Читать книгу Der Baukran hinterm Baum - Michael Beyes - Страница 5

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Ich sitze gerade am Schreibtisch, in unserem Homeoffice im ersten Stock, Südseite. Die Sonne wirft ihre warmen Strahlen an diesem Sonntagmorgen ungebremst durch die Fensterscheibe und trifft dabei direkt auf meine Brust, wie ein heißer Umschlag, der am T-Shirt kleben bleibt. Die Wärme breitet sich wohlig aus auf meinen Armen, geht weiter zu meinen Händen und wandert nach oben zu meinem Gesicht, so warm, dass ich mir schon Gedanken um den ersten Sonnenbrand im Jahr 2021, dem zweiten Jahr mit Corona, mache.

Kann man eigentlich im Moment etwas schreiben, ohne das Corona auf das weiße Blatt tropft, läuft und fließt, das Geschriebene und das noch zu Schreibende kontaminiert, beeinflusst? Ist nicht jeder Gedanke von mir, den ich in Buchstaben, Worten und Sätzen festhalte und aufschreibe, von Corona und seinen Mutanten durchsetzt? Bin ich noch Herr meiner Gedanken, oder hat Covid19 auch hier schon angedockt? Wer kann mir das sagen, wer weiß das, wie es sich mit der geistigen Ansteckungsfähigkeit des Virus verhält? Gibt es da eine Forschung und, wenn ja, hat man schon brauchbare, belastbare Ergebnisse? Kann ich die Möglichkeit einfach ignorieren? Ich versuche es, ohne Gewähr. Doch was wir dabei herauskommen? Ein Nichts? Ein Wunsch? Ein Verlangen? Nach was, nach Normalität?

Was ist Normalität? Wonach sehnen wir uns, gerade jetzt, fehlt uns etwas, was eigentlich schon immer, seit Menschengedenken, existiert hat?

Wenn ich so aus dem Fenster schaue, sehe ich den blauen Himmel, die Häuser in unserer Straße, ihre Dächer, teils mit alten und verwitterten Dachziegeln, oder neu gedeckte Dächer in leuchtendem Schwarz oder Rot, ein paar Garagen im Hintergrund und, dort wo sich zwei Giebel treffen und in der Mittagssonne ein leicht flimmerndes, blauweißes Dreieck aus Himmel und kleinen Kumuluswölkchen bilden, das auf dem Kopf zu stehen scheint, genau dort ragt vor ein paar hohen Tannen am Möglinger Berg ein Baukran auf mit leicht nach rechts geneigtem Ausleger. Die Farbe des Krans ist aufgrund der starken Sonneneinstrahlung nicht erkennbar. Gerade fährt ein Auto leise durch unsere Straße und dann ist es wieder ruhig. Der Kran steht auf einem Grundstück in einer Sackgasse, drei Straßen über uns in südlicher Richtung. Das Grundstück, in einer relativ neuen Siedlung, wenn man das Alter der Stadt Asperg zum Vergleich nimmt, knapp 50 Jahre alt, war lange Jahre unbebaut, nur ein Imker hatte die letzten Jahre ein paar Bienenstöcke darauf stehen. Jetzt ist damit Schluss und fortan wird sich dort, in naher Zukunft ein Haus erheben und neues, menschliches Leben darin wohnen.

Die Sonne ist mittlerweile so stark, dass ich leicht zu schwitzen beginne. Raumtemperatur beträgt inzwischen 24,1 Grad Celsius. Vier Wochen vorher bin ich hier mit voll aufgedrehter Heizung und Radiator gesessen, da die Heizleistung aufgrund eines technischen Defekts nicht richtig funktionierte. Damals betrug die Durchschnittstemperatur gerade mal 18 Grad Celsius.

