Читать книгу Die Maske des Pharaos - Micha Rau - Страница 5
Die Mondscheibe
ОглавлениеKopfüber stürzten wir nach unten ins schwarze Nichts. Der freie Fall dauerte nur ein oder zwei Sekunden, aber diese beiden Sekunden waren die schrecklichsten meines Lebens. Ich schlug einen Salto, ruderte mit den Armen, sah über mir die rechteckige Öffnung immer kleiner werden und wusste, dass ich jetzt sterben würde. Irgendetwas traf mich hart im Gesicht und Lazy jaulte herzerweichend.
Dann prallte ich gegen eine weiche, nachgiebige Wand, und im nächsten Moment flog ich hin und her, von einer Seite zur anderen. Verzweifelt versuchte ich, irgendwo Halt zu finden, aber das war unmöglich. Die Körper meiner Freunde wirbelten um mich herum. Wir handelten uns etliche blaue Flecken ein, als Arme und Beine gegeneinander schlugen. Dann wurde der Schacht, in den wir gefallen sein mussten, immer schräger und das bremste unseren rasenden Fall. Schließlich fielen wir nicht mehr, sondern purzelten wie ein großes Knäuel ineinander verkeilt weiter abwärts. Lazy patschte auf mein Gesicht. Gleich darauf fiel jemand auf mich drauf, so dass ich keine Luft mehr bekam. Verzweifelt versuchte ich, mich zu befreien, während wir weiter nach unten glitten. Der Schacht schien jetzt in eine Röhre übergegangen zu sein, denn ich fühlte nirgendwo eine Kante. Die Neigung ließ immer mehr nach und wir wurden langsamer. Doch immer noch war es unmöglich, anzuhalten.
Endlich hörte das wilde Durcheinander auf, aber immer noch rutschten wir voller Panik die Röhre hinab. Ich hörte das heftige Atmen meiner Freunde, und endlich konnte ich mich von Lazy befreien und japste nach Luft. Weit unter uns erschien ein rötlicher Schimmer. Ich riss die Augen auf, um die Finsternis zu durchdringen. Nur wenige Sekunden später erfüllte ein unheimliches Glühen die Umgebung. Nun sahen wir genau, dass wir in einer Röhre steckten, deren Wände bei jeder Berührung nachgaben. Von vorne wurde das Rot immer stärker und wir erkannten eine kreisrunde Öffnung. Das Ende des Tunnels!
Ich sog die Luft scharf ein und versuchte alles, um abzubremsen. Das Glühen war derart unheimlich, dass es mir die Kehle abschnürte. Gedanken rasten durch meinen Kopf. Wir waren nicht zu Tode gestürzt, doch was, wenn uns nur ein paar Gnadensekunden blieben und dort unten brodelnde Lava auf uns wartete? Doch ich konnte nichts tun. Als wir der Öffnung immer näher kamen und ich deutlich erkennen konnte, dass das rot glühende Licht heftig flackerte, schloss ich die Augen. Mit eisigem Schrecken war ich mir sicher, dass wir bei lebendigem Leibe verbrannt würden.
Als ich durch die Öffnung fiel, schlang ich die Arme um meinen Körper und machte mich so klein wie möglich, obwohl ich wusste, dass das überhaupt nichts nutzen würde. Dann prallte ich schmerzhaft auf irgendeinen Untergrund und überschlug mich zwei Mal, ehe ich liegen blieb. Ich hielt die Luft an, in meinen Ohren brauste es und ich hörte, wie neben mir die anderen herumkullerten. Ich traute mich nicht, mich zu bewegen und Luft zu holen, denn ich glaubte, die Hitze des Feuers würde mir die Lunge versengen.
Aber dann hörte ich etwas, das ich noch niemals so begrüßt hatte wie in diesem Augenblick. Jever und Lazy fingen an zu bellen. Sie kläfften um die Wette und das taten sie bestimmt, weil sie genau so große Angst ausgestanden hatten wie wir. Doch jetzt wusste ich, dass wir nicht verbrennen würden. Ich öffnete die Augen vorsichtig einen Spalt weit und sah einen Schuh vor meiner Nase. Eindeutig der von Sanne! Langsam hob ich den Kopf und sah, wie auch die anderen in den unmöglichsten Positionen auf dem Boden lagen und ebenfalls dabei waren, sich aufzurappeln.
Noch immer flackerte ein rötlichgelbes Licht um uns herum. Ich nahm alle Kraft zusammen und richtete mich auf. Augenblicklich erkannte ich, wo wir waren.
