mal gab, den Worten ihrer Großmutter zu urteilen. Naya fiel auf, dass ein Lederband um den Smaragd gewickelt war, hielt ihre Frage für den Grund aber zurück. Lieber sah sie zu, dass sie ihr Pferd fertig sattelte.
Alles war soweit verzurrt und festgemacht, woraufhin sie sich kurz ansahen, einander zunickten, bevor sie sich in die Sättel schwangen. Plötzlich wurde es Naya ganz schwer ums Herz. Schließlich verließ sie ihr zu Hause. Den Ort, der ihr zwanzig Sommer lang Schutz und Geborgenheit gegeben hatte. Sie hatte keine Ahnung davon wann, geschweige denn ob sie je wieder hierher zurückkam.
Ihre Großeltern lenkten mittlerweile die Pferde Richtung Wald, wohingegen Naya noch einmal einen Blick zur Hütte warf.
Was mich wohl da draußen erwartet?
Langsam schlich sich eine Frage in ihre Überlegungen. Eine, die sie sich schon viel zu oft gestellt hatte, aber auch ebenso oft ihre Großmutter gefragt hatte. Mit der Hoffnung, endlich eine Antwort darauf zu erhalten, trieb Naya ihren Hengst an, bis sie gleichauf mit ihrer Großmutter ritt.
„Großmutter? Mir ist klar, ich habe es dich all die Jahre schon oft gefragt, aber … es geht mir nicht aus dem Kopf. Auch wenn du hin und wieder von ihnen erzählt hast. Wer sind meine Eltern?“ Bei dieser Frage behielt sie ihre Großmutter ganz genau im Auge, doch nicht der kleinste Muskel zuckte in den gealterten Zügen.
„Das wirst du noch früh genug erfahren, mein Kind. Eins kann ich dir aber vorweg schon sagen. Sie leben und warten sehnsüchtig auf den Tag dich wiederzusehen.“
Das stellte Naya nicht wirklich zufrieden, doch wie so oft musste sie sich wohl mit dieser Antwort zufriedengeben.
Warum verheimlicht sie mir, wer meine Eltern sind. Ich will endlich den Grund wissen.
„Du sagst sie warten sehnsüchtig. Wieso haben sie mich dann hergegeben? Warum bin ich bei euch aufgewachsen und nicht bei ihnen?“
„Weil deine Eltern dich nicht aufzuziehen konnten“, mischte sich ihr Großvater ein. „Deine Eltern sind normal, so normal wie Menschen eben sind. Du aber bist eine von uns. Ein Wolfskind. Sie hätten dich nie das lehren können, was du von uns gelernt hast. Sie hätten deinen Wolf nicht bändigen können. Glaub mir, deinen Eltern war die Entscheidung ziemlich schwergefallen, dich in unsere Obhut zu geben. Aber es war der richtige Weg.“
Aus dieser Sicht habe ich das Ganze noch gar nicht betrachtet. Wenn ich daran denke, was für Schwierigkeiten die beiden mit mir hatten, wie wäre es meinen Eltern ergangen?
All das gehörte, stimmte sie zusehends nachdenklicher, was ihren Großeltern nicht entging. Keiner sagte mehr was und ein beharrliches Schweigen legte sich über sie, nur unterbrochen von den Tritten der Pferde.
Die Sonne wanderte stetig Richtung Horizont, als ihre Großmutter sie aus den Grübeleien holte.
„Bevor ich es vergesse zu sagen, Naya. Unser erstes Reiseziel ist Rurgold. Da du eine halbe Ashak bist, möchte ich dich dem regierenden König vorstellen und …“
„Wenn mein Bruder gewillt ist und unsere Bitte annimmt, wirst du den Rang einer Baronin Ashaks erhalten“, fiel ihr Großvater mitten ins Wort.
„Hä?“ Sie sah anscheinend ziemlich dämlich drein, denn ihre Großmutter unterdrückte ein Kichern, wobei ihr Großvater rasch seinen Blick wieder nach vorne richtete. Doch Naya war das Grinsen nicht entgangen.
„Durch den Rang erhoffen wir, dass dir nichts im Weg liegt auf unserer Reise“, meinte ihre Großmutter nüchtern.
Naya schüttelte kurz den Kopf.
„Aber was bringt mir das? Zudem. Großvater? Hast du mir nicht erklärt, dass es bis auf eine Frau keine je in den Stand eines Barons geschafft hat.“
Ihre Großmutter gluckste, weswegen Naya sie mehr wie nur skeptisch beäugte.
„Eine Frau, die gerade neben dir reitet“, erwiderte ihre Großmutter amüsiert.
Naya stoppte abrupt ihren Hengst und starrte sie verdattert an.
„Wie meinst du das? Du bist …“
„Baronin Tarija von Ashak.“ Gleichzeitig zu ihren Worten holte sie etwas unter ihrem Hemd hervor. Entgeistert fixierte Naya die silberne Scheibe, auf der deutlich eine geschwärzte Rune prangte.
„Oh …“, war alles, was sie hervorbrachte, als sie das Ansuz erkannte. Die Rune der Ashakischen Königsfamilie.
„Und vor dir reitet Baron Alkje von Ashak, jüngster Sohn Ansgar und Heerführer des Landes.“
Alkje zügelte ebenfalls seinen Hengst, drehte sich zu ihnen herum und vollführte eine mehr veralbernde Verbeugung im Sattel.
„Na ja … Heerführer bin ich ja schon lange nicht mehr …“
„Gibt dich nicht so bescheiden. Wir stehen dem König nach wie vor mit Rat zur Seite, wenn es um die Krieger geht.“
Langsam drehte Naya den Kopf und sah ihre Großmutter lauernd an.
„Wir?“, hinterfragte sie, woraufhin Tarijas Mimik sofort zu Stein erstarrte.
Wie ich es hasse, wenn sie etwas vor mir verheimlichen. Wann endlich sagen sie mir, was los ist!
„Ähm … ja wir. Alkje war im Krieg für das Hauptheer zuständig und ich …“
„Sie hatte eine Reiterstaffel unter sich, die den Feind nur so niedertrampelte. Naya, du hättest deine Großmutter sehen sollen“, fing ihr Großvater an zu schwärmen, was sie so von ihm nicht kannte. Bevor er jedoch weitersprach, trieb er seinen Hengst an und sie folgten ihm dichtauf.
„In der Schlacht um Salla hat sie mir regelrecht den Arsch gerettet. Wäre sie mit ihren Reitern nicht aufgekreuzt, würde ich glaube heute nicht hier bei euch sein.“
Von dem erzählten gebannt, sah sie unstetig zwischen ihren Großeltern hin und her.
Das sind ja ganz neue Blickwinkel, die sie mir da eröffnen. Sonst haben sie mir von den Schlachten mehr als Unbeteiligte berichtet. Interessant.
„Auch um die Schlacht von La Tog, waren ihre Reiter entscheidend für den Sieg. Glaube mir, ich bin erleichtert, das Kardianische Reich geeint zu sehen und das der Krieg der Vergangenheit angehört.“
Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie Tarija zustimmte. „Das stimmt. Noch heute sehe ich all die Toten vor meinen Augen. Das Leid in den Straßen. Das Schlachtfeld. Die Gefechte hinterlassen tiefe Spuren in einem und töten Stück für Stück einen Teil deiner selbst.“
Naya brachte kein Wort mehr heraus. Das Gehörte musste sie definitiv zuerst verdauen, zugleich legte sich erneut ein unheimliches Schweigen über sie alle.
~~~
Weitere Tage verstrichen, als sich der Wald vor ihnen lichtete. Naya sah auf eine weitläufige Grassteppe. Nun gab es keinen Schutz mehr vor der unbarmherzigen Sonne, die den Boden flimmern ließ und gnadenlos dem Land zusetzte, was man an dem dürren Gras deutlich erkannte.
Nachdem ihre Großeltern ihr von der Schlacht mehr offenbart hatten, als sie verdauen konnte, redeten sie nur noch das nötigste miteinander. Ihr schien es oftmals, als schwelgten die beiden in der Vergangenheit oder sie grübelten darüber - wie Naya - was die Zukunft brachte.
So vergingen die Tage, bis sie einen weiteren Waldrand erreichten.
Tief in Gedanken versunken, kaute sie auf einem Stück Trockenfleisch herum, als sich Tarija neben ihr dezent räusperte.
