Читать книгу Chiara's Sommer - Melinda Waleni - Страница 4
Kapitel 1
ОглавлениеChiara schaut aus dem Fenster und genießt den Anblick der untergehenden Sonne, die sich im Meer spiegelt. Sie hat vor Ewigkeiten eine Reise nach Mauritius mit ihrer Freundin Vanessa geplant. Jetzt klappte es endlich und die beiden wohnen im Nobelhotel Shamarina.
Sie beobachtet die Wellen, als ihr Handy klingelt. Mit einem Satz dreht sie sich um und greift sich ihr Mobiltelefon vom Tisch. »Hallo?«
»Kommst du eines Tages zurück?«, fragt eine vertraute Männerstimme am anderen Ende der Leitung.
»Bei den täglichen Feiern hier vergisst man die Zeit«, antwortet Chiara. Sorry, dass ich mich nicht eher bei euch gemeldet hab, mein Akku war alle.«
»Die Batterie ist ständig leer, wenn ich versuche, dich zu erreichen«, sagt der Mann. »Vielleicht legst du dir besser ein Notebook zu.«
»Papa, das hat absolut nichts mit einem Mobiltelefon zu tun.«
Vanessa kommt mit einer grünen Strandtasche und einem blauen Handtuch ins Zimmer. »Wo essen wir heute?«
»Der Speisesaal ist mir zu überfüllt, ich schlage vor, wir gehen in das italienische Restaurant unten im Keller.«
»Vielen Dank, ich hab schon gegessen« , sagt ihr Vater. »Aber du solltest was essen, ansonsten fällst du noch vom Fleisch.«
Chiara räuspert sich und rollt mit den Augen. »Ich muss jetzt aufhören zu telefonieren, das Geld, du verstehst."
Der Mann sagt keinen Ton mehr und legt den Hörer auf.
»Mit wem hast du telefoniert?«, fragt ihre Freundin.
»Mit meinem Vater.«
Vanessa nickt und deutet zur Tür. »Gehen wir jetzt essen?«
Das Restaurant ist gigantisch. An der Decke hängen Kronleuchter, festlich gedeckte Tische stehen im gesamten Raum und eine Bar befindet sich an der linken Seite. Die Wände sind cremefarben gestrichen, die Fenster gewähren einen Blick auf das Meer und die rustikalen Bilder verschaffen ein angenehmes Ambiente. Die beiden Frauen gehen ein paar Schritte durch das Restaurant. Chiara fällt die Kinnlade runter und sie stoppt auf der Stelle. Sie packt Vanessa am Handgelenk und deutet zur Bar hinüber. »Da drüben.« Ihre Freundin schaut in die angedeutete Richtung.
Chiara’s Bruder Stefan sitzt am Hocker an der Bar und nippt an einem blauen Cocktail. Mit einer Körpergröße von knappen zwei Metern und dem dunkelblonden Haar, ist er nicht zu übersehen, obwohl das Restaurant überfüllt ist. Die beiden Frauen gehen zu ihm hinüber.
»Hallo, Stefan was treibst du hier?«, fragt Chiara.
»Ich bin hier im Urlaub.«
Sie verschränkt die Arme vor der Brust. »Und das muss ausgerechnet hier sein?«
Er grinst und stellt das Glas ab. »Klar das ist ein nobles Hotel und meine erste Wahl.«
Chiara sieht ihre Freundin ratlos an und zieht sie zu einem Tisch neben der Bar. »Der hat sie nicht mehr alle, grade jetzt, wenn wir da sind, kommt er auch her.«
»Das ist blöd, doch du hast ihn gehört, ihm gefällt es hier auf der Insel.«
»Ich weiß, aber das ist nicht das erste Mal, er verfolgt mich ständig überallhin. Das ist nicht fair, er gönnt mir keinerlei Privatsphäre.«
Vanessa legt ihr eine Hand auf die Schulter. »Du musst ihn verstehen, er ist dein großer Bruder und will dich nur beschützen.«
»Ich bin kein Kleinkind mehr, das einen Aufpasser braucht.« Chiara erhebt ihre Stimme.