Direkt vor mir, in einem Garten auf der anderen Straßenseite, steht ein Baum mit einer sehr schönen, anmutigen Silhouette, gleich rechts vom Baukran. Der Baum sieht aus, als ob er kurz vor dem Ausschlagen steht, ich kann es fast spüren, ja hören, wie hier das Leben wieder neu beginnt, wie sich die Säfte aus den Wurzeln nach oben bewegen, die Zellen bestimmte Informationen zum Frühlingserwachen an die Spitzen der Äste und kleinsten Verästelungen weitergeben, um den Zeitpunkt des Durchschlagens der Knospen zu bestimmen, wenn alle Voraussetzungen, die dazu notwendig sind, von Seiten des Wetters dazu gegeben sind. Dann wird es nicht mehr lange dauern, bis sich das erste, zarte, noch scheue Grün der neuen Blätter nach außen drängt, die Rinde des Baumes an den dafür ausgewählten Punkten zu einem kontrollierten Aufplatzen bringt. Und dann, nach einer Weile, später, steht er da, der Baum, in seinem neuen Kleid, in der ganzen Pracht seines Grüns und der Blüten anno 2021.

Aber es kann auch schiefgehen, dann, wenn sich über Ostern plötzlich Frost ankündigt, und die zarten Triebe des neuen Lebens verkümmern lässt, und teilweise sogar zerstört. Dann wird der Baum in Nachbars Garten Narben davontragen, die sich unauslöschlich in seine äußere Gestalt einbrennen, Äste und Triebe vertrocknen und sterben lässt. Die gute Nachricht: Die Information des Wachstums, das im Winter tief im Innern des Baumes bewahrt und im Frühjahr jedes neuen Jahres wieder von Zelle zu Zelle weitergegeben wird, sie wird dafür sorgen, dass das Leben immer einen Weg findet, immer und immer wieder. Und das Leben auf der ganzen Welt sucht sich immer einen Weg, um ans Licht zu kommen, denn dieser Kreislauf des Lebens ist das wunderbare Kernstück der Natur, aus dem alles entsteht. Generationen von Forschern haben schon versucht, den genetischen Code des Lebens komplett zu entschlüsseln, gewaltige Fortschritte sind dabei bis heute gemacht worden, Dinge und Vorgänge in der Natur für den Menschen begreifbarer zu machen, Krankheiten zu bekämpfen, das Leben ein wenig verständlicher und angenehmer zu machen, aber der Ursprung, die Wiege, das Frühbeet der Menschheit und allen Lebens auf der Erde, der Flora und Fauna, ist dabei noch nicht endgültig entdeckt worden. Ich glaube, das ist auch gut so, und das soll auch so bleiben, die Geschichte mit den vermeintlichen Herrenmenschen hatten wir schon zur Genüge und kommt leider immer wieder. Denn, und die Frage muss gestellt werden, ist das menschliche Wesen überhaupt in der Lage dazu, mit so einem fundamentalen Wissen um den Lebenscode richtig umzugehen? Und was ist hier dann richtig oder falsch? Was würde passieren, wen wir plötzlich alles wüssten? Würde nicht in diesem Moment das Leben aufhören?

Draußen höre ich leises Vogelgezwitscher, seit langer Zeit ist bei uns unter dem Dach immer wieder ein Vogelnest, ich habe es noch nicht gefunden. Aber es beruhigt mich ungemein, mit anschauen zu dürfen, dass hier immer wieder neues Leben entsteht, bei den Tieren, den Pflanzen, bei den Insekten und nicht zuletzt bei uns Menschen.

Der Kran steht immer noch da, jetzt, vierzehn Tage später. Der Baum davor sieht aus, als wollten in den nächsten fünf Minuten tausend Knospen auf einmal aufbrechen, wenn er leicht von der Sonne angestrahlt wird, so, als ob er nur darauf warten würde, dass er den Befehl dazu bekommt. Die Sonne hat jetzt nicht ganz so viel Strahlkraft wie letztes Mal, als ich hier gesessen bin, doch in der Naturfängt es langsam an zu rumoren. Am Wunnenstein, bei meinen Bienen, zeigten heute Morgen zwei Forsythien ihr erstes, zartes Gelb, in der Ferne konnte ich an verschiedenen Bäumen schon ab und zu einen leichten, grünen punktuellen Schimmer erkenn. Nur die Weinstöcke in den Steillagen halten sich noch bedeckt und haben Angst, ihre zarten Fühler in die kalte Vorfrühlingsluft zu recken.

