Читать книгу Schmied verbrennt sich die Finger - Meret Heller - Страница 3

Zwei

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Annegret schlief noch. Schmied starrte in den grauen Morgen hinaus, die dampfende Kaffeetasse in der Hand. Noch war es fast dunkel, und der Nebel hing so tief, dass er die Bäume hinter dem Haus nur schemenhaft erkennen konnte. Später, wenn die Sonne durch den Nebel dränge, würde das Herbstlaub rot und golden leuchten. Doch er säße in der Stadtbibliothek fest. Dabei war Samstag. Frau Dr. Ehrsam würde am Nachmittag für den Ornithologischen Verein einen Vortrag zum Thema "Vögel in der Schweizer Literatur" halten.

Er würde alles bereitmachen müssen, den Beamer und das Mikrofon testen, Stühle in den großen Saal schleppen. Nach dem Vortrag der Frau Direktorin würde er Wein, Orangensaft und Knabberzeugs auffahren für den geselligen Umtrunk der Vogelkundler, und hinterher alles wieder wegräumen und den Saal fegen. Er wäre der Letzte, der das Haus verließe. Wenn er nach Hause käme, wäre Annegret sicher schon weg. Bridgeabend.

Die Fenster der Stadtbibliothek waren noch dunkel, als er auf den Parkplatz einbog. Er betrat das Gebäude durch den Lieferanteneingang. Alarmanlage aus, Licht an, Treppe runter ins Untergeschoss, rechts durch die Tür ins Büro, Licht an, Kaffeemaschine ein, doppelter Espresso, Computer hochfahren. Zuerst die privaten E-Mails. Soviel Zeit musste sein, wenn er schon an einem Samstag Überstunden machte. Eine Nachricht mit dem Vermerk "dringend" stach ihm ins Auge. Sie war von Malin. Hastig klickte er darauf.

"Lieber Vati, ich schreibe dir, damit Du Bescheid weißt und nicht erschrickst, falls die Medien bei Euch davon berichten, was hier gerade los ist. Erst einmal: Mach dir keine Sorgen, mir geht es gut, ich bin zuhause in der WG mit Carolina und Natalia."

Schmied begann zu schwitzen. Was war passiert? Rasch scrollte er nach unten und las weiter.

"Gestern mussten wir nach einem Konzert in der Stadt zu Fuß nach Hause gehen. Der öffentliche Verkehr war am Nachmittag zum Erliegen gekommen. Die Metro fuhr nicht, wir sahen Rauch und Qualm aus U-Bahn-Stationen quellen. Viele Leute waren auf der Straße, lärmten und schrien, und Polizisten trieben sie auseinander. Wir rochen Tränengas, kamen aber zum Glück nicht direkt damit in Berührung. Natalia und Carolina kennen sich gut aus in der Stadt, und so kamen wir, zwar auf Umwegen, aber sicher nach Hause.

Es hat anfangs Monat eine Fahrpreiserhöhung gegeben bei der Metro. Zwar waren es nur 30 Pesos – umgerechnet sind das wenige Rappen –, doch Du musst wissen, dass ärmere Familien bis zu einem Viertel ihres Monatseinkommens für Fahrgeld ausgeben. Schüler und Studenten sind dann hordenweise schwarzgefahren, und die Pendler begannen, es ihnen nachzumachen. Massen von Leuten sind über die Abschrankungen gesprungen und haben Ticketautomaten zerstört. Gestern ist die Situation vollends eskaliert.

Jetzt müssen wir Essensvorräte einkaufen gehen. Natalia und Carolina fürchten, dass die Läden geschlossen werden, und wir dann vielleicht einige Tage nichts bekommen können. Wahrscheinlich wird der Ausnahmezustand verhängt, und ich weiß nicht, was noch alles geschehen wird, aber mach Dir keine Sorgen, lieber Vati. Ich passe auf mich auf. Meine Kolleginnen meinen, das Ganze beruhige sich schnell wieder und sei wohl in ein paar Tagen überstanden.