„Bevor ich vergesse, es dir zu sagen, jetzt wo wir Rurgold fast erreicht haben.“
Naya sah irritiert auf, doch ihre Großmutter starrte vor sich ins Feuer. Auch Naya richtete ihr Augenmerk dorthin und beobachtete die tanzenden Funken, die zum Himmel hinauf stoben.
„Bitte nenn uns ab sofort nicht mehr Großmutter und Großvater. Es … wie erkläre ich es dir am besten?“
„Sag es, wie es ist, Tarija“, grummelte Alkje, der Naya fest in die Augen sah. „Mit dir, mein Kind, behüten wir ein großes Geheimnis. Die Prophezeiung ist der Meinung, dass nicht alles erledigt ist, wozu wir auserkoren waren und nun sollst du es zu Ende bringen. Was genau es ist, ist uns unklar, weswegen wir den Weg nach Markot gehen.“
Naya zog missbilligend eine Schnute.
„Ihr wollt mir damit sagen, dass ich eigentlich gar nicht existieren dürfte? Dass niemand um mich weiß, außer ihr, meine Eltern und ein paar Eingeweihten?“
Tarija seufzte, gleichzeitig richtete sie ihren Blick gen Nachthimmel.
„So will ich es nicht ausdrücken. Ersteres bildest du dir nur ein. Aber das keiner um deine Existenz weiß … na ja bis auf die, die du gerade genannt hast und die Seher des ganzen Landes … das stimmt.“
Verstimmt kaute sie ihr Fleisch, schluckte den Bissen herunter und knurrte: „Und wie soll ich euch ab sofort nennen?“
Ihre Großmutter sah auffordernd zu ihrem Großvater, der daraufhin den Kopf schüttelte, auf das ihre Großmutter unweigerlich mit den Zähnen knirschte. Ein Geräusch, dass ihr die Nackenhaare aufstellte.
„Früher hättest du mich dafür angefaucht wie ein tollwütiger Wolf“, witzelte Alkje, woraufhin Tarija die Zähne bleckte.
„Du hast es ja auch ständig getan.“
Hm, mir scheint, die zwei waren sich früher nicht immer eins, wie sie heute tun. Oder liegt es an der Nähe von Rurgold?
Hinter ihnen im Gestrüpp knackte es, woraufhin sie alle gleichzeitig zu ihren Schwertern griffen, die neben ihnen lagen. Alkje gab mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie sich unauffällig verhalten sollen und erhob sich – für sein Alter – ziemlich geschmeidig. Mit eiligen Schritten verschwand er hinter den Büschen und das ohne verräterische Laute. Tarija stand ebenfalls auf, gab ihr mit einem knappen Nicken zu erkennen, sie solle es ihr gleichtun und zog so leise wie nur möglich ihre Waffe.
Naya war sich unschlüssig, ob sie ebenfalls ihr Schwert zückte. Noch nie hatte sie einen echten Kampf ausgefochten, was ihr einen harten Kloß im Hals bescherte. Sie haderte, denn die Worte ihrer Großmutter hallten augenblicklich in ihren Ohren wieder, als sie von der Schlacht erzählt hatte.
„Naya“, grollte Tarija, sie so in die Wirklichkeit zurückholend.
Naya linste zu ihrer Großmutter. Ihr wurde sofort bewusst, was sie vorhatte.
Langsam, um ja kein verräterisches Geräusch zu verursachen, zog sie ihre Klinge aus der Scheide, stand auf und stellte sich in Abwehrhaltung. Dabei behielt sie die Umgebung eingehend im Auge.
Plötzlich stürmten vier Männer aus den Büschen. Sie waren mit Kurzschwertern bewaffnet und wenn Naya es in dem flackernden Licht des Feuers richtig erkannte, trugen sie alle zerlumpte Kleidung.
Bevor Naya reagieren konnte, fauchte Tarijas Klinge bereits durch die Luft. Hinter den Wegelagerer kam Alkje, mit Kampfgebrüll hervorgestürmt. In dem Moment erwachte Naya aus ihrer Starre. Das jahrelange Training mit ihren Großeltern zeigte seine Wirkung.
Hastig wich sie einem der Feindschwerter aus. Fälschte es mit ihrer Waffe ab und hieb dem Gegner ihren Knauf ins Gesicht. Ein widerlicher knackender Laut erklang, doch sie hatte keine Zeit, ihre Aufmerksamkeit dorthin zu richten. Stattdessen duckte sie sich unter einer anderen Klinge hindurch, wirbelte auf dem Absatz herum und ließ ihr Schwert sprechen.
Wie aus weiter Ferne vernahm sie ein schmatzendes Geräusch, doch auch dem schenkte sie keinerlei Beachtung. Sie bemerkte zwar den Widerstand, doch das Adrenalin rauscht wie Stromschnellen durch ihr Körper, versetzte sie in einen vom Kampf berauschten Zustand. Nur am Rande nahm sie wahr, wie Alkje einen weiteren Angreifer niederstreckte, ehe auch der dritte regungslos am Boden lag, durchbohrt von Tarijas Klinge.
„Naya!“, durchriss ein Schrei die Luft. „Pass auf!“ Alkjes Warnung ließ sie blitzschnell herumfahren. Sie schwang ihre Waffe und erstarrte nach dem geführten Hieb zu Stein. Vor ihr sackte der Torso des letzten Gegners zu Boden, wobei der Kopf irgendwo daneben dumpf im Laub aufprallte.
Ihre Hände fingen an zu zittern. Als wäre ihr Schwert eine giftige Schlange, schmiss sie es von sich. Bittere Galle stieg in ihr auf, füllte ihren Mund, woraufhin sie sich neben einem der unzähligen Büsche erbrach.
Ihr Magen krampfte, würgte alles, was sie in sich hatte heraus, bis nichts mehr kam. Wimmernd kniete sie auf dem Waldboden, bis sie bemerkte, dass jemanden ihr beruhigend über den Rücken strich. Langsam, damit nicht wieder ein Würgereiz sie heimsuchte, setzte sie sich auf ihre Fersen und schützende Arme legten sich um sie. Drückten ihren zitternden Leib an einen weichen Körper, zugleich glitten schlanke Finger besänftigend über ihren Kopf. Naya fing haltlos an zu schluchzen und vergrub ihr Gesicht an Tarijas Brust, die neben ihr hockte. Sie war einfach für sie da, gab ihr halt und schenkte ihr Trost. Eine weitere Hand, eher eine Pranke, drückte beruhigend ihre Schulter, auf das hin sie schniefend den Blick hob und in Alkjes besorgte Miene sah.
„Der Erste ist der schlimmste“, murmelte er, auf dass hin Tarija sie, wenn auch zögerlich losließ. Naya schmiss sich an die Brust ihres Großvaters. Ihr ganzer Körper bebte, während sie ihren Tränen freien Lauf ließ. Wie lange sie brauchte, um sich wieder zu fassen wusste sie nicht, aber sie war ihren Großeltern unendlich dankbar, dass sie genauso lange bei ihr saßen und sie trösteten.
Ein letztes Mal zog sie die Nase hoch, aber Alkje behielt sie weiter beschützend im Arm. Wie in ihrer Kindheit, wo er sie getröstet hatte, wenn sie sich durch irgendeinen Unfug verletzt hatte.
„Ist wieder alles in Ordnung?“ Seine Stimme war weich, zugleich besorgt. Hatte nichts mehr mit der Brüllenden, während des Kampfes zu tun.
Die Angreifer?
Naya löste sich ruckartig von ihm, ließ ihren Blick über die Lichtung des Lagerplatzes schweifen, doch von den Toten war keine Spur mehr zu sehen.
„Wo …“
„Ich habe sie beseitigt. Der Anblick von eben reicht fürs erste.“ Tarija trat neben Alkje. Auch in ihren Zügen zeichnete sich Sorge ab. „Ich beschönige nichts. Bis du diesen Anblick verdaut hast, vergeht eine Weile. Aber dabei kommt es ganz auf dich an, wie du damit umgehst.“
Naya entging aus dem Augenwinkel nicht der tadelnde Ausdruck, den Alkje ihrer Großmutter zuwarf, enthielt sich jedoch seine Meinung dazu zu sagen, das sah sie ihm deutlich an. Stattdessen erhob sich Naya. Der Gestank nach Erbrochenen ließ sie erneut würgen, weswegen sie stolpernd ein paar Schritte von der Stelle weg torkelte. Tarija fing sie sofort auf, stützte sie, unterdessen Alkje ihre Waffe aufhob.