Ein Spaziergang wirkt noch wie der Gang durch eine karge Mondlandschaft, mit ganz wenigen Farbtupfern hie und da, soweit das Auge reicht. Doch das wird sich ändern, und zwar bald. Die Bienen finden den ersten Pollen des Jahres, haben sich aber ob der Kälte wieder in ihre Stöcke am Lerchenberg zurückgezogen. Nur ein paar ganz Mutige strecken ihre Fühler in Richtung Sonne. Bald, schon bald, begeben sich ihre Königinnen auf Hochzeitsflug, dann, wenn die Sonne etwas kräftiger und länger scheint, wenn die Botschafterinnen unter den Arbeitsbienen von ihren Erkundungsflügen in den Stock zurückkehren mit der Nachricht, die lauten könnte: Essen gibt es im Südwesten, 500m Luftlinie, Flugzeit zehn Minuten, oder so ähnlich. Dann fängt das neue Bienenjahr wieder an, und für den Menschen heißt es dann Angrillen für die Saison 2021.

Doch was heißt das im Hier und Jetzt, im zweiten Frühling der Coronapandemie? Letztes Jahr um diese Zeit segelten wir in den ersten Lockdown, nicht wissend, was tatsächlich auf uns zukommt. Und inzwischen? Den zweiten Lockdown haben wir fast hinter uns, doch sind wir mit wehenden Fahnen und trotz Impfkampagnen und Schnelltestorgien bereits in den dritten Lockdown gesegelt, der unter Umständen der härteste wird. Gibt es eine reelle Chance, jemals wieder aus diesem Dramadreieck aus AHA-Regeln, 7-Tage-Inzidenz und Ausgangssperren wieder herauszukommen? Die Zeichen sehen besser aus als vor einem Jahr. Es gibt schon mehrere Impfstoffe, die Impfungen laufen, wenn auch sehr schleppend, aber im zweiten Quartal soll es besser werden. Die Hoffnung steigt, das zum Frühsommer ein Großteil der Bevölkerung geimpft ist. Doch noch müssen wir durchalten, auf die anteilnehmende Umarmung verzichten, dort, wo es geht, Abstand halten und Geduld haben. Das ist jetzt für viele Menschen das Schwerste, wo wir so weit sind, Gegenmittel gefunden wurden. Jeden Tag fällt es schwerer, sich an die AHA-Regeln zu halten, jetzt, wo wir alle es so dringend brauchen, die körperliche Nähe, das gesellschaftliche Miteinander, das sorglose Treffen in der Eisdiele, das erste Bier mit Freunden im Biergarten zu genießen.

Wir sind ja schon bescheiden geworden, keine Fernreisen, nicht ständig auf der Suche nach dem Adrenalinkick oder das Gourmetessen beim Sternekoch. Nur ein wenig körperliche Nähe, Verbundenheit, Wärme, das Treffen mit Freunden, damit endlich dies verdammte Einsamkeit ein Ende hat und der Gesellschaft weicht. Durchhalten, nur ein wenig noch, dann wird alles gut…

Wann hört das auf? Wann sind die News endlich mal frei von Corona? Wann müssen wir nicht mehr die Nennungen von Corona und Inzidenzen in den Nachrichten zählen? Wann werden Schicksale von Betroffenen zum Thema, anstatt nur noch von Statistiken, Impfengpässen, Schnelltests, Astra Seneca, BioNtech, Moderna, Johnson & Johnson und Sputnik zu hören? Wo ist der Mensch, die Mutter, die verzweifelt einen Impftermin für ihren Vater im Pflegeheim ergattern will, und eine Impfung für die asthmakranke Tochter, die doch immer wieder durch eine große Bürokratiewelle in ihren Bemühungen zurückgeworfen wird? Wer kümmert sich um diejenigen, die an Corona und der Einsamkeit verzweifeln? Wahlen sind keine Wahlen mehr, wir sind in einem Superwahljahr, nur weitere Parameter auf dem Weg von Covid-19 direkt ins Herz. Wer hält das auf? Geht das überhaupt noch? Wird uns die Zukunft gestohlen, so wie Greta unsere Generation beschuldigt hat, wir würden ihre Zukunft stehlen. Betrügt uns ein kleines Virus mit seinen britischen, südafrikanischen und brasilianischen Brüdern und Schwestern um unser Glück? Bringt es mal kurz die ganze Welt durcheinander? Die Pest gab es schon, wir haben uns davon erholt, die Spanische Grippe Anfang des 20. Jahrhunderts hat annähernd 50 Millionen Menschen das Leben gekostet, HIV am Ende des letzten Jahrhunderts hat auch sehr viel Tote und sehr großes Leid über die Menschheit gebracht, aber sie haben alle keinen Kollektivschmerz erzeugt, der auf einen Schlag alle Gehirne lahmlegt und den Weg zu rationalem Denken und Handeln versperrt.

