Читать книгу Syleria - Melanie Mende - Страница 3

1. Eine Gutenacht-Geschichte

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"Erzähl noch mal die mit dem Drachen!"

"Du kannst die Geschichte inzwischen doch schon auswendig", seufzte Tante Sam, die gemeinsam mit Ammy in deren Bett lag um der Achtjährigen, wie jeden Abend, ihre Gutenacht-Geschichte zu erzählen. "Wie wäre es heute stattdessen mal mit einer über die Eisriesen?"

"Bitte Tante Sam! Die mit dem Drachen. Das ist einfach die Beste."

"Na schön. Dann halt die mit dem Drachen."

Die beiden kuschelten sich gemütlich unter die Decke und Tante Sam fing an zu erzählen: "Vor vielen Tausenden von Jahren, als die Welt noch jung war und voll mystischer Energie, entstand ein Land, das heißt Syleria. Es ist ein magisches Land, voller Wunder und fabelhafter Zauberwesen, und alles, was du dir in deinen Träumen jemals vorstellen kannst, ist dort Wirklichkeit. Es gibt geheime Portale, die aus unserer Welt dorthin führen und eines Tages, wenn die Zeit reif ist, werden wir gemeinsam dorthin gehen." An dieser Stelle leuchteten Ammys Augen jedes Mal auf wie zwei Sterne. "Doch noch bevor auch nur ein einziger Elf, Zwerg oder Troll das Licht der Welt erblickte, lebten dort die Urwesen, die Drachen. Die Magie selbst hatte sie erschaffen. Ihre Körper waren bedeckt mit Schuppen aus Mondgestein und in ihren Herzen brannte das Feuer der Sonne. Sie waren so mächtig und zahlreich, dass sie niemanden zu fürchten brauchten. Ganz Syleria war ihr Zuhause.

Doch dann brachte die Magie ein neues Wesen hervor, den Ahn. Ein egoistisches, machthungriges Volk, fähig mächtige Magie zu wirken. Im Gegensatz zu den Drachen, vermehrte sich dieses Volk sehr schnell und war schon bald sehr zahlreich. Bei den Drachen hingegen schlüpfte nur alle paar Jahrzente ein Ei und es dauerte beinahe einhundert Jahre, bis ein Drache ausgewachsen war. So kam es, dass die Ahn die Drachen bald um ein Vielfaches in ihrer Anzahl übertrafen. Sie beanspruchten Gebiete, die schon seit Anbeginn der Zeit die Heimat der Drachen waren, und nahmen ihnen immer mehr Lebensraum. Die Drachen ließen sie gewähren, denn trotz ihrer Stärke waren sie ein friedliches Volk. Als sie jedoch schließlich sogar versuchten, die Drachen zu zähmen und ihrem Willen zu beugen, kam es zur Rebellion. Die Drachen waren nicht länger bereit, ihr Schicksal einfach hinzunehmen. So kam es zu den Drachenkriegen, die ganze zweihundert Jahre andauerten. Die Drachen waren mächtig, doch die Ahn waren ihnen zahlenmäßig einfach überlegen. Am Ende war nur noch ein einziger Drache übrig. R'khela, ein steinaltes Weibchen, das sich, einsam und allein, in die Gipfel des Ramala-Gebirges zurückzog, um dort in Frieden ihr Ende abzuwarten.

Eines Tages ließ sich eine Ahn-Familie in ihrer Nähe nieder. Es war ein Vater, allein mit seinen zwei Kindern, einem Jungen von etwa vierzehn Jahren, und einem Mädchen, Penthesilea, nicht älter als acht."

"Genau so alt wie ich!"

"Ja, mein Schatz, genau so alt wie du. Wobei die Jahre in Syleria anders vergehen als hier bei uns. Die Tage dort sind länger. In Menschenjahren war sie daher wohl etwas älter. Der Vater war sehr arm, und seit seine Frau gestorben war, musste er sich allein um die beiden Kinder kümmern. Er hatte Gerüchte gehört, dass es hier in den Bergen seltene Kristalle zu finden gab, die man zu einem guten Preis verkaufen konnte. Und tatsächlich wurde er fündig. Die Kristalle machten ihn zwar nicht reich, brachten ihn und seine Kinder aber zumindest durch den Winter. Doch Kristalle sind nicht wie das Korn auf den Feldern. Sie wachsen nicht jedes Frühjahr nach. Und so konnten sie nie lange an einem Ort bleiben und zogen ständig weiter und kamen der Höhle, in der R'khela lebte, immer näher. Als das kleine Mädchen einmal allein unterwegs war, um Kräuter zu sammeln, stieß sie auf die Höhle, und von Neugier getrieben, ging sie ein Stück hinein. Als sie den schlafenden Drachen erblickte, wollte sie erst voller Angst fliehen - man hatte ihr beigebracht, dass Drachen blutrünstige Monster waren - doch irgendetwas hielt sie zurück. Da öffnete R'khela die Augen und sah das kleine Mädchen an. Als sich ihre Blicke trafen, spürte das Mädchen die Traurigkeit und Einsamkeit des Drachen, und R'khela die Warmherzigkeit und Güte des kleinen Mädchens.

Am nächsten Tag kam das Mädchen wieder und auch am darauf folgenden Tag. Der Drache und das Mädchen freundeten sich miteinander an und zum ersten Mal seit unzähligen Jahren, war R'khela nicht mehr einsam.

Irgendwann fragte der Bruder des Mädchens sich, wohin seine Schwester so oft verschwand und bat sie, ihn einmal mitzunehmen, doch sie weigerte sich, aus Angst, er würde ihrem Vater von dem Drachen erzählen. Der Vater war kein schlechter Mann, doch das Leben hatte ihn hart gemacht und die Schuppen eines Drachen waren mehr wert als alle Kristalle, die sie hier im Gebirge jemals würden finden können.