„Die Kammer des Wissens!“, rief Janine erstickt.
Es gab keinen Zweifel. Wir befanden uns in derselben Kammer, die uns ihr Jahrtausende altes Geheimnis erst vor wenigen Monaten preisgegeben hatte. Ich blickte mich um und entdeckte die Fackeln, die an jeder Wand in schweren Halterungen steckten. Sie waren es, die ein solch unheimliches flackerndes Licht geworfen hatten! Jetzt, da ich wusste, wo wir waren und uns keine unmittelbare Gefahr mehr drohte, fiel die Todesangst schlagartig von mir ab. Aber mein Herz raste immer noch wie verrückt.
„Ist euch was passiert? Seid ihr verletzt?“, fragte Tommy besorgt und setzte sich stöhnend auf. „Ich glaub, ich bin auf die Flasche Wasser gefallen.“
„Ich bin okay“, sagte Sanne und rieb sich das Schienbein.
„Ich auch“, kam es von Janine.
Wie sich herausstellte, waren wir bei unserem Sturz mit ein paar leichteren Blessuren davon gekommen. Kaum zu glauben, dass es so gut abgegangen war. Jever und Lazy bellten immer noch. Es war gar nicht so einfach, sie zu beruhigen. Wir alle hatten einen leichten Schock und mussten das erst einmal verdauen. Einer nach dem anderen erhoben wir uns vom Boden und sahen uns um. Die Kammer war noch genauso wie ich sie in Erinnerung hatte. Eine Kammer konnte man sie eigentlich nicht gerade nennen, denn sie maß vielleicht sechs mal sechs Meter. Ihre Wände waren über und über mit Hieroglyphen bedeckt. Ich spähte umher, ob sich eine von ihnen besonders abhob, aber das war nicht der Fall. Die Zeichen waren in den schönsten leuchtenden Farben gemalt. Die Wand selbst trug ein tiefes Ocker, und die Hieroglyphen strahlten in roten, schwarzen, grünen und goldenen Tönen. Es war ein atemberaubender Anblick, und die Fackeln verstärkten die geheimnisvolle Atmosphäre noch um einiges.
„Seht doch, da sind wir raus gekommen!“, rief Sanne und zeigte auf eine Stelle hinter meinem Rücken. Ich drehte mich um und erkannte eine kreisrunde Öffnung etwa einen Meter über dem Boden.
„Sie geht zu!“
Zur Untätigkeit verbannt mussten wir zusehen, wie die mit vielerlei Zeichen und Bildern bemalte Wand begann, das Loch zu verschließen. Es schob sich nicht etwa eine Klappe davor, nein, die Wand verschloss sich einfach wie eine heilende Wunde. Nach wenigen Sekunden deutete nichts mehr auf eine vorher vorhandene Öffnung hin. Ich ließ die Luft raus, die ich voller Spannung bis dahin angehalten hatte.
„Die Schlafsäcke sind noch oben!“
Die anderen sahen mich völlig entgeistert an und brachen in lautes Gelächter aus.
„Mann!“, hustete Tommy, „da fallen wir in ein Loch, denken, jetzt ist es aus, dann werden wir hier eingesperrt, und du denkst ausgerechnet an die blöden Schlafsäcke!“
„Ja, schon“, gab ich zu und wurde rot. „Aber ich bin ja derjenige, der zu Hause erklären muss, wo sie abgeblieben sind!“
Tommy schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf. „Die Schlafsäcke sind wirklich das geringste Problem. Allerdings ... meine Machete war da immer noch drin. Na, egal, erstmal müssen wir hier wieder rauskommen. Und das wird mit Sicherheit nicht einfach. Ich fürchte, wir werden eine Menge nachdenken müssen, um das nächste Rätsel zu lösen. Oder seht ihr hier irgendwo einen Ausgang?“
Das war nicht schwer zu beantworten. Vier gleichlange Wände. Kein Ausgang. Die Fackeln brannten etwas unruhig, als würde ein leichter Luftzug wehen. Das erinnerte mich an etwas, und ich schaute nach oben.
„Der Lüftungsschacht!“
Genau über unseren Köpfen besaß die ebenfalls mit Hieroglyphen bemalte Decke eine kleine, vielleicht dreißig mal dreißig Zentimeter große Öffnung, die für die Belüftung der Kammer sorgte. Zumindest hatte Tommy das damals irgendwo in einem Ägyptenbericht gelesen.
