Читать книгу Abgefahren - Leben an der Abbruchkante - Michael Blaschke - Страница 4

1. Kapitel

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Es war ein regnerischer Sommertag. Karl Hent suchte einen Unterstand, der ihn vor dem Dauerregen schützen sollte.

Ohne Geld, in einem abgerissenen Zustand, war er ziemlich am Ende. Er wusste nicht, wie er die kommende Nacht überstehen sollte und wo er schlafen konnte. Sein Nachtquartier würde nicht komfortabel werden. Karl war die Nacht vom Hafen quer durch die Stadt gelaufen, weil er glaubte in den Schrebergärten eine trockene Bleibe zu finden, um seinen Rausch auszuschlafen. Gewaltsam eine Laube zu öffnen kam für ihn nicht in Frage, denn das könnte ihm eine Strafanzeige einbringen. Das konnte er nicht gebrauchen. Er kam ja gerade aus dem Gefängnis, in das er nicht zurück wollte. Seinen Entlassungsschein in der Tasche, sollte er in ein Männerheim gehen. Der Sozialarbeiter der Anstalt, ein abgeklärter Mann, Mitte fünfzig, tat nur das Nötigste, um den Entlassenen zu helfen. Für ihn war klar, dass die Meisten wieder in der Haftanstalt landeten, was sollte er sich da ins Zeug legen, um den Entlassenen einen besseren Start in ihren neuen Lebensabschnitt zu geben. Für Karl und die meisten Häftlinge, die er kannte, war der Sozialarbeiter ein faules Arschloch und das würde er wohl bis zu seiner Pensionierung bleiben.

Karl war Ende zwanzig, ein junger Mann, der vom Leben nicht verwöhnt war. Er war nicht ins Männerwohnheim gegangen, sondern in eine Hafenkneipe die er von früher kannte. Mit der Tochter des Wirts hatte er ein intensives Verhältnis, was dem Vater gar nicht Recht war. Das war vor zweieinhalb Jahren. In der Zwischenzeit gab es einen neuen Pächter, der Vorgänger war mit Frau und Tochter nach Süddeutschland gezogen. Mehr konnte der Mann hinter dem Tresen ihm nicht sagen. Karl sah sich um. Er musste feststellen, dass sich die Ausstattung des Lokals verändert hatte. Alles war in üppigen Farben gehalten, was an ein Nachtlokal erinnerte. Die gemütliche Atmosphäre einer Hafenkneipe war verloren. Karl war enttäuscht, hatte er doch gehofft seine einstige Liebe wieder zu finden. Wenn er an seine momentane Lage dachte, war es besser, sie nicht zu treffen. Der Arbeitslohn, der für ihn im Knast zurück gelegt war und den er jetzt ausbezahlt bekommen hatte, landete beim Wirt in der Kasse. Als der nach Mitternacht seinen Laden schließen wollte und Karl besoffen Protest einlegte, wurde er von zwei Gästen kurzerhand an die nasskalte Luft gesetzt. Singend und schimpfend latschte Karl in Richtung Stadtrand. So sah es aus. Nun ging es darum, einen trockenen Platz für die Nacht zu finden.

Der Regen hörte nicht auf und Karl war bis auf die Knochen durchnässt. Neben den Schrebergärten befand sich ein Fußballplatz, die kleine Tribüne hatte eine Überdachung und bot ein trockenes Plätzchen. Eine Straßenlaterne lieferte etwas Licht und Karl suchte sich hinter der letzten Reihe einen Platz, wo er seine Beine ausstrecken konnte. Richtig schlafen konnte er nicht. Er hatte keine Unterlage, seine Kleidung war nass und ein kühler Wind von der nahen Küste tat ein Übriges.