Doch eines Tages folgte der Bruder ihr heimlich bis zu der Höhle. R'khela und das Mädchen bemerkten ihn nicht. Als er den Drachen sah, rannte er sofort zurück zu seinem Vater und erzählte ihm alles. Der Vater war außer sich, als er von dem Drachen erfuhr und davon, dass seine Tochter ihn so lange vor ihm verheimlicht hatte. Er heuerte eine Gruppe starker Männer an, mit dem Versprechen, sie reich zu entlohnen, sobald sie den Drachen erlegt hätten. Als das Mädchen begriff, was vor sich ging, versuchte sie die Männer aufzuhalten, doch ohne Erfolg. Als sie die Höhle erreichten, bereiteten die Männer mächtige Zauber vor, denn sie wussten, mit normalen Waffen war ein Drache nicht zu besiegen. Das Mädchen nutze einen unbeobachteten Moment und rannte in die Höhle hinein. Schützend stellte sie sich vor R'khela und breitete die Arme aus. Sie würde den Drachen nicht im Stich lassen. Ihr Vater rannte panisch hinter ihr her und die anderen Männer folgten ihm, ihre Zauber im Anschlag. Verzweifelt versuchte er, seine Tochter von dem Drachen wegzuholen, doch jedes Mal, wenn er näher kam, fauchte R'khela ihn drohend an. Den Söldnern war das Leben des Mädchens nicht viel Wert und langsam verloren sie die Geduld. Schließlich feuerte einer von ihnen seinen Zauber auf den Drachen ab und traf R'khela am Rücken. Der Drache heulte vor Schmerz auf und stieß den Männern einen Feuerball entgegen. Jetzt griffen auch die anderen an und ein Kampfzauber nach dem anderen prasselte auf den Drachen ein. Doch statt sich zu verteidigen, legte R'khela schützend ihre riesigen Flügel um das kleine Mädchen. Die Freundschaft hatte ein so starkes Band zwischen ihnen geschmiedet, dass das Mädchen die Macht des Drachen in ihrer Seele spürte. Die Wut und die Verzweiflung brannten sich in ihr Herz, so heiß, dass es aufloderte, bis sie selbst Feuer fing. Sie stand in Flammen, doch spürte die Hitze nicht, und eine gewaltige Macht staute sich in ihr auf, bis der Druck so groß war, dass sie sich in einer gewaltigen Explosion entlud. Danach war alles still. Keiner der Männer hatte überlebt. Alles, was von ihnen blieb, war ein Haufen Asche. Und dort, wo vorher der Drache und das Mädchen gewesen waren, lag nun ein großes, steinernes Ei, das noch vor Hitze glühte.

Das Ei lag viele hundert Jahre verborgen in der Höhle. Ganze Königreiche kamen und gingen. Die Ahn wichen den neun großen Völkern. Ein neues Zeitalter begann. Und dann, endlich, schlüpfte das Ei. Ein kleiner Drache und ein junges Mädchen kamen gemeinsam daraus hervor. R'khela und Penthesilea, die erste Drachenreiterin. Wenige Jahre später legte R'khela drei weitere Eier und wieder schlüpften daraus ein Drache und ein kleines Mädchen. So gründete sich der Stamm der Hochlandamazonen, ein rein weiblicher Stamm von kriegerischen Drachenreitern. Sie werden nicht geboren, sondern schlüpfen gemeinsam mit einem Drachen aus einem Ei. Niemand weiß, wie das möglich ist. Es ist Magie. Die Verbindung mit ihrem Drachenzwilling hält ein Leben lang und ebenso wie die Drachen, leben sie viele hundert Jahre lang."

*

Das Wetter war regnerisch in jener Nacht und Nebel stand in der Luft. So war es in letzter Zeit immer häufiger, als hätte sich tiefe Verzweiflung über das Land gelegt. Die Zeit schien irgendwo auf halber Strecke hinter ihnen zurückgeblieben zu sein und die monotone Landschaft aus milchiger Nebelsuppe glitt endlos an ihnen vorbei. Fynnick wusste nicht, wie viel Zeit inzwischen vergangen war. Sein Schädel dröhnte, als er vorsichtig versuchte, sich aufzusetzen. Der Karren, auf dem er sich befand, holperte über einen steinigen Feldweg und bei jeder Erschütterung spürte er, wie sich die auf seinen Rücken gerichtete Speerspitze tiefer in sein Fleisch bohrte. Man hatte ihm seine Hände auf dem Rücken gefesselt, was ihn wahrscheinlich am Zaubern hindern sollte. Allerdings war diese Maßnahme eigentlich ziemlich überflüssig, da er das Zaubern mit magischen Gesten gar nicht beherrschte. Bisher war er über die erste Stufe, das Zaubern mit magischen Formeln, nicht hinaus gekommen, doch das wussten seine Wachen nicht und er hatte nicht vor, es ihnen zu verraten. Die Wache, die ihm gegenüber saß, ein stämmiger Zwerg mittleren Alters, hätte sich bei seiner Verhaftung fast in die Hosen gemacht, als er mit der Hand ein unbeholfenes Runenzeichen formte. Seine Handhaltung war miserabel und es hätte natürlich keine Wirkung gehabt, es sollte jedoch auch nur zur Ablenkung dienen. Zwerge haben von Natur aus eine starke Abneigung gegen Magie, da sie dagegen hochgradig allergisch sind, und Fynnick hoffte, den Zwerg so für einen Moment aus der Fassung zu bringen. Das Manöver hätte auch fast Erfolg gehabt, und ihm beinahe die Flucht ermöglicht, wenn die andere Wache nicht ausgerechnet ein Grum gewesen wäre. Die Grum sind eng verwand mit den Kobolden und zeichnen sich aus durch absolute Phantasielosigkeit. Das macht sie Magie gegenüber immun. Es heißt, es hätte noch nie jemand einen Grum lächeln sehen. Fynnick war sich allerdings fast sicher, ein leichtes Zucken der Mundwinkel bemerkt zu haben, kurz bevor ihn die Keule des Grum außer Gefecht gesetzt hatte.