»Lass ihn doch, wir ignorieren ihn einfach.
Die beiden Frauen setzen sich an den Tisch und lesen die Speisekarte.
Ein Kellner kommt auf sie zu. »Hallo, was wollen Sie bestellen?«
»Was empfehlen Sie uns?«, fragt Chiara und blinzelt ihn an.
Der Mann kratzt sich am Hinterkopf. »Wir haben italienische Küche, Spaghetti, Pizza, Lasagne und vieles mehr.«
»Wir bestellen Lasagne«, sagt Vanessa und ihre Freundin stimmt ihr nickend zu.
»Geht klar«, antwortet der Ober und entfernt sich vom Tisch.
Chiara wirft einen Blick zur Bar und beobachtet Stefan, der sich mit einer Serviette den Mund abtupft. Er erhebt sich schwerfällig und verlässt mit gesenktem Kopf das Restaurant.
Sie fühlt einen Stich in der Magengegend. »Vanessa ich schätze, er hat ein Problem und braucht meine Hilfe.«
»Das würde auf jeden Fall erklären, warum er hier ist.«
»Ich rede morgen mit ihm, damit er bald wieder abreisen kann.«
Ihre Freundin grinst sie an und wirft einen Blick aus dem Fenster.
Der Kellner kommt mit zwei Tellern köstlich riechender Lasagne zu ihrem Tisch. »Bitteschön, entschuldigen Sie, ich hab nicht gefragt, was Sie trinken wollen.«
»Wir hätten gern Rotwein«, sagt Vanessa.
»Bring ich Ihnen gleich, verzeihen Sie mir bitte nochmals den Fehler.«
Die beiden ergreifen ihr Besteck und beginnen das Gericht zu essen.
Der erste Bissen versetzt Chiara in eine bessere Stimmung und sie fängt an zu lächeln. »Amüsieren wir uns morgen bei der Cocktailparty im Hotelgarten?«
Ihre Freundin klimpert mit dem Besteck auf dem Teller. »Gern, ich freue mich darauf.«
Der Kellner kommt mit einer Flasche Merlot, befüllt ihre Gläser und marschiert zurück in die Küche.
Die beiden Frauen prosten sich zu und trinken einen Schluck des Rotweins.
Nachdem sie mit der Mahlzeit fertig sind, verlassen sie den Saal und gehen die Treppen hoch zu ihrem Zimmer.
Die Sonne strahlt durchs Fenster und Chiara wälzt sich im Bett hin und her. Sie bemerkt, dass sie an der Schulter berührt wird und öffnet die Augen.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken«, sagt Vanessa. »Ich spaziere zum Strand, kommst du mit?«
»Das klingt verlockend, aber eigentlich möchte heute die Insel erkunden.«
»Okay, wie du meinst, dann sehen wir uns zum Abendessen.« Ihre Freundin schnappt sich ein Badetuch, das am Schreibtisch liegt, hängt ihre Badetasche über die Schulter und geht damit aus dem Raum.
Chiara gähnt herzhaft, setzt sich auf und schlendert zum Schrank. Sie kramt eine hellblaue Bluse und graue Shorts hervor und schlüpft hinein. Nach der Morgentoilette ergreift sie die Schlüsselkarte vom Nachttisch und verlässt das Zimmer.
Gestärkt von einem ausgiebigen Frühstück, marschiert sie in die Hotelanlage. Chiara betrachtet grade die vielen Palmen, als sie plötzlich jemand an der Schulter anrempelt. Sie stolpert über einen Stein und stürzt mit einem Schrei zu Boden.
»Sorry, das wollt ich nicht«, vernimmt sie Stefan’s Stimme.