Aus dem Dunkel der Nacht entwickelte sich ganz allmählich ein Grauschleier, der immer heller wurde. Die ersten Vögel begrüßten den neuen Tag. Der Natur war es egal, dass Karl an einer Bretterwand nicht schlafen konnte. Der Suff hatte ihm gehörige Kopfschmerzen verursacht und einen gewaltigen Durst. Er stand auf und überlegte, was er jetzt machen sollte. Er musste raus aus den nassen Klamotten, bevor er sich eine Erkältung zuzog. Eine heiße Suppe und danach einen Kaffee, das wäre ein vernünftiger Anfang. Seinen Geldbeutel fand er in der Innentasche seines Parkas. Er war leer. Karl dachte, wie er in etwa drei Stunden 280 Mark versoffen haben konnte. Durch die lange Abstinenz konnte er doch nichts mehr vertragen und nur der Teufel wusste, was da passiert war. Der Wirt war ein abgewichstes Schwein und Karl wusste, dass es alles böse Buben sind.

Er musste sich ein ordentliches Aussehen verschaffen. In der Nähe des Bahnhofs gab es ein Büro der Streetworker und die Möglichkeit für Obdachlose, sich zu duschen und die Kleidung sowie Unterwäsche zu wechseln.

Karl hatte den langen Marsch bis ins Stadtzentrum geschafft. Er hoffte, dass ihm geholfen würde. Das Büro bestand aus drei Räumen und einem Keller. Das eigentliche Büro hatte einen Vorraum mit Tischen und Stühlen. Die Wände waren mit Drucken von Andy Warhol beklebt. In der Ecke gab es einen Tresen, der von einer jungen Frau geführt wurde, wo es kostenlos heiße und kalte Getränke und belegte Brote gab. Als Karl den Raum betrat, kam ihm eine Wolke Zigarettenqualm, vermischt mit Essensgeruch und nasser Kleidung entgegen. Neben dem Ausschank befand sich eine Tür mit der Aufschrift ´Anmeldung´ und Karl ging direkt auf die Tür zu. Er kam nicht weit. Die Frau hinter dem Tresen machte ihm mit einem müden Lächeln klar, dass er zu warten habe bis er dran sei. Erst jetzt merkte Karl, dass die anderen Männer und einige Frauen auch in die Anmeldung wollten.

„Möchten Sie einen Kaffee?“, fragte die junge Frau und ihre großen Brüste, die in einem engen roten Pulli eingepackt waren, hoben sich herausfordernd, wenn sie tief durchatmete.

Karl suchte sich einen freien Platz, holte sich seinen Kaffee und eine heiße Brühe. Es war ein ständiges Kommen und Gehen. Das Schlimmste war der Zigarettenrauch, der nicht abziehen konnte, weil kein Fenster geöffnet wurde. Karl beobachtete die Menschen. Einige saßen hier, um sich zu unterhalten, andere stierten vor sich hin, doch die Meisten brauchten Hilfe. Nicht ihre Kleidung machte aus ihnen Stadtstreicher oder Penner, sondern ihre Gesichter. Sie sahen aus wie ausgekotzte Seelen. Viele hatten sich ihre Lage selbst zuzuschreiben, andere hatte das Schicksal brutal aus der Bahn geworfen, sie konnten nichts dafür.

Karl war eingenickt. Er wurde von der jungen Frau leise angesprochen, die ihm sagte er könne jetzt in das Büro, um seine Bitte vorzutragen.

Hinter dem Schreibtisch saß ein junger Mann mit Vollbart, der seinen Hals verdeckte. Er trug ein schmuckloses Brillengestell mit starken Gläsern. Der Kopf erinnerte Karl an Rasputin, die Sehhilfe hatte er auf einer Federzeichnung von Franz Schubert gesehen.

„Setzen Sie sich“, sagte der Typ und deutete auf einen Stuhl.

„Was kann ich für Sie tun?“

Seine flinken Augen schienen alles zu sehen. Er musterte sein Gegenüber mit ausdrucksloser Miene.

„Ich brauche Hilfe“, sagte Karl.