„Der ist viel zu klein“, sagte Sanne enttäuscht. „Der hilft uns auch nicht weiter.“
Mir brach der Schweiß aus. Ich wusste nicht, ob das an der Enge der Kammer lag, an dem Schock, den ich sicher von unserem Sturz in das Loch noch hatte oder an der hohen Temperatur, die hier drin herrschte. Ehe ich das zu Ende denken konnte, streifte Tommy seinen Rucksack von der Schulter, stellte ihn auf den Boden und zog sich die Jacke aus.
„Puh“, meinte er. „Ist das warm hier drin! Ich glaube, die Jacken brauchen wir auch nicht mehr.“
Wir waren froh, die Dinger ausziehen zu können und legten sie alle auf einen Haufen. Die Rucksäcke stellten wir erstmal daneben. Doch auch mit Jeans und T-Shirt war mir noch so warm, dass ich mir den Schweiß von der Stirn wischen musste.
„Ich hab Durst!“, sagte Sanne, und den hatte ich auch.
„Spricht nichts dagegen, was zu trinken“, meinte Tommy und knüpfte seinen Rucksack auf. „Wir sollten sowieso mal gucken, ob die Flaschen heil geblieben sind.“
Froh, dass wir etwas zu trinken dabei hatten, machten wir es Tommy nach und untersuchten den Inhalt unserer Rucksäcke. Es war alles heil geblieben. Gott sei Dank liebte Tommy das Wasser mit wenig Kohlensäure, sonst wären uns die Flaschen womöglich nach dem turbulenten Ritt durch die Röhre um die Ohren geflogen. Dankbar nahm ich einen Schluck.
„Die glüht!“, schrie Janine auf einmal. Ich verschluckte mich und prustete das Wasser von mir.
Janine musste lachen. „Die glüht doch nur, die brennt nicht! Du musst sie nicht löschen!“ Sie zeigte immer noch auf eine Hieroglyphe, die eine Schlange darstellte und die mit einem Mal feuerrot zu glühen angefangen hatte.
Überrascht starrten wir in die Runde, ob irgendwo noch weitere Symbole aufleuchten würden.
„Hier!“, rief Sanne. „Eine Feder! Und hier noch eine!“
„Hinter dir, Joe!“, sagte Tommy laut und ich fuhr herum. Auch hier begann ein Symbol mitten zwischen all den anderen dunkelrot zu glühen. Es war eine lange gezackte Linie.
Langsam drehten wir uns im Kreis und warteten, wie viele es werden würden. Dann stand es fest. Es waren sechs.
„Tommy, was ist, kennst du die Zeichen?“, fragte Janine gespannt. Auch Sanne und ich zappelten vor Ungeduld, ob er die Bedeutung der uralten Zeichen kannte. Das letzte Mal stellten die glühenden Hieroglyphen die Buchstaben seines Namens dar, und das hatte er nur gewusst, weil er ein paar Buchstaben Hieroglyphisch beim Zahnarzt gelesen hatte!
„Nein“, sagte Tommy und meine Hoffnung zerplatzte wie eine Seifenblase. „Die kenne ich nicht. Das heißt, wartet ... doch, das eine hier, die Feder, an die müsstet ihr euch noch erinnern. Sie steht für das i. Das Ypsilon wurde auch mit einer oder zwei Federn dargestellt. Aber die anderen ... keine Ahnung! Außerdem sind es ja sechs. Tommy kann das nicht heißen. Mein Name hat ja nur fünf Buchstaben. Tut mir Leid, Leute, aber ich habe mir damals nur die Zeichen für meinen Namen gemerkt.“
„Aber wie sollen wir dann die Bedeutung jemals heraus finden?“ Sanne hatte immer noch ihre Flasche Wasser in der Hand, und ihre Augen irrten von einem Zeichen zum anderen. „Wie kommen wir dann hier raus?“
Tommy ließ sich nicht beirren und trank noch einen Schluck. „Erstmal stärken. Ich glaube nicht, dass die Aufgabe viel schwerer ist als das letzte Mal. Wir müssen nur in Ruhe nachdenken.“
„Wer kann schon Hieroglyphisch?“, seufzte ich.
„Na, kann ich doch auch nicht!“, lachte Tommy. „Ich kann doch nur genau die paar Buchstaben, aus denen mein Name besteht. Und damit war es eine Aufgabe, die ich lösen konnte. Und ich bin eigentlich sicher, dass es diesmal auch nicht viel schwieriger sein dürfte.“
„Okay“, sagte Janine. „Wer hat sechs Buchstaben?“
Sie sagte es einfach so locker dahin, aber wir bekamen große Augen.