Stützend greift er seiner Schwester unter die Arme und sie rappelt sich auf. Ein brennender Schmerz fährt ihr ins rechte Handgelenk. Sie sieht auf die Stelle und bemerkt, dass sie sich eine Schramme zugezogen hat. »Was ist mit dir los Stefan, gibt es Probleme?«
»Ich bin auf der Suche nach meiner Exfreundin, sie hat mir Geld gestohlen und ist hierher abgehauen.«
»Das ist nicht wahr, warum musst du dich jedes Mal in Schwierigkeiten bringen?«
»Sie hat mich bestohlen und nicht umgekehrt. Hilfst du mir, sie zu finden?«
»Nur, wenn du hinterher die Insel verlässt.«
Er seufzt betrübt. »Du willst, dass ich von hier weggehe?«
Chiara ignoriert die Frage und sieht ihm eindringlich in die Augen. »Ich zahl dir auch den Rückflug.«
»Du bist nicht reich.«
»Die Familie ist mir wichtiger. Komm heute mit uns zur Cocktailparty. Sie findet im Garten statt, da wirst du abgelenkt.«
»Was, ich soll mitkommen?«
Chiara legt ihm eine Hand auf die Schulter und lächelt zuckersüß. »Klar, ich freu mich immer, wenn du dabei bist.«
Die Gartenparty ist in vollem Gange. Die beiden Freundinnen tanzen ausgelassen auf der Tanzfläche, während Stefan eifrig am Mobiltelefon herumtippt. Chiara wischt sich den Schweiß von der Stirn, geht zur Bar und bestellt Pina Colada.
Sie bekommt den Drink serviert, setzt ihre Lippen an den Strohhalm und trinkt einen Schluck.
Zu ihr gesellt sich ein gutaussehender Mann mit dunklem Haar und sportlicher Figur. Er wirft Chiara einen flüchtigen Blick zu und sie ist von seinen strahlend blauen Augen überwältigt.
Er wendet sich der Bardame zu.»Bingen Sie mir bitte einen Schnaps.«
»Einen was?«, fragt die Frau. »Wir haben nur Cocktails hier draußen.«
Der Typ verzieht keine Miene und wirft ihr einen erwartungsvollen Blick zu.
Die Dame verdreht die Augen, verlässt die Bar und verschwindet im Hotelgebäude.
Chiara sieht den Mann entgeistert an. »Wofür brauchen Sie an einem Cocktailabend einen Schnaps?«
»Zum Desinfizieren.« Er zeigt ihr den linken Unterarm. »Eine Spinne hat mich gebissen.«
Sie zieht die Luft scharf ein, schaut auf den Arm, erkennt aber nicht viel, außer einer leicht geröteten Stelle. »Es sieht nicht schlimm aus.«
Der Mann lächelt und streicht mit dem Finger über die Bisswunde. »Danke das ist nett von Ihnen, doch mich stört das gewaltig.«
Bei dem Anblick seines strahlenden Gesichtes bekommt Chiara ein wohliges Gefühl. »Wo ist das passiert?«
»Beim Duschen, ich wollte nach der Brause greifen, die Spinne ist anscheinend dahinter gesessen und hat zugebissen.«
»Das klingt fürchterlich. Was haben Sie mit dem Tierchen gemacht?«
»Ich hab es mit einem Glas gefangen und draußen ausgesetzt.«
Sie atmet erleichtert auf. »Zum Glück haben Sie die Spinne nicht umgebracht.«
Die Bardame kehrt zurück und drückt dem Mann eine Flasche Schnaps in die Hand.
Der Typ legt den Kopf schräg und blinzelt ihr zu. »Ein Eimer hätte auch gereicht, aber danke für den Versuch, das Getränk aufzutreiben.«
Chiara räuspert sich und schaut ihn verärgert an.
Der Mann hebt grüßend die Hand und verlässt mit Zornesfalten im Gesicht die Party.
