Читать книгу Heil mich, wenn du kannst - Melanie Weber-Tilse, Alisha Mc Shaw - Страница 8
Lorraine
ОглавлениеDas Anwesen von Michael Thompson war riesig. Und das war noch untertrieben. Vor einem großen gusseisernen Tor stoppte Lorraine ihren Wagen und stieg aus. Sie betätigte den Klingelknopf, der an der Seite neben einer Gegensprechanlage im Mauerwerk eingelassen war und wartete. Ein leises Surren ließ sie aufblicken, direkt in eine Kamera. Nervös trat sie von einem Fuß auf den anderen, bis schließlich eine Stimme aus dem Lautsprecher ertönte.
»Ja bitte?«
Unwillkürlich beugte sie sich ein Stück näher in Richtung des Mikrophons. »Guten Morgen, mein Name ist Lorraine Baker. Ich habe einen Termin mit Mr. Thompson und Ms.Weatherbee.«
»Ahhh, Lorraine-Kindchen! Kommen Sie rein, ich öffne das Tor!«
Verdutzt zog Lorraine die Augenbrauen hoch, stieg dann erneut in ihren Wagen und fuhr die Auffahrt zum Haupthaus hoch, nachdem sich das Flügeltor lautlos geöffnet hatte. Vor dem Haus standen mehrere Wagen, denen man auf unterschiedliche Weise ansah, dass sie viel Geld gekostet hatten. Vor einem nagelneuen Cadillac stand ein Mann Anfang 30 im piekfeinen Anzug, der in den vor Sauberkeit glänzenden Fensterscheiben sein Äußeres kritisch überprüfte.
Lorraine parkte und stieg aus. Ihr 20 Jahre alter Ford wirkte absonderlich fehl am Platz zwischen den Luxuskarrossen, und der Blick, den ihr der junge Mann zuwarf, sprach Bände. Zu ihrer Erleichterung war es nicht Michael Thompson, und so nickte sie und lächelte freundlich. »Guten Morgen!«
Eine hochgezogene Augenbraue und ein verächtliches Schnauben war die einzige Reaktion, die sie erhielt, ehe der Kerl kopfschüttelnd die Hintertür des Cadillacs aufriss und einstieg. »Nach Hause, und zwar zügig!«, hörte sie ihn noch jemanden, vermutlich seinen Fahrer, anblaffen.
»Kindchen, kommen Sie rein!«, ertönte da eine Stimme hinter ihr und Lorraine fuhr herum. Vor ihr stand eine ältere Frau in einem geblümten Kleid und einer Schürze. Sie blickte dem davonbrausenden Wagen finster nach. »Schnösel!«, brummte sie deutlich hörbar, dann veränderte sich ihre Miene innerhalb vom Bruchteil einer Sekunde in ein strahlendes Lächeln und sie wandte sich ihr zu.
»Mr. Thompson und Susan erwarten Sie bereits, ich freue mich, Sie auf Thompsons Retreat zu begrüßen! Ich bin die Haushälterin, Mrs. Mitchell, aber Sie können Emma zu mir sagen.« Das rundliche Energiebündel nahm sie am Arm und zog sie hinter sich her. »Das da eben war übrigens Patrick St. Claire, ein neuer Partner der Thompsons Holding. Ich sage Ihnen, Kindchen, der Typ glaubt von sich selbst, das er Gottes beste Schöpfung seit Anbeginn der Erde ist. Dabei ist er nur ...«
»... jemand, für den sich Ms. Baker sicherlich kaum interessieren wird, da ihr Aufgabengebiet sein sollte, sich mit meiner Tochter zu beschäftigen, sehe ich das richtig, Emma?«, wurde die Haushälterin von einer markanten Stimme unterbrochen. Ein großer, dunkelhaariger Mann hatte die Eingangshalle betreten und seine bloße Präsenz gab Lorraine das Gefühl zu schrumpfen.
Mrs. Mitchell jedoch ließ sich in keiner Weise davon beeindrucken, sie huschte an ihr vorbei und baute sich vor Mr. Thompson auf. »Mr. St. Claire ist, was er ist. Und das ist in meinen Augen nichts besonders Erstrebenswertes, Michael. Ich verstehe sowieso nicht, wieso Sie ihn in Ihr Team geholt haben!« Mit in die Hüfte gestemmten Armen starrte die ältere Dame zu dem locker 1½ Köpfe größeren Mann hinauf, der zu Lorraines Überraschung sanft lächelte.