„Wer … wer waren die?“, stotterte sie völlig erschöpft.
„Plünderer“, schnaubte Tarija verächtlich.
„Sie haben anscheinend nicht damit gerechnet, dass zwei alte Reisenden ihre Klingen noch so präzise schwingen können.“
Auf Alkjes Worte grunzte Tarija was vor sich hin, das selbst Naya so dicht bei ihr, nicht verstand. Stattdessen führte ihre Großmutter sie ans Feuer, wo Naya sich auf ihre Decke sinken ließ. Alkje legte derweil einen Ast nach, damit es nicht ausging. Funken stoben hoch und in Naya keimte eine alte Angst auf. Hastig rutschte sie von dem Lagerfeuer weg, bis die Kühle der Nacht sie empfing. Ihre Großmutter schenkte ihr einen besorgten Blick, ehe sie murmelte: „Wir ruhen uns besser aus. Alkje“, knurrte sie plötzlich befehlend. „Du übernimmst die erste Wache.“
Seine linke Augenbraue zuckte amüsiert nach oben.
„Wie meine Heerführerin wünscht.“
„Lass das“, zischte Tarija ihm entgegen, gleichzeitig ihr Augenmerk wieder auf Naya richtend. Gleich darauf stand ihre Großmutter auf. Sie holte von einem der Sättel eine weitere Decke, die sie Naya behutsam um die Schultern legte.
„Du zitterst wie Espenlaub, mein Kind. Ich weiß du hast Angst vor dem Feuer, aber dennoch, rutsch etwas näher heran und Wärme dich.“
Sie haderte. Starrte die zuckenden Flammen an, bevor sie sich enger in die Decke kuschelte. Alles brach über ihr zusammen. Die Erschöpfung übermannte sie und sie glitt in das Reich der Träume.
Kapitel 2
Unvermittelt zügelte sie ihr Pferd und richtete verwundert ihren Blick nach vorne. Von ihren Großeltern zu beiden Seiten flankiert standen sie auf einer Anhöhe und vor sich …
„Das Herz Ashaks“, hörte sie ihren Großvater andächtig murmeln.
Sie konnte ihre Augen kaum von dem Anblick abwenden, der sich ihr gerade darbot. Gewaltige, dunkelgraue Mauer umgaben eine imposante Stadt, deren Dächer rötlich bis Braun in der Sonne erstrahlten. Im Hintergrund sah man das Meer, dessen Wellen schillerten, je nachdem wie die Lichtstrahlen drauf fielen.
Aus dem Augenwinkel bemerkte Naya, wie ihre Großeltern die Halsketten zum Vorschein brachten. Die Umhänge zurechtrückten, bevor Tarija ihr einen mahnend Blick schenkte.
„Ab jetzt mein Kind, sind wir für dich Baronin Tarija und Baron Alkje. Nicht deine Großeltern, sondern deine Adoptiveltern. Deine Herkunft muss weiterhin ein Geheimnis bleiben, bis wir von den Sehern wissen, welche Aufgabe dir zusteht.“
Widerwillig nickte Naya, auch wenn sie immer noch nicht verstand, warum ihre Großeltern es so handhabten.
Ich muss mich wohl in Geduld üben. Sie werden mir es schon zu gegebener Zeit sagen. Aber … Moment? Wenn die beiden zur Ashakischen Adelsfamilie gehören, dann …
„Großmutter … äh … ich meine Tarija?“ Tarija, die bereits ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Stadt gerichtet hatte, sah stirnrunzelnd zu ihr. „Wenn ihr beide zur Ashakischen Adelsfamilie gehört? Heißt das dann, dass ich auch adeligen Geblütes bin?“
Alkje lachte donnernd los und hieb sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel, dass es klatschte.
„Sie hat einen scharfen Verstand“, verkündete er erheitert.
„Der sie in Schwierigkeiten bringen kann“, zischte Tarija grimmig, während Alkje sofort aufhörte zu lachen, um sie ernst anzuschauen.
„Hm … da muss ich dir wohl oder übel zustimmen. Aber um deine Frage zu beantworten, mein Kind“, wendete er sich prompt an Naya. „Du bist tatsächlich von adeligem Geblütes. Doch behalte auch das bitte für dich.“
Immer diese Geheimniskrämerei. Nun gut. Ich spiele dieses Spiel vorerst mal mit.
Sie stimmte zu, beäugte gleichzeitig Tarija, die das Lederband vom Smaragd ihres Schwertes wickelte. Erst dann ritten sie weiter.
Das massige, mit dicken Eichendielen gezimmerte, von breiten Eisenbeschlägen gehaltene Stadttor lag hinter ihnen. Naya bemerkte fasziniert, wie die Menschen in den Straßen ehrfurchtsvoll zur Seite wichen. Mancher sich sogar tief verbeugte. Soldaten, an denen sie vorbeiritten, standen augenblicklich stramm und grüßten sie mit einem ehrerbietigen Gruß. Naya war damit klar, dass man hier ganz genau wusste, wer ihre Großeltern in Wirklichkeit waren.
Dem Verhalten nach zu urteilen muss Großmutter mehr als nur eine Baronin sein. Die Leute sehen sie ehrfürchtig, fast schon untertänig an. Da steckt definitiv mehr dahinter.
Einen weiteren Beweis dafür erlangte sie am zweiten Tor, das die Hauptburg von der Stadt abgrenze. Sie hatten es noch nicht richtig erreicht, schwangen auch schon die massigen Flügel mit einem behäbigen Knarren auf. Staunend ritt Naya unter dem drei Mann dicken Torbogen hindurch. Im Burghof angekommen, schloss sich das Tor mit einem Knall, während ihr Großvater den Stall ansteuerte.
Vor dem sorgsam geweißelten Gebäude zügelten sie die Hengste. Mit einem leisen Seufzer glitt Naya aus dem Sattel. Der Angriff der Plünderer hing ihr nach wie vor in den Knochen, auch wenn es schon ein paar Tage her war. Doch die Bilder vom Kampf suchten sie seither Nacht für Nacht in ihren Träumen auf. Sie fühlte sich elend, müde und wahrlich nicht in der Stimmung heute vor einen König zu treten.
Wie ihre Großeltern versorgte sie ihr Pferd, hing dabei ihren Gedanken nach, denn die Ereignisse brachen langsam aber stetig über ihr zusammen. Fingen an, sie zu erdrücken, was die ungemütliche Enge in ihrer Brust bewies.
Anhand der Geräusche wusste sie, dass die beiden die Hengste bereits mit Heu und Wasser verpflegten, als schwere Schritte ihre Aufmerksamkeit weckten.
„Alkje“, hallte eine sonore Stimme durch die Stallgasse. „Du verdammter Dreckskerl. Kommst du endlich nach all den Jahren mal wieder nach Rurgold. Ich dachte schon, der Tod hätte dich vor mir geholt“, donnerte es weiter, woraufhin Naya erschrocken über die Stallwand linste.
Sie beobachtete, wie sich ihr Großvater breit grinsend zu dem Mann umdrehte, der sich mitten in der Gasse aufbaute und grimmig dreinschaute. Aus der Nachbarbox hörte sie, wie Tarija kicherte, auf das hin Naya irritiert die Stirn runzelte. Ihr Augenmerk zurück zu Alkje richtend, sah sie, wie er auf den Mann zuging, ihn umarmte, um dabei mit der Faust auf dessen Rücken klopfte.
„Artes du alter Halunke. Ich lass mich doch nicht vom Tod überwältigen. Ich denke, eher bringt mich meine Kriegerin vorher zur Strecke, wenn der Tag gekommen ist.“ Der Mann lachte grölend auf, klopfte Alkje auf die Schulter und schaute zu Tarija, die in dem Moment die Box ihres Hengstes verschloss, um zu den Männern zu schlendern. Auch sie begrüße diesen ansehnlichen Ashaker mit einer festen Umarmung und einem Rückenklopfer, wobei sie sich beide angrinsten.
„Tarija, selbst jetzt siehst du noch verdammt gut aus. Sind deine Krallen immer noch so scharf wie eh und je?“
Tarijas feixte den Mann an und erwiderte mit einem neckischen Blitzen in den Augen: „Worauf du wetten kannst Artes. Wie ergeht es Elaria und den drei Jungs?“ Bei dem Wort Jungs, verdrehte Artes die Augen, zugleich seufzte er schwer.
