Читать книгу Irrlicht 5 – Mystikroman - Melissa Anderson - Страница 3

Оглавление

»Naomi«, hörte ich meine Kollegin Rosy durch die Sprechanlage nach mir rufen, »bitte zum Chef.«

Ich runzelte die Stirn und stellte die Pinsel, die ich eben gereinigt hatte, in ein Wasserglas, damit sie über Nacht nicht austrockneten.

»Okay«, antwortete ich, »ich komme gleich.«

Fünf Minuten vor Feierabend? fragte ich mich dann. Was konnte Mr. Larson da noch von mir wollen? Hoffentlich geriet dadurch nicht das geplante Dinner mit meinem Vater in Gefahr, der gerade wieder einmal geschäftlich in Los Angeles zu tun hatte und wie stets seine Einzige ausführen wollte.

Ich verließ das Atelier, in dem ich normalerweise noch mit meinem Kollegen Rudy Perrida und der Halbtagskraft Joan arbeitete. Bei der renommierten Firma Larson und Larson wurden Kunstwerke restauriert, hauptsächlich Gemälde und Kirchenfenster. Ich arbeitete gerade an einem solchen Fenster.

Doch es kam nur noch selten vor, daß wir alle zusammen mal im Atelier waren. Immer häufiger mußten wir Aufträge an Ort und Stelle erledigen. Rudy war der Star von uns allen, auch unter den freiberuflichen Mitarbeitern, die Mr. Larson noch beschäftigte, und ich beneidete ihn sehr um sein Talent. Ich war sogar regelrecht eifersüchtig auf ihn, denn er bekam stets die interessantesten Aufträge. Aber ich mochte ihn ganz gern. Er war ein netter Kollege, und ich hatte schon eine Menge von ihm lernen können.

Eilig lief ich über den Korridor und öffnete die Tür zum Büro. Rosy, Mr. Larsons Sekretärin, packte im Vorzimmer gerade ihre Sachen zusammen.

»Was ist?« fragte ich sie nervös. »Warum…«

Rosy lächelte merkwürdig geheimnisvoll. »Geh nur hinein, dann wirst du es gleich erfahren.«

Ihrem Gesicht nach zu schließen, schien es sich nicht gerade um eine schlechte Nachricht zu handeln, die mein Chef für mich parat hatte. Ich klopfte an seine Tür und trat ein.

Im Gegensatz zu Rosy machte Mr. Larson ein ernstes Gesicht, und mein Herz sank. Mit gemischten Gefühlen nahm ich auf dem Stuhl Platz, den er mir angeboten hatte. Er saß hinter seinem Schreibtisch und sah mich hinter seinen dicken Brillengläsern kummervoll an.

»Rudy ist verunglückt…«, begann er.

Ich schluckte und setzte mich kerzengerade auf. »Rudy ist verunglückt?« wiederholte ich mit gepreßter Stimme. »Das ist ja furchtbar. Ist er… ich meine…«

»Er ist schwer verletzt«, unterbrach Mr. Larson mein Gestammel. »Mehrere Knochenbrüche, Abschürfungen und eine Kopfverletzung. Aber er wird es überstehen, hat mir der Arzt vom Krankenhaus versichert.« Er seufzte schwer und bot mir eine Zigarette an, bevor er sich selbst eine anzündete. »Das Problem ist nur, daß Rudy nun seinen Auftrag nicht ausführen kann«, fuhr er fort«, deshalb habe ich Sie rufen lassen, Naomi.«

Er machte eine gedankenvolle Pause, und mein Herz fing an zu pochen. Sollte ich etwa einen von Rudys begehrten Aufträgen übernehmen? War meine Chance nun gekommen?

»Ich muß nun jemand anderen nach Carmel schicken«, redete Mr. Larson weiter, »und nach reiflicher Überlegung ist meine Wahl auf Sie gefallen, Naomi. Sie haben gerade in der letzten Zeit hervorragende Arbeit geleistet, und meine Kunden loben Sie in den höchsten Tönen. Ich bin sicher, daß Mr. Cummings Gemäldesammlung bei Ihnen in den besten Händen ist.«

Ich merkte, wie ich vor Freude und Aufregung heiße Ohren bekam. Einen Moment lang konnte ich ihn nur stumm anstarren, weil mir die Worte fehlten. Auf Mr. Larsons rundem, gutmütigem Gesicht lag wieder jenes väterliche Lächeln, mit dem er uns so oft bedachte. Er war der netteste Chef, den man sich denken konnte.

»Mr. Cummings?« rief ich dann begeistert. »In Carmel? Auf Monterey Peninsula?« Ich konnte es kaum glauben, Mr. Cummings besaß eine umfangreiche und wertvolle Privatgalerie, die in der Fachwelt Aufsehen erregte. Rudy bekam oft mehrmals im Jahr den Auftrag, nach Carmel zu fahren und ein paar von Mr. Cummings Gemälden zu restaurieren. Noch nie war jemand anders geschickt worden, und soviel ich wußte, wollte man in Cypress Manor – so hieß der herrschaftliche Besitz an der Küste von Monterey Peninsula – auch keinen anderen haben.

»Richtig«, hörte ich Mr. Larson in meine Gedanken hinein sagen. Erst jetzt sah ich ihn wieder bewußt an und registrierte sein breites Grinsen. »Wie würde Ihnen dieser Auftrag gefallen, Mädchen? Ich nehme an, Sie wissen, worum es sich handelt?«

Ich nickte benommen. »Ja, natürlich. Mr. Cummings’ Gemäldesammlung ist uns ja allen ein Begriff. Und Sie wollen mich tatsächlich nach Carmel schicken, um dort alte Gemälde von unschätzbarem Wert zu restaurieren?«

Mr. Larson lächelte über meinen Enthusiasmus. »Ich weiß, daß Sie das können, Naomi«, sagte er, »allerdings werden Sie dort eine Weile zu tun haben, und Ihren geplanten Urlaub in zwei Wochen…«

»Aber Mr. Larson«, rief ich überschwenglich, »was bedeutet mir noch dieser Urlaub, wenn ich statt dessen die Chance habe, einen so phantastischen Auftrag zu übernehmen? Dafür würde ich sogar ein paar Jahre lang auf Urlaub verzichten!«

Mr. Larson lachte. »Sie können ihn ja anschließend nehmen, wenn Sie damit fertig sind. Bleiben Sie doch gleich auf dieser schönen Halbinsel. Viel werden Sie während Ihrer Arbeit nicht davon zu sehen bekommen, deshalb würde Ihnen ein Urlaub dort sicher gefallen, oder?«

»Wundervoll«, strahlte ich.

Mit meinen vierundzwanzig Jahren war ich noch nicht viel aus Los Angeles herausgekommen, und wenn, dann war ich immer nur in südlichere Gegenden gefahren. Auch in Mexiko war ich einmal gewesen, mit Brian, dem Mann, den ich einmal hatte heiraten wollen. Aber seit dem Bruch mit ihm vor zwei Jahren war ich praktisch so gut wie nirgends mehr hingekommen, und Monterey Peninsula mit seiner berühmten Künstlerkolonie hatte mich schon immer gereizt.

»Die Frage, ob Sie den Auftrag annehmen, erübrigt sich wohl«, meinte Mr. Larson schmunzelnd.

Ich lachte. »Damit haben Sie vollkommen recht. Wann soll ich fahren?«

»Am besten gleich morgen, wenn Sie bis dahin Ihre Sachen für einen längeren Aufenthalt packen können.«

»Aber selbstverständlich«, warf ich ein, obwohl ich mir dessen gar nicht so sicher war. Schließlich war ich heute abend mit meinem Vater verabredet, aber das brauchte Mr. Larson nicht zu wissen.