Er griff in seine Brusttasche und holte seinen Entlassungsschein hervor und reichte ihm das Papier. Der Typ nahm den Schein, überflog ihn und meinte dann: „Sie hätten sich gestern schon im Männerheim melden sollen, warum haben Sie das nicht gemacht?“

Er sah über seine runde Brille und in der Frage hörte man eine Verärgerung.

„Soll ich Ihnen sagen, warum? Ich wollte mich erst einmal richtig besaufen. Verstehen Sie das?“

Der Streetworker schien unbeeindruckt, so als hätte er die Frage nicht gehört. Dieser Mann war kein Obdachloser, er kam aus dem Gefängnis und was er auf dem Kerbholz hatte, konnte er dem Entlassungsschein nicht entnehmen.

„Sie können sich bei uns duschen, nach Bedarf Unterwäsche und auch Oberbekleidung erhalten und etwas zu essen bekommen. Ich muss auf der Rückseite die Hilfe mit Datum und Uhrzeit vermerken. Eine finanzielle Hilfe gibt es bei uns nicht.“

Er reichte Karl den Schein, nachdem er seinen Vermerk gemacht hatte. Karl war sauer über die Art, wie er von diesem Rasputin behandelt wurde. Er dachte an die wöchentlichen Gruppenabende, die sich mit Fragen der Resozialisierung befassten. Es kamen oft sogenannte Besucher, die den Häftlingen nach der Entlassung helfen wollten. Für anständige Bürger war es ein besonderer Kitzel, in die Höhle des Bösen zu gehen, sich mit langen Diskussionen über die Hilfe für die Gestrandeten interessant zu machen und den möglichen Sittenstrolch heimlich, mit einem lustvollen Schauer, zu beobachten.

Als Karl entlassen wurde, war der Sozialarbeiter im Urlaub, von den Gutmenschen, die ja helfen wollten, hat er keinen vor dem Gefängnistor gesehen. Letztlich war alles nur dummes Gequatsche. Wenn bestimmte Normen nicht erfüllt werden, kann es keine Resozialisierung geben.

Die warme Dusche war ein Genuss, die saubere Unterwäsche und zeitgemäße Garderobe machten aus ihm einen neuen Menschen. Die junge Frau mit dem roten Pulli war ihm bei der Auswahl der Klamotten behilflich. Sie war nett zu ihm, Karl meinte etwas zu nett. Er staunte über die Fülle an Kleidung, Decken und Schlafsäcken, die alle geordnet in den Regalen lagen. Zusätzliche gab es jede Menge an Körperpflegeartikeln.

„Sie sind gut versorgt“, sagte Karl und wandte sich an die junge Frau.

„Das sind alles Spenden, wenn Sie einen Obdachlosen sehen, erkennen Sie ihn an der grauen Gesichtsfarbe, an seinen schlechten Zähnen, an seinen Körperausdünstungen und an seiner Alkoholfahne. Sie gehen nicht mehr in Lumpen, wie in früheren Zeiten. Die Armut versteckt sich hinter einer Fassade.“

Karl hörte interessiert zu. Hier sprach jemand, der die Probleme der Menschen am Rand der Gesellschaft kannte. Keine Salon Sozia, die sich gerne reden hörte. Er war überrascht, von den Ansichten der jungen Frau.

„Ihr Beitrag, Ihre Arbeit für die Armen, finde ich großartig, aber er geht an den Ursachen vorbei.“

„Sie haben Recht, aber sagen Sie mir, wie Sie das ändern würden. Wie Sie das Übel an den Wurzeln fassen wollen.“

Sie schaute ihn herausfordernd an und wusste doch, dass er keine Lösung anbieten konnte.