„Wie meinst du das?“, fragte ich erstaunt.
„Na, wenn’s Tommy nicht sein kann, dann vielleicht ein anderer. Josef, Sanne oder Janine.“
Wir blickten uns an und ich sah, wie es in den Köpfen meiner Freunde arbeitete. Das war nicht schlecht, was Janine da sagte. Tommy fing an zu grinsen und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Tja, gute Frau“, meinte er trocken, „wer hat denn nun sechs Buchstaben? Das bist ja wohl du!“
„Ich?“, fragte Janine verblüfft. Und im selben Moment fiel bei ihr der Groschen. „Ich!“, wiederholte sie und sah von einem zum anderen. „Meint ihr wirklich?“
„Also bis sechs zählen kann ich noch“, sagte Tommy. „Und einen Beweis hätten wir.“
Wir blickten ihn fragend an.
„Welchen?“, kam es fast gleichzeitig.
„Na, die Feder! Das einzige Symbol, das wir kennen, ist die Feder. Und die steht auch für das i, wie ihr wisst. Und das kommt in Janine nun mal vor.“
„Joe!“ Sanne packte mich am Arm und ich fuhr zusammen.
„Was ist?“
„Da! Sieh nur! Die Zeichen! Sie treten hervor!“
Fasziniert sahen wir zu, wie die sechs leuchtenden Symbole wie kleine Schubladen aus der Wand hervorkamen und einige Zentimeter aus ihr herausragten, so dass man das Gefühl bekam, man könnte sie abnehmen.
„Da habt ihr’s!“, rief Tommy. „Jetzt müssen wir sie nur noch in der richtigen Reihenfolge wieder reindrücken.“
Ich wusste noch genau, was passiert war, als Tommy dies im Juli tat, als er die Zeichen in der Reihenfolge der Buchstaben seines Namens in die Wand zurückgedrückt hatte.
„Meinst du, das Buch der Gaben erscheint und die Wunschkugeln?“, fragte Janine mit leuchtenden Augen.
„Schon möglich“, murmelte Tommy. „Aber erst müssen wir die richtige Reihenfolge herausfinden. Ich möchte nicht wissen, was passiert, wenn wir die falsche wählen.“
Gleich darauf bereute er seine Worte, als er die ängstlichen Gesichter der beiden Mädchen sah. Und wohl auch meins.
„Keine Sorge, es wird schon nichts Schlimmes geschehen. Aber ich könnte wetten, dass wir nur einen Versuch haben. Und der muss passen.“
„Aber wir kennen doch nur die Federn!“, sagte Janine verzweifelt. „Wie sollen wir denn bloß die anderen Buchstaben rauskriegen?“
„Joe? Du hast doch einen Stift und Papier dabei. Es wäre nicht schlecht, wenn wir die Hieroglyphen und Janines Namen mal aufschreiben und vergleichen könnten.“
Das war wieder einmal eine von Tommys guten Ideen. Aber ich fand mich auch nicht schlecht, schließlich hatte ja ich an Stift und Papier gedacht. Ich holte die Sachen aus meinem Rucksack, und wir setzten uns im Schneidersitz auf den Boden der Kammer.
„Also los“, sagte Sanne energisch. „Du kannst zwar nicht besonders malen, aber wir wissen ja, was es darstellen soll.“
„Ha, ha“, machte ich und schrieb erst einmal den Namen Janine auf das Papier. Dann halfen mir die anderen bei der Beschreibung.
„Eine Schlange. Ein Vogel ... “
„Was für ein Vogel?“
„Sieht aus wie ein Geier. Ist doch egal, ist eh nur einer. Mal ihn halt, wie du willst.“
„Was noch?“
„Zwei Federn, aber nicht nebeneinander wie damals, sondern sie stehen einzeln. Und als Letztes noch zwei gezackte waagerechte Linien. Das war’s.“
Die Zeichnungen standen nun über den Buchstaben von Janines Namen und wir betrachteten sie grübelnd. Sanne lehnte sich zurück und blickte Tommy an.
„Du sagtest vorhin, die Feder steht für das i. Hier sind aber zwei Federn. Ich kann mich noch erinnern, dass zwei Federn nebeneinander für das Ypsilon in „Tommy“ standen. Aber in Janine gibt’s kein Ypsilon und auch nur ein i.“
Tommy nickte.
