Читать книгу Der verschwundene Vater - Michael Aulfinger - Страница 3

Kapitel 1

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Der Schlüssel drehte die Verriegelung zurück. Die Tür öffnete sich mit einem leisen quietschendem Geräusch. Dies tat sie in letzter Zeit häufiger. Ein Tropfen Öl könnte sicherlich dauerhaft Abhilfe schaffen.

„Hallo Liebling. Wie war dein Tag? Wo sind die Kinder?“

Bernd traf seine Frau Cordula in der Küche, und gab ihr einen Kuß, noch bevor sie antworten konnte. Ihr strahlendes Gesicht verriet eindeutig, daß sie sich über ihren frohgelaunten Mann freute, auch wenn er sicherlich einen schweren Arbeitstag hinter sich gebracht hatte. Sie waren glücklich miteinander, und ihre zwei wohlgeratenen Kinder ließen ihr Glück nahezu perfekt erscheinen. Es herrschte ein harmonisches Familienleben.

„Soweit ganz gut. Die Kinder müßten in einer Stunde vom spielen zurück kommen. Dann können wir essen. Du hast sicherlich einen Bärenhunger.“

„Oh ja. Das kannst du wohl laut sagen. Was gibt es denn schönes zum Essen. Da bin ich aber gespannt.“

Bernd lugte mit glänzenden Augen in den Kochtopf, obwohl er vorher schon gerochen hatte, daß sein Lieblingsessen zum Abendessen kredenzt wurde.

„Hmmm,“ gab er lechzend von sich, während seine Finger schon dabei waren ein Stück vom Fleisch abzuzweigen. Wie gewohnt reagierte Cordula, und schlug ihm reaktionsschnell auf die Finger, wie sie es immer bei Kochtopflangfingern tat. Denn das Spiel kannte sie zur Genüge. Sie spielten es oft und gerne.

„Finger weg du ungezogener Bengel. Du bekommst schon genug. Kannst du nicht warten bis wir essen?“

Wie immer gab er ihr einen Klaps auf ihr rundes Gesäß, und ging grinsend in das Wohnzimmer. Cordula wedelte mit gespielter Aufgebrachtheit ihm mit der Kelle hinterher.

So entspannt ging es im­mer bei der Familie Pfaff vonstatten. Eine lockere Atmosphäre war stets zu spüren. Die Kinder wuchsen frei und ungezwungen auf. Dies hatte zur Folge, daß es auch in der Schule wenig Proble­me mit dem Sohn Dennis und der zwei Jahre älteren Tochter Sonja gab. Die Familie Pfaff war über­aus beliebt, und konnte sich daher über einen großen Bekannten- und Freundeskreis freuen. Ihre ge­lebte Lockerheit, und das daraus resultierende Glück, rief sogar einige wenige Neider auf den Plan. Das lag wohl daran, weil es in deren familiärem Umfeld nicht so harmonisch zuging.

Aber das störte die Pfaffs wenig. Sie lebten so, wie sie es für richtig hielten, und schlossen die Neider aus ihrem Leben aus.

Eine Stunde später saßen die vier in fröhlicher Runde am Tisch. Es wurde geredet, was der Tag an Erlebtem hergab. Cordula war in ihrer Kindheit noch so erzogen worden, daß am Tisch nicht gesprochen wurde. Da sie diese Tischregel damals schon als langweilig und überflüßig empfand, ließ sie ihre Kinder reden, wie sie wollten. Und sie nutzten es aus. Sie aßen trotzdem und hatten spürbar viel mehr Spaß dabei.

„... und da hat Kevin sich auf sein Skateboard gestellt. Er nahm Schwung, und wollte uns Mädels zeigen, was er drauf hat. Das er halt ein toller Kerl ist. Ihr wißt doch wie die Jungs in dem Alter sind. Aber das ging voll in die Hose. Ihr könnt es euch gar nicht vorstellen. Er kriegte die Kurve nicht und knallte voll … .“

An dieser Stelle konnte die dreizehnjährige Sonja nicht mehr vor Lachen weitererzählen. Sie bog sich feixend. Die anderen taten es ihr gleich, denn ihr Kopfkino ließ den Film vor ihren eigenen inneren Auge abspielen.

Als sie sich endlich alle beruhigt hatten, gab Bernd seinen Kommentar ab, obwohl ihm noch eine Lachträne an seiner Wange herabkullerte.

„Geht nicht so hart mit Kevin ins Gericht. Es ist für einen pubertierenden Jungen schwer pubertie­renden Mädchen zu imponieren. Es ist ein Vorspiel zur späteren Balz. Glaubt mir. Ich weiß wovon ich rede.“

Ein zurechtweisender Seitenblick seiner Frau, ließ ihm unzweifelhaft wissen, daß er nicht weiter re­den sollte. Cordula war es peinlich, doch Bernd konnte nur schwer ein Grinsen unterdrücken. Schließlich war er ja auch mal jung.

Bald beruhigten sich alle wieder. Nachdem das Essen beendet und der Tisch abgeräumt war, gingen die Kinder in ihre Zimmer, in das obere Stockwerk des Einfamilienhauses.

Cordula setzte sich auf ihre Couch. Sie nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, das es kurz vor halb acht Uhr Abends war. Zeit für ihren Krimi, der um diese Zeit lief. Der Film lief gerade erst wenige Minuten, als Bernd in das Wohnzimmer trat. Er trug seine Lederjacke und Straßenschuhe.

„Willst du nochmal weg?“

„Ja. Ich gehe nochmal kurz zu Stefan. Er hat mir eine Nachricht geschickt. Sein Computer funktioniert wieder nicht. Wahrscheinlich hat er sich im Internet irgendeinen Virus eingefangen. Mal sehen, ob ich es hinbekomme. Bis später.“

Stefan wohnte einen knappen Kilometer entfernt. Er war ein guter Freund der Familie. Ein lieber Kerl, doch von technischen Geräten hatte er keine Ahnung. Es war deshalb nicht ungewohnt, daß er Bernd um Rat anflehte.

„Alles klar. Schließe dann später die Tür ab, wenn du wieder da bist. Ich sehe solange fern,“ sprach Cordula und wandte sich sogleich der Serie wieder zu. Sie bekam deshalb nur unbewußt mit, wie die Tür sich mit dem typischen quietschen schloß.