„Jungs? Du meinst eher rumhurende Raufbolde. Sie sind Erwachsen und ordentliche Ashaker geworden. Haben nur noch Weiber und saufen im Hirn, wenn sie sich nicht gerade mit irgendwelchen anderen im Suff Prügeln. Wobei ich hinzufügen darf, dass Asjek der einzige vernünftige von den dreien ist. Er hat eine Frau gefunden, mit der er glücklich ist und die ihm mittlerweile ebenfalls drei Söhne geschenkt hat. Antos und Anrek dagegen denken nicht im Geringsten daran zu heiraten. Selbst Kimara hat es mit ihren zwei Söhnen nicht wirklich einfach. Auch sie zeigen keine Ambitionen sich zu festigen.“
Tarija legte ihre Hände auf die Schultern von Artes.
„Kejila? Ich hoffe doch, sie ist immerhin einsichtig?“
„Ja. Zum Glück, wenn sie nur nicht so stur wäre. Anjek will sie seit einem Jahr an einen stattlichen Ashakischen Baron verheiraten. Aber dieses listige Weib findet jedes Mal eine andere Ausrede, um die Zeremonie zu verschieben. Dabei würde sich Kimara so über Enkel erfreuen.“ Mit den letzten Worten verdrehte Artes erneut die Augen.
Naya, deren Neugierde obsiegte, trat langsam aus Kejells Box heraus. Die Tür knarrte verdächtig und augenblicklich haftete Artes Blick auf ihr.
„Nanu? Wer ist denn das?“
Tarija kam sofort zu Naya, sah sie aufmunternd an, unterdessen Artes zu Alkje meinte: „Eine Augenweide von Frau hast du da in deiner Begleitung. Wer ist sie?“
„Unsere Adoptivtochter Naya. Sie begleitet uns zu den Sehern von Ulso, denn wir haben einige Fragen an die alten Männer dort oben im Norden.“
Naya fiel sofort auf, dass Artes skeptisch die linke Augenbraue hochzog, als Alkje sie als ihre Adoptivtochter betitelte.
„Nun ja, sie hat aber ziemlich viel Ähnlichkeit mit …“
„Artes!“ Tarijas Stimme schnitt wie ein Messer durch die Luft. „Das reicht.“
Naya zuckte, bei diesem befehlenden Ton, zusammen. Wie nur konnte ihre Großmutter den König nur so anfahren. Wer war sie? Zu Nayas Verwunderung zeigte Artes ein verkniffenes Gesicht. Er presste die Lippen fest aufeinander, bevor er mit einer wedelnden Handbewegung zum Tor des Stalls deutete.
„Wie du meinst“, brummelte er. „Kommt in meine bescheidene Burg. Drinnen im Audienzzimmer können wir weiter reden … über alte Zeiten.“
Sie folgten Artes, wohingegen Naya das kurze Stocken nicht entgangen war. Sie grübelte darüber, weshalb ein König sich das Wort von einer Baronin verbieten ließ. Jetzt war Naya sich sicher, dass ihre Großmutter ein größeres Geheimnis bewahrte, als sie zugab.
Während sie den dreien nachging, hörte sie nur mit einem Ohr den Gesprächen zu, die überwiegend von den besagten alten Zeiten handelten. In der Burg schritten sie durch die mit Wandbehängen geschmückten Gänge bis zu einem Raum, an dessen Wände unzählige Regale standen. Diese waren zu Nayas Staunen über und über mit Schriftrollen und in Leder gefasste Bücher vollgestopft.
„Ah … lange ist es her.“ Alkje ließ sich mit einem erleichterten Seufzer schwer in einen der Sessel fallen, die vor einem erkalteten Kamin platziert waren. Artes setzte sich ihm gegenüber, Tarija neben Alkje. Naya zögerte einen Herzschlag, bevor sie sich gezwungen sah, den letzten freien Platz, neben Artes zu wählen.
Artes indes beäugte jede ihrer Bewegungen, bis er an ihren Augen hängen blieb. Verschüchtert, so von einem König gemustert zu werden, sah sie starr auf ihre Hände, die sie in ihrem Schoß zu Fäusten ballte.
„Tarija? Mal unter uns. Das mit der Adoptivtochter eben nehme ich dir nicht ab. Das ist dir ja wohl klar. Man braucht sie nur genauer anzusehen. Sie hat deine Augen und etwas von deinen jugendlichen Zügen. Alkje?“, Artes sah zu ihrem Großvater, in dessen Blick der Schalk aufblitzte. „Du konntest wohl in all den Jahren nicht die Finger von deiner Gemahlin zu lassen?“
Alkje hielt seine Hände seitlich etwas höher, mit den Handflächen nach vorne zeigend und schaute mit gespielt entrüstetem Gesichtsausdruck zu Artes.
„Bei Agin unserem Urvater. Sie ist wahrlich nicht unsere Tochter. Wir haben nur drei Kinder und das weißt du.“
Diese Aussage brachte Artes dazu, die Stirn grüblerisch zu runzeln, um Naya erneut eingehend zu mustern.
„Wenn sie nicht aus deinen Lenden stammt, woher kommt sie dann? Tarija, hast du …“
„Artes ich warne dich“, knurrte Tarija, zugleich bleckte sie die Zähne. „Zügle deine Zunge. Ich bin all die Jahre meinem Gemahl treu geblieben. Um dich aufzuklären und deine Wissbegier zu sättigen. Naya ist unsere Enkelin und die erstgeborene Tochter meines Sohnes. Sie ist jedoch bei uns aufgewachsen, da sie als Wolfskind zur Welt kam, wie du vielleicht unverkennbar siehst.“
Artes nickte. „Ja ich sehe es. Sie ist also ein Wolfskind? Aber das heißt, es gibt eine neue Prophezeiung und sie ist wahrlich …“
„Artes es reicht!“, knallte Tarijas Stimme wie ein Peitschenhieb durch den Raum. Artes verstummte augenblicklich und Naya wunderte sich abermals darüber, was für eine Befehlsgewalt ihre Großmutter über den König der Ashaker besaß.
„Ja, sie ist es. Aber wehe dem, du sagst auch nur irgendjemanden was davon. Solange wir nicht wissen, welche Prophezeiung zu erfüllen ist, darf niemand von ihrer wahren Herkunft wissen.“
Artes kratze grüblerisch seinen Vollbart. „Ihr seid also auf dem Weg nach Markot und habt euch gedacht, ihr besucht mich mal wieder.“
„Nun ja Bruder“, warf Alkje ein. „Das ist nicht der einzige Grund.“
„Aha. Wusste ich es doch.“ Artes bettete seine Ellbogen auf die Oberschenkel, um sie alle drei der Reihe nach anzuschauen. Naya blieb lieber weiterhin die stumme Beobachterin und versuchte, nicht zu direkt den König der Ashaker zu beobachten, der gelegentlich zu ihr linste. Sie sah dem Ganzen mit gemischten Gefühlen zu, denn das Verhalten ihrer Großmutter wurde für sie zunehmend ein Rätsel.
Großmutter ist definitiv nicht nur eine Baronin. Aber wer ist sie dann? Und vor allem. Wer bin dann ich?
„Bruder, es geht um folgende Bitte. Ist es möglich, mit deinem Segen versteht sich, Naya in den Stand einer Baronin zu erheben?“
Artes starrte Alkje an. Er ließ sich in seinem Sessel nach hinten sinken, bevor er zu Tarija sah, als müsse sie diese Entscheidung treffen, ehe er meinte: „Alkje? Fragst du in deinem Ermessen oder …“
„Artes, du kennst mich. Ich bin lediglich ein unbedeutender Baron. Auch wenn wir verheiratet sind, so ist sie die mächtigere von uns und ich spreche hier in Nayas Namen.“
Naya schielte zu Tarija, deren Haltung sich deutlich verändert hatte.
Bilde ich es mir nur ein, oder benimmt sie sich gerade wirklich wie eine Herrscherin?
Ein resignierter Seufzer kam aus Artes Richtung.
„Wie Ihr es wünscht, Eure Majestät.“
Naya unterdrückte es zusammenzuzucken und zu schnell zu ihrer Großmutter zu schauen. Stattdessen beäugte sie ihre Großmutter weiter aus dem Augenwinkel heraus, während Artes grummelte: „Ich lasse noch heute nach dem Seher von Rurgold schicken. Sobald er hier ist, werde ich Naya unter seiner Aufsicht in den Stand einer Baronin aufnehmen.“
Tarija schenkte ihm ein zufriedenes Lächeln.