Vanessa kommt auf ihre Freundin zu. »Ist alles okay? Stefan ist schon schlafen gegangen.«
»Klar, ich hab das Gefühl, die Suche nach der Exfreundin meines Bruders und dem gestohlenen Geld wird ewig dauern.«
»Hoffentlich nicht. Hey, wer war der Typ, mit dem du vorhin gesprochen hast?«
»Keine Ahnung, ich kenne den Namen nicht. Nur eines ist schräg, er hat Schnaps bestellt, um eine mickrige Bisswunde, die man nicht mal sieht, zu desinfizieren.«
»Oh Mann, das klingt ulkig, der ist irre, schaut aber echt süß aus.«
»Der ist nicht normal und süß ist er schon gar nicht.«
Vanessa lässt ihren Blick schweifen. »Wo ist er hingegangen?«
»Ich weiß nicht, der ist so schnell verschwunden, ist mir auch egal, er ist sowieso nicht mein Typ.«
»Na klar, ich versteh, er ist dir unwichtig. Dann stört es dich höchstwahrscheinlich nicht, wenn ich ihn mir schnappe.«
Chiara bekommt einen Stich im Herzen, versucht aber, ihre Gefühle zu verbergen. »Tu dir keinen Zwang an.«
Die Freundinnen nippen abwechselnd an der Pina Colada und beobachten die Leute auf der Tanzfläche.
Stefan steht am Morgen vor der geöffneten Zimmertür der beiden Frauen und zieht Chiara an den Armen aus dem Raum. »Ich weiß, wo Nina ist.«
Sie reibt sich die Augen und gähnt herzhaft. »Wer ist das?«
»Meine Ex, wir müssen zu ihr. Sie liegt am Strand im Liegestuhl.«
»Ist sie allein?«
»Stell nicht so viele Fragen.« Er zerrt an ihren Händen. »Komm mit.«
Gemeinsam gehen sie aus dem Hotel und rennen hinunter zum Badestrand.
Dort deutet Stefan auf zwei Männer und eine Frau in Liegestühlen. Er neigt sich zu seiner Schwester und zeigt auf die Dame. »Siehst du, da vorne liegt sie.«
Chiara verspürt den Drang, ihren Bruder zu necken und prustet lauthals los. »Die schaut umwerfend aus, wieso hat die sich auf dich eingelassen?«
»Sehr witzig. Sag mir besser, was ich jetzt tun soll.«
Sie stöhnt genervt auf. »Frag sie endlich nach dem gestohlenen Geld.«
Stefan senkt den Kopf.»Das geht nicht, Nina ist wütend auf mich.«
»Es ist dein Recht, sie darauf anzusprechen.«
Zögerlich marschiert er auf die Frau zu und spricht sie leise an.
Chiara steigt von einem Fuß auf den anderen und beobachtet ihren Bruder.
Urplötzlich ertönt eine lautstarke Sirene. Sie zuckt erschrocken zusammen und sieht sich um.
»Haialarm!«, hört sie eine Männerstimme hinter sich rufen.
Viele Menschen laufen aus dem Wasser und stürmen ins Hotel.
Chiara reibt sich die schweißnasse Stirn, verzieht das Gesicht und bemerkt eine Berührung auf ihrem Rücken. Sie dreht sich um und entdeckt einen unbekannten blonden Mann.
»Erschrecken Sie nicht. Ich wollte nur fragen, ob Sie wissen, was hier los ist?«
»Nicht wirklich, ich hab nur was von einem Haialarm gehört.«
Der Typ streckt ihr eine Hand entgegen und grinst. »Ich heiße Michael, nett Sie kennenzulernen.«
Sie lächelt, ergreift seine Hand und schüttelt sie kräftig. »Chiara.«
»Das ist ein schöner Name. Sind Sie hier im Urlaub?«
»Ja, ich bin mit meiner besten Freundin Vanessa hier.«
Er deutet auf Stefan, der eine Geldbörse aus einer Tasche neben dem Liegestuhl kramt. »Kennen Sie den Typen da vorne?«
Chiara senkt den Blick. »Das ist mein Bruder, er holt sich sein Geld zurück. Er hat der Dame ein paar Geldscheine geliehen.«
»Was, die Frau ist eine Freundin von mir, ich erinnere mich nicht, dass sie jemanden hier was geborgt hätte.«
»Komisch, sind Sie sicher, dass Sie nicht mit einer Diebin befreundet sind?«
»Wie bitte, was meinen Sie?«
Ehe sie zu Wort kommt, rennt ihr Bruder an ihr vorbei, rempelt Michael an der Schulter und verlässt den Strand.