»Er hat Fähigkeiten, die mich mehr interessieren, als seine Umgangsformen, Emmchen«, erklärte er, als müsse er sich für seine geschäftliche Entscheidung rechtfertigen. Die Haushälterin schnaufte nur und schüttelte den Kopf. Dann schien ihr einzufallen, das die beiden nicht allein waren.
»Michael, wo ist Susan? Ich habe hier Ms. Baker für Sie, die zweite Nanny, die ich zum Vorstellungsgespräch eingeladen habe«, erklärte sie dann, als habe es den vorangegangenen Disput gar nicht gegeben. Mr. Thompson sah schmunzelnd zu Lorraine rüber, hob beide Arme an und zuckte resignierend mit den Schultern, als ob er sagen wollte ›was soll man da noch erwidern?‹.
Dann trat er auf sie zu. »Ms. Baker, ich freue mich, Sie kennenzulernen. Meine ...«, er räusperte sich, »Haushälterin haben Sie ja bereits kennengelernt. Emma, bringen Sie Ms. Baker bitte ins Wohnzimmer? Susan hat sich noch etwas hingelegt, sie bekommt bald unser zweites Kind und ist entsprechend schnell erschöpft. Ich werde eben nach ihr sehen, und dann können wir unser Gespräch gleich beginnen!«
Zwei Minuten später saß Lorraine mit einer fruchtigen Limonade vor sich im großzügig geschnittenen Wohnzimmer und ließ den Blick neugierig umherschweifen. Der Raum war ganz anders eingerichtet, als sie es sich vorgestellt hatte. Wo sie teure Möbel erwartet hatte, war alles zweckmäßig eingerichtet. Man erkannte die Hand einer Frau, die bereits Erfahrung mit Kindern hatte und wusste, dass vor diesen nichts sicher war.
»Kannst du auch fliegen? Wo ist denn dein Regenschirm?« Ein kleines Mädchen mit Lockenmähne stand auf einmal neben ihr und musterte sie ungeniert. Das konnte nur Cassandra sein, das Kind, welches sie gegebenenfalls betreuen sollte. Sie lächelte.
»Nein, ich kann leider nicht fliegen, denn ich heiße ja Lorraine und nicht Mary Poppins! Mit dem Regenschirm fliegen kann nur Mary, weißt du?« Das Kind legte den Kopf schief und zog enttäuscht ein Schnütchen. »Aber ich hätte eine Idee, was wir trotzdem machen könnten wie Mary!«, zwinkerte Lorraine dem Mädchen zu und begann leise zu singen: »Eeeeeeeeey, supercalifragilisticexplialigetisch, dieses Wort klingt durch und durch furchtbar, weil’s synthetisch, wers laut genug aufsagt, scheint klug und fast prophetisch, supercalifragilisticexplialigetisch. Jam-didelidelidel, jam-didelei, jam-didelidelidel, jam-didelei, jam-didelidelidel, jam-didelei, jam-didelidelidel, jam-didelei ...«
Cassandras Augen wurden riesengroß, dann klatschte sie jauchzend in die Hände und fiel mit ein. »Jam-didelidelidel, jam-didelei, jam-didelidelidel, jam-didelei, jam-didelidelidel, jam-didelei, jam-didelidelidel, jam-didelei ...« Immer wieder sangen die beiden das Lied zusammen, und Cassy tanzte im Kreis und klatschte dabei in die Hände.
»So wie es aussieht, haben wir den wichtigsten Teil des Vorstellungsgespräches wohl verpasst!«, erklang da eine amüsierte Stimme von der Tür aus.
»Mummy!«, Cassandra jauchzte auf und eilte auf die hochschwangere Frau zu, die im Rahmen stand. Lorraine erhob sich vom Teppichboden, auf dem sie gesessen hatte, während das Kind um sie herum getanzt war.