„Stimmt. Ich bin mir nicht sicher, aber die eine Feder galt, soweit ich weiß, auch für das e. Da gab’s mal so einen Namens-Übersetzer im Internet. Da habe ich Jesses Namen ausprobiert und beim i kam genau die gleiche Feder wie beim e in seinem Namen. Ich wollte ihm nämlich eine Karte mit seinem Namen auf Hieroglyphisch zum Geburtstag schenken.“
Ich wurde ungeduldig.
„Probieren wir’s einfach.“
Ich malte eine Feder unter das i und eine unter das e von Janine.
„Und nun?“
Tommy starrte angestrengt auf die Zeichnung.
„Wenn wir davon ausgehen, dass das stimmt, dann könnten wir zumindest einen Buchstaben noch genau zuordnen.“
„Welchen denn?“, fragte Janine gespannt.
„Das n!“ meinte Tommy ohne eine Spur Unsicherheit. „Das kommt in Janines Namen zwei Mal vor, und von den Hieroglyphen gibt es auch nur eine außer den Federn doppelt. Nämlich die gezackte Linie. Setz die einfach mal unter die ns!“
Ich malte die beiden Linien unter die entsprechenden Buchstaben und blickte gespannt auf.
„Genial, Tommy. Aber die anderen beiden Zeichen kennen wir nicht. Willst du etwa raten?“
Tommy fuhr sich durch die Haare und blinzelte ein paar Mal. Wir sahen ihm an, dass er auch keine Lösung dafür hatte.
„Du hast Recht“, gab er zu. „Die sagen mir rein gar nichts. Da haben wir eine Fifty-Fifty-Chance, einen Treffer zu landen.“
„Aber du hast gesagt, wir hätten nur einen Versuch“, sagte Sanne besorgt. „Hast du denn überhaupt keine Idee?“
Tommy schüttelte den Kopf. „Absolut keine. Ihr vielleicht?“
Wieder senkten wir unsere Köpfe über den Notizblock und zermarterten uns den Kopf. Ich erinnerte mich vage, dass ich vor gar nicht langer Zeit etwas über Schlangen gelesen hatte. Aber wo? Auf einmal fiel es mir wieder ein. In dem Buch „Gefährdete Reptilien Europas“!
„Ich weiß was“, murmelte ich und versuchte, mich genauer zu erinnern.
„Was? Sag schon!“, drängten die anderen.
„Ich muss nach den Ferien ein Referat über Tiere Europas halten, die vom Aussterben bedroht sind. Reptilien“, fügte ich hinzu, als ich die fragenden Gesichter meiner Freunde sah.
„Auch Schlangen?“, fragte Tommy sofort.
„Auch Schlangen“, bestätigte ich. „Kennt ihr die Schlange auf dem Arztzeichen, die sich um einen Stock kringelt? Das ist die Äskulapnatter“, dozierte ich stolz. „Die ist auch vom Aussterben bedroht.“
„Mensch, Joe“, seufzte Janine. „Mach’s nicht so spannend.“
„Na ja“, sagte ich und kostete meine nächsten Worte ziemlich aus. „Die Schlange ist doch ein Symbol für die Heilkraft. Und was sonst suchen wir hier in dieser Welt? Wir wollen Janines Mutter helfen. Janine ist doch hier die Hauptperson, und wenn die sechs Zeichen Janine heißen, müsste ihr Name eigentlich mit dem Symbol für die Heilkraft beginnen. Eben der Schlange.“
„Du meinst ... “, fragte Sanne ungläubig.
„Kann doch sein.“ Aber jetzt kam mir meine Idee doch recht dumm vor. Wie war ich nur darauf gekommen? Nein, das war bestimmt Quatsch.
„Joe ... “, meinte Tommy gedehnt, „da hast du ja einen richtigen Geistesblitz gehabt. Das könnte hinhauen.“
Nicht nur ich schüttelte den Kopf.
„Wenn die Schlange tatsächlich für das J steht, dann ist das Rätsel gelöst, und der Geier muss dahinter und steht für das A.“
„Bist du dir ganz sicher?“, fragte Sanne und nahm mir meine eigene Frage vorweg.
„Nein“, meinte Tommy, „aber habt ihr eine bessere Idee?“
Hatten wir nicht. Ich war hin und her gerissen. Hatte ich Recht, war ich der König. Lag ich falsch, war alles aus und wer wusste denn, was dann mit uns geschehen würde? Ich malte dennoch den Geier unter das A und die Schlange unter das J. Dann sah ich auf.