»Ist alles okay?«, fragt Chiara den Mann. »Tut mir leid, er ist ein Tollpatsch.«
»Nix passiert.«
Sie setzt sich rasch in Bewegung und läuft Stefan nach.
Hinter dem Hotel bleibt sie stehen, atmet tief durch und lässt ihren Blick schweifen. Doch sie sieht nur fremde Gäste im Hotelgarten auf Holzbänken sitzen.
Sie nimmt ihr Smartphone aus der Hosentasche und ruft Vanessa an.
Nach dem ersten Klingeln hebt ihre Freundin ab. »Was gibt es, ich bin im Wellnessbereich und bekomm gleich eine Massage.«
»Entschuldige, ich dachte, du hättest Zeit.«
»Jetzt sag schon, wo das Problem ist.«
»Stefan ist verschwunden.«
»Gestern wolltest du, dass er geht und heute sorgst du dich um ihn, weil er weg ist?«
»Das verstehst du nicht, er hat anscheinend was angestellt.«
»Was Schlimmes? Okay, such ihn in der Zwischenzeit und wir treffen uns in einer Stunde am Strand, ich hab uns für eine Surfstunde angemeldet.«
»Du hast was getan?«
»Bis gleich.« Ihre Freundin legt auf.
Chiara seufzt und ruft ihren Bruder an. »Mailbox.« Sie bläst sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wo ist er nur, ich weiß nicht mal seine Zimmernummer.«
Der Typ vom Cocktailabend kreuzt ihren Weg und starrt sie an.
Sie nickt ihm zu. »Wie geht es Ihnen?«
Er verschränkt die Arme vor der Brust. »Sie meinen im Bezug auf den Spinnenbiss?«
»Nicht nur das.«
»Ausgezeichnet, ich muss los.« Er marschiert an ihr vorbei und würdigt sie keines Blickes.
Chiara zieht die Stirn kraus. »Was für ein arroganter Kerl.«
»Sind Sie beim Surfunterricht dabei?«, fragt Michael, der mittlerweile neben ihr steht und ein Surfbrett unter‘m Arm trägt.
»Ja leider, gehen Sie ebenfalls hin?«
»Klar, das lass ich mir nicht entgehen, bei dem Wellengang.«
»Mein Bruder geht im Sommer regelmäßig Segeln.«
»Klasse, das wollt ich hier auch lernen.«
»Sie sind an Wassersport interessiert?«
Der Typ starrt Richtung Meer. »Es gibt nichts Besseres, als Surfen.«
Sie betrachtet die feuerrote Kappe, die er auf dem Kopf trägt.
Er setzt sie ab und hält sie ihr unter die Nase. »Gefällt sie Ihnen?«
»Sie ist schick, wo haben sie die her?«
»Vom Diskonter.«
»Ich kaufe auch immer im Billigladen, da ich nicht grade wohlhabend bin.«
»Das ist unfair, mein bester Freund Oliver ist reich und braucht das nicht.«
»Der hat es gut.«
»Wie man‘ s nimmt, er ist ein Einzelkind und wurde von allen Leuten verwöhnt.«
»Ich musste die Spielsachen mit Stefan und meinen kleinen Schwestern teilen.«
»Ach Sie haben mehr Geschwister?«
»Sie heißen Nicole und Adriana und sind Zwillinge.«
»Die beiden haben es gut, sie sind jederzeit zu zweit.«
»Das glaubt man, doch sie sind dauernd getrennt unterwegs.«
»Schade, wenn ich einen Zwillingsbruder hätte, würde ich alles mit ihm teilen.« Michael zwinkert ihr zu. »Wir sehen uns beim Unterricht.« Er setzt sich in Bewegung und geht zum Hotelgebäude.
Chiara öffnet die Zimmertür und erblickt Vanessa, die ihr lächelnd ein Surfbrett reicht.
»Bist du bereit?«, fragt die Freundin »Die Surfstunde beginnt gleich.«
»Moment, ich muss mich umziehen.« Sie geht zum Schrank, holt einen Bikini heraus und schlendert mit dem Teil ins Badezimmer.
»Beeil dich, sonst kommen wir zu spät«, hört sie Vanessa von nebenan rufen.