Die Wachen hatten ihm offenbar sämtliche mathemagischen Utensilien abgenommen. Das Manameter, sein Formelbuch, den Chronomatographen, selbst seinen Hut, seinen verdammten Hut. Was glaubten sie denn, was er mit einem alten abgetragenen Lederhut in der Lage war zu tun? Wahrscheinlich reichte bereits seine spitze Form und die breite Krempe, die ihn offensichtlich als Hut eines Magiers kennzeichneten, um die Wachen nervös zu machen. Wer konnte es ihnen schon verdenken, nach dem was in Magna Meridia vorgefallen war? Die Sachen lagen nun, fein säuberlich aufgestapelt, auf der Bank neben dem Zwerg. Was Fynnick daran am meisten ärgerte war, dass der Zwerg mit seinem dicken Hintern zur Hälfte auf dem Hut saß und ihn völlig zerknautschte. Der Hut mochte zwar alt und aus der Mode gekommen sein, doch er hatte für ihn einen persönlichen Wert, und zu sehen wie er von den zwergischen Pobacken malträtiert wurde, machte ihn innerlich wahnsinnig. Gerade als er sich darüber beschweren wollte, fiel dem Zwerg auf, dass er wach war.

“Hey, Grenn. Sieht aus als issa endlich uffjewacht.”, teilte der Zwerg der anderen Wache mit, die hinter Fynnick saß. Sofort bohrte sich der Speer noch etwas fester in seinen Rücken. Fynnick wagte einen kurzen Blick über die Schulter und erkannte den Grum sofort wieder.

“Blick nach vorn!”, kläffte der und versetzte ihm einen heftigen Stoß in die Rippen, so dass er sich vor Schmerzen krümmte. “Sieh ihm nicht in die Augen Börk! Wir wissen nicht, ob er per Gedanken zaubern kann.”

Der Zwerg zuckte erschrocken zusammen. Daran hatte er offenbar noch gar nicht gedacht. Von da an starrte er nur noch wie gebannt auf seine klobigen Füße. Schnell rechnete sich Fynnick seine Chancen aus, unbemerkt von diesem Karren zu verschwinden. Er konnte unmöglich in Gu’ul einsitzen. Das was er getan hatte war schlimm, ja, doch es war ein Unfall, und jetzt wollte man ihn bestrafen wie einen Schwerverbrecher. Gu’ul war das Hochsicherheitsgefängnis von Syleria. Hier brachte man die schlimmsten der Schlimmen unter. Zuvor hatte man sich den Abschaum der Gesellschaft vom Hals geschafft, indem man ihn nach Dunderia, einer düsteren, auf der Rückseite gelegenen Schattenwelt, verbannt hatte. Doch jemand hatte den Schlüssel zum Portal in diese Welt verlegt, und so gründete man vor knapp fünfhundert Jahren Gu’ul, was wörtlich übersetzt soviel hieß wie ‘Mülleimer’. Er war Mathemagier, ein Nerd, kein Kämpfer. Wie lang konnte er in so einer Umgebung wohl überleben? Nein, er musste verschwinden, und zwar schnell. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Bis zum Gefängnis war es nicht mehr weit und hatten sie Gu’ul erst einmal erreicht, würde es bedeutend schwieriger werden zu verschwinden. Er brauchte einen Plan, ein Ablenkungsmanöver. Verstohlen sah er sich auf dem Karren um. Gemeinsam mit ihm fuhren noch etwa zwölf andere Gefangene ihrem Schicksal entgegen. Die Resignation stand ihnen in ihre Gesichter geschrieben. Weiter vorn saß noch eine weitere Wache. Es schien fast, als würde sie dösen. Kaum einer kümmerte sich um das, was um ihn herum geschah. Direkt neben ihm saß ein riesiger Gebirgstroll. Die waren bekanntlich nicht sehr helle, dafür aber unglaublich stark. Das könnte nützlich sein. Sein Blick viel auf eines der Bretter im Boden des Karrens, das sich verzogen hatte und nun an einer Seite etwas hoch stand. Börk, die Wache ihm gegenüber, nieste lautstark und wischte sich die Nase mit dem Ärmel ab. Der Zwerg rückte noch ein Stück von ihm weg. Offenbar hatte er Angst, zu viel von seiner Magie abzubekommen, und sich etwas einzufangen. Fynnicks Hirn fing, wie so oft, von allein an zu arbeiten. Seine Gedanken rasten und zeigten ihm die verschiedenen Möglichkeiten auf. Er wägte Wahrscheinlichkeiten und Risiken ab, bis er alle Eventualitäten einkalkuliert hatte. Ja, das könnte funktionieren.

Fynnick starrte Börk direkt ins Gesicht und fing an, unverständliche Worte zu murmeln. Er hoffte, der Zwerg würde es für Beschwörungsformeln halten. Börk hingegen versuchte Fynnick möglichst nicht anzusehen, doch sein Blick huschte immer wieder zu ihm zurück. Der Zwerg wurde immer unruhiger und rutschte nervös auf seinem Platz hin und her.

„Grenn, er hört nich uff mich anzestarrn. Watt murmelt der denn de janze Zeit?”

„Ignorier ihn einfach.“

„Aber Grenn, er glotzt mir direkt ins Jesicht. Ich glob ich krich schon Usschlach. Et juckt schonn überjall.“

„Das bildest du dir nur ein.“

„Können wa’ nich enfach de Plätze toschen? Du bis doch immun. Dir kanna ja nix.“

Genervt verdrehte der Grum die Augen. „Na schön. Lass uns tauschen.“

Die beiden Wachen standen auf und versuchten sich auf dem schaukelnden Karren aneinander vorbei zu schieben. Das läuft ja noch viel besser als erwartet, dachte sich Fynnick im Stillen und flüsterte: “ligna mova”. Die lose Planke im Boden hob sich noch etwas weiter an und der Zwerg blieb daran hängen. Er geriet ins Stolpern und fiel direkt auf den Gebirgstroll. Der Troll hob reflexartig die Arme und zerriss dabei seine Fesseln. Überrascht blickte er auf seine befreiten Hände. „Uuups,‘tschuldigung!“, sagte er verlegen und kicherte mit der Stimme von tausend Kieselsteinen. Die beiden Wachen starrten den Troll mit vor Schreck geweiteten Augen an, unfähig sich zu bewegen, und auch einige der anderen Gefangenen hatten bemerkt was vor sich ging und erwachten aus ihrer Lethargie. Für ein paar Sekunden geschah absolut gar nichts. Alle warteten, was als nächsten geschehen würde. Fynnick hielt sich bereit. Mit aufgeregter Stimme rief er: “Bringt euch in Sicherheit! Der Troll ist frei!” Dann brach das Chaos aus. Die Gefangene sprangen von ihren Sitzen auf und versuchten so viel Platz wie möglich zwischen sich und den riesigen Troll zu bringen. Der Karren kam gefährlich ins Schwanken und die Wachen hatten alle Mühe, die Situation wieder unter Kontrolle zu bekommen.