„Ich hoffe aber, es ist das letzte Mal. Tarija, du kennst die Regeln der Ashaker.“
„Zu gut, mein lieber Artes.“ Nach diesen Worten erhob sich Tarija, gab Alkje und ihr zu verstehen, dass sie es gleichtaten, um aus dem Audienzzimmer zu gehen.
Vor der Tür hielt sich Naya nicht mehr zurück und packte ihre Großmutter ruppig am Arm.
„Wer bist du wirklich? Wieso verbeugt sich ein König vor dir und spricht dich mit Eure Majestät an?“
Eine Pranke ruhte unvermittelt auf Nayas Oberarm, woraufhin sie ihren Großvater anstarrte, der murmelte: „Nicht hier auf den Gängen.“
„Alkje hat recht Naya. Wir haben dein Geheimnis zu wahren. Du erfährst alles zu seiner Zeit“, gleichzeitig kam ihre Großmutter Nayas Ohr näher und flüsterte: „Mein Adelsstand ist höher als der aller Barone und Könige zusammen. Wunder dich daher nicht, dass ich mit immensem Respekt behandelt und mit Eure Majestät angesprochen werde.“
Verdattert sah sie ihre Großmutter an, die verschmitzt lächelte.
„Du … du bist …?“
„Naya, hör mir bitte zu. Bevor du irgendwelche Vermutungen anstellst. Ich bin nur eine Baronin und nicht mehr. Als Heerführerin des Landes genieße ich tiefen Respekt, auch wenn so mancher meint, es zu übertreiben.“
Mit dieser Aussage musste sich Naya wohl zufriedengeben, auch wenn sie gerne mehr wissen wollte. Sie sah zu, dicht bei Tarija zu bleiben, die weiter den Gang entlangschritt.
„Lasst uns zu unserem Gemach gehen und schauen, ob wir eins für Naya finden. So wie ich Artes verstanden habe, dauert es, bis einen Seher hier zur Burg kommt.“
Alkje brummte irgendetwas undeutlich in seinen Bart, was Naya gerade auch egal war. Sie ging gedankenversunken hinter Tarija her, bis tiefe, johlende Männerstimmen durch den Gang hallten. Naya sah auf. Sie entdeckte drei Gutgebaute, ziemlich schwankende Männer, die auf sie zukamen. Beim Anblick des vordersten biss sie sich unbewusst auf die Innenseite ihrer Lippe und sah rasch zu Boden.
Man sieht der gut aus.
Behutsam schielte sie zu ihm und unvermittelt sah sie in seine Augen.
Sein verschlagenes Grinsen schreckte sie sofort ab, woraufhin sie kurz die beiden anderen musterte. Naya stellte fest, dass der Erste, der größte, wahrscheinlich auch der älteste von ihnen war. Ein muskulöser Hüne, der sich seines Körpers mehr als bewusst war, so wie er sich gab und bewegte.
Wie sie auf gleicher Höhe waren, verneigte er theatralisch sein Haupt und säuselte: „Schöne Maid, wohin des Weges?“
Ihr entging der lüsterne Schimmer in seinen Augen nicht. Doch bevor Naya dazu kam etwas zu erwidern, tauchte ein Schatten direkt neben diesem Angeber auf. Erst bei näherem Hinschauen erkannte sie ihren Großvater.
„Valdis!“, knurrte Alkje drohend. „Zügle dein Mundwerk und öffne deine versoffenen Augen, damit du erkennst, wen du vor dir hast.“
Naya starrte die beiden Männer an. Erst jetzt fiel ihr auf, dass ihr Großvater genauso hünenhaft war wie der Kerl, dem er bedrohlich einen Dolch gegen den ungeschützten Hals drückte. Die Augen des Mannes weiteten sich, wobei Alkje ein abgrundtief unheilvolles Grollen von sich gab.
„Groß … Großonkel Alkje … verzeiht … ich … ich habe Euch nicht gleich wiedererkannt.“
„Das habe ich gemerkt, du Trunkenbold.“ Alkje nahm zögernd den Dolch runter. Gleichzeitig schweifte der Blick des jüngeren Ashakers zu ihrer Großmutter. Innerhalb eines Wimpernschlags war von der Trunkenheit nichts mehr zu sehen. Stattdessen verneigte er sich geschmeidig. „Eure Majestät. Entschuldigt bitte mein dümmliches, ungehobeltes Benehmen.“
Im gleichen Moment, wie er sich wieder aufrichtet, schenkte er zudem Naya ein verzeihendes Lächeln. „Mylady. Auch Euch bitte ich um Entschuldigung für die plumpe Anmache.“
Sie biss sich erneut auf die Unterlippe. Plötzlich schob ihre Großmutter sie sachte zur Seite und musterte abschätzend den Hünen.
„Ashaker. Mit Euch ist es doch immer das Gleiche. Nun Valdis, es sei dir verziehen, aber hüte dich in der Gegenwart meiner Adoptivtochter. Haben wir uns klar und deutlich verstanden?“
Valdis nickte knapp, schenkte Naya einen weiteren verzeihenden Blick, ehe er seine Brüder am Arm packte und mit ihnen rasch, fast fluchtartig weiterging.
Hm, er könnte mir gefallen, aber wenn ich Großmutters Worte richtig deute, so soll nicht nur er die Finger von mir zu lassen, sondern auch ich von ihm.
Auf diesen Gedanken hin, sah Naya fragend zu ihrer Großmutter. „Wer war das?“
Tarija schnaubte abfällig, gleichzeitig steckte Alkje seinen Dolch zurück, bevor er ihre Frage beantwortete.
„Das mein Kind waren Artes Enkel. Asjeks ältester Sohn Valdis. Die beiden anderen waren Eldar, der zweitgeborene und Birger, der Jüngste. Du wirst sie heute Abend beim gemeinsamen Abendessen noch besser kennenlernen, ebenso wie den Rest der Ashakischen Königsfamilie.“
„Und die ist mittlerweile ziemlich gewachsen“, grummelte ihre Großmutter und schritt weiter.
„Keine Familie bleibt klein, sieh doch nur unsere an“, schmunzelte ihr Großvater.
Doch ihre Großmutter ging nicht darauf ein, sondern meinte stattdessen: „Alkje? War neben unserem Gemach nicht noch eins leer?“
Alkje grübelte kurz, ehe er bejahte und sie weiter zu den Gemächern schlenderten.
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Naya mochte Gewänder nicht sonderlich, dennoch ließ sie es zu, dass Tarija ihr ein dunkelblaues, ärmelloses Kleid anzog. Während ihre Großmutter ihr ein schwarzes Mieder um die Taille schnürte, meinte sie: „Ich muss Artes recht geben. Du siehst mir in mancher Hinsicht ähnlich, mein Kind.“
Tarija trat einen Schritt zurück und musterte sie in einem Spiegel eingehend.
„Dieses Kleid habe ich hier in Rurgold ab und zu getragen, wobei ich gestehen muss, dass es auch dir ausgezeichnet passt.“
Naya rümpfte unwillig die Nase, zugleich beäugte sie Tarijas Aufmachung mit kritischem Blick. „Wieso muss ich ein Gewand anziehen und du …“
„Müssen wir das jetzt schon wieder durchkauen?“, unterbrach Tarija ihr Aufbrausen, auf dass sie eine schnippische Schnute zog.
„Bei Anjok und Bijan hattest du auch Kleider an“, grummelte Naya und zupfte genervt an dem Rock herum.
„Dort habe ich mich auch wie eine Hofdame gegeben, aber hier in Rurgold kennt man mich nur als Kriegerin. Als Heerführerin des Kardianischen Reichs und als solche trete ich auch auf.“
Naya schenkte ihrem Spiegelbild einen verächtlichen Blick. Selbst wenn sie darin gut aussah, sie hasste solche Aufmachungen. Sie drehte sich zu ihrer Großmutter herum, um verwundert auf den Dolch zu starren, den Tarija ihr mit dem Griff voran entgegenhielt.