Cordula erwachte. Der Fernseher lief noch. Inzwischen wurde eine andere Geschichte gesendet. Verschlafen registrierte sie, daß sie während des vorherigen Films eingeschlafen war. Sie sah auf die Uhr. Schon kurz vor elf Uhr. Sie sah sich um. Von Bernd war keine Spur. Er wird wohl schon im Bett liegen, dachte sie während des Gähnens. Mit verschlafenem, tap­sigen Schritt ging sie die Treppe zum Schlafzimmer hinauf. Dort angekommen knipste sie leichthändig den Lichtschalter an. Sie wollte gerade zu ihrer Bettseite gehen, als ihr Bewußtsein verstand, daß Bernds Seite unbenutzt war.

Wo mochte er sein?

Sonst war er nie so lange unterwegs. Schon gar nicht mitten in de Arbeitswoche. Und wenn, rief er vorher an. Das kam aber höchst selten vor. Die Telefone zeigten keinen Anruf an. Sie setzte sich in das Wohnzimmer und wartete. Als sie meinte, lang genug gewartet zu hatte, griff sie nach dem Telefon und wählte die bekannte Nummer von Stefan. Als sie auf die Uhr sah, bekam sie sogleich ein schlechtes Gewissen, denn Ste­fan mußte am nächsten Morgen sicherlich wieder früh auf der Arbeit erscheinen.

Nach fünfmaligem läuten, meldete sich eine verschlafen klingende Stimme.

„Jaaa....“

„Stefan, bist du das? Hier ist Cordula.“

„Ja, ich bin’s. Was gibt’s. Ich habe schon geschlafen.“

„Oh, das tut mir leid. Ich wollte nur wissen, ob Bernd noch bei dir bastelt. Weil er noch nicht zu Hause ist.“

„Natürlich ist ist er nicht mehr hier. Die Reparatur des Computers ging schnell und war ein kleines Problem. Ich hatte mir da einen blöden Virus beim surfen eingefangen. Aber für Bernd kein Problem. Du kennst ihn ja. Er bekommt sowas schnell wieder hin.“

„Dann ist ja gut. Wann ist er denn gegangen?“

„Das ist schon lange her. Er war nur eine Stunde bei mir. So gegen neun ist er wieder los. Ist er noch nicht zurück?“

„Nein, ich dachte er wäre noch auf ein Bier bei dir geblieben. Das ihr euch einfach fest gequatscht habt, und darüber den Sinn für die Zeit verloren hättet. Hast du sonst eine Ahnung wo er sein könnte? Hatte er was gesagt?“

„Es tut mir leid, aber ich weiß wirklich nicht, wo er ist.“

„Dann entschuldige die Störung. Schlaf weiter. Gute Nacht.“ Noch bevor Stefan sich am anderen Ende verabschiedete und auflegte, beschlich Cordula ein enorm schlechtes Gefühl. An Schlaf war von nun an nicht mehr zu denken. Panik ergriff sie.

War ihm etwas passiert?

Sowas hat er noch nie gemacht.

Das war nicht Stefan, das sah ihm nicht ähnlich.

Sie versuchte sich zu beruhigen, indem sie sich einredete, daß er irgendwo in einer verqualmten Kneipe versackt wäre. Aber auch das tröstete sie wenig, weil sie ihn kannte. Spät Abends in einer stinkenden Kneipe zu saufen war gar nicht sein Stil.

Da fiel ihr etwas ein.

Mit einem Sprung ging sie zur Kommode im Flur. Wenn er zu Hause war, deponierte er immer in der zweiten Schublade seine Brieftasche mit allen Papieren, sowie sein Portemonnaie. Auch wenn es ihr widerstrebte ihn zu überprüfen, tat sie es dennoch.

Beides war vorhanden. Mit zitternden Fingern kontrollierte sie alle Fächer. Alles war ordentlich hinterlegt, wo es hingehörte. Personalausweis, Krankenversicherungskarte, EC-Karte, Visa-Karte, Bargeld, Führerschein, einfach alles. Es fehlte nichts. Was sie außerdem in der Schublade entdeckte, war etwas, womit sie gar nicht gerechnet hatte. Bernd hatte sein Handy liegen lassen.

Cordula Pfaff wurde immer nervöser. Dann fiel ihr nur noch ein Wort ein.

Polizei.

Mit zitternden Händen wählte sie die Nummer. Als der wachhabende Beamte sich gemeldet hatte, fing sie sogleich aufgebracht an, über das Vorgefallene zu erzählen.

„Beruhigen sie sich.“ Die Stimme des Polizisten am anderen Ende der Leitung wurde ein wenig forscher. „Ich nehme ihre Anzeige auf, kann aber nicht versprechen, daß wir fündig werden. Viele Leu­te verschwinden, und sind am nächsten morgen – nach einer irgendwie versumpften Nacht - mit dickem Kopf wieder aufgetaucht. Warten sie deshalb erstmal morgen früh ab. Dann klärt sich wahr­scheinlich alles wieder auf.“

Der Polizeibeamte kannte Cordula aber nicht. So einfach abspeisen ließ sie nicht nicht.

„Hören sie einmal genau zu,“ rief Cordula laut in den Hörer. „Ich kenne meinen Mann genau, und kann ihnen mit Bestimmtheit sagen, daß er keiner ist der sich nachts in einer Spelunke den Frust über seine Frau herunter säuft. Wir führen eine überaus glückliche Ehe. Er wollte nur kurz zu seinem Freund, wo er auch war. Ab neun Uhr ist er verschwunden. All seine Papiere und sein Handy sind noch hier. Er irrt irgendwo ohne Geld herum. Oder es ist ihm etwas schlimmeres passiert. Können sie nicht nach ihm forschen? Wir zahlen schließlich auch Steuern.“

Das saß. Der Polizist wurde mit einem Mal dienstfreudiger.

„Wissen sie was? Ich prüfe nach, ob ihr Mann irgendwo aufgefunden, oder in einer umliegenden Notaufnahme eines Krankenhauses eingeliefert wurde. Ihre Telefonnummer habe ich hier auf dem Display. Ich rufe sie an, wenn ich näheres weiß. Ist das in Ordnung?“

„Ja,“ schluchzte Cordula. „Danke schön.“

Sie legte auf. Auch wenn sie krankhaft versuchte, sich zu beruhigen, es mochte ihr nicht gelingen. Irgend etwas in ihrem Innern sagte ihr fortwährend, daß schreckliches geschehen sei.