Liebe Grüße an Euch beide, Malin"

Schmied starrte auf den Bildschirm. Er stützte den Kopf in beide Hände und versuchte zu begreifen. Malin hatte doch immer gesagt, Chile sei ein sicheres Land. Stabil. Und nun waren dort derart heftige Unruhen ausgebrochen. Ein Gemisch von bitterem Kaffee und saurem Magensaft stieg ihm in den Mund. Er schluckte, verschluckte sich, hustete, stieß den Kaffeebecher um. Gerade noch rechtzeitig konnte er die Tastatur wegziehen.

Mist, verdammter. Warum hatte er Malin erlaubt, nach Chile zu gehen. Nicht, dass sie sich hätte davon abhalten lassen. Sie war volljährig. Aber warum zum Teufel musste sie so weit weg gehen, und warum mussten die Unruhen ausgerechnet jetzt ausbrechen, wo seine einzige Tochter dort unten war, am anderen Ende der Welt? Er holte einen Lappen, wischte den Kaffee vom Tisch. Dann las er die Nachricht nochmals. Sie hatte nichts von ihrem Schrecken verloren, auch wenn er sich an Malins Beteuerungen, dass es ihr gut gehe, zu klammern versuchte.

Ihm war noch immer übel. Er brauchte frische Luft. Er nahm den grauen Anorak von der Stuhllehne und ging ins Freie. Er würde eine Runde um die Bibliothek drehen und sich hinterher mit klarem Kopf an die Vorbereitungen für den Nachmittag machen. Frau Dr. Ehrsam hatte oft noch Spezialwünsche. Da war es besser, wenn er vorher so viel wie möglich erledigte. Einmal hatte sie ihn kurz vor einem Vortrag noch in die Stadt geschickt, um einen Blumenstrauß für eine Professorenwitwe zu kaufen, die sie unter den Zuhörern erwartete. Die Frau war dann gar nicht zum Vortrag erschienen, und Frau Dr. Ehrsam hatte den in letzter Minute gekauften Blumenstrauß selber mit nach Hause genommen.

Er trat durch den Lieferantenausgang ins Freie und ging um die Hausecke, dann durch den Park mit den alten Buchen und Linden, bis er zu der überdachten Halle kam, die vor dem Haupteingang lag. Diese Vorhalle war der Überrest eines alten Hotels, das früher im Park gestanden hatte. Das eigentliche Bibliotheksgebäude war ein moderner, rechteckiger Block, roher Beton und große Fenster. Warum man die Haller vor dem Eingang hatte stehen lassen, wusste Schmied nicht. Sie war jedoch praktisch, die Benutzer konnten ihre Kinderwagen und Velos unter dem Dach abstellen, und die Raucher konnten vor Regen geschützt vor der Tür stehen.

Auf der linken Seite der Vorhalle befanden sich an der Wand einige schmiedeeiserne Ringe. Wahrscheinlich hatten die Hotelgäste früher dort ihre Pferde angebunden, vor mehr als hundertfünfzig Jahren. Die Stadtbibliothek war 1867 gegründet worden.

In einer Nische befand sich ein großer, steinerner Trog, die Pferdetränke. Der Brunnen hatte keinen Zulauf, und Schmied fragte sich, wie früher das Wasser dort hineingekommen war. Wahrscheinlich hatten die Mägde das Wasser im Ziehbrunnen im Park geholt. Dieser war schon seit Jahrzehnten mit einem Eisengitter bedeckt, damit kein Kind beim Spielen hineinfiel. Kinder und Erwachsene pflegten Kieselsteine in den Brunnenschacht zu werfen. Sie versuchten, das dumpfe "Plop" zu hören, mit welchem die Steinchen unten auf dem modrigen Wasserrest aufschlugen. Manchmal spuckten sie auch hinein.

Auch die Pferdetränke in der Wandnische hatte schon lange keine Funktion mehr. Sie lag halb verborgen hinter einer Plastik, die einen "Bücherbaum" darstellen sollte: in der Mitte ein grob behauener Baumstamm, an dem seitlich Latten angebracht waren. An ihnen hingen bunte bemalte Holzklötze, welche Bücher darstellen sollten. Einige Benutzer hatten sich an den Klötzen ihre Köpfe angestoßen, und darum befand sich um den "Bücherbaum" ein niedriger Zaun. Kaum jemand blickte deshalb hinter den Baum und auf den leeren Brunnentrog.