»Ms. Baker, nehme ich an? Ich bin Susan Weatherbee, die Mutter dieses Wirbelwinds. Ich schätze, das Herz meiner Tochter haben Sie im Tanz erobert!«, schmunzelte die Schwangere und lächelte freundlich. Sie trat vollends ins Wohnzimmer ein und reichte ihr die Hand. »Michael ist auf dem Weg«, erklärte sie dann und ließ sich ächzend auf dem Sofa nieder. Just in dem Moment erschien Mr. Thompson auch schon, bat Lorraine, sich ebenfalls zu setzen, und setzte sich dann neben seine Freundin, nachdem er Cassy zu Emma hinaus komplementiert hatte.
»Ich habe mir eben noch einmal Ihre Unterlagen angesehen, Ms. Baker«, ergriff er dann das Wort. Ihr Herz machte einen Satz, nervös knetete sie ihre Finger und sah ihn an. »Ich bin beeindruckt über Ihren Lebenslauf, und auch über das, was nicht darin steht.«
Irritiert blinzelte Lorraine. »Was nicht darin steht?«, echote sie verwirrt. Jetzt war es sicher soweit, jetzt würde man ihr sagen, dass sie wegen ihres Bruders den Job nicht bekam. Ms.Weatherbee knuffte Michael leicht gegen die Schulter.
»Verwirr sie nicht so, Mick«, sagte sie liebevoll und sah Rain dann ebenfalls an. »Was mein Freund auf etwas unkonventionelle Weise versucht mitzuteilen, ist die Tatsache, das er es beeindruckend findet, wie Sie Ihr Leben gemeistert haben, nachdem Ihre Eltern verstorben sind. Es muss nicht einfach gewesen sein, in jungen Jahren gleich beide Elternteile zu verlieren, sich um einen rebellischen jungen Erwachsenen zu kümmern und sich dabei dennoch fortzubilden! Das wolltest du doch sagen, nicht wahr, Michael?«
»Oh oh, wenn sie mich bei meinem echten Namen nennt, habe ich es wohl wirklich etwas übertrieben«, lachte Mr. Thompson und Lorraine blickte unsicher zwischen beiden hin und her. »Wissen Sie, Lorraine ... ich darf doch Lorraine sagen, oder? Meine Eltern sind vor fast neun Jahren bei einem Anschlag ums Leben gekommen. Meine Schwester Annabell war zu diesem Zeitpunkt 16 Jahre alt, also physisch gesehen in etwa das Alter, in dem sich ihr Bruder Ryan damals befunden hat.«
Lorraine zuckte sichtbar zusammen. »Wenn Sie den Namen meines Bruders kennen, sein Alter und all das ...«, sie seufzte leise, »dann wissen Sie sicherlich auch, ohne das ich es Ihnen erzähle, das ich entgegen meiner guten Ausbildung bei Ryan gnadenlos versagt habe!«
Mr. Thompson schüttelte vehement den Kopf. »Das sehe ich anders, Lorraine. Sie können sich nicht zeit Ihres Lebens für seine Taten verantwortlich machen, auch wenn das eine Eigenschaft ist, die ich selbst gerade erst beginne zu lernen. Meine Schwester Annabell ist vor fast fünf Jahren von einem noch immer Unbekannten ins Koma geprügelt worden. Wegen zehn Dollar. An diesem Abend hätte ich sie eigentlich von einer Party abholen sollen, habe es aber versäumt. Viele Jahre lang ...«, er unterbrach sich kurz, legte den Arm um seine schwangere Freundin und zog sie noch ein Stück näher an sich heran, »... habe ich die Frau, die ich mehr als alles andere liebe, mitverantwortlich gemacht für diese Ereignisse, und habe mir selbst mein Seelenheil verweigert.«
Lorraine wusste nicht, was sie sagen sollte. Aber ihr Respekt vor diesen beiden Menschen, vor jedem in unterschiedlicher Weise, wuchs gerade enorm. »Und Ihre Schwester?«, fragte sie leise.
Mr. Thompson lächelte. »Ist wieder aufgewacht und kämpft sich gerade zurück ins Leben. Ich musste erkennen, dass man mit Geld nicht alles kaufen kann, das aber im Gegenzug dazu Liebe unheimlich viel erreichen kann. Am vergangenen Samstag fand die erste Charity-Veranstaltung ihrer eigens gegründeten Stiftung Help for a better Life statt. Annabell hat nicht nur eine Menge Geld für die Schwerkranken, die weniger Glück und Geld im Leben haben, gesammelt, sondern auch den Mann an ihre Seite zurückbekommen, der sie zurück ins Leben holte. Sie kann noch nicht wieder richtig laufen und es wird weiterhin ein harter Kampf, aber ich bin davon überzeugt, dass sie glücklich ist.«
›Und Sie, sind Sie glücklich?‹, wollte Lorraine fragen, aber der Blick, den die beiden vor ihr sitzenden miteinander tauschten, war mehr Antwort, als jedes Wort es gewesen wäre.