„Setzt euch sofort wieder hin und beruhigt euch! Sofort!, brüllte Grenn und zielte mit dem Speer auf den Troll.

„Das nicht nett!”, entgegnete der Troll entrüstet. “Musst sagen ‘Bitte’. Du keine Manieren?”, grummelte er, und verschränkte die Arme vor seiner Brust, die man nur als massiv beschreiben konnte.

„Willse dich echt mit nem Troll anlejen?”, murmelte Börk Grenn hinter vorgehaltener Hand zu.

“Im Namen der Stadtwache fordere ich dich auf, dich sofort wieder hinzusetzen!” Grenns Stimme bekam langsam einen leicht hysterischen Unterton. Die anderen Gefangenen grölten bei dem Anblick, wie ein achtzig Zentimeter großer Zwerg und ein einmeterzwanzig großer Grum versuchten, einen fast zwei Meter großen Troll in ihre Gewalt zu bringen. Die beiden Wachen ergriffen jeder einen Arm des Felsbrockens, doch der hob sie mühelos in die Luft und wirbelte sie herum.

„Oh, ‘tschuldigung. Tut Umir leid. Lassen sofort wieder runter.“

Er ließ die beiden wieder auf den Karren fallen. Die rappelten sich auf und zielten verzweifelt mit ihren Speeren auf ihn.

„ERGIB DICH!“, brüllten sie ihn an. Es wirkte, als wollten sie ein Gebirge mit einem Zahnstocher aufspießen.

Fynnick nutzte die Gelegenheit des Tumults um sich aus dem Staub zu machen. Eine kurze Zauberformel später hatte er seine Fesseln gelöst und sich seine Sachen geschnappt. Unbemerkt ließ er sich hinten über vom Wagen fallen, rollte sich rückwärts ab, landete lautlos auf seinen Füßen und setzte sich noch in der selben Bewegung seinen geliebten Hut wieder auf. Ah, ja, das war besser. Niemand bemerkte etwas, als er, mit der für Waldgnome typischen Gewandtheit, im Unterholz am Wegrand verschwand. Erst viel später, wenn sich die Aufregung wieder gelegt, und der Troll sich tausendmal für die an seiner Felsenbrust zerbrochenen Speere entschuldigt hatte, würde einer der beiden Wachen auffallen, dass er fehlte. Währenddessen rannte er durch dichten Nebel, immer tiefer in den Wald hinein, bis er schließlich die Orientierung verlor. Er konnte kaum noch die Hand vor Augen sehen und hätte nicht einmal sagen können, ob er nicht vielleicht schon seit Stunden im Kreis lief. Dann war es, als durchschreite er eine magische Barriere. Ein leichter Druck, der plötzlich nachgab, ein elektrisches Kribbeln auf der Haut, dann lichtete sich der Nebel unvermittelt. Der Wald hatte sich verändert. Die Bäume, die Pflanzen, selbst die Geräusche. Das hier war nicht mehr der Wald, den er kannte. Er lief noch lange Zeit weiter und versuchte herauszufinden, wo er sich befand. Nichts hier kam ihm auch nur im Entferntesten bekannt vor. Was sollte er jetzt nur tun? Er hatte nicht den Hauch einer Ahnung wo er hier war. Und selbst wenn er es gewusst hätte, zurück nach Hause konnte er nicht. Dort würde man als erstes nach ihm suchen. Er dachte an Tilly, das bezauberndste Gnommädchen, das er jemals gesehen hatte. Er wünschte, er hätte nicht abgelehnt als sie ihn beim letzten Sonnwendfeuer zum Tanzen aufgefordert hatte. Jetzt würde er wohl nie wieder die Gelegenheit dazu bekommen. Müde und frustriert ließ er sich unter den herabhängenden Zweigen einer großen, weißen Weide nieder. Vielleicht konnte er sich eine Weile in diesem merkwürdigen Wald verstecken, bis sich die Lage etwas beruhigt hatte. Er hoffte nur, dass er dann auch wieder einen Weg hinaus finden, und nicht für immer hier herumirren würde. Vielleicht spielten ihm die Dunkelheit und seine Müdigkeit auch einen Streich und er brauchte einfach nur etwas Schlaf. Danach sah alles bestimmt schon ganz anders aus. Erschöpft legte er sich in das Laub unter der Weide. Er bemerkte gerade noch wie sie mitleidig etwas Laub von ihren Ästen schüttelte und ihn damit bedeckte. Ein gegähntes: „Danke schön!“ schaffte er gerade noch bevor er einschlief.

*

Am nächsten Morgen wurde er von einer wispernden Stimme geweckt: „Zauberer, Zauberer, Fynnick, wach auf! Es ist schon später Morgen!“

Verschlafen öffnete er die Augen und sah sich um. „Wie? Wer spricht dort?“

„Na wir!“, kicherte es im Wind.

„Was? Wer ist wir?“ Sofort war er hellwach. Er sprang auf seine Füße und blickte sich suchend um. Hatten die Wachen ihn etwa doch gefunden? „Wo seid ihr? Zeigt euch!“

„Wir sind hier! Und ihr! Und hier auch!“

Die Stimmen schienen von überall zugleich zu kommen, doch er konnte niemanden entdecken.

