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Vorbemerkung
ОглавлениеErnst Blochs erstes nach seiner Flucht in die Bundesrepublik publiziertes Buch trug den Titel Naturrecht und menschliche Würde. Es entstand schon lange vor seiner Übersiedlung in den Westen und stellte nicht weniger dar als den Versuch, gegen die stalinistische Deformation von Marxismus und Kommunismus – keineswegs nur in der Sowjetunion – den Kerngehalt der Marxschen Freiheits- und Befreiungsphilosophie freizulegen. Bloch tat das in diesem Buch in einer beeindruckenden tour d’horizon, die nicht weniger als die gesamte Geschichte freiheitlicher Lebens- und Rechtsverhältnisse seit der Antike abschreiten will – und zwar so, dass er die jeweiligen Freiheits- und Rechtskonzepte – hier konsequent marxistisch – als Ausdruck der jeweiligen Produktions-, Herrschafts-, aber auch Konfliktverhältnisse gedeutet hat. Auf diese Fülle von Überlegungen und Material kann hier nicht eingegangen werden – gefragt soll vielmehr werden, ob überhaupt, und wenn ja, was für einen Begriff menschlicher Würde Bloch präsentiert. Das aber setzt eine Klärung des Begriffs der „Würde“ voraus. Immerhin liegen seit einiger Zeit klärende Beiträge zu Blochs Verständnis des Rechts vor, Beiträge, die sich immer auch auf den Begriff der „Würde“ beziehen: So hat Hartmut Wagner bereits 1995 Blochs Rechtsphilosophie neu gedeutet, und zwar so, dass er Blochs Konzept menschlicher Würde als „zentrale Zielkategorie“ eines auf das Reich der Freiheit zielenden Prozesses analysierte.
„Die Menschenwürde ist damit das Prinzip, welches im Recht aufgefunden zugleich über das Recht hinausweist und die unablässige Suche nach Formen des menschlichen Miteinanders gebietet, in denen der Mensch sein Selbst in der solidarischen Gemeinschaft freier und gleicher Individuen zu realisieren vermag.“1
Mehr als zwanzig Jahre später, 2016, hat sich dann Arno Münster, dem eine dichte Biographie Blochs zu verdanken ist, noch einmal vertiefend zu diesem Thema geäußert und es besonders in seinen eschatologischen Dimensionen nachgezeichnet.2 In dieser Hinsicht ist Arno Münster zuzustimmen: Dieser Begriff, der Begriff der Würde, hat – zumal bei Bloch – im weitesten Sinne religiöse Wurzeln. Tatsächlich war Ernst Bloch, den Oskar Negt als den deutschen Philosophen der Oktoberrevolution bezeichnet hat, in den frühen 1920er Jahren der durchaus prophetischen Überzeugung, dass der Anbruch einer erlösenden Weltrevolution unmittelbar bevorstand:
„Die Zeit kommt wieder, der proletarische Stoß vom Westen wird sie wiederbringen, in Deutschland und Rußland wird sie kulminieren: da fühlen die Völker ein Licht, das die schwersten Schatten löst, das Übersehenes, himmlisch Unterirdisches plötzlich ins grellste Zentrum rückt, das Geheimnis des Ketzertums endlich zur wirksamsten Publizität, zum Pol und Hegemonikon der Gesellschaft erhebt.“3
War Blochs erstes Werk, der Geist der Utopie, noch ganz von anbrechender Hoffnung, einer ganz und gar offenen Situation geprägt, so ging es drei Jahre später um die Bewältigung einer – jedenfalls regionalen, deutschen – Niederlage. Dann aber stellt Blochs 1921 verfasste Schrift Thomas Münzer4 eine Form aufbauender Trauerarbeit dar; einer Trauerarbeit, die – zur Theorie geworden – freilich erhebliche Umbauten an dem zum Teil sehr mechanistisch verstandenen „Marxismus“ des linken Flügels der SPD, der USPD sowie der KPD erforderte. So will Bloch mehr als nur „Marxismus“ – tatsächlich strebt er eine neue Synthese an: eine Synthese von dem als bekannt geltenden „Marxismus“ und einer Größe, für die der rechte Begriff erst noch zu finden war.