»Ich werde ein Telegramm an Mr. Cummings schicken, daß Sie anstelle von Rudy nach Carmel kommen, um die Gemälde zu restaurieren«, bemerkte Mr. Larson, während er etwas auf einen Notizblock schrieb.

Meine Vorfreude erlitt einen Dämpfer.

»Wird Mr. Cummings mit mir als Ersatz auch einverstanden sein? Soviel ich weiß, legte er stets Wert darauf, daß ausschließlich Rudy seine Gemälde restauriert.«

»Machen Sie sich deswegen keine Gedanken, Naomi«, beruhigte Mr. Larson mich, »ich werde ihm alles erklären und Ihnen die besten Referenzen geben. Ich bin sicher, daß Mr. Cummings mit Ihrer Arbeit ebenso zufrieden sein wird wie mit Rudys.« Er zwinkerte mir aufmunternd zu. »Wer weiß, vielleicht will er dann in Zukunft nur noch Sie haben?«

Ich winkte ab. »Es ist zwar eine große Ehre für mich, wenn ich Rudy vertreten darf, aber ich will ihm bestimmt nicht seinen Job dort wegnehmen, das wäre unfair. Noch dazu, wo er jetzt hilflos im Krankenhaus liegt.«

Mr. Larson sah auf seine Armbanduhr und erhob sich. »Tut mir leid, Naomi, aber ich muß Sie eben hinauswerfen, da ich noch eine Besprechung habe. Haben Sie noch irgendwelche Fragen?«

Ich überlegte, doch in meinem Kopf ging alles durcheinander. »Nein«, sagte ich und stand ebenfalls auf, »im Moment fällt mir nichts ein. Außer, daß ich mit dem Kirchenfenster noch nicht fertig bin. Was soll damit geschehen?«

»Deswegen brauchen Sie sich nicht den Kopf zu zerbrechen. Joan kann es ebenso fertigstellen, außerdem muß ich ohnehin zwei unserer freien Mitarbeiter herbeordern, nachdem Sie und Rudy nun ausfallen.« Mr. Larson öffnete mir die Tür und drückte mir die Hand. »Hals und Beinbruch, Mädchen«, wünschte er mir, »wenn Sie Schwierigkeiten haben, rufen Sie mich an.«

»Okay«, versprach ich. Dann war ich entlassen.

Leider war Rosy schon gegangen, und ich konnte die aufregende Neuigkeit bei ihr nicht mehr loswerden. Doch sie schien ohnehin schon davon gewußt zu haben. Ich ging wieder ins Atelier, um meine Sachen zusammenzupacken.

Auf rosaroten Wolken schwebte ich nach Hause. Ich konnte mein Glück noch gar nicht fassen. Ein Traum war für mich wahr geworden, und ich hatte keine Ahnung, welch ein Alptraum schon wenig später daraus entstehen würde…

*

Am nächsten Tag nach dem Lunch machte ich mich auf die Reise ins Paradies, wie ich glaubte.

Das Treffen mit meinem Vater hatte sich fast bis Mitternacht ausgedehnt, und so hatte ich am Vormittag in aller Eile meine Sachen gepackt und im Kofferraum meines Toyota verstaut.

Mein Vater hatte zwar aus Rücksichtnahme auf mich den Abend früher beenden wollen, doch davon hatte ich nichts wissen wollen. Wir sahen uns ohnehin nur alle zwei Monate, und ich freute mich über jede Minute, die ich mit ihm verbringen konnte. Ich hatte zu ihm schon immer ein herzliches Verhältnis gehabt, und nach dem Tod meiner Mutter vor sechs Jahren hatte ich mich noch enger an ihn angeschlossen.

Er war sehr erfreut und auch stolz auf mich gewesen, daß man mir diesen Auftrag anvertraut hatte und hatte zur Feier des Tages eine Flasche Champagner bestellt. Aus irgendeinem Grund hatte mich dann im Lauf des Abends für kurze Zeit ein unbehagliches Gefühl befallen, ein Gefühl, als ob es verfrüht sei, dieses Ereignis zu begießen…

Doch als ich an diesem Mittag meine Reise startete, war dieses Gefühl wieder verflogen, und ich wurde von einer geradezu närrischen Vorfreude beherrscht. Das Wetter war einmalig schön, die Sonne strahlte vom wolkenlosen Himmel und der Verkehr auf der Küstenstraße nach Norden hielt sich in Grenzen. Ich freute mich riesig auf Monterey Peninsula, die berühmte Stadt Carmel, von der ich schon so viel gehört hatte, Cypress Manor, dem Herrensitz der Cummings, und meine Arbeit dort.

Als ich in Carmel ankam, war die Sonne bereits ein roter Feuerball am Horizont, der allmählich im Meer versank. Ich war von diesem Städtchen sofort verzaubert, das überall Künstleratmosphäre ausstrahlte. Fröhlich wirkende Menschen bevölkerten die Straßen, Geschäfte und Kunstgalerien waren noch geöffnet, und auf einem großen Platz wurden Kunstwerke aller Art ausgestellt. Ich fuhr in den nächsten freien Parkplatz und stieg aus, um mir das bunte Treiben näher anzusehen. Zusammen mit anderen Schaulustigen drängte ich mich um Stände mit Töpferwaren, Schmuck und Gemälden. Auf einer grob zusammengezimmerten Tribüne spielte eine kleine Jazzcombo heiße Rhythmen.

Ich war begeistert von dem ersten Eindruck, den ich von Carmel bekam. Am liebsten wäre ich noch stundenlang hier herumgeschlendert, aber ich war schließlich nicht zu meinem Vergnügen hier. Man erwartete mich, und es war schon sehr spät. Mit Bedauern und dem festen Vorsatz, so bald wie möglich wieder hierherzukommen, riß ich mich los und betrat durch die offenstehende Tür eine kleine Galerie, um mich nach dem Weg zu Cypress Manor zu erkundigen.

In der Galerie befand sich keine Menschenseele. Alle schienen sich draußen auf dem Platz zu drängen. Geduldig wartete ich auf den Inhaber der Galerie und besah mir in der Zwischenzeit die ausgestellten Gemälde und den Ständer mit den Künstlerkarten.

»Kann ich Ihnen etwas zeigen, oder möchten Sie sich nur ein wenig umsehen?« hörte ich nach einer Weile neben mir eine freundliche Männerstimme. Ich drehte mich um und sah einen Mann vor mir, der ein paar Jahre älter sein mochte als ich. Er trug Jeans und ein weißes, aufgeknöpftes Hemd. Das braune Haar war natürlich gelockt und ziemlich lang. Ein netter Typ, stellte ich im stillen fest. Sein Gesicht war ebenso freundlich wie seine Stimme.

»Keines von beiden«, sagte ich entschuldigend. »Sie haben zwar wunderschöne Bilder hier, aber ich kann mich heute leider nicht mehr aufhalten. Ich bin nur hereingekommen, um mich nach dem Weg nach Cypress Manor zu erkundigen. Können Sie mir sagen, wie ich dorthin komme?«

Der junge Mann sah mich merkwürdig prüfend an, wie mir schien. »Cypress Manor?« wiederholte er gedehnt. »Sind Sie mit den Cummings’ verwandt?«

Ein unangenehmes Gefühl kroch mir über den Rücken. Sein unverhohlenes Interesse verwirrte mich. Aber dann sagte ich mir, daß es sicher ganz normal war, nachdem die Cummings mit ihrer privaten Gemäldegalerie so berühmt waren. Solche Leute erregten immer das öffentliche Interesse.