„Wer seid ihr? Was wollt ihr von mir? Los! Zeigt euch!“ Fynnick ging in Verteidigungsposition und konnte spüren, wie sich die Magie in ihm anfing zusammenzuballen. Wie Elektrizität durchströmte sie seinen Körper bis in die Fingerspitzen. Funken knisterten auf seiner Haut. Angestrengt versuchte er sie zurückzuhalten. Bloß nicht schon wieder ein Kurzschluss.

„Wir sind hier oben, Fynnick!“

Er sah nach oben und kniff die Augen zusammen. Es dauerte einen Moment, doch dann sah er sie. Fast unsichtbar tanzten sie zwischen den Blättern. Ihre winzigen silbernen Flügel glitzerten wie Tau im Licht und mit ihrer grünen Haut waren sie fast nicht zu sehen. Die Anspannung viel von ihm ab und die Magie entlud sich in den Boden. Fasziniert beobachtete er die kleinen geflügelten Wesen.

„Wer seid ihr und woher kennt ihr meinen Namen?“, rief er zu ihnen hoch. Jetzt kamen sie einer nach dem anderen herabgesaust und umschwirrten ihn.

„Wir sind nur Funkelfeen, und du redest im Schlaf, Zauberer!“

Funkelfeen - Feridae Luminae - er hatte schon mal etwas über sie gelesen, eine Untergattung der Lichtelfen, die in den Wäldern Sylerias lebte, und dort tagsüber die Sterne putzte, wenn die sich zum Schlafen in die Baumkronen legten. Er hatte sie sich irgendwie anders vorgestellt, nicht so … nervig. Sie zupften und piksten an ihm herum, als wäre einfach alles an ihm unheimlich interessant. Einer wuschelte in seinen Haaren, ein anderer versuchte in eines seiner langen, spitzen Ohren zu krabbeln. Langsam wurde es ihm zu bunt und er versuchte, sie mit den Händen zu verscheuchen. Doch das schien sie nur zu belustigen und sie umflatterten ihn munter weiter.

Da kam plötzlich, wie aus dem Nichts, eine starke Brise auf und die Blätter rauschten im Wind. Die nervigen kleinen Quälgeister sahen alle aufgeregt in die selbe Richtung, ein Loch im Baumstamm der großen weißen Weide, unter der er geschlafen hatte, etwas oberhalb seines Kopfes, und wisperten sich in einer merkwürdigen Sprache etwas zu. Dann stellten sie sich alle neben dem Loch auf und machten etwas, was an eine Verbeugung erinnerte. Er fragte sich, was das alles wohl zu bedeuten hatte, als zwei männliche Feen in winzigen, silbernen Rüstungen und mit winzigen Speeren aus dem Loch hervor flogen und links und rechts davon Stellung bezogen. Ihnen folgte eine zwar kleine, aber dennoch Ehrfurcht einflößende Gestalt, mehr schwebend als fliegend, die sich auf dem Rand des Loches niederließ. Ihre Haut schillerte im Sonnenlicht wie ein Tautropfen. Sie sah etwas anders aus, als die anderen Funkelfeen. Ihre Haut war nicht grün, sondern so hell, dass sie fast weiß wirkte. Sie hatte auch keine Flügel, sondern schien einfach durch die Luft hindurch zu gleiten. Sie war makellos schön und als sie zu sprechen begann, klang es wie der schönste Gesang in seinen Ohren und ihre Stimme hörte sich an, als würde sie von einem Windspiel begleitet: „Man hat mir bereits von dir berichtet, Fremder! Du bist einem Gefangenentransport entflohen, habe ich recht?“

Woher wusste sie das bloß? Fynnick lief bis in seine Ohrspitzen rot an und stammelte als er antwortete: „Nun ja, äh, ja das stimmt, a-aber es ist nicht so wie es aussieht. Es war ein Unfall! Wirklich! Ich wollte niemandem schaden! Nur leider will mir das niemand glauben.“ Das war die Wahrheit und unter ihrem durchdringenden Blick hatte er das Gefühl, gar nicht die Macht zum Lügen zu haben.

„Hm.” Antwortete sie nur und schien ihm bis in die Seele zu blicken.“Was war es denn für ein Unrecht, das du begangen haben sollst?“

Fynnick räusperte sich verlegen, bevor er fortfuhr: „Es war alles meine Schuld. Ich wollte unbedingt an der Aufnahmeprüfung für die MMU, die Magna Meridia University teilnehmen. Deshalb bin ich in die Hauptstadt gereist, um mich einzuschreiben. Als ich dort ankam ging ich sofort zur Mathemagischen Fakultät. Der Magicus Clausus liegt momentan bei 1,6, aber ich hatte Tag und Nacht geübt und ich wusste, ich konnte es schaffen. Dort musste sich jeder in ein Register eingetragen, mit seinem Namen, seinen Vorkenntnissen, und wo er bisher ausgebildet worden war. Als ich sagte, dass ich bisher von meiner Großmutter unterrichtet worden bin, hat man mich nur ausgelacht. Ohne eine echte arkane Schule besucht zu haben, hätte ich keine Chance, sagten sie. Außerdem sei ich noch viel zu jung. In meinem Alter könne ich wahrscheinlich höchstens magisch eine Kerze entzünden. Ich solle wieder nach Hause gehen und meine Nase lieber wieder in meine Bücher stecken. Ich wollte ihnen beweisen, dass sie falsch lagen. Ich mein, ja, ich bin zwar erst neunundvierzig und als Gnom offiziell noch nicht erwachsen, aber es sind nur noch ein paar Monate bis zu meiner Gnomitzwa. Und nur weil ich noch nicht über hundert bin, heißt das ja nicht, dass ich nichts kann. Mir fehlt nur praktische Erfahrung. Also sammelte ich meine Magie, um einen Feuerball auf meiner Hand tanzen zu lassen. Doch ich war nervös und das machte meine Magie instabil und statt eines kleinen Feuerballs, kam es … naja … zu einer Explosion. Ich bekam Panik und rannte fort. Als die Stadtwache mich schließlich gefangen nahm, warf man mir dann auch noch vor, ich hätte versucht zu fliehen.” Nervös trat Fynnick von einem Bein aufs andere. Warum hatte er ihr das alles nur erzählt? Warum nahm er nicht die Beine in die Hand und sah zu, dass er Land gewann? Vielleicht hatten sie bereits die Wache informiert, und versuchten ihn jetzt hinzuhalten, bis sie eintraf um ihn wieder festzunehmen. Doch irgendetwas an dieser winzigen, zierlichen Gestalt ließ ihn wie angewurzelt stehen bleiben. Er rechnete mit einer ganzen Reihe von Erwiderungen auf sein Geständnis, doch bestimmt nicht mit dieser.