„Derart also“, so die letzten Worte des Münzerbuchs, „vereinigen sich endlich Marxismus und Traum des Unbedingten im gleichen Gang und Feldzugsplan; als Kraft der Fahrt und Ende aller Umwelt, in der der Mensch ein gedrücktes, ein verächtliches, ein verschollenes Wesen war; als Umbau des Sterns Erde und Berufung, Schöpfung und Erzwingung des Reichs: Münzer mit allen Chiliasten bleibt Rufer auf dieser stürmischen Pilgerfahrt.“5
Im folgenden soll daher Blochs in Naturrecht und menschliche Würde angedeutete Philosophie des Rechts behandelt werden – ein Aspekt von Blochs Gesamtwerk, der bisher – sowohl in der Forschung zu Bloch als auch in der allgemeinen Rechtsphilosophie – noch zu wenig Aufmerksamkeit gefunden hat, sieht man einmal von der bereits erwähnten Monographie Wagners Utopie, Menschenrechte, Naturrecht. Zur Rechtsphilosophie Ernst Blochs ab. Tatsächlich stellt nämlich Blochs Naturrecht und menschliche Würde durchaus mehr als lediglich eine klassisch marxistische, letzten Endes ideologiekritische Analyse der vor allem westlichen Rechtsentwicklung dar. Und das dem Umstand zum Trotz, dass dieses erstmals nach Blochs Flucht in die Bundesrepublik veröffentlichte Werk in nicht wenigen Hinsichten von den Arbeiten des sowjetischen Rechtsphilosophen Eugen Paschukanis zehrt, zumal von dessen erstmals 1929 veröffentlichter Studie Allgemeine Rechtslehre und Marxismus. Der 1891 geborene Paschukanis, der die bis dahin überzeugendste marxistische Rechtsphilosophie vorgelegt hatte, wurde übrigens 1937 unter Stalin erschossen, um 1956 rehabilitiert zu werden.
Auf jeden Fall findet sich bei Bloch ein grundlegend anderer Ausgangspunkt: Indem er nämlich die Geschichte des zumal bürgerlichen Rechts keineswegs nur aus der Warenform sowie der Geschichte der Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaftsform herleitet, sondern doch auch aus dem Aufbegehren der Erniedrigten und Beleidigten erklärt, gewinnt er einen Ausgangspunkt, der – ganz im Sinne des frühen Karl Marx – nicht nur materielles Elend, also Armut in Zentrum stellt, sondern eben auch Erniedrigung und Beleidigung. Endete doch Marx’ Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie mit folgenden Worten:
„Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“6.
Das sind Begriffe, die weitaus mehr umfassen, als die später – im Kommunistischen Manifest sowie im Kapital – begründete und konsequent zu Ende geführte Verelendungstheorie, eine Theorie, die dem historischen Objektivismus die normativen Intuitionen der Frühschriften geopfert hat.
Tatsächlich wird ja Karl Marx bis heute mit guten Gründen vorgehalten, das Schicksal der schwarzen Sklaven in den USA systematisch vernachlässigt zu haben – und das dem Umstand zum Trotz, dass Marx sich durchaus zum us-amerikanischen Bürgerkrieg geäußert hat. Gleichwohl ist noch nicht einmal Karl Marx vom Vorwurf der Nichtberücksichtigung eines schwarzen Widerstandes gefeit – wie die Berliner Kulturwissenschaftlerin Iris Därmann in einem neueren Buch wohlbegründet nachgewiesen hat. Im entsprechenden Kapitel ihres 2020 publizierten Buches Gewaltgeschichte und politische Philosophie – es trägt die Überschrift: „‚Schwarze‘ und ‚weiße‘ Sklaverei in Karl Marx’ Kritik des Amerikanischen Bürgerkrieges und der politischen Ökonomie“ – hält Därmann Marx vor, sich in keiner überzeugenden Weise mit dem schwarzen Widerstand gegen die us-amerikanische Sklaverei auseinandergesetzt zu haben. Habe er doch sogar seine Leser aufgefordert, das eine Leid – das der Schwarzen – durch die „weiße Sklaverei“ der Lohnarbeiter zu ersetzen.
Fragt man nun nach den Motiven, die den 1961 immerhin schon sechsundsiebzig Jahre alten Bloch dazu brachten, die menschliche Würde ins Zentrum seiner Philosophie, einer Revolution der Hoffnung zu stellen, wird man auf ein Phänomen stoßen, das auf den ersten Blick merkwürdig anmutet: auf eine Form des „Neukantianischen Linksradikalismus“; war doch der Neukantianismus in politischer Hinsicht nicht eben für Radikalität bekannt, sondern allenfalls für einen alles in allem sozialdemokratischen Reformismus. Auf jeden Fall waren bedeutende Neukantianer – genannt sei nur Hermann Cohen – überzeugte, auch institutionell gebundene Sozialdemokraten. Wie stark Bloch von dieser Denkströmung geprägt war, erweist sich auch an seinen Arbeiten zum Deutschen Bauernkrieg, namentlich an der schon 1921 verfassten Studie zu Thomas Münzer.
Blochs Rechtsphilosophie soll in den folgenden Kapiteln untersucht werden. Während sich das zweite Kapitel grundsätzlich und theologisch belehrt mit dem Begriff der „menschlichen Würde“ auseinandersetzt, geht es im dritten Kapitel um Blochs Auseinandersetzung mit Kant. Im vierten Kapitel geht es dann um Blochs Theorie des Bauernkrieges und seines charismatischen Predigers Thomas Münzer. Darauf untersucht das fünfte Kapitel noch einmal Blochs Kritik an Kant. Im sechsten Kapitel geht es dann im engeren Sinne um rechtsphilosophische Überlegungen: zum Naturrecht, zu Herbert Ihering, Hans Kelsen und Carl Schmitt. Abschließend soll im siebten Kapitel gefragt werden, ob und – wenn ja – in welchem Sinne Blochs Rechtsphilosophie auch gegenwärtig noch von Aktualität ist – und das vor dem Hintergrund des jungen Marx.