»Nein«, sagte ich, »ich habe den Auftrag, einige Gemälde für Mr. Cummings zu restaurieren.«

Seine Augenbrauen ruckten in die Höhe. »Sie?« fragte er noch gedehnter. Obwohl ich ihn vorhin noch recht nett gefunden hatte, ärgerte ich mich jetzt über ihn.

»Trauen Sie mir das etwa nicht zu?« gab ich angriffslustig zurück. Vielleicht gehörte er auch zu den Männern, die der Meinung waren, daß eine Frau an den Kochtopf ge­hörte.

Er legte beschwichtigend seine Hand auf meinen Arm. »Das hatte ich damit wirklich nicht ausdrücken wollen«, versicherte er mir, »ich habe mich nur gewundert, weil Mr. Cummings in den letzten Jahren nur einen bestimmten Restaurator an seine Gemälde gelassen hat.«

Irgendwie hatte ich den Eindruck, daß das nicht der einzige Grund war, aus dem er sich wunderte. Seine Erklärung war zu rasch gekommen, auch wenn sie durchaus einleuchtend war.

»Rudy Perrida, ich weiß«, erwiderte ich. »Er ist ein Kollege von mir.« Ich erzählte ihm kurz, unter welchen Umständen ich zu diesem Job gekommen war. »Kennen Sie Rudy persönlich?« fragte ich dann.

Ein weiterer prüfender Blick traf mich. Dabei konnte ich feststellen, daß der junge Mann schöne braune Augen hatte.

»Ja, ich habe ihn kennengelernt«, sagte er etwas zögernd, »hier in Carmel kennt ohnehin jeder jeden.«

Ich nickte. Von dem kurzen Eindruck her, den ich von diesem Städtchen hatte, konnte ich mir das gut vorstellen. Hier lebte man sicher nicht so anonym wie beispielsweise in Los Angeles.

»Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?« hörte ich ihn in meine Gedanken hinein fragen. »Oder ein Glas Wein?«

Ich zögerte. Eigentlich hatte ich es ja eilig, nachdem ich ohnehin schon so spät dran war, aber dann dachte ich mir, daß ich von diesem Galeriebesitzer, oder wer immer es auch war, vielleicht etwas Interessantes über Cypress Manor und seine Bewohner erfahren und mir ein wenig ein Bild darüber machen konnte, bevor ich dort eintraf. Mr. Larson hatte keine Zeit mehr gehabt, mir irgendwelche Eindrücke zu vermitteln, und mir fiel jetzt plötzlich auf, daß Rudy immer auffallend wenig über seine Arbeit in Cypress Manor erzählt hatte, obwohl er sonst immer recht gesprächig war und meistens alles in leuchtenden Farben schilderte.

»Gern, vielen Dank«, sagte ich deshalb, »Kaffee habe ich heute schon genug getrunken, aber ein Glas Wein schlage ich nicht ab. Lange kann ich mich allerdings nicht mehr aufhalten, wenn ich mir meinen Weg nicht im Stockdunkeln suchen will.«

»Er ist wirklich leicht zu finden«, beruhigte er mich, »ich werde Ihnen alles aufschreiben. Kommen Sie, setzen wir uns nach hinten.«

Er führte mich um eine Stellwand mit Bildern herum zu einer gemütlichen Sitzgruppe. Durch einen Türbogen konnte ich einen Blick in einen Raum werfen, der meinem Atelier in der Firma Larson glich.

»Malen Sie selbst?« fragte ich interessiert und deutete mit meinem Arm in den angrenzenden Raum.

»Ja, aber nur noch nebenbei.« Er bat mich, Platz zu nehmen, und schenkte zwei Gläser mit Rotwein ein. Dann nahm er eine Visitenkarte von dem kleinen Stapel auf dem Tisch und reichte sie mir. »Mein Name ist übrigens Brandon Kelly«, stellte er sich mit einer kleinen Verbeugung vor, bevor er sich mir gegenüber setzte.

Ich warf einen Blick auf die Karte. Kunstmaler und Galeriebesitzer, Carmel, stand unter seinem Namen. Ich steckte sie dankend ein.

»Und ich bin Naomi Landers aus Los Angeles, von Beruf Restauratorin«, stellte ich mich meinerseits vor. »Ich werde voraussichtlich etwa sechs Wochen in Cypress Manor zu tun haben, anschließend verbringe ich dann hier noch meinen Urlaub.«

Wieder dieser forschende Blick. Am liebsten hätte ich ihn gefragt, ob mit Cypress Manor etwas nicht stimmte. Aber vielleicht bildete ich mir auch nur etwas ein. Ich hatte eine stundenlange Autofahrt hinter mir, war müde, nervös und aufgeregt.

Brandon Kelly hob mir sein Glas entgegen. »Auf Ihre erfolgreiche Arbeit in Cypress Manor…« Er stockte, dann setzte er hinzu: »Und einen angenehmen Aufenthalt.«

Warum hatte er das so merkwürdig betont? Ich lächelte etwas nervös und trank einen Schluck Wein.

Brandon erzählte mir etwas von Carmel, den vielen Künstlern, Schriftstellern und Schauspielern, die hier lebten oder hier einmal gelebt hatten, den Veranstaltungen und Festivals, die hier regelmäßig stattfanden. Ich hörte ihm interessiert zu, obwohl mir im Moment eine Beschreibung von Cypress Manor und seiner Bewohner lieber gewesen wäre.

Verstohlen schaute ich auf die Uhr an der Wand. So wohl ich mich auch in Brandon Kellys Gesellschaft fühlte, ich wollte jetzt lieber doch nach Cypress Manor fahren.

»Kennen Sie die Cummings’?« lenkte ich deshalb bei Gelegenheit die Sprache auf das Thema, das mich im Moment am meisten interessierte. »Ich muß gestehen, daß ich so gut wie gar nichts über meinen künftigen Arbeitsplatz weiß. Es ist alles so überstürzt, und mein Chef hatte keine Zeit mehr, mich näher zu informieren.«

Brandon setzte zum Reden an, doch in diesem Moment klingelte das Telefon. Er ging zum Schreibtisch hinüber und nahm den Hörer ab. Ich achtete nicht auf das, was er sprach, dafür ertappte ich mich dabei, daß mein Blick unverwandt an seiner muskulösen Gestalt hing. Ich nahm sein gutgeschnittenes Profil wahr, seine breiten Schultern und schmale Hüften, seine schlanken feingliedrigen Hände, die mit einem Bleistift spielten…

Nein! riß ich mich energisch zusammen. Ich war nicht nach Carmel gekommen, um eine neue Romanze zu beginnen, eine neue Enttäuschung zu erleben. Meine trüben Erfahrungen mit Brian hatten mich ernüchtert und vorsichtig werden lassen. Er hatte statt meiner Wenigkeit Hals über Kopf eine reiche Arzttochter geheiratet und mich gleichzeitig wissen lassen, daß unsere Beziehung deswegen ja nicht in die Brüche zu gehen brauchte. Seitdem hatte es für mich keinen Mann mehr gegeben, dem ich mein Vertrauen geschenkt hätte, außer meinem Vater und Mr. Larson, meinem Chef.

»Entschuldigen Sie bitte, daß es so lange gedauert hat, aber das war eine meiner anspruchsvollsten Kundinnen.« Ieh zuckte ein wenig zusammen, als Brandon wieder an den Tisch zuruckkam.

»Aber ich bitte Sie«, entgegnete ich rasch, »auf mich brauchen Sie doch wirklich keine Rücksicht zu nehmen. Schließlich bin ich hier nur hereingekommen, um mir eine Auskunft zu holen.«

Brandon schenkte mir ein unwiderstehliches Lächeln, bei dem meine Glieder von einer merkwürdigen Schwäche durchzogen wurden. Oder lag es nur am Wein?