“Welches Jahr haben wir?”, fragte ihn die Feenkönigin.

Fynnick fand die Frage reichlich merkwürdig. “Jahr 3446 des Zeitalters der Neun.”

Das schien sie zu bestürzen. “Fast 450 Jahre. So viel Zeit. Sag, ist Lord Marfan noch im Portal gefangen?”

Fynnick nickte. “Ja, ist er. Doch seine Anhänger werden zahlreicher. Früher oder später wird es ihnen gelingen, ihn zu befreien.” Sie schien verwirrt zu sein, vielleicht war sie krank.

“Nein, nein, das werden die Erzmagier nicht zulassen. Sie werden dafür sorgen, dass die Portale geschlossen bleiben.” Die Feenkönigin blickte ihn nachdenklich an. “Hast du Familie, die auf dich wartet?”

Was ging sie das an? Wozu wollte sie das wissen? Um sicher zu gehen, dass niemand nach ihm suchen würde, wenn sie ihn umbrachte und hier im Wald verscharrte? “Ja, hab ich, und sie ist bestimmt schon ganz krank vor Sorge. Ich sollte mich auch langsam echt beeilen und mich wieder auf den Heimweg machen.”

Sie sah ihn an, als wolle sie ihn mit ihrem Blick durchbohren. Schließlich nickte sie und sagte: „Nein, hast du nicht. Da ist niemand, der auf dich wartet. Das ist gut.”

Sie hatte Recht. Er hatte gelogen. Doch woher wusste sie das? Aus seiner Familie lebte schon lange niemand mehr. Zumindest nicht auf dieser Seite von Syleria, und an die andere Seite wollte er nicht denken. Als Kind hatte er nur seine Großmutter gehabt, die ihn aufgezogen und ihm alles über Magie gelehrt hatte. Doch sie war vor fünf Wintern im Alter von zweihundertachtzig Jahren verstorben, und alles was Fynnick von ihr geblieben war, war ihr Hut.

Jetzt würden sie ihn bestimmt gleich abmurksen. Sie waren zwar klein, aber viele. Im Schwarm konnten sie bestimmt einiges ausrichten. Doch sie machten gar nicht den Eindruck, als wollten sie ihn angreifen. Stattdessen fragte ihn die Königin: “Und was willst du jetzt tun? Man wird überall nach dir suchen.“

Fynnick zuckte unschlüssig mit den Schultern. „Ich werde versuchen irgendwo ein Versteck zu finden. Eine Weile untertauchen. Hoffen, dass man mich irgendwann vergisst. Ähm. Apropos. Ihr könnt mir nicht zufällig sagen, wo ich hier überhaupt bin?“

Die Königin schmunzelte wissend. “Dies hier ist der Morig`Paratrion, der ewige Sommerwald. Er ist alles, was von meinem Reich geblieben ist.”

Morig`Paratrion, der ewige Sommerwald, der Lichtbringer. Fynnick brauchte eine Sekunde, um zu begreifen was sie gesagt hatte. Dieser Wald war eine Legende. Etwas, das jedes Kind in Syleria kannte und nie jemand mit eigenen Augen zu Gesicht bekam. Hier wurde das Sonnenfeuer in einer geheimen Drachenschmiede geschmolzen, und dann in die Kristallburg gebracht. Dort entflammte es das ewige Sonnenfeuer, wurde durch den Prismenkristall zu Sonnenstrahlen gebündelt, und über das Land geschickt. Sein Gegenstück war der Morig`Randor, der ewige Winterwald. Dort wurden die Monde in riesigen Steinbrüchen von den Eisriesen abgebaut, um auch sie in die Kristallburg zu schaffen. Die Mondkanone schoss sie dann von dort aus an den Himmel. Gemeinsam kontrollierten sie den Zyklus der Zeit. Sie waren Alpha und Omega, der Anfang und das Ende. Ein Rad, dass sich schon seit ewigen Zeiten drehte.

Als Fynnick noch klein war, hatte ihm seine Großmutter oft Geschichten über diese beiden Wälder erzählt. Es waren Orte, die zwischen den Welten existierten, zu einem Mythos geworden, seit hunderten von Jahren verschollen. Schon viele hatten sich auf die Suche nach ihnen gemacht, doch es gab nur noch wenige, die das Geheimnis kannten, wie man sie finden konnte. Früher einmal, in besseren Zeiten, waren sie ein Teil von Syleria, und ein jeder hatte sie betreten können. In ihnen befanden sich die Portale, Tore, die in Syleria hinein und wieder hinaus führten und einst hatten auch viele Wesen aus anderen Welten Syleria besucht. Doch seit dem Tag der großen Dunkelheit, dem Tag als der dunkle Lord Marfan, der große Schatten, zum ersten Mal sein wahres Gesicht zeigte, waren sie unerreichbar für jeden, der die geheimen Pfade nicht kannte. Nachdem man es geschafft hatte, Lord Marfan in dem Portal in Morig`Randor, dem Minas Dor, zu bannen, hatte der Elementarzirkel, die mächtigsten Magier Sylerias, den Wald ein Stück aus der Raumphase gerückt, damit der dunkle Lord niemals befreit werden, und nach Syleria zurückkehren konnte. Die beiden Wälder waren untrennbar miteinander verbunden, wodurch auch der Morig`Paratrion aus der Zeitlinie herausfiel. Zu der Zeit verschwand auch die hochschwangere Großkönigin Eleriseja, die Vorsitzende des Großen Rats der Neun. Man nahm an, dass Marfan etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hatte. Sein Hass auf die Großkönigin und ihre politischen Ansichten war allgemein bekannt. Er hatte ihr nie verziehen, dass sie seine Mutter ins Exil geschickt hatte. Ohne Führung zerfiel der Große Rat und Syleria versank in ein Chaos, das nun schon seit hunderten von Jahren währte. Die verschiedenen Völker mieden sich gegenseitig und misstrauten sich. Gemeinsame Entscheidungen für das Wohl aller in Syleria wurden schon lange nicht mehr getroffen. Immer häufiger kam es zu kriegerischen Auseinandersetzungen.