Die nächste Stunde wurde sie immer nervöser. An Schlaf war nicht zu denken, und die Ablenkung durch den Fernseher war so sinnlos, wie einen Eisblock in der prallen Sonne stehen zu lassen.

Sie lief auf und ab. Immer wieder erwischte sie sich dabei, wenn sie erwartungsvoll zum Telefon starrte.

Endlich klingelte es. Die Uhr zeigte inzwischen schon halb zwei an. Der vorherige Beamte war am Hörer. Nach einer kurzen Begrüßungsfloskel kam er gleich auf den Grund zu sprechen.

„Ich kann sie beruhigen. Nirgendwo wurde ein Mann nach ihrer Beschreibung aufgefunden. Schlafen sie jetzt erstmal. Morgen früh wird er bestimmt wieder auftauchen. Sie werden sehen. Dann war all die Aufregung umsonst.“

Trotz seiner beschwichtigen.Worten, konnte sich Cordula nicht beruhigen. Sie fühlte sich kraftlos, so daß sie dem Polizisten nicht antwortete. Mehr als einen kurzen Abschiedsgruß brachte sie nicht hervor. Ihre Sorgen machten ihr arg zu schaffen.

An Schlaf war nicht zu denken. Und dennoch vergingen die Stunden. Lang und zäh zogen sie sich hin, bis die ersten Sonnenstrahlen über die Baumwipfeln hervortraten.

Als die Morgendämmerung eintrat, weckte sie die Kinder. Cordula verschwieg ihnen ab­sichtlich, daß deren Vater vermißt war. Dennis und Sonja waren nicht mit Dummheit geschlagen, deshalb merkten sie sofort, daß der Morgen nicht in geregelten Bahnen lief.

„Wo ist Vater?“

„Schon los.“

Mehr antwortete Cordula nicht. Sie war sich sicher, daß die Kinder ihr diese Notlüge nicht abnahmen. Dennoch schwiegen sie, aßen ihr Frühstück mit strengen Mienen und verabschiedeten sich zur Schule. Der Abschied fiel denkbar kühl aus. Was sollte Cordula denn sagen? Vielleicht klärte sich bald wirklich alles auf, und Bernd kam sogleich quietschfidel um die Ecke. Genauso wie der Polizist es ihr am Telefon geweissagt hatte. Vielleicht aber auch nicht, und für diesen Fall war es ihre verdammte Pflicht die Kinder soweit wie möglich vor Verlustängsten zu schützen. Es war schon schlimm genug, wenn sie davon reichlich gequält wurde.

Sobald die Kinder aus der Sicht waren, zog sie sich an, holte den Autoschlüssel, und fuhr mit ihrem Fiat Panda zur nächsten Polizeiwache. Sie wußte, daß diese gegen halb acht öffnete.

Wie erwartet war um jene frühe Zeit noch nicht viel Verkehr in der Amtsstube.

Dementsprechend brauchte sie nicht lange zu warten und wurde bald aufgerufen. Er junge Polizist mit blonden Haaren kam zu ihr. Er trug Koteletten, wie sie in einst in den siebziger Jahren Mode waren.

„Sie kommen wegen einer Vermißtenanzeige, Frau Pfaff?“

„Ja.“ Cordula erzählte ihm alles haargenau in chronologischer Reihenfolge wie es sich zugetragen hatte. Der Beamte tippte zeitgleich alles in den Computer. Als sie geendet hatte, lehnte sich der Polizist zurück.

„Ich habe noch ein paar Fragen, bevor die Suchmeldung heraus geht.“ Ein Nicken signalisierte ihm, daß er beginnen konnte.

„Wie sah es in ihrer Ehe aus. Hat ihr Mann einen Grund zu verschwinden? Stand die Scheidung ins Haus? Hat er vielleicht eine Affäre, bei der er sich in diesem Moment aufhalten könnte?“

Wenn es jemals im Leben der Cordula Pfaff einen Moment gegeben haben sollte, in dem sie beinahe vor Wut und Zorn platzen würde, so war es jener zu diesem Zeitpunkt. Ihr ansonsten eher blei­cher Teint hatte nahezu die Farbe einer überreifen Erdbeere angenommen. Völlig aufgebracht stand sie rasch auf und stützte sich auf dem Schreibtisch des verdutzt zurück weichenden Polizisten ab.

„Guter Mann. Wir führen eine sehr gute Ehe. Da können sie fragen wen sie wollen. Und ich lasse mir von so einem jungen Mann, ohne jegliche Lebenserfahrung, nicht eine unmögliche Affäre ankreiden. Da liegen sie vollkommen falsch.

Niemals würde er sowas tun. Da muß etwas Schreckliches passiert sein. Nie wieder möchte ich aus ihrem Munde so eine infame Unterstellung hören. Haben wir uns verstanden?“

Beim letzten Satz knallte sie dermaßen die Faust auf den Schreibtisch, so daß der Beamte beinahe rücklings mit dem Stuhl umgekippt wäre.

„Beruhigen sie sich doch erstmal.“ Leicht schwitzend beugte er sich wieder nach vorne. Mit einer Handbewegung forderte er Cordula auf sich wieder zu setzen. Sie tat es schließlich, allerdings war sie innerlich immer noch völlig aufgewühlt.

Nach einigen Augenblicken des Beruhigens, beugte sich der Beamte nach vorne, die Hände auf dem Schreibtisch gefaltet.

„Frau Pfaff. Hören sie mir mal bitte zu. Es liegt mir fern sie aufzuregen, sowie ihrem Mann eine Affäre mit einer anderen Frau zu unterstellen. Weiß Gott nicht. Aber sie glauben gar nicht, was wir hier schon alles erlebten. Erst vor kurzem hatten wir hier eine Frau, die geschworen hat, daß ihr Mann glücklich mit ihr lebte, und sie niemals betrügen würde. Keine zwei Tage später stellte sich dann heraus, daß er genau dies getan hatte.

Meine Fragen dienen nur dazu, um ihnen zu helfen. Es liegt nicht in meiner Absicht sie zu kränken. Haben sie das verstanden?“

„Ja,“ antworte Cordula nun ruhiger. Ich verstehe sie ja auch. Sie wollen nicht unnötig alles aufwühlen. Aber eines kann ich ihnen versichern. Bei meinem Mann ist es nicht so gelaufen wie bei dem eben von ihnen erzählten Fall. Das mag ja schon mal vorgekommen sein. Mein Mann ist ein fürsorglicher Vater und lieber Ehemann. Für ihn geht die Familie über alles. Sein Verschwinden ist nicht mit Vernunft zu erklären.