Die Zwei verlassen den Raum und gehen aus dem Hotel.
Sie marschieren den Kiesweg entlang zum Strand. Dort haben sich bereits viele Hotelgäste mit ihren Surfbrettern versammelt.
Die beiden Freundinnen stellen sich zu den Leuten und warten auf den Surflehrer. Chiara seufzt und steigt von einem Bein auf das Andere.
Ein Mann in graugelb gestreifter Badehose und blauer Umhängetasche kommt auf sie zu. »Tag, ich bin Tim, ihr Trainer. Wir beginnen gleich, nur zuvor will ich die Anwesenheitsliste durchgehen.« Er holt ein Blatt Papier aus der Tasche und ruft die Namen der Reihe nach auf.
Chiara entdeckt Michael und lächelt ihn erfreut an.
Er grinst zurück, geht auf sie zu und stellt sich neben sie.
Vanessa beobachtet die beiden und legt ihr Surfbrett in den Sand.
Tim deutet auf den Ozean. »Nehmen Sie ihre Bretter in die Hand und folgen Sie mir bitte.«
Die Gäste gehen ihm nach und bleiben vor dem Gewässer stehen.
Chiara schaut auf das Meer und wendet sich an den Trainer. »Warum hat vor ein paar Tagen jemand Haialarm gerufen, war das ein Scherz?«
Der Mann lacht lauthals los. »Nein, das war eine Übung für den Ernstfall, ein Service von unserem Hotel.«
Sie errötet leicht und senkt verlegen den Blick.
Michael sieht Tim verblüfft an. »Da haben wir endlich die Antwort.«
Der Trainer lässt sich nicht beirren und wendet sich an Chiara. »Sie fangen gleich mit der ersten Übung an. Gehen Sie ins Wasser, legen Sie sich auf das Surfbrett und paddeln mit den Händen.
»Ich?« Sie kaut auf ihren Nägeln und sieht den Mann beunruhigt an.
»Klar, worauf warten Sie noch?«
Chiara schlendert zögerlich mit dem Brett zum Meer, wirft einen Blick über ihre Schulter und schaut zu Tim.
Er deutet auf den Ozean und verschränkt die Arme vor der Brust.
Sie watet ins kühle Nass, platziert ihr Surfbrett im Wasser und legt sich bäuchlings darauf.
Die erste Welle schwappt ihr Salzwasser in die Augen und sie springt ruckartig auf. »Hilfe!« Sie schaut zu den Leuten und bemerkt, dass sie zu lachen beginnen.
Der Trainer schüttelt den Kopf und fasst sich an die Stirn.
Chiara rennt zurück zu ihm und drückt ihm das Brett in die Hand. »Das ist nichts für mich.«
Michael schaut sie besorgt an und kommt auf sie zu. »Alles in Ordnung mit dir?« Er ist mittlerweile zum Du übergegangen.
»Klar, ich muss gehen.« Sie grinst ihn verlegen an und verlässt mit schnellen Schritten den Strand.
Chiara marschiert in ihr Zimmer, wirft sich auf das Bett und grübelt vor sich hin.
Ihr Handy auf dem Schreibtisch gegenüber beginnt lautstark zu klingeln und holt sie aus den Gedanken.
Erschrocken springt sie auf und geht ran. »Hallo?«
»Tag, sind Sie Chiara Weiß?«, meldet sich eine Männerstimme in der anderen Leitung.
»Ja, wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«
»Ich bin Peter Adler, Beamter. Bedauerlicherweise muss ich Ihnen mitteilen, dass Ihr leiblicher Vater, Eduard Monitz gestern in seinem Haus verstorben ist. Sie sind am Samstag um 18 Uhr beim Notar in Zürich bestellt.«
Chiara wird bleich im Gesicht und klammert sich an die Tischkante. »Mein was?«
»Entschuldigen Sie, aber ich hab jetzt keine Zeit für lange Erklärungen. Wiederhören.«
Sie legt ihr Handy zur Seite, sinkt auf das Bett und starrt an die gegenüberliegende Wand.