»Und die haben Sie noch nicht mal bekommen.« Er riß ein Blatt von einem Notizblock und zeichnete etwas auf, dann reichte er es mir. »Sie fahren links die Straße hinunter, bis Sie auf den Seventeen Mile Drive kommen, dann etwa sechs Meilen am Golfplatz vorbei bis zum Cypress Point. Von dort aus können Sie Cypress Manor bereits sehen. Es ist das größte Anwesen in der Gegend und von einer gewaltigen Mauer umgeben.«

»Gewaltigen Mauer?« wiederholte ich stirnrunzelnd. Ich haßte Grundstücke, die von gewaltigen Mauern umgeben waren, besonders, wenn ich dahinter leben sollte.

Brandon schien zu spüren, was in mir vorging. »Cummings’ Gemäldesammlung ist von unschätzbarem Wert. Sie muß natürlich gesichert werden. Besonders, da er oft auf Reisen ist. Dann ist seine Frau für längere Zeit allein im Haus, und so sind alle möglichen Sicherheitsmaßnahmen eine Notwendigkeit.«

Das leuchtete mir ein. »Kennen Sie die Cummings’ persönlich?« wiederholte ich meine Frage von vorhin.

»Oh, entschuldigen Sie bitte, daß ich darauf nicht mehr eingegangen bin. Ja, ich kenne sie persönlich, wenn auch nicht sehr gut. Ich…« Er brach ab und starrte angelegentlich auf seine Finger. »Ich hatte vor einigen Jahren regelmäßig Gemälde für Mr. Cummings restauriert. Diesen Job hat dann Rudy Perrida übernommen, und ich habe meine eigene Galerie eröffnet.«

Unwillkürlich hatte ich das Gefühl, daß Brandon diesen Job aus schwerwiegenden Gründen aufgegeben hatte, aber danach konnte ich ja schlecht fragen.

»Mir persönlich war Walter Cummings nie sonderlich sympathisch, wenn ich das so offen sagen darf. Aber in Carmel und ganz Monterey Peninsula ist er hoch angesehen. Seine Frau Myra hingegen ist eine Seele von Mensch, etwas unselbständig, aber sehr liebenswert. Leider ist sie häufig krank. Seit etwa drei Jahren lebt auch Howard Cummings häufig hier, Walters Sohn aus erster Ehe. Kein Mensch weiß eigentlich genau, was er so treibt.«

Ich ließ mir kein Wort entgehen. Allerdings war ich nicht sehr angetan von dem, was ich hörte.

»Außerdem lebt nur noch Inez in Cypress-Manor, ein wahres Unikum von Haushälterin, die ihrer Herrin treu ergeben ist und die männlichen Mitglieder der Familie ebensowenig mag wie ich. Aber ich will mich nicht weiter in persönlichen Gefühlen ergehen. Sie müssen sich selbst ein Bild davon machen, Naomi.«

Ich antwortete nicht gleich. Nun, das war schon eine ganze Menge an Informationen. Trotzdem hatte Brandon recht. Ich mußte mir selbst ein Bild davon machen, und das am besten gleich. Ich stand auf und nahm meine Tasche.

»Vielen Dank für den Wein, Brandon«, sagte ich, »aber ich gehe jetzt besser.«

Er stand ebenfalls auf und brachte mich zur Tür. »Viel Glück, Naomi«, wünschte er mir und sah mich mit einem ernsten Blick an. »Werden Sie wieder mal bei mir hereinschauen? Ich würde mich sehr darüber freuen.«

Ich nahm seine ausgestreckte Hand und drückte sie. »Natürlich gern, sofern es meine Zeit erlaubt. Aber jetzt muß ich mich auf Cypress Manor erst einmal eingewöhnen und sehen, wie ich dort zurechtkomme.«

»Bitte passen Sie auf sich auf, und rufen Sie mich an, wenn Sie Schwierigkeiten haben. Ich bin gern für Sie da.«

Ich versprach es ihm und bedankte mich.

Damit verließ ich die Galerie und stieg in mein Auto. Merkwürdig, dachte ich, als ich in die Richtung fuhr, die Brandon mir beschrieben hatte, daß er mir ebenso wie Mr. Larson angeboten hatte, ihn anzurufen, wenn sich Schwierigkeiten für mich ergeben sollten. Mich bedrückte die Frage, mit welchen Schwierigkeiten sie denn rechneten.

*

Den Seventeen Mile Drive fand ich mit Leichtigkeit, doch je länger ich darauf fuhr, desto unheimlicher wurde mir zumute. Ein paar Häuser, auch den Golfplatz, der gespenstisch auf den Klippen lag, konnte ich noch erkennen, doch dann hatte ich das Gefühl, in eine völlig einsame Wildnis geraten zu sein. Kein Licht, kein Haus, kein Auto, das mir begegnet wäre. Fast glaubte ich schon, mich verfahren zu haben.

Ich konnte mir kaum vorstellen, daß das Herrenhaus der Cummings, das eine so wertvolle Gemäldesammlung beherbergte, so weit abgelegen sein sollte.

Doch dann erblickte ich die schwarzen Umrisse einer Mauer, und wenig später einen Briefkasten am Straßenrand, der die Aufschrift »Cypress Manor« trug. Ich bog in die kurvenreiche Einfahrt ein.

Die dunklen Silhouetten der Schirmzypressen, die rechts und links davon standen, hoben sich merkwürdig geisterhaft gegen den dunkelvioletten Nachthimmel ab. Doch genauso geisterhaft wirkte das Haus auf mich. Es war eine riesige verschachtelte Konstruktion aus Holz, Beton und Glas, in dem ich nur im unteren Teil einen schwachen Lichtschein erkennen konnte.

Jetzt bereute ich es, daß ich mich so lange in Brandon Kellys Galerie aufgehalten hatte. Bei Tageslicht hätte dieser Ort, an dem ich nun für einige Zeit leben sollte, sicher nicht so gespenstisch gewirkt.

Vor einem riesigen, schmiedeeisernen Tor war meine Fahrt zu Ende. Ich stieg aus und suchte im Lichtkegel meiner Scheinwerfer nach einer Klingel. Halb hinter dem Laubwerk eines Busches verborgen fand ich sie dann und drückte darauf.

Eine scheppernde Stimme antwortete mir. »Wer ist da?«

»Naomi Landers aus Los Angeles«, antwortete ich.

»Kenne ich nicht«, kam die Antwort »was wollen Sie?«

Mein Unbehagen wuchs. Einen etwas freundlicheren Empfang hatte ich mir gewiß vorgestellt.

»Ich bin telegrafisch angemeldet worden von der Firma Larson und Larson als Vertretung von Rudy Perrida«, gab ich etwas ärgerlich zur Auskunft, »ich war in dem Glauben, erwartet zu werden.«

Für eine kurze Zeitlang hörte ich nur ein Knacken in der Sprechanlage, dann meldete sich die Stimme wieder.

»Eine Frau?« Es klang wie ein Jubelschrei und verwirrte mich noch mehr. »Bitte fahren Sie zum Haus, das Tor schließt automatisch.«

Es ging auch automatisch auf, wie von Geisterhand geöffnet. Mit gemischten Gefühlen fuhr ich hindurch und hörte trotz des Motorengeräuschs meines Autos, wie es hinter mir wieder ins Schloß fiel. Bei dem dumpfen Knall hatte ich unwillkürlich das Gefühl, in einer Falle gelandet zu sein, aus der ich so schnell nicht mehr entkommen konnte.