„Steck ihn in deinen Stiefel. Wir sind unter Ashakern. Bei denen hat man mit allem Möglichen zu rechnen.“
Naya ergriff den Dolch und runzelte skeptisch die Stirn. „Du willst mir damit sagen, dass ich mir einen gewissen Ashaker vom Hals halten soll. Verstehe ich das richtig?“
Das hinterlistige Grinsen in Tarijas Zügen war Naya Antwort genug, dennoch erwiderte ihre Großmutter: „Ja. Naya, mir ist nicht entgangen, was für Blicke er dir zugeworfen hat. Er ist einer dieser Kerle, die sich eine schnelle Beute erhoffen. Wenn er dir zu aufdringlich wird, zeig ihm deine Krallen, so wie ich es dich gelehrt habe. Glaub mir, ich rede aus langjähriger Erfahrung und wenn nicht, frag deinen Großvater.“
Bei Tarijas letzten Worten kicherte Naya. „Ist mir nicht entgangen.“
Sie sahen sich an und lachten herzhaft. Naya versteckte den Dolch in ihrem Stiefelschaft und schob beim Aufrichten ihre schwarzen geflochtene Haare nach hinten, auf das ihre Großmutter fragte: „Bereit?“
Naya bejahte, weiterhin schmunzelnd.
„Gut, dann lass uns in den Speisesaal gehen und genießen ein paar Tage hier auf der Burg, bevor wir weiter reisen.“
Nebeneinander verließen sie Nayas Gemach. Schlenderten durch die gekalkten, mit verschiedenen Bildern versehenen Gänge zu dem Saal, von wo man das Gegröle der Männer hörte.
„Mir scheint, das Bier fließ bereits reichlich“, gluckste ihre Großmutter, auf das hin Naya schicksalsergeben seufzte.
„Und ich kann mir schon vorstellen, wie der Abend endet“, brummelte Naya. Sie sah ihre Großmutter an, woraufhin sie erneut lauthals loslachten.
Kaum betraten sie den Saal, gingen auf den breiten Tisch zu, sprang augenblicklich eine der älteren Damen von ihrem Stuhl auf. Sie eilte zu ihnen, um Tarija herzlich und überschwänglich zu umarmen.
„Tarija. Es ist so schön dich nach all der Zeit wiederzusehen.“ Auch Tarija herzte die Lady, bevor sie sich an den Oberarmen haltend ansahen. „Wie ich sehe, hat die Zeit ebenfalls an dir ihre Spuren hinterlassen. Aber komm. Setzt dich an unsere Tafel so wie früher.“ Dabei richtete die Frau ihren Blick lächelnd auf Naya, während sie eine einladende Armbewegung zum Tisch vollführte. Naya folgte den beiden und bemerkte, wie alle Männer aufsahen, um Tarija ehrerbietig zuzunicken.
Wer ist Großmutter? Fragte sie sich zum hundertsten Mal. Wer ist sie, dass selbst gestandene Ashaker ihr solch Respekt zollen.
Am Kopfende der Tafel saß Artes. An der langen Seite zwei weitere Damen und die drei Männer von zuvor. Naya äugte behutsam zu Valdis, der sichtlich angespannt neben ihrem Großvater saß.
So viel dazu, was für ein respekteinflößender Mann Großvater ist. Und ich dachte, ich kenne die beiden. Da habe ich mich wohl geirrt.
Sie setzte sich zu ihrer Großmutter und ihrem Großvater gegenüber. Kaum saßen sie, klatschte Artes in die Hände und Diener brachten daraufhin ein üppiges Abendessen, aber auch noch mehr Bier herein, dem nun auch ihre Großmutter frönte. Naya schielte auf den Krug, den ihre Großmutter hielt, denn in der Zeit in der Hütte war es sie gewohnt gewesen auch mal was von dem Gebräu zu trinken, dass ihr Großvater braute.
„Tarija?“, flüsterte sie zögerlich. „Darf ich auch?“ Naya nickte auf den Humpen, woraufhin sie erst einen nachdenklichen Blick ihrer Großmutter erntete, ehe diese losprustete. Eine Hand landete auf ihrer Schulter, ehe Tarija ihr den Krug vor die Nase schob.
„Natürlich.“
„Aber Tarija … eine Lady …“
„Ach Elaria, hab dich nicht so. Zu Hause trinkt sie auch mit uns.“
Naya fiel auf, wie der Mann neben Artes sie neugierig ansah.
„Tarija? Stell uns doch mal die Lady vor.“
Tarija grinste breit, zugleich angelte sie sich einen frischen Krug und erwiderte: „Anjek und alle anderen hier Anwesenden. Ich darf euch unsere Adoptivtochter Naya vorstellen.“
Ausnahmslos alle erhoben ihre Krüge zum Gruß.
„Herzlich willkommen in der Familie, Naya“, donnerte Artes angeheitert.
Naya hob ebenfalls ihren Humpen, um gleichzeitig mit allen einen kräftigen Schluck zu trinken. Die Damen am Tisch sahen sie erstaunt an, wobei Tarija ihren Humpen ruppig abstellte. Sie stupste Naya mit dem Ellbogen in die Seite, bevor sie anfing, ihr die Anwesenden vorzustellen.
„Naya. König Artes kennst du ja schon und seine drei Enkel sind uns bereits auf dem Gang begegnet. Neben mir sitzen Lady Elaria, Gemahlin König Artes und Mutter von Asjek, Antos, und Anrek. Daneben Lady Kimara, Gemahlin von Anjek und Mutter von Lady Kejila, Ramon und Antes. Bei Lady Kejila sitzt Lady Liv, Gemahlin von Asjek und Mutter von Valdis, Eldar und Birger …“ Tarija hielt plötzlich inne und sah stirnrunzelnd in die Runde. „Sagt, wo ist eigentlich eure Schwester Lady Anijana, Artes?“ Bei der Frage wendete Tarija sich dem König zu, doch statt ihm antwortete Lady Elaria mit bedrückter Miene.
„Lady Anijana … weilt leider nicht mehr unter uns. Der letzte Winter hier in Ashak war hart und eine Erkältung hatte sie zudem sehr geschwächt, dass sie den kommenden Frühling nicht erlebte.“
Augenblicklich erfüllte ein bedrückendes Schweigen den Raum. Jeder sah vor sich auf die Tischplatte, als Artes andächtig flüsterte: „Die Gefallenen behüten sie und möge sie an der Tafel unseres Urvaters Agin speisen und den alten Lobgesängen lauschen.“
Die Krüge hochgehoben stimmten sie gemeinsam ein: „Bei Agin.“
Gleich darauf verschwand die Trauer, so, als wäre sie nie da gewesen. Naya beobachtete alles mit interessiertem, dennoch wachsamem Blick, wobei ihr nicht entging, dass Valdis sie hin und wieder ansah.
Sie fühlte sich unwohl bei der Art, wie er ihren Körper abschätzend musterte.
Wie es Großmutter gesagt hatte. Er sucht deutlich nur eine schnelle Beute.
Dieser Gedanke behagte ihr keineswegs. Ein Grund, weswegen sie anfing, ihn grundlegend zu ignorieren.
Alle lachten ausgelassen, deutlich angeheitert, denn die Männer, wie auch ihre Großmutter, ebenso sie selbst, sprachen dem Bier reichlich zu. Nur am Rande nahm sie wahr, dass Valdis bei Weitem nicht so trunken war wie die restliche männliche Gesellschaft. Zwar johlte er genauso angetrunken mit seinen Brüdern mit, doch sein Augenmerk kehrte stets zu ihr zurück.
Naya hatte mittlerweile den zweiten Humpen vor sich stehen, spürte langsam die Wirkung des Alkohols, die ihren Geist benebelte.
„Tarija …“, säuselte sie, während sie leicht schwankend aufstand. „Ich gehe in mein Gemach, ich …“
„Jetzt schon?“, lallte ihre Großmutter. „Zu Hause verträgst du aber wesentlich mehr“, kicherte sie, in das Naya prompt mit einfiel. Hastig stützte sie sich an der Schulter ihrer Großmutter ab.
„Schon, aber bei so adeliger Gesellschaft …“
„Adelige Gesellschaft?“, prustete ihr Großvater los und hieb mit der flachen Hand so fest auf den Tisch, dass die Krüge hüpften. „Wir sind Ashaker. Da ist es normal viel zu trinken und …“
„Alkje! Aber doch keine Lady“, empörte sich Elaria, was zur Folge hatte, dass alle los johlten.
„Oh … ihr seid so unverbesserlich“, schnaubte die Lady, trotzig ihr Kinn reckend.
Tarija legte ihren Kopf in den Nacken, sah zu Naya auf, wobei sie beinahe rücklings mit dem Stuhl gekippt wäre, hätte Naya sich nicht dagegen gedrückt. Sie sahen sich an und ein weiter Lachanfall war die Folge.