Mr. Thompson räusperte sich, dann wurde sein Blick wieder etwas ernster. »Zurück zum eigentlichen Thema. Das zu erwartende Gehalt kennen Sie bereits aus der Anzeige, aber es gäbe dennoch einige Dinge, die vorab zu klären wären. Wir erwarten von unserem Kindermädchen von der Tatsache abgesehen, das unsere Tochter sie akzeptieren muss, noch ein paar Dinge. Die Akzeptanz meiner Tochter scheinen Sie auch ohne Regenschirm gewonnen zu haben.« Er schmunzelte.
»Wir möchten, das unser Kindermädchen jederzeit erreichbar ist und das würde bedeuten, dass Sie bereit sein müssten, in Thompsons Retreat zu leben.«
Lorraine öffnete den Mund, zögerte und schloss ihn dann wieder.
»Da ich mich im Voraus über potenzielle Angestellte sehr genau erkundige, weiß ich, dass Ihnen das Haus, in dem Sie leben, gehört. Erbe der Eltern, richtig?«
Sie nickte, ihr fehlten noch immer die Worte.
»Zur Zeit lebt meine Schwester noch hier, aber ich gehe davon aus, das sie und Jonathan - das ist der Mann, der zukünftig für das Wohl Annabells verantwortlich zeichnet - in absehbarer Zeit nicht mehr bei uns im Haus leben wollen. Emma, unsere Hausperle, ist mittlerweile betagt und äußerte von sich aus den Wunsch, dass wir für Cassandra und meinen Sohn, der bald zur Welt kommen wird, ein Kindermädchen einstellen.«
Lorraine griff nach der Limonade, trank einen großen Schluck. Zweifel machten sich in ihr breit. Das Anwesen der Thompsons war zwar nur eine halbe Autostunde von ihrem Häuschen entfernt, aber die Tatsache, das es eben auch 30 Minuten mehr waren, ihren Bruder im Auge zu behalten, verursachte ihr einiges Unbehagen.
»Sie werden Ihrem Bruder keinen Gefallen damit tun, wenn Sie stets seine Missetaten ausbaden, Lorraine«, ergriff Ms. Weatherbee das Wort. »Wenn Ryan weiß, dass Sie ihn, soweit Sie können, immer aus der Patsche holen, lernt er aus seinen Handlungen rein gar nichts. Geben Sie ihm einen Schlüssel für das Haus, aber machen Sie ihm klar, das er für sich selbst verantwortlich ist.«
Lorraine entwich ein tiefes Seufzen. Ihr war klar, das beide Recht hatten. Dennoch war es nicht einfach, sich genau das einzugestehen.
»Lassen Sie uns an dieser Stelle das Gespräch beenden. Von unserer Seite aus spricht nichts gegen eine Anstellung, sofern Sie mit unseren Bedingungen einverstanden sind. Schlafen Sie eine Nacht über unser Angebot, und rufen Sie mich morgen Vormittag in meinem Büro an. Ich werde meine Sekretärin, Mrs. Davis, darüber informieren, dass sie Sie dann gleich zu mir durchstellt. Einverstanden?«, Mr. Thompson sah sie freundlich lächelnd an.
Rain atmete erleichtert auf, erhob sich und nickte. »In Ordnung. Ich ... es ist nicht einfach für mich, mir einzugestehen, dass Sie Recht haben. Ich werde mich morgen Vormittag bei Ihnen melden.« Sie reichte erst ihm, dann Ms. Weatherbee die Hand. »Vielen Dank. Wirklich«, flüsterte sie und lächelte. Beide nickten ihr verständnisvoll zu.
Nachdem sich Lorraine auch von Cassandra und Emma verabschiedet hatte, stieg sie in ihren Wagen und fuhr nach Hause.
Es gab viel nachzudenken.