Flüchtig dachte ich an meinen Vater, Mr. Larson und Brandon Kelly. Doch dann gingen in dem düsteren Gebäude vor mir mehrere Lichter an, und es wirkte plötzlich nicht mehr feindselig, sondern einladend auf mich.

Mit neuem Mut fuhr ich auf das wuchtige Portal zu und parkte dort.

Noch bevor ich aus dem Auto steigen konnte, ging die Eingangstür auf, und eine kleine dicke Frau erschien, die ich sofort als Mexikanerin indianischer Abstammung einstufte. Aus dunklen Kulleraugen starrte sie mich neugierig an. Als ich ihr kurz zuwinkte und Anstalten machte, mein Gepäck aus dem Kofferraum zu holen, kam sie mit einem breiten Grinsen die Treppe hinunter, um mir zu helfen.

»Ich bin Inez«, plapperte sie aufgedreht, während sie schwungvoll mein Gepäck an sich nahm, »Mrs. Cummings’ Haushälterin und gute Seele. Sie ahnen ja gar nicht, wie froh ich bin, daß eine Frau ins Haus kommt. Die Mistress wird überglücklich sein. Hat man Señor Perrida nun endlich das Handwerk gelegt?«

Mir wurde plötzlich eiskalt, und ich blieb stehen. Was hatte Inez damit sagen wollen? Sie hatte diesen ganzen Wortschwall losgelassen, während sie vor mir her auf die Haustreppe zuging.

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte ich gepreßt.

Auch sie blieb stehen und drehte sich schwerfällig nach mir um. Doch sie beantwortete meine Frage nicht. »Sie sagten, Sie sind telegrafisch angemeldet worden.« Sie schüttelte den Kopf. »Davon weiß ich nichts, und die Mistress bestimmt auch nicht. Aber es ist gut, daß Rudy nicht mehr kommt. Ich werde Ihnen ein Zimmer im Haus geben. Es ist zu dunkel, als daß ich Sie ins Felsenhaus bringen könnte.«

»Ins Felsenhaus?« fragte ich verwirrt, während mich ein kalter Schauer überlief. Ich hatte keine Ahnung, was sie damit meinte, aber ich wollte gewiß nicht die Nacht in irgendeinem Felsenhaus verbringen.

Mittlerweile waren wir an der Haustür angelangt. Ich folgte Inez hinein, und sie verriegelte die Tür hinter mir sorgfältig.

»Im Felsenhaus ist das Atelier«, erklärte sie mit gedämpfter Stimme, »Rudy hat dort immer gearbeitet. Sind Sie wirklich an seiner Stelle gekommen? Was ist mit ihm passiert?«

Ich erklärte noch einmal, wie ich zu diesem Job gekommen war, und Inez nickte hocherfreut. Sie stellte mein Gepäck im Korridor ab und fuhr sich durch das schwarze Haar, das bereits von vielen grauen Strähnen durchzogen war.

»Ich werde Sie besser erst einmal zu Mrs. Cummings bringen, bevor ich Ihnen Ihr Zimmer zeige«, meinte sie, »nachdem Sie von Ihrer Ankunft keine Ahnung hat. Sie ist sehr leidend, müssen Sie wissen, aber sie freut sich bestimmt sehr, daß Sie jetzt hier sind. Etwas Gesellschaft wird ihr guttun.«

Ich folgte Inez einen mit teuren Teppichen belegten Korridor entlang, an dessen Wänden wunderschöne Ölgemälde hingen. Ein Seemotiv zog mich besonders an, und ich blieb kurz davor stehen. Als ich weiterging, kamen mir wieder Inez’ Worte in Erinnerung, und ich dachte mir, daß ich nicht hier war, um einer einsamen Frau Gesellschaft zu leisten, sondern um intensiv zu arbeiten.

Inez klopfte an eine getäfelte Tür und ließ mich eintreten. »Miß Naomi Landers aus Los Angeles«, meldete sie mich an, dann ging sie wieder hinaus und schloß die Tür hinter sich. Etwas unsicher blieb ich stehen.

*

Der Raum, in den Inez mich geführt hatte, war mit wundervollen alten Möbeln eingerichtet, Spitzenvorhängen, Spitzendeckchen, Gestecken aus getrockneten Blumen und einem uralten Eisenofen, der noch aus der Pionierzeit zu stammen schien.

Die zierliche dunkelhaarige Frau, die auf einem hochlehnigen Sofa saß und ein Buch in den Händen hielt, war von Krankheit gezeichnet, das konnte jeder Laie erkennen. Sie war mir auf Anhieb so sympathisch, daß ich sie am liebsten wie eine alte Bekannte begrüßt hätte.

Sie hob den Kopf und sah mich aus warmen freundlichen Augen an. Es war für mich unschwer zu erkennen, daß ich ihr genauso sympathisch war wie sie mir.

»Naomi Landers aus Los Angeles«, wiederholte sie nachdenklich. »Wie nett, Sie kennenzulernen. Wissen Sie, ich habe kaum Kontakt zu Menschen und freue mich Über jeden Besuch. Haben Sie sich in unserer Einsamkeit verfahren? Wollen Sie eine Nacht hierbleiben? Sie sind herzlich willkommen.«

»Nein, nein«, versuchte ich richtigzustellen. »Ich bin im Auftrag Ihres Mannes als Restauratorin hier.« Wieder erzählte ich, daß Rudy im Krankenhaus lag und ich nun an seiner Stelle gekommen war, um die Gemälde zu restaurieren.

Dabei konnte ich auf Mrs. Cummings Gesicht verschiedene Empfindungen ablesen: Angst und Schrecken bei der Erwähnung von Rudys Namen, angespanntes Interesse, als ich weiterredete, und glückliches Strahlen, als sie begriffen hatte, daß ich anstelle von Rudy gekommen war und nun für mindestens sechs Wochen in Cypress Manor bleiben würde.

»Das finde ich einfach wundervoll, Naomi«, freute sie sich, »ich weiß, daß Sie viel Arbeit haben werden, aber vielleicht können Sie doch ein bißchen Zeit erübrigen, um mir Gesellschaft zu leisten.«

»Aber natürlich«, entgegnete ich spontan.

Doch damit war die Sache für mich noch nicht abgetan. Ich wunderte mich, weshalb mein Kollege Rudy Perrida, der von mir und meiner Firma sehr geschätzt wurde, bei den Damen von Cypress Manor offenbar nicht so beliebt war, und auch Brandon Kelly schien von ihm nicht sonderlich begeistert zu sein.

»Mein Mann ist zur Zeit wieder auf einer seiner vielen Geschäftsreisen«, fahr Myra Cummings fort. »Mein Stiefsohn Howard aus Walters erster Ehe wird morgen wieder zurückkommen, aber ich muß ehrlich zugeben, daß wir uns in den paar Jahren, in denen er nun auf Cypress Ma­nor lebt, nicht nähergekommen sind.« Sie senkte den Blick und fuhr sich über die Augen. »Meine einzige Vertraute ist Inez, auch wenn ich manchmal mit ihr aneinandergerate. Zwei so alte Frauen wie wir werden mit der Zeit oft wunderlich.«

»Aber ich bitte Sie, Mrs. Cummings«, erwiderte ich mit einem Lächeln, »niemand würde Sie als alte Frau bezeichnen.«

»Das haben Sie nett gesagt, vielen Dank. Aber nennen Sie mich bitte Myra, wenn Sie mich schon nicht so alt finden.«

»Gern, Myra«, ging ich erfreut darauf ein.

Ich fühlte mich zusehends wohler in Cypress Manor und brachte die Sprache auf das mysteriöse Felsenhaus.