„Findest … findest du dein Gemach?“, feixte ihre Großmutter, auf das Naya schlichtweg mit den Schultern zuckte.
„Ich denk schon, irgendwie.“
„Sodann … bis morgen.“ Tarija beugte sich vor zum Tisch, hob ihren Krug an und prostete Naya zu, die lachend aus dem Speisesaal schwankte.
Hui … das Bier hier scheint stärker zu sein wie Großvaters Gebräu.
Mit etwas Schlagseite schlenderte sie den Gang entlang, bis sie einen kühlen Luftzug auf ihrer Haut verspürte. Sie blieb sofort stehen, reckte ihre Nase, um Witterung aufzunehmen, ehe sie dem Hauch folgte. Gleich darauf befand sie sich im Burggarten, wo kleinere Brunnen vor sich hin plätscherten, vom silbrigen Schein des Vollmondes eingehüllt. Kiesel knirschten unter ihren Stiefeln, während sie einen gewundenen Weg betrat.
An einer Steinbank, die ganz im Licht des Mondes lag, stoppte sie. Naya schloss ihre Lider und wendete ihr Gesicht dem Lichtschein entgegen. Ihre umnebelten Gedanken nahmen sonderbare Formen an.
Vor ihrem inneren Auge erschien ein schwarzer Wolf mit blauen Iriden. Er schien sie anzulächeln, zugleich tadelnd den Kopf zu schütteln, bevor er wieder verschwand.
„Fenrir“, murmelte sie von einer Schwermut gepackt.
Warum erinnere ich mich ausgerechnet jetzt an ihn?
Bevor sie weiter darüber grübelte, wieso jetzt ihr Freund aus Kindertagen sie so beschäftigte, hörte sie hinter sich den Kies knirschen. Langsam öffnete sie ihre Lider und drehte sich in die Richtung, aus der die Schritte kamen.
„Baron Valdis“, bemerkte sie erstaunt, als sie Erkannte, wer da auf sie zukam, wobei er einen respektvollen Abstand zu ihr hielt.
„Mylady, verzeiht. Ich hatte nicht vor Euch zu stören.“
Unschlüssig, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte, schenkte sie ihm ein leichtes Lächeln. „Ihr stört mich nicht. Ich habe nur ein wenig frische Luft gebraucht, bevor ich mich zu Ruhe begebe.“
Sein Blick glitt unverhohlen über ihren Körper, was ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Sie kannte diese Art von Musterung von den letzten Bällen, die sie mit ihren Großeltern besucht hatte.
„Mylady, ich glaube, es ist angebracht, mich noch einmal persönlich bei Euch zu entschuldigen. Ich wollte nicht so ungehobelt heute Mittag auftreten.“
Naya war ein wenig überrascht, denn sie hatte nicht damit gerechnet, dass er sich plötzlich so zuvorkommend benahm. Sie biss sich leicht verlegen auf die Unterlippe, brachte es nicht fertig, ihm in die Augen zu sehen. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund machte sie dieser gut aussehende Ashaker nervöser, als sie es bis jetzt bei einer Begegnung mit Männern auf diese Art gewesen war. Naya schluckte an dem Kloß vorbei, der sich in ihrem Hals gebildet hatte, bevor sie mit belegter Stimme sagte: „Baron Valdis. Ihr müsst Euch nicht ein weiteres Mal Entschuldigung.“ Unvermittelt kam ihr das Zusammentreffen gedanklich wieder hoch. Zugleich drängte sich eine Frage auf.
„Verzeiht meine Frage. Aber mir ist aufgefallen, dass Ihr enormen Respekt vor Baron Alkje habt. Wie kommt das?“
Kein Muskel zuckte in seinen Zügen, während er sie abschätzend begutachtete, was ihr so langsam aber sicher gewaltig auf die Nerven ging.
„Jeder hier in Ashak hat großen Respekt vor dem Heerführer des Reiches. Er ist ein Mann, zu dem jeder aufsieht. Aber wenn Ihr erlauben, Mylady. Dürfte ich Euch zu Eurem Gemach führen?“
Der plötzliche Themenwechsel machte sie stutzig.
Irgendetwas verschweigt er mir. Ich glaube nicht, dass es nur daran liegt, dass Großvater ein Heerführer ist.
Valdis bot ihr seinen angewinkelten Arm an, doch sie zögerte. Der Wolf in ihr mahnte zur Vorsicht, den die Absichten dieses Ashakers standen ihm zu deutlich ins Gesicht geschrieben und Naya hatte keine sonderliche Lust, die nächste auf einer langen Liste von Eroberungen zu werden.
Lauernd grummelt sie: „Was erhofft Ihr euch, wenn Ihr mich zu meinem Gemach geleitet?“
„Nichts, Mylady. Ich wollte einfach nur höflich sein. Damit mein Benehmen von zuvor wieder gutmachen.“
Hätte sie jetzt ihr Fell, würden ihr die Nackenhaare zu Berge stehen, bei dem listigen Blitzen in seinem Blick.
„Danke für das Angebot, aber ich finde mein Zimmer schon selbst.“
Jeder einzelne Muskel, jede Sehne war bis zum Zerreißen angespannt, als sie an ihm vorbeischritt, um sich auf ihr Gemach zu begeben.
„Ich habe Ehrfurcht vor Baron Alkje, weil er in der Schlacht von Sarkon mit ihrer Majestät an vorderster Front gekämpft hatte. Viele Sarkoner verloren durch seinen Krummsäbel ihr Leben. Niemand hier in Ashak wagt sich, ihn herauszufordern, nicht einmal mein Vater oder gar mein Großvater.“
Bei diesen Worten stoppte sie, sah ihn aber nicht an. Sie kannte die Geschichten, wusste um die Kampfkraft ihres Großvaters, weswegen sie verschmitzt lächelte. „Niemand, außer ich.“
Aus dem Augenwinkel erkannte sie seinen überraschten Blick und ergänzte amüsiert: „Einen besseren Lehrer wie ihn gibt es nirgends.“
„Ihr …“, er starrte sie an. Naya unterdrückte das Lachen, das in ihr aufstieg.
„Baron Alkje hat Euch ausgebildet?“
„Nicht nur allein Baron Alkje unterrichtete mich. Auch Baronin Tarija war in all den Jahren meine Lehrmeisterin in vielerlei Kampftechniken.“ Naya presste ihre Lippen fest aufeinander, als Valdis wortwörtlich die Kinnlade herunterklappte. Völlig verdattert sah er sie an, fing sich aber zu ihrer Überraschung recht schnell wieder.
„Ihr wurdet von den größten Krieger unseres Reiches ausgebildet?“
Sie bejahte, woraufhin er nachdenklich über den kurzen Bart strich, der seine markanten Züge umrahmte.
„Wenn dem so ist. Wie sieht es dann mit Eurer Schwertkunst aus?“
Als hätte sie es nicht geahnt, dass ihn das fuchste, dass sie in den Genuss einer solchen Ausbildung gekommen war.
Naya setzte ihr lieblichstes Lächeln auf, auch wenn sie innerlich unheimlich nervös war. Sie linste über ihre Schulter und meinte keck: „Findet es doch heraus, Baron Valdis. Morgen in einem Zweikampf im Burghof. Was haltet Ihr davon?“
Er schien abzuwägen, denn seine Antwort ließ auf sich warten, bevor er sich breit grinsend verbeugte. „Ich werde kommen.“
Das genügte ihr, während sie zusah, dass sie so rasch, wie möglich, ohne das es wie eine Flucht aussah, in die Burg verschwand.
~~~
Valdis
Er sah ihr grüblerisch nach. Valdis konnte immer noch nicht fassen, dass diese unscheinbare Frau eine Kriegerin war. Noch dazu ausgebildet von den Besten, die es in diesem Reich gab.
Die besieg ich doch morgen mit links. An der ist ja nichts dran. Glaubt die ernsthaft, dass sie gegen meine Schläge ankommt?
Boshaft grinsend ging er ebenfalls zurück, um seinen Brüdern Gesellschaft zu leisten, als er knirschende Schritte hinter sich vernahm. Er blieb stehen, drehte sich um und sah sich Fenrir – seinem Trainingspartner – gegenüber, der ihn belustigt anlächelte.
„Na? Doch keinen Erfolg gehabt?“
Valdis lachte kurz auf. Er legte Fenrir eine Hand auf die Schulter.