Der Warteraum hatte sich geleert. Karl und die Mitarbeiterin waren alleine. Er wollte Gerade gehen als die Bürotür aufging und der Streetworker auf sie zuging. Sein kleiner schmächtiger Körper steckte in einem überlangen Pullover, der ihm bis an die Knie reichte. Die starken Gläser seiner runden Brille vergrößerten die Augen, was seinem Aussehen keine Sympathie verschaffte. Er trug eine abgewetzte Jeans. Er sah aus, wie ein Demonstrant der APO Bewegung der sechziger Jahre. Er wandte sich an Karl.

„Sie sind ja immer noch hier. Denken Sie daran, das Männerheim nimmt nach 19 Uhr keine Leute mehr auf und wenn Sie die Zeit verpassen, müssen Sie wieder auf einer Bank nächtigen.“

Während er sprach sah er seine Mitarbeiterin an, um sich das Gesagte von ihr bestätigen zu lassen. Karl fragte: „Meinen Sie, dass es immer eine Parkbank sein muss?“

Er dankte der Frau und verließ das Büro. Der Regen hatte aufgehört, die Sonne kam ab und an durch, um am Ende des Tages doch noch einen freundlichen Eindruck zu hinterlassen. Was gab es doch für saublöde Menschen in diesem Beruf. Mit vernünftigen Vorstellungen kamen sie von den Schulen. Sie, diese sozialen Flickschuster der Gesellschaft, machten sich keine Illusionen mehr, betrachteten ihre Arbeit als reinen Broterwerb, nach Möglichkeit mit den Vorzügen des öffentlichen Dienstes und eines sicheren Arbeitsplatzes. Dieser Rasputin war ein Beispiel eines schwierigen Berufsstandes.

Karl musste sehr weit laufen. Das ´Gästehaus´ der Stadt lag weit draußen, so wie die Gefängnisse, Irrenhäuser und Friedhöfe dort angesiedelt waren. Der rote Klinkerbau hatte einige Jahrzehnte auf dem Buckel, er war alt, abgenutzt und hässlich. Ursprünglich war er für die Ausbildung und Unterbringung der preußischen Kadetten gebaut. Als man keine Helden mehr brauchte, wurde daraus ein Militärkrankenhaus für Langzeitpatienten, um schließlich Männern, verschuldet oder unverschuldet, eine Bleibe zu geben.

Über dem Eingang war noch der preußische Adler in Stein zu erkennen, dem allerdings der rechte Flügel abhandengekommen war. Als Karl an seinem Zuhause ankam, fand er eine lange Menschenschlange vor, die sich kaum bewegte. Vor ihm stand Jemand, der aus einem Flachmann immer wieder einen kräftigen Schluck nahm, sich den Mund abwischte und sich eine selbstgedrehte Zigarette anzündete. Als er merkte, dass er nicht mehr der Letzte in der Schlange war, drehte er sich um, schaute Karl aus listigen Augen an und meinte: „Bruder wo kommst du her? Du siehst ja noch ganz passabel aus.“

„Ich komme aus dem Knast und du musst wissen, dort wäscht man sich jeden Tag“, sagte Karl.

Der Angesprochene lachte und meinte: „Schön, wie du das gesagt hast, aber weißt du, der Dreck auf der Haut hält warm und schützt meinen inneren sauberen Kern.“

Er lachte und zeigte seine blendend weißen Zähne. Karl musste auch lachen. Er hatte das Gefühl, dieser Mensch hat noch nicht oft hier gestanden. Sein Äußeres hatte schon etwas gelitten aber sonst war nichts Auffälliges an ihm zu bemerken.

„Ich trinke meinen Flachmann leer, weil ich in so ein elegantes Haus keinen Alkohol mitbringen darf. Wenn du die Suiten siehst, wirst du das verstehen.“

Vorne am Eingang entstand ein heftiger Disput, der in eine handgreifliche Auseinandersetzung auszuarten drohte. Ein bulliger, über und über Tätowierter, wollte seine Schnapsflasche, die er in der Innentasche seiner Jacke versteckt hatte, mit in die Herberge nehmen. Er wurde von zwei autorisierten, großen Männern kurzerhand verjagt.