»Inez erwähnte etwas davon, daß ich in einem Felsenhaus übernachten sollte. Was hat es damit auf sich?«

Ich merkte, wie Myra nervös wurde und auf ihre verschlungenen Hände sah. Dann holte sie umständlich ein Taschentuch hervor und zerknüllte es, ohne es zu benutzen.

»Ja, leider besteht mein Mann darauf, daß alle…«

Sie wurde unterbrochen, weil Inez ihren Kopf zur Tür hereinsteckte.

»Entschuldigen Sie bitte…« Inez sah von mir zu Myra und dann wieder zu mir. »Ich hatte ganz vergessen, Sie zu fragen, ob ich Ihnen nicht einen kleinen Imbiß richten soll. Oder haben Sie unterwegs schon etwas gegessen?«

In diesem Augenblick rührte sich mein Magen. »Nein, das habe ich noch nicht«, erwiderte ich, »aber…«

Myra unterbrach mich, indem sie Inez mit einer bezeichnenden Handbewegung aus dem Zimmer scheuchte. »Bringen Sie einen kleinen Imbiß für uns beide, und eine Flasche Wein«, rief sie ihr nach, »dabei läßt es sich besser unterhalten.« Dann sah sie mich mit einem besorgten Blick an. »Oder sind Sie zu müde? Möchten Sie lieber auf Ihr Zimmer gehen?«

»Nein«, versicherte ich, »ich würde mich lieber noch ein wenig mit Ihnen unterhalten.«

*

Nachdem Inez gegangen war, wollte ich nun genau wissen, was es mit diesem Felsenhaus auf sich hatte und schnitt deshalb dieses Thema unverzüglich wieder an.

Myras eben noch so fröhliches Gesicht verschloß sich, und sie wurde wieder nervös.

»Rudy Perrida hat in diesem Felsenhaus immer gearbeitet. Dort befinden sich ein Atelier, Schlafzimmer, Wohnraum und Küche. Mein Mann… nun, er will nicht, daß Fremde in Cypress Manor übernachten. Sie müssen verstehen… der Wert der Gemäldesammlung und so…«

Ich verstand und sah sie mit einem unguten Gefühl an. »Dann sollte ich lieber ebenfalls in dieses Felsenhaus übersiedeln«, schlug ich vor, »ich möchte keine Schwierigkeiten mit Ihrem Mann bekommen, und wenn das Atelier ohnehin im Felsenhaus ist…«

»Nein, nein«, unterbrach Myra mich, »das kommt gar nicht in Frage. Mein Mann weiß ja nicht, daß Sie anstelle von Rudy gekommen sind, und einer Frau wird er bestimmt nicht zumuten, in diesem einsamen Haus auf den Klippen zu wohnen. Außerdem haben wir hier in Cypress Manor ein viel größeres und besser ausgestattetes Atelier.« Sie schwieg und sah zum Fenster hinaus, hinter dem die Sterne am Nachthimmel zu sehen waren. »Manchmal benütze ich es selbst«, fügte sie leise hinzu.

»Sie malen selbst?« fragte ich interessiert.

Sie wandte mir wieder ihr Gesicht zu und sah mich mit einem fast schüchternen Lächeln an.

»Nur für mich selbst als Zeitvertreib«, sagte sie. »Kunstwerke kann man meine Malerei bestimmt nicht nennen, aber es macht mir Freude.«

Ich wollte sie fragen, ob sie mir ihre Bilder nicht einmal zeigen wollte, aber ich fand den Zeitpunkt verfrüht. Außerdem kam gerade Inez herein mit einer Platte voll leckerer Schnittchen. Sie stellte sie zusammen mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern auf den niederen Couchtisch und ging nach kurzem Zögern aus dem Zimmer.

Offenbar war Inez es gewohnt, von ihrer Herrin eingeladen zu werden. Doch Myra schien sich nur auf mich konzentrieren zu wollen. Sie warf mir immer wieder prüfende Blicke zu, während sie den Wein einschenkte und mich zum Zugreifen aufforderte.

Eine Weile aßen wir beide schweigend, dann hatte ich das Gefühl, etwas sagen zu müssen.

»Es war für mich eine große Ehre, daß Mr. Larson mich ausgewählt hat, Rudy zu vertreten. Ich hoffe, daß ich meine Arbeit ebenso gut erledigen werde, aber noch mehr hoffe ich, daß Ihr Mann mich auch als Ersatz akzeptieren wird. Das Telegramm, das Mr. Larson schicken wollte, ist offenbar noch nicht angekommen. Wie wird er nun auf mich reagieren und auf die Tatsache, daß ich in Cypress Manor wohne, anstatt in diesem Felsenhaus? Ich möchte wirklich nicht, daß meinetwegen nun gewisse Regelungen geändert werden.«

Mir war bei meiner Frage etwas bang zumute, denn ich hatte bisher den Eindruck gehabt, daß Myra impulsiv und hinter dem Rücken ihres Mannes gehandelt hatte. Zu meiner Überraschung sah ich jetzt ein hartes, entschlossenes Gesicht vor mir.

»Cypress Manor gehört mir, genau wie die Gemälde­sammlung«, ließ sie mich in einem Ton wissen, der ebenso hart war wie ihr Gesichtsausdruck. »Beides besaß ich bereits, als ich Walter heiratete, und brachte es in die Ehe mit. Ich hatte es von meinem Vater geerbt, und dieser wiederum von seinem Vater.«

Ihre Stimme verlor ihre Härte und wurde leidenschaftlicher: »Cypress Manor und die Gemäldegalerie sind von Generation zu Generation weitervererbt worden, und mein Mann und sein Sohn haben hier praktisch nur eingeheiratet…«

Sie brach mit hochroten Wangen ab, als sie Inez in der Tur stehen sah.

»Ist schon gut, Inez«, sagte sie müde, »bring mir meine Tabletten, dann gebe ich wieder Ruhe.« Myra wandte sich zu mir und drückte mir über den Tisch hinweg die Hand, dann sah sie wieder zu Inez. »Und bringe bitte Naomi auf ihr Zimmer. Sie ist müde von der langen Reise, und ich möchte mich auch nicht noch mehr verplappern.«

*

Ich wäre zwar lieber noch geblieben und hätte gar nichts dagegen gehabt, wenn sich Myra noch ein wenig mehr verplappert hätte, wie sie es ausdrückte, aber ich konnte schlecht einfach sitzenbleiben. Ich wünschte ihr eine gute Nacht, dann folgte ich Inez aus dem Zimmer.

Sie nahm mein Gepäck und schleppte es eine breite geschwungene Treppe hinauf, ohne daß ich ihr dabei helfen durfte.

Die Korridore im ersten Stockwerk waren so verzweigt, daß ich befürchtete, mich zu verlaufen, wenn ich mich hier allein zurechtfinden sollte. An einem Ende davon bemerkte ich eine weitere Treppe, die nach oben führte. Cypress Manor schien sogar noch größer zu sein, als es von außen den Anschein gehabt hatte.

Schnaufend blieb Inez vor einer Tür ganz am Ende des einen Korridors stehen und stieß die Tür auf. Nachdem sie Licht gemacht hatte, stellten wir beide mein Gepäck ins Zimmer.

»Ich habe Ihnen das Zimmer mit dem schönsten Ausblick auf das Meer gegeben«, sagte sie, während sie mit der Hand auf eine Wand deutete, die nur aus Holzrahmen und Glas bestand. »Heute nacht können Sie natürlich nichts mehr davon sehen, aber morgen früh werden Sie begeistert sein.«

Ich sah mich flüchtig in dem großen Raum um, der spärlich, aber geschmackvoll mit modernen Möbeln ausgestattet war. Mit meinen Gedanken war ich noch bei Myra Cummings. Mir tat es leid, daß unsere kurze Unterhaltung so jäh beendet worden war, aber noch viel mehr leid tat mir Mrs. Cummings selbst.