„Sagt hinterher nicht, dass ich Schuld war!“
„Keine Sorge“, sagte Tommy. „Wenn wir etwas machen, dann machen wir es alle gemeinsam. Stimmt’s?“
Er schaute in die Runde. Die Mädchen zögerten keine Sekunde. Janine deutete auf die Zeichnung.
„Los, Tommy! Drück die Symbole in die Wand!“
Tommy grinste mich an und hielt mir die Handfläche hin. Ich schlug ein.
„Na, dann drückt mal die Daumen.“
Wir standen vom Boden auf. Ich nahm den Notizblock in die Hand und gab Tommy Anweisungen.
„Zuerst die Schlange!“
Er ging hinüber zum ersten Symbol, legte die Hand auf die Schlange und drehte sich noch einmal um.
„Keine Zweifel?“
„Nein!“, schallte es einhellig zurück.
„Na gut“, meinte er und drückte zu. Doch zu unserer großen Überraschung bewegte sich die Hieroglyphe nicht einen Millimeter. Tommy ließ los und wandte sich um.
„Entweder es ist doch der falsche Buchstabe oder es ist doch der Falsche.“
„Was redest du da?“, fragte ich entgeistert.
„Na, der Falsche, der die Symbole drücken muss!“, sagte er achselzuckend. „Vielleicht solltest du mal ... “
In dem Moment, wo er das zu mir sagte, schien ihm ein Gedanke zu kommen. „Nein, ich glaube, ich weiß, wer die Hieroglyphen drücken sollte. Was meinst du, Janine, willst du es nicht mal probieren?“
„Ich? Aber warum ... ?“
„Na, weil es um dich geht. Deine Mutter braucht unsere Hilfe und du stehst ihr am nächsten. Ich habe so das Gefühl, dass du es einfach mal ausprobieren solltest.“
Janine schaute skeptisch. Aber der Gedanke an ihre Mutter ließ jedes Gefühl von Angst bei ihr verschwinden. Entschlossen trat sie vor und legte die Hand auf das Symbol der Schlange.
„Ist ja egal. Wenn’s die falsche ist, geht’s eben nicht.“ Mit diesen Worten presste sie die Hieroglyphe zurück in die Wand. Vollkommen überrascht fuhr sie zusammen und drehte sich um. Ihre Augen waren weit aufgerissen.
„Tja“, sagte Tommy trocken, „da sieht man mal, was Janine so drauf hat! Los, mach weiter! Welchen als nächsten, Joe?“
„Na, den Geier!“
Gespannt sahen wir zu, wie Janine auch den Vogel zurückdrückte ohne den geringsten Widerstand zu erfahren. Ich spürte, wie mein Herz klopfte. Noch vier Hieroglyphen.
Bei der letzten, der zweiten Feder, hielt Janine inne.
„Was passiert, wenn ich die letzte drücke?“, fragte sie bang.
„Keiner weiß das“, antwortete Tommy ruhig. „Aber wenn du sie nicht drückst, werden wir hier vergammeln.“
Ich glaube, wir hielten alle die Luft an, als sie die letzte Hieroglyphe vorsichtig in die Wand zurückdrückte und dann alle Symbole wieder so aussahen, als wären sie nie aus ihr hervorgetreten. Unwillkürlich drängten wir uns aneinander und warteten darauf, dass irgendetwas geschah.
Und es sollte etwas geschehen! Genau in der Mitte des Raumes, ausgerechnet da, wo wir standen, leuchtete auf einmal der Boden! Vor Schreck sprangen wir auseinander. Die Erscheinung war kreisrund und das Leuchten in einer unbeschreiblichen Farbe. Dann bildete sich ein kleiner runder Fleck inmitten des Kreises und formte sich zu einem Gegenstand.
„Genau wie damals!“, schoss es mir durch den Kopf. Für ein paar Sekunden dachte ich, jetzt muss das Buch der Gaben erscheinen, das Tommy damals verliehen wurde. Doch dann erkannte ich, dass der Gegenstand, der dort erschien, niemals ein Buch sein konnte. Die Umrisse schälten sich immer deutlicher vom Untergrund. Das Leuchten wurde unerträglich hell und wir kniffen die Augen zusammen. Dann war es vorüber. Der Boden der Kammer sah aus wie vorher. Doch nun lag etwas in seiner Mitte. Eine Scheibe. Eine goldene Scheibe.