„Hast du das gesehen?“, fragte der Vordermann und schaute Karl über die Schulter an.

„Ich habe es gesehen.“

„Man kann besoffen sein, das spielt keine Rolle, man darf eben keinen Alkohol mitbringen“, sagte sein Vordermann.

Nach und nach kamen beide an der ´Himmelspforte´ an. Ein beleibter Glatzkopf hinter einem Schalter fragte nach dem Ausweis und verlangte 2DM. Karl hatte kein Geld und auch keinen Ausweis. Er griff in seine Brusttasche und reichte dem Dicken seinen Entlassungsschein. Der schaute kurz auf das Datum der Entlassung. Die Rückseite bekam einen Stempel, ein Datum und die Unterschrift des Pförtners. Wer sich duschen oder seine Kleider in Ordnung bringen wollte, der musste in den Keller. Die Anderen bekamen Zimmer zugewiesen, die für zwei Personen gedacht waren. Sie waren etwa so groß, wie eine Gefängniszelle, mit zwei Stockbetten, einem Schrank, Tisch und zwei Stühlen ausgestattet. Die sanitären Einrichtungen befanden sich auf dem Flur. Es gab einen großen Speiseraum, der einen Fernseher auf einer hohen Holzkonstruktion hatte und auch als Aufenthaltsraum diente. Wer Geld hatte, konnte eine warme Mahlzeit bekommen, wer nichts hatte, bekam nichts. Dauergäste lebten von der Stütze, ihre Lebenserwartung lag statistisch unter der Norm. Viele hatten jahrelang unter freiem Himmel gelebt, was nur mit Alkohol zu ertragen war.

Karl hatte sich zu einem Gespräch beim Sozialarbeiter des Hauses eintragen lassen. Er begutachtete sein Bett und wollte gerade sein Zimmer verlassen, als die Tür aufging und der Leidensgenosse, den er draußen kennen gelernt hatte, das Zimmer betrat.

„Was für eine Überraschung“, sagte Karl und war froh, jemanden im Zimmer zu haben, den er schon etwas kannte. Der kam auf ihn zu, gab ihm die Hand und stellte sich vor: „Otto Krämer, ehemaliger Bankmensch, verheiratet, zwei Kinder, geschieden und mittellos.“

Er verbeugte sich leicht, wobei er das Gesagte mit Ironie und spöttischem Unterton belegte. Karl war nicht weniger ironisch, auch er verbeugte sich und bemerkte: „Karl Hent, ehemaliger kaufmännischer Angestellter, ledig, Knastbruder und kein Geld.“

„Da haben sich ja zwei komische Vögel getroffen“, sagte Otto Krämer, warf seine Plastiktüte aufs Bett, setzte sich auf einen Stuhl und überschaute mit düsterer Miene seine momentane Situation.

„Komisch mag ja richtig sein, aber Vögel, ich weiß nicht.“

Karl glaubte jemanden gefunden zu haben, der auf seiner Wellenlänge lag. Otto war ein Skeptiker und in seinem Verhalten eher vorsichtig. Er war schon einige Male hier gewesen und bestohlen worden. Otto wusste auch, dass sich in Häusern wie diesen der Kaffeesatz der Gesellschaft finden ließ. Wer das, was man hier fand, seinen Lebensmittelpunkt nannte, hatte kaum eine Möglichkeit aus diesen Verhältnissen auszusteigen.