Die Sylerianer spalteten sich in zwei Lager. Die Elerisejer, die das Andenken der Großkönigin hochhielten, und den Großen Rat wieder einsetzen wollten, und die Marfaner, die einen einzigen starken Führer an ihrer Spitze sehen wollten, Lord Marfan, der, von der Zeit unberührt, im Portal gefangen war, und auf seine Befreiung wartete. Der dunkle Lord hatte viele Anhänger unter den Dunkelwesen Sylerias, die im Verborgenen für ihn arbeiteten und nach einem Weg suchten, ihren Meister zu befreien. Sie versteckten sich in den Wäldern von Randor und suchten dort nach den geheimen Pfaden, die in den Winterwald hinein führten.

Nachdenklich sah ihn die Feenkönigin an. Sie winkte eine männliche Fee zu sich heran, dessen Kleidung darauf schließen ließ, dass er ein besonderes Amt inne hatte. Wahrscheinlich war er ihr Berater. Sie sprach kurz mit ihm in ihrer Sprache. Der Berater schaute erst erschrocken und gestikulierte dann wild in Fynnicks Richtung. Mit einer eleganten Handbewegung schnitt sie ihm das Wort ab und der Berater verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust. Dann wand sie sich wieder zu Fynnick um und sagte: „Als Lichtelfe kann ich die Energie wahrnehmen, die ein Wesen umgibt. Seine Aura, wenn man so will. Und ich sehe, dass deine rein und hell ist. Da du keine Gefahr für uns bist, habe ich beschlossen, dass du hier bleiben kannst, wenn du das wünschst. Kaum einer kennt heute noch die geheimen Pfade. Daher ist es wohl einer der sichersten Orte Sylerias. Bei uns würde man dich nicht finden. Hier stündest du unter meinem Schutz. Das gilt jedoch nur für diesen Wald, denn über seine Grenzen hinaus, besitze ich keine Macht mehr.“

Fynnick zögerte keine Sekunde. „Euer Majestät, das wäre hervorragend! Ich weiß gar nicht, wie ich euch danken soll! Danke, habt vielen Dank! Ich hoffe, ich werde euch eure Güte eines Tages zurückzahlen können.“

„Etwas sagt mir, dass einst ein Tag kommt, an dem ich deine Hilfe brauchen werde. Dann hoffe ich, dass ich auf dich zählen kann.“

„Ja,! Natürlich! Absolut! Ihr könnt euch auf mich verlassen!“

„Gut! Dann möchte ich dir noch ein kleines Geschenk machen.“

Gebieterisch hob sie ihre Arme und wieder kam eine starke Brise auf. Hinter ihm knackte es im Unterholz und als er sich danach umwand sah er, wie ein kleiner Sprössling aus ihm hervorbrach, rasch wuchs, die erste Borke bildete, sich Äste und Blätter entwickelten, bis eine große und stattliche Eiche mit einem Stamm, so dick wie der Bauch eines Riesen vor ihm stand. Die Wurzeln öffneten sich zu einem Portal und als er hinein sah, konnte er Stufen erkennen, die in den Baum hinein führten. Ein Wohnbaum. Von denen hatte er schon mal gehört. Früher gab es viele davon, doch dann hatte man versucht, ein Geschäft aus ihnen zu machen. Sie zu vermieten, umzupflanzen, nach Kundenwünschen zu gestalten. Das Problem an der Geschichte war nur, dass es sich bei den Wohnbäumen nicht um Dinge, sondern um lebende Wesen mit einem eigenen Bewusstsein handelte. Und eines Nachts waren sie alle einfach verschwunden. Sie warfen ihre Besitzer vor die Tür und setzten sich in Bewegung. Seitdem nannte man sie den Wandernden Wald. Es gab immer mal wieder Gerüchte, jemand hätte ihn gesehen, doch die bestätigten sich nie.

„Wenn sich die Einrichtung verändern soll, oder du noch ein weiteres Zimmer wünschst, musst du es dem Baum nur sagen.“

Als er sich umdrehte um ihr noch einmal zu danken, sah er nur noch, wie sich all die kleinen Wesen einfach in glitzernden Staub auflösten. „Danke, das werde ich euch nie vergessen.“, sagte er mehr zu sich selbst, mit einem dankbaren Blick zu der Stelle, wo sie gerade eben noch gestanden hatte. Sie hatte ihm Zuflucht gewährt und ihm einen Ausweg aus einer aussichtslosen Situation geboten. Wie konnte er ihr das jemals vergelten? Er hoffte, es würde sich eines Tages die Gelegenheit bieten. Dann setzte er zum ersten Mal einen Fuß in sein neues zu Hause.