Ja, wir haben wirksame Impfstoffe und andere Medikament in kürzester Zeit entwickelt, doch es gibt offensichtlich nur noch eine wichtige Sache im Leben, Corona, und das kann und darf nicht sein! Irgendetwas muss deswegen an Corona anders sein, als an allen anderen Epidemien und Pandemien, die es bisher in der Menschheitsgeschichte gegeben hat. Mittlerweile beeinflusst es alles Denken und Handeln auf unserem blauen Planeten, so, als ob es nicht mehr ohne geht und der Mensch ein schlechtes Gewissen bekommt, wenn er mal eine Stunde nicht daran dankt. Das muss aufhören, aber wie? Wir haben alles, was man braucht, etliche Impfstoffe, manche mehr, manche weniger wirksam, millionenfach vorhanden oder in Produktion. Doch was tun wir, anstatt zu impfen und zu retten? Wir verwalten, strukturieren, klären auf und nehmen dabei in Kauf, dass noch Tausende und Abertausende sterben, nicht an Corona, nein, an der Unfähigkeit, an unserer Unfähigkeit, zu handeln. Zugegeben, Aufklärung ist wichtig und richtig, aber sie darf nicht über allem stehen, darf nicht alle Ressourcen verbrauchen. Das ist die eigentliche Gefahr, die von Covid-19 ausgeht, doch die Menschheit begreift das nicht vor lauter Gier nach Kontrolle, Macht und Geld. Schade.

Wieder ein Kälteeinbruch, wieder für vierzehn Tage wenig Sonne, teilweise sogar Graupelschauer und Schnee. Doch jetzt, an einem Samstag Ende März, am letzten Samstag, bevor die Uhren wieder auf die Sommerzeit umgestellt werden – müssen wir Menschen der Natur sagen, wann Sommer ist, braucht die Natur uns oder brauchen wir sie – ja, heute sieht man es an vielen Bäumen, Sträuchern und Büschen, auch an dem Baum vor meinem Fenster, in Nachbars‘ Garten, an meinem Lieblingsplatz im Haus, dem Baum rechts vom Kran, der wohl noch eine ganze Weile stehenbleibt, bis die Rohbauarbeiten an dem neuen Haus im Sonderholz, auf einem der letzten, freien, unbebauten Grundstücke, abgeschlossen sind, dieser Baum treibt jetzt auch.

Ich weiß gar nicht, wohin ich meine Augen zuerst hinwenden soll, überall sehe ich die Vorboten des Frühlings, die Kirschblüte befindet sich im Vorbereitungsraum für ihren großen Auftritt, die Magnolien sind im letzten Stadium vor dem großen Ausbruch, sie werden wohl in den nächsten Tagen durchbrechen mit unbändiger Kraft, jetzt sieht man schon ein zartes Grün und Braun, dass sich an den Ästen und Zweigen hervordringen, die Forsythien blühen Gelb um die Wette. Die Natur erwacht in dieser Zeit, doch hat sie je geschlafen? Wir konnten es nicht sehen, im letzten, halben Jahr, im Winter 2020/21, der in der Rückschau doch kälter und länger war als in den Jahren davor. Die Natur schläft nie, im Gegenteil, denn in der kalten Jahreszeit hat sie alle Hände voll zu tun, um alles für das Frühjahr vorzubereiten, hat die Zellen der Bäume und aller anderen Pflanzen mit allen nötigen Informationen versorgt, die Datenleitungen von den Wurzeln bis in die feinsten Verästelungen in den Baumkronen oder Strauchwedeln freigeräumt und dafür gesorgt, das alle nötigen Wachstumsdaten just in time bei den jeweiligen Empfängern angekommen sind. Und das jedes Jahr, bei Wind und Wetter, an jedem Tag und in jeder Sekunde, immer und immer wieder, that‘s life, the circle of life - der Kreislauf des Lebens. Und das alles ohne Politik, ohne viel Palaver, auf der ganzen Welt, von der Antarktis bis zum tiefsten Regelwald am Amazonas, von Tibet bis nach Asperg, und … es funktioniert.