Vanessa kommt ins Zimmer und stellt eine blaue Stofftasche am Holzboden ab. »Ist was passiert, du bist so blass im Gesicht?«
Chiara reagiert nicht und sitzt weiterhin regungslos da. Ihr Atem beschleunigt sich, sie verdreht die Augen und rutscht vom Bett.
Kurz darauf erwacht sie und sieht Vanessa neben ihr knien.
»Du hast mir einen gewaltigen Schrecken eingejagt, so hab ich dich noch nie erlebt«, sagt ihre Freundin und zerrt sie an den Armen hoch.
Chiara räuspert sich und atmet tief durch. »Mein leiblicher Vater Eduard Monitz ist gestorben und ich muss zum Notar nach Zürich«, wiederholt sie monoton die Worte des Beamten.
»Was ... wer ... bist du adoptiert worden?«
»Nein, ich ... anscheinend bin ich das.«
»Das wurde dir verschwiegen, das ist echt gemein von Renate und Matthias.«
»Was soll ich jetzt tun, ich steh total neben mir.«
»Ich schlage vor, du gehst hin, das schaffst du, keine Sorge.«
»Ich muss die Sachen packen und in die Schweiz zurückfliegen.«
»Ich komm mit«, sagt Vanessa. »In dem Zustand lass ich dich nicht allein fliegen.«
Chiara zieht ihren Koffer unter dem Bett hervor, lässt ihn liegen und marschiert wie ferngesteuert zum Schrank.
Sie wühlt darin, schnappt ihr Nachthemd, schlüpft hinein und legt sich auf ihre Matratze.
Vanessa starrt sie an und schlurft auf das Gepäckstück zu. Sie öffnet es und beginnt, Klamotten einzupacken. »Du gehst mitten am Tag schlafen? Weißt du was, ich buch uns einen Heimflug, wenn möglich noch für heute Abend.« Ihre Freundin zückt das Handy, tippt darauf herum und hält es sich ans Ohr.
Chiara nickt und dreht sich zur anderen Seite des Bettes. Ihr Kopf fühlt sich an wie Watte.
»Ist es machbar, dass wir den nächsten Flug Richtung Zürich bekommen?«, fragt Vanessa.
Ein paar Sekunden herrscht Stille im Raum.
Das weitere Gespräch bekommt Chiara nur noch zur Hälfte mit.
»Die Buchung war erfolgreich«, hört sie wenig später die Stimme ihrer Freundin hinter ihr. »In drei Stunden geht der Flieger.«
Chiara springt auf und schlüpft in Windeseile wieder in ihre zuvor abgelegten Klamotten. Sie schließt ihren Koffer und marschiert damit aus dem Raum.
Im Hotelgarten laufen ihr Michael und der Typ, den sie bei der Cocktailparty traf, über den Weg.
»Fliegen Sie heim?«, fragt der Unbekannte.
Sie kratzt sich am Hinterkopf. »Nein... ich muss... Adoption... Vater leiblich.«
Der Kerl dreht sich zu Michael. »Du hast nicht erwähnt, dass sie extrem verwirrt ist.«
»Oliver bitte, das ist sie nicht ständig, sie ist wahnsinnig nett.«
»Name ... ist ... er ... mir ... bekannt«, sagt sie »Er bester Freund ... von dir.«
»Was haben Sie? Gehts Ihnen nicht gut?«, fragt der braunhaarige Typ.
Chiara wirft den Koffer ins Gras und bricht in Tränen aus.
Ihre Freundin läuft mit ihrem Gepäck durch die Eingangstür auf sie zu. »Hier bist du, zum Glück hab ich dich endlich gefunden.«
Die Männer tauschen verwirrte Blicke untereinander aus und schauen zur Tür.
Vanessa sieht die beiden an. »Sie hat eine fürchterliche Neuigkeit erfahren, die ihr den Boden unter den Füßen weggerissen hat.«
Oliver zieht die Stirn kraus. »Was bitte ist so schlimm?«
»Ihr wurde gesagt, dass sie adoptiert ist und dass ihr leiblicher Vater vor Kurzem verstorben ist.«
Michael legt eine Hand auf Chiara‘s Schulter. »Ich weiß, das ist schrecklich, aber es bringt nichts, wenn du dich jetzt fertigmachst.« Er dreht sich zu Vanessa. »Fliegt ihr heute weg?«
»Um acht Uhr abends«, antwortet sie.