Da muß wirklich was schreckliches passiert sein. Vor allem, weil er gar nichts mitgenommen hat. Das macht er nämlich niemals, wenn er zu Freunden alleine geht. Alles ist da.“

„Meinen sie, daß er über gar kein Bargeld, oder irgendwelchen Karten verfügt, mit denen er sich Bargeld verschaffen könnte?“ Der Beamte – sein Name war Metzer, wie das kleine Schild auf dem Schreibtisch bekundete - hörte nun deutlich konzentrierter zu.

„Richtig. Wie ich vorher schon angab, hat er gar nichts dabei. Wenn er durchbrennen würde, so hätte er doch sicherlich genügend Bargeld dabei, beziehungsweise würde er eine EC-Karte zum Geld abheben mitnehmen. Um halt genug zum Leben zu haben. Das ist es ja, was mich beunruhigt. Er hat nichts weiter dabei gehabt, als die Sachen die er am Leibe trug.“

„Das ist natürlich seltsam. Wenn jemand die Absicht hätte zu verschwinden, würde er doch im Vorfeld für ein angenehm finanzielles Polster sorgen. Auf welche Weise auch immer. Es gibt natürlich Fälle, in denen eine vermißte Person heimlich Geld beiseite schaffte, und so die zurückgebliebenen auch davon ausgingen, er wäre ohne Bargeld verschwunden. Na denen hat er aber eine lange Nase gezogen. Aber das sind alte Fälle. Jetzt wenden wir uns ihrem Mann zu, ohne ihm so eine hinterhältige Absicht zu unterstellen.

Die Beschreibung habe ich vor mir liegen. Frau Pfaff. Dann kann ich weiter nichts tun, als die sofortige Fahndung nach ihrem Mann an die Kollegen weiterzugeben. Gehen sie nach Hause und be­ruhigen sie sich. Vielleicht ist es alles nur ein Mißverständnis. Trotzdem rate ich ihnen, daß sie all ihre Bekannten anrufen, ob er sich nicht vielleicht dort gemeldet hat.“

Cordula nickte. Sie nahm sich vor, dies zu tun. Mehr konnte sie wahrlich nicht unternehmen.

Außer warten natürlich.

Warten und warten.


Sonja öffnete die Tür. Mit einem Schwung schleuderte sie achtlos ihre Schultasche in die Ecke. Dies war eine neue Angewohnheit, die von ihrer permanent schlechten Laune herrührte. Dementsprechend würde alleine schon ein kleiner Funke ausreichen, um bei ihr extreme Wutausbrüche her­vor zurufen. Sie war einfach nicht mehr wieder zuerkennen. Seit ihr Vater vor zwei Wochen spurlos verschwand, hatte sich das Familienleben dramatisch in das Negative verändert.

Sonja zeigte sich durchgehend zickig, was nicht alleine auf die beginnende Pubertät zurück zuführen war. Mit ihrer Mutter konnte sie seit Tagen kein ruhiges Gespräch mehr führen. Cordula gab sich die allergrößte Mühe, doch lagen bei ihr ebenfalls die Nerven blank, so daß jedes falsch ver­standene Wort sogleich zu heftigen Streitigkeiten führte. Diese unverhältnismäßige hohe Anzahl von Streitigkeiten waren fast nur eine Angelegenheit zwischen Mutter und Tochter.

Dennis dagegen hatte eine andere Art gefunden, um diesen negativen Lebensabschnitt nervlich und psychisch bewältigen zu können. Er zog sich in sich zurück. Es war für Cordula schwer von ihm auf einfachste Fragen eine Antwort zu erhalten. Wenn er angesprochen wurde, so drehte er meist den Kopf weg, und tat so, als wenn die Frage ihm nicht galt. Aber das war selten, weil er sich in sein Zimmer verkroch. Seit Tagen lag Cordula in den Abend- und Nachtstunden alleine im Bett, und weinte sich in den Schlaf. Sie wußte einfach nicht mehr weiter. Seit Tagen hatte sie nichts mehr von der Polizei gehört.

Gedulden sie sich. Er wird schon wieder auftauchen.

So oder ähnlich klang es. Leicht gesagt. Und was wäre, wenn Bernd nie wieder auftauchte?

Wenn die wüßten, wie es in ihr aussah.

Mit jeder vergangenen Minute schmolz ihre Zuversicht. Hoffnungslos trieb sie am Tag dahin, als wäre sie ein Ast im reißendem Strom. Sie ließ sich mitreißen. Fortgespült wurde sie, ohne jegliche Aussicht, das rettende Ufer zu er­reichen.

All dieser Gemisch aus Trauer und Hoffnungslosigkeit hatte also auch auf die Kinder unbewußt abgefärbt. Dies spiegelte sich auch in der Schultasche wieder, welche in die Ecke geschleudert wurde.

„Was soll das? Heb die Tasche wieder auf und leg sie dorthin, wo sie hingehört. Das hast du früher auch nicht gemacht.“

„Was geht dich das an?“

„Was soll das heißen?“

Obwohl Cordula wußte, in welche Richtung der Streit ausarten würde, konnte sie nicht diese gegen ihre Person gerichtete Spitze ignorieren. Alleine schon, um den wenigen Respekt zu retten, den ihre Tochter vor ihr haben sollte. So meinte sie wenigstens.

„Du hast mir gar nichts zu sagen.“

„Ach nein Fräulein, und warum nicht? Ich dachte immer, du wärst meine Tochter. Davon bin ich immer ausgegangen.“

„Ich laß mir nur noch was von Papa sagen. Von dir schon gar nichts mehr.“ Als sie das sprach, drehte sich Sonja auch schon weg, um in ihr Zimmer zu entschwinden.

„Aber dein Vater ist nicht da. Da mußt du schon mit mir vorlieb nehmen.“ Cordula schrie regelrecht den Fakt heraus.

Wütend drehte sich Sonja um. Bei ihrer schrillen Stimme überschlug sich dieselbe nahezu.

„Natürlich ist er nicht da. Weil du ihn vergrault hast. Kein Wunder.“

Cordula meinte sich verhört zu haben. Das konnte unmöglich Sonjas Meinung sein.