Können wir uns da nicht ein wenig abschauen, von der Natur lernen? Dort gibt es auch immer wieder Katastrophen, werden ganze Landstriche ausgelöscht, durch Feuer wie bei einem Vulkanausbruch, durch Überschwemmungen, durch tiefen, langen Frost. Und was macht die Natur? Sie passt sich an, findet neue Wege für das Leben, debattiert nicht groß, sondern macht. Und wir, wir sind machtlos, einem kleinen Virus gegenüber, und das lacht sich mit seinen Brüdern und Schwestern einen Ast über die Menschheit, über die endlosen Debatten um Nebenwirkungen, Schnelltests und Impfdosen. Arme Menschheit, so können wir das Virus nicht besiegen.

21 Grad, das war heute Nachmittag die Höchsttemperatur! Nicht schlecht für einen Montag im späten März.

Ortswechsel: Heute Mittag im Rosental, meine schon nach kurzer Zeit liebgewonnene Gewohnheit, in der Mittagspause für eine halbe Stunde raus, egal bei welchem Wetter und runter ins Tal.

Irgendwie macht das Bock, holt mich raus aus der Schreibtischroutine jeden Tag, was anderes sehen, andere Farben, Licht, im Hintergrund die Geräusche der sich übers Stuttgarter Kreuz quälenden Trucks und der ganze Individualverkehr, permanent, ohne Pause, ab und zu unterbrochen von den Sirenen der Einsatzkräfte, die wieder mal ausrücken müssen, um zwei oder mehrere Autos voneinander zu trennen, Verletzte oder gar Tote bergen, Brände löschen, aufräumen, damit der Verkehr wieder rollt.

Der Lärm ist da, aber nur leise, erinnert mich daran, dass ich in ein paar Stunden auch wieder dabei bin, wenn ich nach der Arbeit nach Hause fahre. Ich, der passionierte ÖPNV-Fan, ich fahre seit einem halben Jahr mit dem Auto ins Büro, keine Auszeit in der Bahn. Keinen Podcast über Themen wie die Polarstern-Expedition in der Arktis, die die Auswirkungen des Klimawandels an der schwindenden Eisdecke am Nordpol erforscht und sich dazu ein halbes Jahr hat einfrieren lassen im Packeis, kein SWR1 Meilensteinalbum der Woche, keine Musik, die mich trägt und entführt in eine andere Welt. Warum? Weil es mir im Moment, ja, zu gefährlich, zu unangenehm., zu stressig in der S-Bahn ist mit vielen Menschen, und mit Maske, von Vaihingen bis Asperg, knapp eine Stunde. Mit dem Auto geht es meistens schneller, wesentlich schneller, aber deshalb wird ich nie ein Pendlerfan auf vier Rädern. Vielleicht klappt es ja mal wieder mit der Bahn, wenn wir das Virus einigermaßen im Griff haben, doch im Moment ist es für mich keine Option, leider.

Die Luft ist hier sehr angenehm, kaum Leute unterwegs, ein paar Hundehalter, hallo, ein kleines Lächeln, man kennt sich schon, begegnet sich fast täglich. Es fühlt sich an wie ein kleiner Trip in einem noch kleineren Paralleluniversum, nur für eine halbe Stunde, bevor man wieder eintaucht in die tägliche Routine. Aber es hat doch irgendwie etwas Künstliches an sich, wie einen faden Beigeschmack. Etwas fehlt, etwas Wichtiges. Es tut gut, ohne Zweifel, aber es ist nicht wie am Wunnenstein, bei meinen Bienen, oder im Leudelsbachtal, wo ich von meiner Haustüre aus hinlaufen kann, es ist einfach nur eine kleine, aber wichtige Auszeit am Tage, die hungrig macht auf eine Wanderung auf der Schwäbischen Alb oder in den Alpen, an einen Spaziergang an der Ostsee.