*

Erst als er am Ende der kleinen Treppe angelangt war konnte er sehen, wie groß das Innere des Wohnbaums wirklich war. Es war überraschenderweise angenehm kühl und taghell und als er nach oben blickte sah er, dass der gesamte Stamm, bis zur Krone hin, durchzogen war von kleinen Fenstern, die den Blick auf die Blätter freigaben. Sie würden Schutz vor Regen bieten und gleichzeitig dennoch genügend Licht hindurch lassen. Außerdem mochte er das Geräusch, das die Blätter machten, wenn der Wind durch sie hindurch fegte. Im Moment war der gesamte Stamm ein einziger großer leerer Raum. Was hatte die Königin gesagt? Er musste sich eine Veränderung nur wünschen? Nun gut. Einen Versuch war es Wert. Vielleicht für den Anfang etwas Einfaches. Fynnick räusperte sich und sagte möglichst laut und deutlich: „Stuhl!“

Sofort veränderte sich die Maserung der Rinde vor seinen Füßen und das Holz begann in die Höhe zu wachsen und Triebe zu bilden. Kleine Zweige verflochten sich zu einem komplizierten Geflecht und kaum eine Minute später stand ein gemütlicher, großer Korbsessel vor ihm. Beeindruckt hob Fynnick die Augenbrauen. Er hatte an einen einfachen, stabilen Stuhl gedacht. Etwas Rustikales, Funktionales. Doch es schien fast, als wollte der Baum angeben. Na schön, dachte sich Fynnick, dann wollen wir doch mal sehen, was du kannst. „Treppe!“, sagte er als nächstes. Nur Augenblicke später begann sich eine Wendeltreppe an der Außenseite des Stammes, Stufe für Stufe bis nach oben zur Krone zu winden. Ein Geländer spross hervor, aus jungen Trieben, die ein verschnörkeltes Muster bildeten. Aufgeregt rannte Fynnick die Stufen hinauf bis ganz nach oben und sah über das Geländer nach unten. Er schätzte, dass er sich nun über dreißig Meter über dem Boden befand. Da hörte er hinter sich ein Knacken in der Rinde. Als er sich umdrehte sah er, dass sich der Stamm nach außen öffnete und sich ein großer Balkon bildete. Beeindruckt trat er hinaus und sah sich um. Sein Baum überragte die meisten der anderen Bäume und so hatte er eine gute Aussicht. Er konnte einige der Funkelfeen durch die Baumwipfel flitzen sehen und auch viele Vögel und Insekten. Alles um ihn herum schien voller Leben. Hier war nichts zu spüren von der Verderbnis, die das Land heimsuchte und Fynnick spürte eine innere Ruhe wie schon lange nicht mehr. Hier würde er ein gutes Leben führen können.

*

Ihm fehlte es an nichts. Er brauchte sich keine zwei Schritte von Borke, so nannte er seinen Baum inzwischen, zu entfernen um etwas zu essen zu finden. Es gab Beeren und Pilze im Überfluss und auch alle Kräuter, die ein Zauberer benötigte. Er baute sich einfache Werkzeuge und Fallen, mit denen er kleine Tiere fangen konnte. Mit der Zeit hielt er sich sogar einige als Haustiere. Die Tage vergingen und irgendwann hatte Zeit für ihn keine Bedeutung mehr. Er vergaß beinahe, dass außerhalb dieses Waldes noch eine andere Welt existierte. Lange Spaziergänge waren in der Zwischenzeit zu einer Gewohnheit geworden und er erkundete mit viel Freude den umliegenden Wald. Dabei gelangte er jedoch nie an sein Ende. Wie die Legenden sagten, er war anfangs- und endlos. Ging er lange genug in die selbe Richtung, kam er irgendwann wieder am Ausgangspunkt an. Ab und zu erblickte er auch mal einen seiner kleinen Freunde, doch die meiste Zeit über hielten sie sich im Laub der Bäume versteckt, wo sie kaum zu sehen waren. Doch einmal, als er von einem besonders ausgedehnten Spaziergang zurückkehrte und es bereits zu dämmern begann, da konnte er sie in den Baumwipfeln sehen, wie sie die Sterne putzten und polierten bis sie glänzten und sie dann wieder zum Himmel hinauf schickten. Es war ein überwältigender Anblick. Überall glitzerte es in den Baumkronen und es sah aus, als hätte sich der Himmel auf sie ergossen. Einer nach dem anderen kehrten die Sterne dann an ihren angestammten Platz am Himmelszelt zurück und funkelten dort wieder hell und strahlend.

Mit der Zeit stellte er fest, dass Borke ein Baum mit Sinn für Humor war, der sich immer mal gerne einen Spaß erlaubte. So wachte Fynnick zum Beispiel an manchen Tagen auf und die Räume befanden sich plötzlich nicht mehr dort, wo sie noch am Vortag waren. Da war das Bad an der Stelle der Küche und diese wiederum an der Stelle des Schlafzimmers oder umgekehrt. Das machte es mitunter schwierig, mitten in der Nacht im Halbschlaf zur Toilette zu torkeln. An manchen Tagen, wenn Borke es besonders bunt trieb, konnte es auch schon mal passieren, dass die Decke plötzlich unten war und der Fußboden oben. Dann hatte er immer das Gefühl, als wäre alles richtig, nur er selbst passte irgendwie nicht ganz ins Bild. Deshalb hatte Fynnick es sich angewöhnt, keine losen Dinge herumliegen zu lassen, da die bei solchen Wandlungen immer heillos durch die Gegend flogen und er das Chaos am Ende wieder beseitigen musste. Leider schien es noch immer keine selbstreinigenden Wohnbäume zu geben. Außerdem war Borke einer von den Komikern, die gern über ihre eigenen Witze lachten. Jedes mal, wenn Fynnick sich über das heillose Durcheinander aufregte, erzitterte der Baum und es stöhnte im Stamm sein Gelächter.

Ansonsten war es ein ruhiges Leben, ein gutes Leben, ein Leben, wie man es sich nur wüschen konnte. Es war vielleicht nicht spannend und aufregend, doch er hatte jede Menge Zeit, sich seinen Studien zu widmen und seine mathemagischen Fähigkeiten zu verfeinern. Manchmal regte sich in ihm eine leise Stimme, die nach Aufregung und Abenteuern schrie, doch er verbannte sie jedes Mal schnell wieder in die hintersten Winkel seiner selbst. Diese sichere Zuflucht wieder zu verlassen wäre einfach nur töricht. Und so gewöhnte er sich mit der Zeit an die Abgeschiedenheit. Nachts wurde er entweder von leisem Regengeprassel oder vom sanften Rauschen des Laubes in den Schlaf begleitet. So lebte er lange Zeit sorglos vor sich hin.

Syleria

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