„Was habe ich? Wie meinst du das?“

„Na, wie ich es sage. Wegen dir ist Papa doch abgehauen. Weil er von dir und deiner ewigen Nörgelei genug hatte. Es ist ganz alleine deine Schuld. Und jetzt tu nicht so, als wärst du das arme Opfer. Du bist der Täter.“

Basta, das saß. Starr vor Schreck war Cordula unfähig sich zu bewegen. Mit so einer unbegründeten Beschuldigung hatte sie niemals gerechnet. Schon gar nicht von ihrer eigenen Tochter. Stets war sie davon ausgegangen, daß sie ein harmonisches Familienleben geführt hatten. Die Eltern mit den Kinder, sowie die Kinder und die Eltern untereinander. War sie andauernd einem Irrtum erlegen? Hatte sie sich täglich in ihrem Harmoniebedürfnis etwas vorgemacht?

Sie meinte nicht.

„Also, nun reicht es aber. Ich habe bestimmt euren Vater nicht vergrault. Da tust du mir unrecht. Ich leide genauso wie ihr beiden darunter, daß er verschwunden ist. Wenn nicht noch mehr.

Und solltest du tatsächlich der Meinung sein, daß ich ihm vergrault habe, so unterliegst du einem großen Irrtum. Du hast solange Stubenarrest, bist du deinen Fehler eingesehen, und dich bei mir für diese ungerechte Unterstellung entschuldigt hast.“

„Glaubst du wirklich, daß du deine Ungerechtigkeit dadurch festigst, indem du mich wie einen Verbrecher wegsperrst? Ich glaube nicht, daß da der Stubenarrest die richtige Erziehungsmethode ist. Aber gut. Ich beuge mich der brutalen Gewalt. Dadurch kommt Papa aber bestimmt nicht wieder.“

„Es stimmt nicht, was du dir in deinem Hirn zusammen braust. Ich habe deinen Vater nicht verjagt. Im Gegenteil. Wir waren sehr glücklich miteinander.“

„Das meinst du. Warum ist er wohl weg? Mach dir doch nichts vor. Und mir schon gar nicht, oder denkst du das ich blöde bin?“

Wütend drehte sich Sonja um. Es war ihr anzumerken, daß sie für vernünftige Argumente nicht zugänglich war. Cordula versuchte es trotzdem, als sie erkannte, daß ihre Tochter eiligst die Treppe hinauf eilte.

„Sonja.“

„Pah.“

Es war das einzige Wort, was noch aus dem ersten Stock hinunter hallte. Wütend über die ungerechte Beschuldigung, aber sich auch gleichzeitig hilflos fühlend, ging sie in die Küche zurück. Auto­matisch wischte sie die einzelne, verirrte Träne hinweg, die ihr an der Wange entlang lief.


Zwei Tage später hatte sich ihr Verhältnis zu Sonja soweit geändert, daß sie gar nicht mehr miteinander sprachen oder auf andere Weise kommunizierten. Sie schritten einfach aneinander vorbei, ohne sich nur anzusehen, geschweige denn ein Wort miteinander zu wechseln. An Versöhnung war keineswegs zu denken. So sehr hatten sich die Fronten verhärtet.

Der einzige, bei dem Cordula ein wenig Beistand fand, war ausgerechnet Dennis. Von Tag zu Tag lockerte sich seine Verschlossenheit, die er dennoch nicht vollkommen aufgab. Es geschah sogar an diesem Tage, daß er sich nach der Schule unvermittelt hinter seiner Mutter stellte, und sie von hinten mit seinen Armen an der Taille umarmte. Zuerst wirkte Cordula erstarrt, denn eine solche Zuneigung hatte sie schon seit langem nicht mehr erfahren. Dann spürte sie, wie es ihr gut tat, und sie ein wohliger Schauer übermannte. Sie drehte sich um, und sah ihn mit feuchten Augen an. Die Gefühle überwältigten sie. Die Tränen dabei konnte sie gerade noch zurückhalten. Das sprechen fiel ihr trotz­dem schwer. Ihre Freude war unbeschreiblich. Zärtlich strich sie ihm durch das Haar.

„Wir schaffen das schon.“

„Das glaube ich auch. Papa wird schon wieder kommen. Hoffentlich. Denn nicht nur wir warten auf ihn.“

„Ja,“ bestätigte Cordula. „Nicht nur wir warten. Auch auf der Arbeit warten sie auf ihn. Ich habe gestern mit seinem Chef gesprochen. Papa ist solange beurlaubt. Sobald er wieder da ist fängt er ganz normal auf der Arbeit an. Als wäre es nur Urlaub gewesen. Es wird alles wieder gut werden, und so wie früher.“

„Das ist gut.“ Dennis nickte. „Aber das meine ich nicht. Auch die zwei Männer warten auf ihn.“

„Welche zwei Männer?“ Dennis Äußerung ließ Cordula aufhorchen.

„Na, die zwei Männer, die seit Wochen oft auf der anderen Straßenseite in dem Auto sitzen. Sind sie Dir noch nie aufgefallen?“

Irritiert schüttelte Cordula ihren Kopf. Das war ihr neu. Wegen ihrer nervlichen Anspannung war ihr das bestimmt nicht aufgefallen. Unter normalen Umständen würden ihr solche Details bestimmt nicht entgehen. Aber was war in diesen Tagen schon normal.

„Nein. Wirklich nicht. Aber weißt Du, ich hatte in letzter Zeit viel um die Ohren.“

„Sicherlich. Das weiß ich. Ich dachte ja nur, daß du wissen wolltest was die Männer von mir wollten.“

Erneut lag es an Cordula irritiert drein zu schauen.

„Wie? Du hast mit ihnen gesprochen? Was haben sie gesagt?“

„Ja, der eine dünnere Mann sprach mich gestern nach der Schule hier vor dem Haus an. Er wollte wissen, ob ich weiß, wo mein Vater sei. Das war alles.“

„Und was hast Du geantwortet?“

„Ich weiß es nicht. Das ist ja die Wahrheit. Gelogen habe ich nicht. Nicht das er denkt, ich würde die Unwahrheit sagen.“

„Richtig. Gelogen hast du nicht. Und was sagte er dann?“

„Er fragte nur, ob ich wisse wann er wieder zurück sei. Er müsse mit ihm reden. Aber auch das wußte ich ja nicht. Dann dankte er mir, drehte sich um und ging zu seinem Auto zurück. Die beiden Männer fuhren dann später weg. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen. Aber ich habe von meinem Zimmer aus ein Foto von ihnen mit meinem Handy gemacht, als sie am Auto standen. War das richtig, oder falsch?“

„Hast du gut gemacht. Wird wohl nichts wichtiges gewesen sein. Das waren wahrscheinlich Bekannte von Papa die hörten, daß er vermißt wird und netterweise wissen wollten ob er wieder da sei. Das ist doch lieb von ihnen.“

Sie gab ihrem Sohn einen liebevollen Klaps, der darauf hin unbekümmert in sein Zimmer stürmte.