Am Vaihinger Stadtbad kommen mir plötzlich lauter Schülerinnen und Schüler entgegen, Schule ist aus, und sie durchqueren das Tal auf ihrem Heimweg, da kreuzen sich unsere Wege. Auch der des kleinen Schulmädchens, vielleicht zehn Jahre alt, mit einer bunten Maske auf dem Gesicht, sie ist allein, und wirkt irgendwie traurig. Kurze Zeit später, bevor ich wieder auf eine Straße zurückkehre, komme ich an der Litfaßsäule vorbei, neben dem Entenweiher, an dem die hohen Kastanienbäume ihre Kronen der Sonne entgegenstrecken, um Wärme zu tanken, damit sie endlich ausschlagen können und ihre Zweige und Äste mit einem herrlichen Grün schmücken können. Noch dauert es ein wenig, vielleicht zu Ostern, mal sehen. An der Reklamesäule hängt ein Werbebanner, dass zum Weihnachtsshopping in der Innenstadt einlädt, das Banner ist noch völlig unbeschädigt, hat keine Risse oder Falten, wirkt so, als ob es gerade erst aufgehängt wurde. Das traurige Mädchen mit Maske und die Litfaßsäule mit der Weihnachtswerbung, bringen mich wieder zurück auf den Boden der Corona-Realität, Auszeit vorbei, weiterkämpfen zum Ende des Lockdowns, wir schaffen das.

Es ärgert mich, wenn ich jeden Tag irgendwelche Theorien von irgendwelchen namenlosen Idioten lesen muss, die ohne Prüfung in den Social Medias geteilt werden -hört sich gut an, schicke ich weiter, das kann nicht sein, das darf nicht sein. Die Menschen werden nur verunsichert, ziehen sich weiter zurück, schotten sich ab, wissen nicht mehr, was sie glauben sollen, und gehen dabei kaputt, nicht an Covid19, sondern aus dem, was daraus gemacht wird.

Was kann ich dagegen tun, wie kann ich da helfen, es tut mir in der Seele weh, wie Freundinnen und Freunde solche Posts ernst nehmen, sich in Dinge hineinsteigern, die einfach nicht gut sind, und dabei ihren gesunden Menschenverstand langsam verlieren. Ich will helfen, und kann nicht, ich will aufklären, doch mir fehlt das Wissen, was soll ich also tun, um den Menschen Trost zu schenken? Genügt es, wenn ich Tag für Tag versuche, positiv zu denken und zu handeln, obwohl ich schon im engsten Bekanntenkreis die beginnende und anhaltende Hoffnungslosigkeit fühle? Ich mache weiter, ich gebe nicht auf, ich kämpfe für eine Zukunft, die anders sein wird als die sorglose Zeit vor 2020, aber intensiv und gut und stark, ich bleibe dran, lass‘ mich nicht entmutigen von solchen Nachrichten auf WhatsApp, ich glaube an die innere Kraft und Stärke, die in jedem Herzen wohnt, und die will ich finden und aktivieren in den Menschen, die mir nahe stehen, weiter komme ich nicht, das müssen andere Mitstreiter machen, und ich hoffe und bete, das es genügend sind um geneinsam einen gangbaren Weg aus diesem Dilemma zeigen zu können, keinen wissenschaftlichen, sondern einen menschlichen Weg aus der Krise, wo jeder er selbst sein darf und sich nicht nach Selbsttests und irgendwelchen, dubiosen Nachrichten definieren muss, die er verbreitet. Ich glaube, das die Liebe unsere größte Hoffnung ist, auch im Hier und Jetzt, gerade jetzt. Diese Worte sind mir schon in der Bibel begegnet, im 1. Korintherbrief, Kapitel 13, und an Silvester, an dem wir aufgebrochen sind ins dritte Jahrtausend, vor über 21 Jahren. Kann das ein Weg sein, ich bin davon überzeugt, und ich glaube, tief in ihren Herzen sind es viele, die daran glauben.

Jetzt ist es draußen dunkel, und ich sitze wieder an meinem Lieblingsplatz, der Baum in Nachbar‘s Garten ist nur noch schemenhaft zu erkennen und der Baukran ist auch da, doch hat sich die Dunkelheit der Nacht über ihn gesenkt.