Ich drehte mich zu Inez um und bedankte mich. »Was fehlt Mrs. Cummings eigentlich?« fragte ich. »Ich meine…«

Inez ging zur Tür. Offenbar wollte sie nicht gern darüber reden. »Ich verstehe, daß Sie einiges merkwürdig finden«, murmelte sie, »aber lassen Sie sich davon nicht verwirren.«

Bevor sie aus der Tür ging, warf sie mir noch einen Blick über ihre Schulter zu.

»Mrs. Cummings hat es mit den Nerven, wissen Sie? Außerdem macht ihr Herz nicht mehr so richtig mit. Sie darf sich auf keinen Fall aufregen und muß ständig Medikamente nehmen. Legen Sie nicht jedes Wort, das sie sagt, auf die Waagschale. Tun Sie Ihre Arbeit hier und lassen Sie sich nicht in private Dingen hineinziehen. Das ist mein guter Rat.«

Damit ging sie hinaus und schloß die Tür.

Anstatt meine Sachen auszupacken und mich für die Nacht herzurichten lief ich erst einmal beunruhigt im Zimmer auf und ab. Ich konnte nicht gerade sagen, daß ich nun froh war, in Cypress Manor zu sein. Irgend etwas stimmte hier nicht.

Myra Cummings war krank und schien in ihrer Ehe nicht sehr glücklich zu sein. Ich hatte sogar den Eindruck, daß sie Angst hatte.

Inez’ Bemerkung über Rudy fiel mir wieder ein. Was hatte sie nur gemeint mit der Frage, ob man ihm endlich das Handwerk gelegt hätte? Hatte er unehrenhafte Dinge getan? Ich konnte mir das nicht vorstellen. Hätte ich nur gleich auf einer Erklärung bestanden! Ich bezweifelte, daß ich später noch etwas aus Inez herausholen konnte.

Aber ich sollte vielleicht wirklich ihren Rat befolgen und mich ausschließlich um meine Arbeit kümmern, weswegen ich ja letzten Endes hier war. Nur hätte ich sie lieber in einer etwas fröhlicheren und weniger geheimnisvollen Atmosphäre getan, aber das konnte man sich nicht immer aussuchen.

Ich seufzte leise vor mich hin und trat an die Fensterfront. Die schwarze Masse, die unter mir lag, mußte das Meer sein. Ich hörte es rauschen und gegen die Felsen rollen. Weit draußen schimmerte ein Licht. Entweder gehörte es zu einem Boot, das dort ankerte, oder zum Festland. Mehr war nicht zu sehen.

An der rechten Wand befand sich ein roter gewebter Vorhang, der bis zum Boden reichte. Ich schob ihn zur Seite und sah, daß dahinter ebenfalls eine große Fensterfront war. In einem Zimmer, von dessen vier Wänden zwei nur aus Glas bestanden, hatte ich noch nicht gewohnt. Ich konnte mir vorstellen, daß man von hier aus einen herrlichen Ausblick hatte.

Direkt in der Ecke zwischen den beiden Glaswänden hing eine Hängematte. Den Boden bedeckten gewebte Teppiche und Sitzkissen. Die anderen beiden Wände waren mit Holz verkleidet und mit Landschaftsbildern geschmückt. Es gab einen offenen Kamin, eine gemütliche Sitzgruppe davor, einen Einbauschrank – doch wo war das Bett? Verwirrt sah ich mich um. Ich konnte keines entdecken, doch dann bemerkte ich den Stapel Decken und Kissen auf dem breiten Sofa. Offenbar sollte ich hier schlafen. Mein Blick fiel auf die Hängematte. Und warum nicht dort? Kurz entschlossen nahm ich die Decken und warf sie hinein. In einer Hängematte mit Blick auf das Meer zu schlafen war einmal etwas anderes.

Anschließend packte ich meine Koffer aus und räumte meine Sachen in den Schrank. Eine Tür führte in ein Bad, das ebenfalls mit hellem Holz verkleidet war. Ich duschte und zog meinen Schlafanzug an, dann löschte ich das Licht und kletterte in die Hängematte.

Meine Gedanken wanderten zu Brandon Kelly zurück. Mit Sicherheit hatten wir uns nicht zum letzten Mal gesehen. Er gefiel mir, und er machte einen vertrauenerweckenden Eindruck. Einen guten Freund konnte ich während meines Aufenthalts auf Monterey Peninsula sicher gut gebrauchen.

Seine Worte fielen mir ein, daß ich mir von Cypress Manor selbst einen Eindruck machen mußte. Jetzt wünschte ich mir, unbelastet hierher gekommen zu sein, ohne vorher etwas über die Bewohner erfahren zu haben. Dann hätte ich jetzt nicht diese unbehaglichen Gefühle gehabt.

War ich nur etwas zu empfindlich? Wenn es in der Familie Cummings Spannungen gab, so ging mich das nichts an, und wenn Rudy etwas getan hatte, was Inez offenbar gegen den Strich ging, so war das ebenfalls nicht meine Sache. Mich brauchte hier wirklich nichts weiter zu interessieren als meine Arbeit. Ich fragte mich nur, wie ich damit anfangen sollte, wenn Mr. Cummings gar nicht da war. Ob Myra wußte, was zu tun war? Ich bezweifelte das.

Allmählich wurde ich wieder ruhiger und auch optimistischer. Ich entspannte mich und streckte mich aus. Das monotone Rauschen der Wellen unter mir und das sanfte Schaukeln der Hängematte trugen bald dazu bei, daß ich in einen tiefen Schlaf fiel.

*

Am nächsten Morgen erwachte ich, weil mir die Sonne ins Gesicht schien. Ich blinzelte und rollte mich auf die Seite. Doch es war nicht nur die Helligkeit, die mich geweckt hatte, sondern auch eine männliche Stimme. Sie drang zwar nur von weitem zu mir herauf, von irgendwo aus dem verwinkelten Haus, doch ich konnte feststellen, daß sie ungehalten und ärgerlich klang.

War Mr. Cummings zurückgekommen und regte sich nun darüber auf, daß man anstelle von Rudy mich zum Restaurieren der Bilder geschickt hatte und ich obendrein im Haus wohnte? Doch dann fiel mir ein, daß Myra gestern etwas davon gesagt hatte, ihr Stiefsohn würde heute zurückkommen.

Ich seufzte und schlug die Augen auf. Im selben Moment blieb mir vor Schreck fast das Herz stehen. Der Blick über das Meer war wirklich einmalig schön, doch direkt unter mir ging es mindestens hundert Meter in die Tiefe. Mir stülpte sich fast der Magen um, als ich auf die zerklüfteten Felsen hinunterstarrte, gegen die unaufhörlich die Brandung rollte. Das war ein Anblick, den ich bei meiner Tiefenangst nicht ertragen konnte. Mit weichen Beinen kletterte ich aus der Hängematte und ging ins Bad, um mich fertigzumachen.

Ich zog graue Cordhosen und ein pfirsichfarbenes T-Shirt an und hoffte, damit für ein Frühstück bei den Cummings passend angezogen zu sein. Die wenigen Kleider, die ich mir mitgenommen hatte, wollte ich mir für abends aufheben.

Frühstück? dachte ich dann mit einem mißtrauischen Blick auf die Sonne, die schon ziemlich hoch stand. Ich ging zum Tisch und nahm meine Armbanduhr, die ich gestern abend dort hingelegt hatte. Doch ich hatte vergessen, sie aufzuziehen, und sie war stehengeblieben. Aber ich brauchte nicht unbedingt eine Uhr, um zu wissen, daß meine erste Mahlzeit in Cypress Manor wohl eher ein Lunch als ein Frühstück sein würde.