Dieser, überdacht und geschützt in der Wandnische hinter dem Bücherbaum, hatte schon öfters als Notschlafstelle gedient. Schmied kletterte über den Zaun, bückte sich unter den Holzbüchern und warf einen Blick in den steinernen Trog. Der war leer – bis auf eine Wolldecke. Der Bewohner oder die Bewohnerin der Nische hatte sich Mühe gegeben mit der Tarnung. Die flach gestrichene, grau-weiß gesprenkelte Decke hob sich kaum vom Stein des Brunnentrogs ab. Schmied zupfte an einer Ecke: eine fleckige, gelbe Schaumstoffmatratze kam zum Vorschein. Er beugte sich vor und spähte in den Spalt zwischen der Wand und dem Rand des Brunnentrogs. Richtig, da steckten zwei Plastiktüten mit Habseligkeiten des Gastes.

Der Hauswart richtete sich auf. Kein Abfall, keine Spuren von Feuer, kein Gestank – da war jemand sehr ordentlich. Schmied störte es nicht, wenn sich eine jemand so diskret verhielt. Sollte er da ruhig nächtigen. Vielleicht hatte er sonst keine Bleibe.

Schmied bückte sich unter den Latten und Klötzen des Bücherbaums hindurch und kletterte über den Zaun. Er ging aus der Vorhalle hinaus und setzte seinen Rundgang fort. Bald würden die Bibliothekarinnen eintreffen und den Haupteingang für die Benutzer aufschließen. Wer immer hinter dem Bücherbaum genächtigt hatte, war so klug gewesen, früh aufzustehen und sich an einen anderen Ort zurückzuziehen.

Solange er, der Hauswart, vom Treiben des nächtlichen Gastes nichts mitbekam, war es nicht wahrscheinlich, dass eine Bibliothekarin oder gar die Direktorin etwas davon merkte. Er würde die Situation im Auge behalten, doch für den Moment bestand kein Grund, etwas zu unternehmen.

Schmied stapfte rund ums Haus zurück zum Hintereingang. Als erstes würde er die Stühle in den Vortragssaal stellen, dann die Geräte testen. Auf dem Weg zum großen Saal begegnete er in der Eingangshalle Barbara, die eben die Tür für die Benutzer aufgeschlossen hatte. Sie hatte Samstagsdienst. Er blieb stehen und wechselte ein paar Worte mit ihr. Hinter dem Rücken der Bibliothekarin sah er eine Gestalt durch die Halle flitzen. Eine schmächtige junge Frau mit langem Haar, das verfilzt über die schmutzig-weiße Jacke hing. Über der Schulter trug sie einen rosa Kinderrucksack mit einem Katzengesicht. Sie huschte davon, die Treppe hinauf, auf die Damentoilette, wie er vermutete.

Barbara hatte etwas zu ihm gesagt, doch er hatte nicht zugehört.

"Wie bitte?", stotterte er.

"Du bist ja überhaupt noch nicht richtig wach, Roman", sagte sie und lachte. "Ob du nachher die hinterste Neonröhre in der Freihandbibliothek kontrollieren könntest, habe ich dich gefragt. Die flackert wieder einmal."

"Klar, mach ich dann gleich." Schmied war nur halb bei der Sache. Ob die junge Frau mit dem rosa Kinderrucksack im steinernen Trog geschlafen hatte? Vielleicht lief sie ihm später wieder über den Weg, und er konnte sie genauer in Augenschein nehmen.

Hoffentlich fiel die junge Frau der Direktorin nicht auf. Die mochte es nicht, wenn "verwahrloste Gestalten" in ihrer Bibliothek ein- und ausgingen. Sie könnten das Publikum abschrecken, die Mütter mit ihren kleinen Kindern, die Rentner, die Studentinnen, die im Lesesaal lernten.

Schmied verbrennt sich die Finger

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