Eine Stunde später klingelte das Telefon. Ihre Mutter rief an, um zu erfahren, ob es Neues gab. Sie wohnte in Berlin, so daß es selten Möglichkeiten eines Besuches gab. Zwei mal im Jahr, mehr sahen sie sich nicht. Als Cordula beinahe eine halbe Stunde ihr Herz ausgeschüttet, und die Mutter geduldig zugehört hatte, klingelte es an der Tür.

„Ich rufe dich später nochmal an. Okay?“

Die Mutter bejahte, so daß das Gespräch abrupt beendet wurde, und Cordula zur Tür ging. Nach dem obligatorischem quietschen der Tür, erspähte sie zwei Polizeibeamte. Sofort erschreckte sie sich, denn sie befürchtete das schlimmste. Zwar war den Beamten keinerlei Gefühlsregung an den Gesichtern abzulesen, doch konnte es nur eines bedeuten. Das wurde ihr sofort klar:

Bernd war tot.

„Frau Cordula Pfaff?“

„Ja.“ Beim aussprechen des Wortes fühlte Cordula, wie ihr Blut direkt nach oben in den Kopf schoß. In diesem Moment wußte sie alles.

„Treten sie bitte ein.“ Cordula konnte sich später nicht mehr daran erinnern, diesen Satz gesprochen zu haben. Zu unwirklich wirkte alles auf einem Mal.

„Wir sind gekommen,“ sprach der ältere Beamte mit dem Schnurrbart als er im Wohnzimmer stand, „um sie bitten mit uns in die Gerichtsmedizin zu fahren.“

„Warum?“

Wieder eine Frage, die sinnlos daherkam, da sie die Antwort bereits wußte.

„Es tut mir leid, es ihnen zu sagen, doch haben wir einen Torso eines männlichen Körpers gefunden, bei dem wir sie bitten diesen zu identifizieren. Es könnte sich um ihren Mann handeln. Einige Indizien weisen darauf hin.“

Um Cordulas Kopf drehte sich alles. Schwindelig war ihr. Die Beamten sahen, wie ihr vorher aufrechter Körper hin und her schwankte, wie der eines zierlichen Menschen auf hoher tobender See auf den Planken eines kleinen Schiffes.

„Setzen sie sich bitte.“

Diese Worte bekam Cordula gar nicht mit. Es brauchte Minuten, bis sie die wieder klar denken konnten. Denn zuerst hatten sich die nebligen Zustände in ihrem Kopf verbreitet. Der geistige Nebelschleier hatte sich schließlich ganz gelichtet.

„In Ordnung. Gehen wir.“


In dieser Nacht war an einschlafen nicht zu denken. Ständig dachte sie an den Anblick, der ihr leider nicht erspart blieb. Es wurde zum schrecklichsten Moment ihres Lebens. Dieser leblose Körper ohne Gliedmaßen.

Als man sie gebeten hatte einen Blick auf die Brust des Torsos zu werfen, zwang sie sich dazu nach einem bestimmten Punkt zu suchen. Nichts anderes wollte sie erblicken. Keine Stümpfe oder andere brutalen Stellen. Nur eine Pigmentstörung interessierte sie, die Bernd Zeit seines Lebens schräg unterhalb der linken Brustwarze gehabt hatte. Daran konnte sie sich gut erinnern.

Sie zwang sich dazu konzentriert darauf zu achten, denn sie wollte sicher sein. Kein Fehler sollte ihr dabei unterlaufen. Es ging um die vollkommene Gewißheit. Nach Sekunden des Schweigens schnellte ihr Kopf zurück. Sie drehte sich um, und schüttelte den Kopf, als sie den Hauptkommissar Ulrich Doren ansah. War Enttäuschung in seinem Blick? Hatte er gedacht, oder gar gehofft, durch ihr Nicken einen mysteriösen Fall schnell aufklären zu können? Da mußte sie ihn leider enttäuschen. Sie war glücklich, daß vor ihr nicht Bernds Torso gelegen hatte.

Ihre Freud, des Kommissars Leid.

Doch war sie wirklich glücklich darüber? Nein, daß konnte sie nicht sein, denn die Ungewißheit über sein Verbleiben hing hartnäckig an ihr. Es wurde nicht besser, allenfalls schlimmer. Jetzt wußte sie nur mit Bestimmtheit, daß die Leiche vor Ihr nicht die ihres Mannes war. Er konnte trotzdem tot sein.

Lebte er noch?

Wo war er?

Warum tust du uns das an?

Fragen über Fragen, quälten sie Tag für Tag, Stunde für Stunde. Ja nicht nur jede Minute, nein, sogar jede Sekunde dachte sie nur an ihn.

Stundenlang lag sie wach, bis der Wecker erklang, und sie der karge Alltag ohne Ehemann wieder in seinen unbarmherzigen Krallen hatte.

Tage später klingelte es an der Tür. Wie erwartet stand Bettina vor dieser. Sie war mit die beste Freundin Cordulas und ein Mensch mit dem sie alles bereden konnte.

Es war schon Abends und das Nachtessen bereits vorbei. Es hatte sich so zugetragen, wie es all die Wochen vorher auch schon ablief. Dennis und Cordula aßen alleine, während sich Sonja stillschweigend ihr Essen aus der Küche geholt, und sich klammheimlich wieder in ihr Zimmer begeben hatte.

Nach einer Umarmung setzten sich die Freundinnen in das Wohnzimmer. Zuerst tranken sie einen Kaffee. Danach wurde eine Flasche Wein geöffnet. Ihre Gespräche drehten sich nur um ein Thema. Um den verschwundenen Vater und Ehemann.

„Ich kann nicht mehr, Bettina. Es geht einfach nicht mehr. Diese nervliche Anspannung macht mich kaputt. Ich kann nicht mehr schlafen. Dazu der Streß mit den Kindern, sowie die quälende Ungewißheit.“

Bettina hatte Mitleid. Langsam nahm sie die Hand der Freundin zwischen ihren und drückte sie leicht.