Endlich, ein Lichtblick, sie ist wieder da, und sie blüht wunderschön, so, als ob es das letzte Mal ist. Aber nein, jedes Jahr wirft sie sich so in Schale und kündigt das neue Frühjahr an, die Magnolie in der Hummelbergstraße, ca. 60 m Luftlinie von meinem Schreibtisch entfernt. Wenn sie blüht, dann zeigt sie ein Farbenspektrum von zartem Weiß bis zu dunklem Violett. Das wird jetzt ein, zwei Wochen anhalten, bevor sie dann langsam ihr buntes Kleid verliert und ihr grünes Sommerkleid anzieht. So langsam kommen auch die anderen Bäume in Fahrt, die einen ganz vorsichtig, während andere schon weiter sind und erahnen lassen, wie prachtvoll sie einige Sonnenstunden später dastehen werden.

Aber irgendwie ist alles anders in diesem Jahr. Der Staub längst vergangener Tage mäandert vor sich hin und wir stehen im Begriff, das zweite Ostern im Corona-Lockdown zu verbringen. Sind wir weiter gekommen seit letztem Jahr, wissen wir mehr über das Virus, hat uns die Wissenschaft den ersehnten Impfstoff gebracht und rettet er schon Leben? Wird das Leben wieder erträglicher, können wir endlich wieder, nach über einem Jahr voller Entbehrungen uns mit Freunden treffen, uns umarmen und glücklich sein? Ist die Hilfe da und auch angekommen? Ja und nein, die Fragen sind noch nicht ganz zu beantworten. Ja, wir haben einen wirksamen Impfstoff, sogar mehrere Impfstoffe, doc irgendwie klappt das mit dem Impfen nicht so ganz, zu wenig für alle, Angst vor Nebenwirkungen, viele Sonderwege, keine einheitlichen Regelungen, Chaos, und immer neue Corona-Verordnungen. Mit Freunden zusammen sein, das geht noch nicht so ganz, Nähe ist noch nicht drin, AHA-Regeln sind zu befolgen. Warum? Die 7-Tage-Inzidenz steigt wieder, es gibt Virusmutationen, wir müssen durchhalten, es wird bestimmt besser, doch wann? Die Menschen haben langsam genug davon, lange haben wir schon ausgehalten, und jetzt soll es immer weiter gehen, immer noch keine Gasthäuser geöffnet, nur mit Maske einkaufen, das geht mir sowas von auf den Keks, und nicht nur mir, sondern vielen, wahrscheinlich fast allen.

Gibt es denn keine Lösung? Keine Hoffnung? Kein Erbarmen? Doch, irgendwo da draußen? Nein, tief drinnen in unseren Herzen liegt die Antwort, wir müssen sie nur suchen, zusammen, jetzt, ohne Aufschub, dann kriegen wir es hin.

Karfreitag, 02. April im zweiten Corona-Jahr, eigentlich ist Feiertag, die Sonne scheint, die Natur spricht in unendlich zarten Farben vom Frühling, der Himmel ist blau und er Baukran zeigt nach Süden. Es ist angenehm warm, doch heute ist so ein Tag, an dem ich irgendwie gefrustet bin, ein Tag, an dem ich wenig Zuversicht verspüre, an dem ich nicht viel lachen kann, ein blöder Tag. Die gibt es leider auch, die gehören genauso dazu wie die guten Tage, an denen mir förmlich das Herz aufgeht und vor Freude fast zerreißt. Ich bin traurig, weiß nicht, warum. Irgendwie geht es mir heute auch nicht gut. Doch es wird wieder besser, ich bin trotzdem zuversichtlich, tief drinnen, nur heute zeigt sie sich nicht so an der Oberfläche. Ich muss daran arbeiten, jeden Tag, manchmal ist es hart, daran zu glauben, dass die Zukunft etwas Großartiges für uns im Gepäck hat, für jeden von uns. Oft ist alles verborgen, wie durch einen lichtgrauen Schleier auf meiner Seele, ganz selten hebt sich ein Stück vom Vorhang und die Zukunft gewährt einen kurzen Augenblick der Vorfreude. Dann senken sich die Nebel wieder und wir müssen weiterkämpfen, es ist ein Auf und Ab, ein Kommen und Gehen, ein Viel und Wenig.

Der Baukran hinterm Baum

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