Ich öffnete die Tür und trat auf den Korridor hinaus. Nachdem mein Zimmer am Ende lag, gab es nur eine Richtung, in die ich laufen konnte. Am anderen Ende davon war es schon schwieriger, denn die Gänge verzweigten sich. Doch ich konnte mich noch einigermaßen daran erinnern, von wo ich gestern mit Inez gekommen war und fand dann auch die Treppe, die nach unten führte.

Dieses Haus hatte sicherlich zwanzig Zimmer, Myra Cummings mußte sich richtig verloren darin vorkommen, wenn sie so oft allein war.

Als ich unten an der Treppe angelangt war, kam Inez mit einem vollbeladenen Tablett auf mich zugeschaukelt. Verlockende Düfte stiegen davon auf, und das Wasser lief mir im Mund zusammen.

»Ich wollte Ihnen gerade das Frühstück bringen«, erklärte sie, nachdem sie mich begrüßt hatte.

»Guten Morgen, Inez. Danke, das ist nett von Ihnen.« Ich nahm ihr das Tablett ab und blieb unschlüssig stehen. Sollte ich damit nun wieder in mein Zimmer gehen? Wollte man mich nicht am Familientisch mit dabeihaben? Doch dann fiel mir ein, daß das Frühstück sicher schon längst vorbei war.

»Meine Uhr ist stehengeblieben«, sagte ich entschuldigend, »sicher ist es schon sehr spät.«

»Halb elf«, sagte sie nach einem Blick auf eine schöne alte Standuhr in der Ecke, die mir erst jetzt auffiel.

Eine Tür ging auf, und Myra Cummings erschien. Sie sah frisch und jugendlich aus in ihrem geblümten Sommerkleid.

»Da sind Sie ja, meine Liebe«, rief sie erfreut und winkte mich zu sich. »Kommen Sie nur herein und frühstücken Sie im Speisezimmer.«

»Es tut mir leid, daß ich so spät aufgewacht bin«, entschuldigte ich mich, »normalerweise schlafe ich nicht so lange.«

Myra nahm mich am Ellbogen und schob mich ins Zimmer. »Das ist doch selbstverständlich, daß Sie nach Ihrer langen Reise gestern ein wenig länger geschlafen haben. Howard und ich sind eben auch erst mit dem Frühstück fertiggeworden.« Bevor sie die Tür schloß, wandte sie sich an Inez. »Bring uns bitte noch eine Kanne Kaffee.«

Auch das Speisezimmer war gediegen und geschmackvoll eingerichtet und glich im Stil dem Zimmer, in dem ich gestern von Myra Cummings begrüßt worden war. Bei meinem Eintreten hatte sich ein etwa dreißigjähriger gutaussehender Mann vom Tisch erhoben und kam nun auf mich zu.

»Das ist mein Stiefsohn Howard«, stellte Myra ihn mir vor. »Er ist gestern spät in der Nacht noch zurückgekommen. Howard, das hier ist Naomi Landers aus Los Angeles, von der ich dir bereits erzählt habe.«

Er musterte mich kurz aus kalten grauen Augen, dann verzog sich sein Gesicht zu einem charmanten Grinsen.

»Es freut mich, Sie kennenzulernen, Miß Landers. Willkommen in Cypress Manor.«

Trotz seiner freundlichen Worte hatte ich das Gefühl, daß er mich eher zum Teufel wünschte. Es war also er gewesen, dessen Stimme so ungehalten durch das Haus geklungen hatte.

Ich nahm an, daß meine Anwesenheit der Grund für seinen Ärger gewesen war, auch wenn er sich jetzt davon nichts mehr anmerken ließ.

Er nahm mir das Tablett aus der Hand und stellte es auf den Tisch, dann rückte er mir einen Stuhl zurecht und bat mich, Platz zu nehmen. »Setzen Sie sich, Miß Landers. Essen Sie Ihr Frühstück und lassen Sie sich von uns nicht stören.«

Nachdem auch Myra wieder Platz genommen hatte, setzte er sich mir gegenüber und richtete das Wort an seine Stiefmutter. Ich beschäftigte mich mit einem reichhaltigen Frühstück, das aus Pancakes, Würstchen mit Sirup, gebratenen Eiern und Toast bestand. Wenig später kam ­Inez mit einer vollen Kaffeekanne herein, schenkte uns allen ein und nahm die andere leere Kanne mit hinaus.

»Gefällt Ihnen Ihr Zimmer?« fragte Myra mich freundlich, als ich zu Ende gegessen hatte.

Ich nickte. »Danke, sehr gut. Nur beim Aufwachen war ich etwas erschrocken, als ich so tief unter mir das Meer tosen sah.«

Myra lachte. »Haben Sie in der Hängematte geschlafen? Ich dachte mir, daß Ihnen das gefallen wird. Inez sagte mir, daß sie Sie in dem Erkerzimmer untergebracht hat. Aber wenn Ihnen ein ordentliches Bett lieber ist, dann brauchen Sie es nur zu sagen. Wir haben noch mehr Gästezimmer, aber so einen phantastischen Ausblick haben Sie nicht.«

»Aber nein, ich bin mit meinem Zimmer vollauf zufrieden«, versicherte ich.

Howard bat, rauchen zu dürfen, und bot mir ebenfalls eine Zigarette an. Während er den Rauch inhalierte, sah er mich nachdenklich und intensiv an.

»Ich muß sagen, Sie sind eine ziemliche Überraschung«, begann er. »Wir hatten mit Rudy gerechnet, und nun liegt der Ärmste im Krankenhaus. Wissen Sie, wie es ihm geht?«

Ich erzählte ihm, was ich von Mr. Larson wußte. »Vermutlich wird er längere Zeit im Krankenhaus bleiben müssen. Mr. Larson wollte ein Telegramm schicken, um Sie von meinem Eintreffen zu unterrichten, aber…«

»Oh, das Telegramm ist heute morgen gekommen«, unterbrach Myra mich, »das hat schon alles seine Ordnung. Nicht wahr, Howard?« Fast herausfordernd sah sie ihren Stiefsohn an, und mir war klar, daß es mit dieser Ordnung nicht so weit her sein konnte.

Howard warf seiner Stiefmutter einen kurzen scharfen Blick zu, dann sah er wieder mich an.

»Selbstverständlich zweifeln wir nicht an Ihren Fähigkeiten, wenn Larson Sie dazu auserwählt hat, Rudy zu vertreten. Das Problem ist nur, daß Rudy bisher völlig selbständig gearbeitet hat und wußte, was zu tun war. Ich könnte Ihnen im Moment gar nicht sagen, welches Bild Sie zuerst in Angriff nehmen sollten. Sie müßten also ein paar Tage warten, bis mein Vater zurückkommt. Ich weiß nicht, welche Pläne er hat.«

Ich nickte, obwohl ich das ein wenig merkwürdig fand. Welche Pläne konnte man schon beim Restaurieren von Bildern haben? Entweder mußten sie restauriert werden oder nicht. Und es spielte sicher keine große Rolle, welches zuerst an die Reihe kam.

»Ich bin schon schrecklich neugierig auf Ihre berühmte Gemäldesammlung«, sagte ich, nachdem ich einen Schluck Kaffe genommen hatte, »und ich freue mich schon sehr darauf, sie mir ansehen zu dürfen. Dabei kann ich auch gleich feststellen, welche Gemälde restauriert werden müssen. Aber natürlich warte ich mit der Arbeit, bis Ihr Vater zurück ist«

Irrlicht 5 – Mystikroman

Подняться наверх