Er schaut Chiara in die Augen. »Ich wünsch dir alles Gute und dass du mit der Situation klarkommst.«
»Danke das ist nett«, sagt sie.
Michael sieht zu Vanessa und wirft ihr einen aufmunternden Blick zu.
Oliver zerrt am Ärmel seines besten Freundes. »Wir müssen los.«
Die zwei Männer setzen sich in Bewegung und gehen an den Frauen vorbei.
Vanessa stemmt die Hände in die Hüften und neigt sich zu ihrer Freundin. »Ich hab mich gestern mit Oliver unterhalten und ihn besser kennengelernt. Er ist arrogant, ein Glück, dass wir heute Abend abreisen.«
Chiara lächelt. »Du hast Recht, er ist nicht einfach, das ist mir auch aufgefallen.«
»Es kommt noch besser, ich bin draufgekommen, dass er eine Freundin hat.«
»Der Kerl ist fürchterlich, was für ein Typ Frau lässt sich auf den ein?«
Vanessa zuckt mit den Achseln. »Gehen wir in die Lobby, das Taxi wird gleich kommen.«
Die beiden schnappen ihre Koffer und marschieren zusammen ins Gebäude.
»Ich checke rasch aus«, sagt ihre Freundin und geht zum Rezeptionsschalter.
Chiara sieht aus dem Fenster und beobachtet Oliver, der im Garten auf einem Liegestuhl sitzt und in einer Zeitung liest.
Vanessa kommt zurück und stellt sich neben sie. »Ich hab die Kosten übernommen, ich lade dich ein, du brauchst mir das Geld nicht zurückzugeben.«
Chiara schluckt. »Das ist alles so unwirklich, träum ich das nur?«
Vanessa umarmt sie. »Es ist heftig, dass du jetzt erst erfahren hast, dass du adoptiert wurdest.«
»Das ist eine Katastrophe, aber ich will nicht darüber reden. Nur wo ist Stefan, ich möchte mich gern von ihm verabschieden, bevor wir abreisen.«
»Weiß ich nicht, ich schätze, er hat sich irgendwohin zurückgezogen.«
Die Frauen gehen hinaus, bemerken, dass das Taxi vorm Gebäude steht und der Chauffeur auf sie wartet.
Sie reichen dem Mann die Koffer und steigen in den Wagen.
Der Fahrer verstaut die Gepäckstücke im Kofferraum, setzt sich ans Steuer und startet das Auto.
Sie kurven aus dem Hotelparkplatz und gelangen auf die Hauptstraße.
Mit wehmütigen Blick legt Chiara den Gurt an, sieht aus dem Fenster und betrachtet die vorbeiziehende Landschaft.
Vanessa streicht ihr mit einer Hand über die Schulter. »Du tust das Richtige, hör dir an, was im Testament geschrieben steht.«
Chiara senkt den Blick. »Das will ich nicht wissen. Warum stehe ich dort drinnen, wo ich doch adoptiert worden bin?«
»Keine Ahnung, ich mein, deine Eltern hätten dich garantiert nicht wegegeben, wenn du ihnen wichtig gewesen wärst.«
Chiara kneift die Augen zusammen und räuspert sich lautstark.
»Sorry, das wollt ich nicht.«
Der Fahrer stoppt das Auto am Parkplatz neben dem Flughafen.
Die beiden Frauen bezahlen, steigen aus dem Wagen und holen ihr Gepäck aus dem Kofferraum. Zusammen gehen sie ins Gebäude.
Sie checken beim Schalter ein, setzen sich auf eine Bank und warten, bis ihre Flugnummer 602 aufgerufen wird.
»Flug 602 nach Zürich ist zum Einsteigen bereit«, ertönt kurz darauf eine Lautsprecherdurchsage am Gate.
Die Passagiere setzen sich in Bewegung und betreten das Flugzeug.