„Das glaube ich dir. Wenn du Hilfe brauchst, so sage es nur.“

„Danke, ich komme darauf zurück. Es hilft mir schon, jetzt mit dir darüber zu reden. Mit Sonja kann ich gar nicht mehr sprechen. Sie blockt total ab. Dennis verhält sich sehr tapfer für sein Alter. Aber auch um ihn und Sonja mach ich mir Sorgen. Welche Konsequenzen hat das verschwinden ihres Vaters auch auf deren späteres Leben? Werden sie einen seelischen Schaden davon tragen? Ich weiß es nicht, aber es kann gut sein. Bei Scheidungskindern ist es ja auch so.“

Cordula machte eine Pause. Ein verweintes Schluchzen konnte sie nicht mehr unterdrücken. Es mußte hinaus. Bettina tätschelte ihr den Rücken.

„Mach dir jetzt darüber keine Gedanken. Das kannst du noch immer tun, wenn Bernd wieder da, und die Geschichte vorbei ist. Sonst machst du dich nur kaputt.

Jetzt geht es aber auch nicht nur um Bernds Verschwinden, und um die Kinder. Jetzt geht es auch um dich. Ich sehe ja auch, wie du dich zermürbst, wie das alles zuviel für dich wird. Denke auch mal an dich selbst. Gehe am besten morgen zum Arzt. Laß dir psychiatrische Hilfe verschreiben. Ich sehe doch wie nötig du fachliche Hilfe brauchst.“

„Danke, aber das brauche ich nicht. Es hilft schon, wenn du mir einfach zuhörst, und ich mich mal ausreden kann. Außer mit meiner Mutter habe ich noch mit niemanden so gesprochen wie mit dir. Du bist mir jetzt schon eine Hilfe. Du weißt gar nicht, wie gut mir das tut. Gerade in solchen Situationen kann man feststellen, wer die wahren Freunde sind. Es gibt da Leute, von denen habe ich nicht gedacht, daß sie mir nicht helfen wollen. Das einzige was sie interessiert ist, ob Bernd wieder da ist. Aber nur aus dem Grunde um in anderen Kreisen eine interessante Geschichte auftischen zu können. Ansonsten sind sie keine wahren Freunde. Da sieht man mal, wie man sich in Menschen täuschen kann.“

„Ja, ich verstehe was du meinst. Diese Erfahrung habe ich leider auch schon dutzendmal machen müssen. So sind die Menschen eben. Wenn du Hilfe brauchst, dann komme ich gerne wieder, oder du kommst ein paar Tage zu uns. Ja, das wäre doch eine gute Idee. Wir haben ein Zimmer für dich frei. Was hältst du davon?“

„Gute Idee, und danke für das Angebot. Aber die Kinder. Sie müssen zur Schule, und Bernd kann jeden Tag wieder kommen.“

Bettina mußte in dieser Situation leicht grinsen.

„Das ist die alte Cordula wie ich sie kenne und schätze. Immer kämpfen und hoffnungsvoll dreinschauen. Nicht aufgeben. Du rechnest wirklich immer noch damit, daß er eines Tages wieder vor der Tür steht?“

„Ja,“ antwortete Cordula impulsiv. In ihrer Stimme war ein Vorwurf nicht zu überhören. „Natürlich.

Du etwa nicht?“

„Doch, doch. Aber du mußt auch realistisch sein. Es kann andererseits jeden Tag seine Todesmeldung kommen. Das wünsche ich natürlich nicht, aber es kann geschehen. Dessen mußt du dir auch bewußt sein.“

„Oh, ja,“ wetterte Cordula. „Ich weiß was du meinst. Erst vor wenigen Tagen habe ich es erleben müssen, als plötzlich die Polizei vor der Tür stand. Und dann dieses schreckliche Erlebnis in der Gerichtsmedizin mit dieser verstümmelten Leiche. Es war, gelinde gesagt, ein scheiß Gefühl. Glaube mir. Sowas will ich nie wieder erleben. Es war grausam. In einer Sekunde hatte ich mir nämlich eingebildet, daß Bernd auf dem sterilen Tisch lag. So eine verdammte Einbildung hatte ich. Kannst du dir das vorstellen?

„Oh ja,das kann ich mir vorstellen. Das wünsche ich Dir nicht nicht nochmal. Es muß schrecklich gewesen sein. Das du dann solche Halluzinationen bekommst ist ja dann wenig verwunderlich. Deshalb hoffe ich auch, daß dich dein Gefühl nicht täuscht, und das Bernd noch lebt. Hoffentlich hast du recht.“

„Ja. Ich glaube daran. Irgend etwas ist aber passiert. Ich fühle, daß ihm was schreckliches widerfahren ist. Aber was? Vielleicht ist er verletzt und kann sich nicht mehr an seinen Namen erinnern. Vielleicht hat er eine Amnesie, oder wie das heißt. Er hat sein Gedächtnis verloren. Kann ja alles sein. Aber er lebt noch. Daran alleine glaube ich.“

„Ich bewundere dich für deine Zuversicht.“

„Danke, aber du ahnst nicht, wie es in mir aussieht. Stark zu sein ist nicht immer ein Vergnügen. Stark zu sein zehrt enorm an den Kräften. Gerade habe ich mit Sonja meine Probleme. Sie wirft mir die ungeheuerlichsten Vorwürfe an den Kopf. Ich hätte Bernd vergrault. Meinetwegen ist er verschwunden. Das glaube ich nicht. Nein, ich weiß sogar, daß es nicht stimmt. Aber sowas muß ich mir von der eigenen Tochter anhören.

Sag, Bettina. Bist du auch der Meinung, daß ich Bernd vergrault habe? Habe ich ihn in die Arme einer anderen Frau getrieben?

Bin ich so ein Monster?“

„Nein, Cordula.“ Bettina nahm ihre Freundin in die Arme. Das bist du weiß Gott nicht. Ich glaube eher, daß Sonja es auch nicht so meint. Siehe mal. Sie vermißt ihren Vater auch. Sie hat die gleichen Ängste und Qualen wie du zu erleiden. Es ist nun mal ihre Art damit umzugehen. Sie braucht ein Ventil, aus dem sie ihre aufgestauten Aggressionen und Verlustängste loswerden kannst. Und dieses Ventil bist nun einmal du. So leid es mir tut. Gib ihr noch Zeit.“

„Meinst du?“ Cordula wischte sich die Tränen weg.