„Warte ab. Aber sag, wie lange hörst du schon zu?“
„So lange, um zu wissen, dass sie nicht nur eine Hofdame ist. Wobei ich zugeben muss, sie sieht nicht wirklich wie eine Kriegerin aus.“
Den Arm um Fenrirs Schulter legend flüsterte Valdis: „Die leg ich so oder so morgen flach. Egal ob im Kampf, oder zum Spaß.“
„Hm, Valdis, ich kann deinen Optimismus nicht so ganz teilen.“
„Hä? Wieso das denn?“ Ruckartig zog er seinen Arm zurück. Fenrir sah ihn aus blauen Augen an, die im Mondlicht sonderbar blitzten.
„Hast du sie beim Hineingehen genau beobachtet?“
Valdis schüttelte irritiert den Kopf. „Nicht wirklich. Für mich ging sie völlig normal. Wieso? Was ist dir denn aufgefallen?“ Argwöhnisch sah er Fenrir an. Zu diesem Kerl verband ihn eine mehr oberflächliche Freundschaft. Sie waren Trainingsgefährten, teilten viele Interessen miteinander, aber dennoch, geheuer war er ihm nicht. Zwar war Fenrir schon zwei Monaten hier auf der Burg, um die Ashakische Kampfkunst zu erlernen, doch er verbrachte die meiste Zeit allein. Nicht einmal war er mit ihnen mitgegangen, wenn sie in den Tavernen einen hoben und auch so lebte er sehr enthaltsam. Zu enthaltsam für Valdis Geschmack.
„Ach, nichts Besonderes“, wiegelte Fenrir ab, doch Valdis blieb hartnäckig.
„Raus mit der Sprache. Sollte ich wegen morgen irgendetwas wissen?“, brummte er ungehalten, die Arme vor der Brust verschränkend.
„Ja. Unterschätze sie nicht einen Moment. Ihre Bewegungen. Ihre Haltung. Für mich eindeutig die eines Raubtieres. Glaub mir, unter dieser scheinbar schüchternen Fassade steckte etwas Gefährliches.“
Die Worte klangen sonderbar, weswegen er auflachte. „Die? Ein Raubtier und gefährlich? Das ich nicht lache. Kann es sein, dass auch du ein Auge auf sie geworfen hast?“
„Nein!“ Dieses eine Wort ging in einem bedrohlichen Knurren unter. Fenrir trat einen Schritt zurück, starrte ihn durchdringend an und murrte: „Ich habe dir schon einmal erzählt, ich hege nur für eine Frau ein Interesse ...“
„Die du vor vielen Jahren aus den Augen verloren hast, ja ich weiß. Sie muss ja was sehr besonderes sein, wenn du alle anderen verschmähst.“
Valdis bekam keine Antwort, denn Fenrir drehte auf dem Absatz herum, um in die Dunkelheit des Burggartens zu stapfen.
Er ist echt ein seltsamer Kauz. Schaut nicht einem Rockzipfel hinterher. Ihn muss es damals echt heftig getroffen haben. Wahrscheinlich ist sie schon verheiratet und er straft sich umsonst mit Abstinenz.
Grinsend schüttelte Valdis den Kopf, bevor er sich zurück zum Speisesaal begab, um mit seinen Brüdern noch ein paar Humpen Bier zu heben.
~~~
Naya
Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen das Türblatt und schalt sich eine Närrin. Hatte sie jetzt völlig den Verstand verloren? Wieso nur hatte sie einen so kräftigen Krieger herausgefordert?
Naya hatte ihn unbemerkt im Burggarten unter die Lupe genommen, was ihre Zweifel für den Kampf morgen noch mehr verstärkte.
Ich bin wirklich Lebensmüde. Nicht nur, weil er einen guten Kopf größer ist als ich. Er hat eine Statur wie ein Bär. Die einzigen Vorteile, die ich in diesen Wettstreit mitbringe, sind meine Ausdauer und meine Wendigkeit.
Über sich selbst murrend, nestelte sie an dem Mieder herum, um sich einen Moment später nur in einem Nachtgewand gekleidet auf dem Bett auszustrecken. Sinnierend sah sie zu dem breiten Fenster, durch das das Licht des Mondes hereinfiel. Staubkörnchen tanzen in den schwachen Stahlen, die sie eine Weile beobachtete.
Dann stand sie noch einmal auf. Trat an das Fenster und öffnete es, um die laue Sommernachtsluft auf ihren Zügen zu spüren. Den Blick gen Himmel gerichtet sah sie sich den Sternenhimmel an, bevor sie auf ein Rascheln unterhalb des Fensters aufmerksam wurde.
Hochkonzentriert zwang sie rein ihre Iriden dazu, sich zu denen des Wolfes zu verändern, um so eine besser Nachtsicht zu erhalten. Es hatte sie immens viel Training gekostet, dass sie dies beherrschte, wobei ihre Großeltern nichts davon wussten.
Neugierig sah sie sich um. Doch außer dem Gestrüpp des weitläufigen Burggartens erkannte sie nichts.
Wahrscheinlich nur irgendein kleineres Tier, das sich in die Büsche verirrt hat. Ich sollte endlich schlafen gehen damit ich morgen ...
Wie versteinert starrte sie urplötzlich in himmelblaue Augen.
Nein, das kann nicht sein. Fenrir hat ja gesagt das er und sein Meister nach Pralat reisen. Wobei? Es sind jetzt einige Jahre vergangen, vielleicht ... Sie schüttelte über sich selbst den Kopf, dass sie überhaupt solch einen Gedanken in Betracht zog. Dennoch fixierte sie weiter diese ungewöhnlichen Augen, bevor sie seufzend ihren Blick zurück zum Himmel richtete. „Wie es Fenrir wohl ergeht?“
Naya?
Sie erstarrte vollends. Hatte sie die Stimme gerade wirklich gehört, oder hatte sie sich diese nur eingebildet?
„Jetzt fängst du wirklich an, verrückt zu werden“, schimpfte sie sich. Sie drehte sich vom Fenster weg, als sie die Stimme erneut hörte.
Naya? Bist du es wirklich?
Bevor sie sich versah, sprangen die blauen Augen auf sie zu. Sie schritt hastig rückwärts und ein imposanter, schwarzer Wolf hechtete durch das Fenster zu ihr herein. Er blieb mit einem gebührenden Abstand zu ihr stehen.
Was ... wieso bist du ein Mensch?
Ihre Knie wurden weich. Sie sackte – ihn ungläubig anstarrend – zu Boden. Vor ihr stand tatsächlich ihr Freund aus Kindertagen, nur um einiges größer.
„Fenrir, was ... wieso bist du hier in Rurgold?“ Fragte sie anstatt ihm eine Antwort zu geben. Sie konnte nicht den Blick von diesen tiefblauen Augen nehmen. Schritt für Schritt trat der Wolf auf sie zu, bis seine Schnauze nur noch eine Handbreit vor ihrem Gesicht schwebte.
Mein Lehrer schickte mich aus, damit ich die Kunst des Schwertkämpfens erlerne. Er ist der Ansicht, dass ich das in naher Zukunft benötige. Gleichzeitig zu seinen Worten fing er an, sich zu verändern.
Naya sah fasziniert zu, wie aus dem gigantischen schwarzen Wolf, nach und nach ein Mann wurde. Seine schwarzen, schulterlangen Haare fielen ihm in Strähnen ins Gesicht, die er wie beiläufig hinter die Ohren schob. Ein kurzgehaltener Bart zierte sein kantiges Kinn, ebenso die Wangen. Langsam sah sie an ihm herab. Er kniete vor ihr, die großen Hände auf den Oberschenkeln liegend. Naya war erstaunt, dass er nicht nackt vor ihr saß, was wiederum bedeutete, dass er diese Art von Magie wie sie hervorragend beherrscht. Im Gegensatz zu Valdis, trug Fenrir kein enggeschnittenes Leinenhemd. Doch das täuschte nicht über seinen athletischen Körperbau hinweg.
„Fenrir“, hauchte sie mit erstickter Stimme. „Du ... du bist ...“
„Ein Mensch.“
Sie blinzelte. Einmal. Zweimal. Aber weiterhin saß er als Mann vor ihr. Ein amüsiertes Leuchten in den himmelblauen Augen, zugleich fühlte sie, wie seine Fingerspitzen die ihren berührte. Ihre Kehle schnürte sich zusammen. Ihr Herz stolperte und sie bemerkte, wie ihre Handinnenflächen feucht wurden.
„Du bist ein Wolfskind“, wisperte sie und sah auf seine Hände, die auf ihren lagen.