„Ja. Sonja meint es nicht so. Sie ist selbst fertig mit den Nerven, und weiß sich nicht anders zu helfen als einen Sündenbock auszumachen. Nimm es ihr nicht übel.“

„Danke für deine Hilfe.“

Cordula und Bettina unterhielten sich noch stundenlang. Es war kurz vor Mitternacht, als Bettina aufbrach. Diese Nacht war die erste Nacht seit langem, daß Cordula einigermaßen Schlaf fand. Das Gespräch mit ihrer Freundin hatte ihr sichtlich gutgetan.

Sie gab ihre Hoffnung nicht auf, daß ihr Mann eines Tage wieder zurück kommen würde. Egal aus welchem Grunde er einst verschwand. Ob er eine Affäre hatte, er ein neues Leben beginnen wollte oder es einen anderen Grund gab. Das war ihr egal. Sie würde ihm verzeihen. Egal was geschehen war. Ihre Liebe zu ihm würde es wieder richten.

Da war aber noch die Möglichkeit, daß er gar nicht mehr lebte. Wie eine langsam voran schleichende Schlange kribbelte der latente Verdacht in ihr hoch, und versuchte sie gänzlich einzunehmen und zu verunsichern.

Nein, rief sie in sich selbst hinein. Bernd ist nicht tot. Er darf nicht tot sein.

Es war grausam. Ständig quälten sie die Furcht vor seinem Tode.

War an dieser Furcht ein Funken Wahrheit?

Cordula erwachte mitten in der Nacht. Es geschah in den letzten vier Wochen häufiger, daß sie in der Nacht erwachte. Das lag dann nicht wie vordem daran, daß sie sich erleichtern mußte, sondern an der nervlichen Anspannung. Manches mal hatte sie dann das schreckliche Ende eines Albtraums geweckt. Zitternd lag sie anschließend auf dem Rücken, und vermochte nicht mehr einzuschlafen. Und dieser Zustand vermehrte sich zunehmend, so daß es nahezu in jeder Nacht geschah. Die Quittung für die schlaflosen Nächte, erhielt sie dementsprechend im rücksichtslosen Alltag.

Tief zurückliegende dunkle Augen zeugten von einer derartigen nervlichen Zerreißprobe, die bald nicht mehr zu kontrol­lieren war. Jeden Tag fiel ihr die Beherrschung schwerer. Dazu kamen noch die bewußten Provoka­tionen der Tochter, und die Abkapselung des Sohnes. Einen tröstenden Halt fand sie außer ihrer Mutter und Bettina nicht.

Doch in dieser Nacht war es etwas anders. Bevor der übliche Albtraum überhaupt in der Lage gewesen wäre sein mentales Schreckensszenario abzuspielen und sie zu erschrecken, war sie erwacht. Etwas anderes hatte sie geweckt. War es ein Geräusch? Einige Sekunden lauschte sie mit geschlossenen Augen.

Nichts.

Sie hatte sich wohl getäuscht. Die durch ihren unruhigen Schlaf zerwühlte Decke schob sie wieder über ihren Körper, um sich damit auf die Seite zu wälzen.

Da war es wieder. Nun konnte sie sogar das Geräusch zuordnen. Es mochte die Holztreppe in den ersten Stock sein. Am Tage war ihr das knarren schon häufig aufgefallen, doch in der Nacht wirken alle Geräusche deutlich intensiver, und dadurch beinahe gruselig. Erneut lauschte sie. Dann war es plötzlich vorbei.

Absolute Stille.

Sie entschloß sich das knarren zu ignorieren, doch mochte es ihr nicht vollends gelingen. Wenige Minuten verstrichen, bis sie sich selber eingestand, daß sie nicht wieder einschlafen konnte. Ein Blick auf die Uhr informierte sie, daß es noch nicht einmal zwei Uhr war.

Das war es dann mit dem Schlaf, gestand sie sich ein. Cordula entschied sich dazu aufzustehen, und sich aus der Küche einen Saft zu holen, denn sie verspürte Durst.

Leise, um die Kinder nicht zu wecken, öffnete sie die Tür. Der obere Flur lag ruhig da, wie immer. Kein Licht brannte.

Um nicht im dunkeln auf der Treppe einen unbedachten Schritt zu machen, betätigte sie den Lichtschalter. Zuerst war sie geblendet. Schließlich gewöhnten sich ihre Augen daran. Sie ging die wenigen Meter zur Treppe, als sie an dem Zimmer ihres Sohnes vorbei schritt. Entgegen der Angewohnheit war die Tür nicht geschlossen, sondern stand einen kurzen Spalt offen.

Na, dann hat er wohl nach dem Toilettengang im Halbschlaf vergessen die Tür wieder zu schließen, dachte sie. Dann wollte sie das machen, bevor Dennis durch Licht oder Geräusche wach wurde. Trotzdem nutzte sie die Gelegenheit, um einen Blick auf ihr schlafendes Kind zu werfen. Es würde sie beruhigen, wenn ihr Kind sanft und friedlich schlummerte. Wenigstens er konnte friedlich und erholsam schlafen.

Ein Lichtstrahl fiel in das Kinderzimmer und auf ihren schlafenden Sohn. Friedlich lag er da.

Aber das hereinfallende Licht hatte noch jemand anderes bestrahlt. Diese Person kniete vor dem Bett des Jungen.

Mit traurigen Augen blickte sie Cordula an.

Cordula erkannte die Person sofort. Sie konnte es nicht glauben.

All die Sorgen die sie sich im letzten Monat gemacht hatte, all diese Gefühle des Verlustes , der Angst, veränderten sich in einer Sekunde schlagartig. Sie wechselten sich in Unverständnis und Wut um.

„Du?“

„Komm her Cordula.“

„Nein.“

„Ich kann es dir erklären.“

„Nein. Du hast uns verlassen. Verschwinde.“

Tränen rangen ihr an den Wangen herab. Ihre Hände zitterten wie Espenlaub im stürmischen Nordwind. Für rationelle Erklärungen war sie keineswegs empfänglich. Hastig drehte sie sich um und lief die Treppe hinunter.

Bernd folgte ihr eilig.

„Warte. Ich kann es Dir erklären.“

Doch Cordula war schon entschwunden.









Der verschwundene Vater

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