Karl musste in die erste Etage zum Sozialarbeiter. Er hoffte etwas Geld zu bekommen, um sich das Nötigste zu kaufen. Wieder musste er warten, bis er an der Reihe war. Er kam eben als Bittsteller und das hieß kleine Brötchen backen, sich angepasst zeigen, die Voraussetzungen mitbringen. Er hatte sich den Weg für einen Neuanfang leichter vorgestellt. Als er das Büro betrat, saß zu seiner Überraschung eine Frau mittleren Alters am Schreibtisch, die ihm freundlich Platz anbot. Sie machte einen souveränen Eindruck, als wolle sie sagen, ich weiß was du brauchst. Karl erzählte, was er dringend benötigte und bat um Hilfe. Die Frau, schlank und dunkelhaarig, machte sich auf einem Block Notizen. Am Handgelenk trug sie einen Goldreif mit einem goldenen Taler. Karl sah fasziniert, wie der Taler hinter der schreibenden Hand mitgezogen wurde. Karl glaubte die Frau in einem Blumengarten zu sehen.

„Herr Hent“, die Frau schaute etwas irritiert auf ihren Bittsteller, der ihr anscheinend nicht zuhörte. „Macht es Ihnen etwas aus, mir zu sagen warum Sie in Haft waren?“

„Entschuldigen Sie, ich war in Gedanken. Ich habe zwei Jahre und sechs Monate wegen Landfriedensbruchs und Widerstand gegen die Staatsgewalt eingesessen. Eine vorzeitige Entlassung auf Bewährung habe ich abgelehnt, weil ich mich mit Auflagen nicht frei fühlen kann. Sie war nicht einfach diese Entscheidung, aber ich habe das durchgezogen.“

„Ich glaube das gerne, Sie erhalten von mir 50 DM als Soforthilfe und ich gebe Ihnen für drei Tage Essensmarken. Sie müssen sich morgen beim Arbeitsamt arbeitslos melden und Arbeitslosengeld beantragen.“

Karl bedankte sich, nahm das Geld und suchte sein Zimmer. Wie konnte so ein tolles Wesen in so einer Institution arbeiten?

Auf dem Flur stank es nach Schweißfüßen und kaltem Zigarettenrauch. Die Wände waren verdreckt, mit obszönen Sprüchen versaut, die man notdürftig beseitigt hatte. Otto hatte sich aufs Bett gelegt, als Karl das Zimmer betrat.

„Na, hast du etwas erreicht?“, fragte er und ließ seine Beine auf dem Etagenbett hin und her baumeln. Karl setzte sich auf einen Stuhl und spielte mit seinem Geldschein.

„Kennst du die Sozialarbeiterin hier im Haus?“, fragte er und schaute nach oben.

„Du meinst wohl den Engel vom Josefsheim, so nennt man diese Bleibe hier. Sie ist Spanierin, lebt schon Jahre in Deutschland. Sie gilt bei den Obdachlosen als Engel. Sie ist sich ihres Aussehens bewusst und kokettiert durchaus damit. Diesen Job macht sie schon lange, holt für ihre Leute einiges aus dem großen Topf. Es gibt also auch Menschen, die für ihre Mitmenschen etwas tun und nicht nur reden.“

Karl überlegte und dachte, wie kommt ein Mensch wie Otto in so eine Lage? Die schwarz-weiße Sichtweise war dann doch nicht passend. Er musste Otto sagen, warum er im Gefängnis war.

„Ich bin kein Eierdieb, ich war mit der Führung unseres Staates nicht einverstanden, habe mich mit der Polizei angelegt, bin ordentlich von den Bullen verprügelt worden und habe mir eine Anzeige wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt und Landfriedensbruch eingehandelt. Ich sage dir das, weil ich glaube, es ist besser zu wissen mit wem man es zu tun hat.“

Auf dem Flur war es ruhiger geworden, die Beiden gingen in den großen Essraum, um etwas Warmes in den Bauch zu bekommen. Es ging laut her, der Kampf um die besten Fernsehplätze. Sie waren von den Dauergästen längst in Beschlag genommen. So genannte Aufseher standen in den Ecken, um im Bedarfsfall einzugreifen. Für Karl und Otto war klar, dieses Männerheim war kein Dauerzustand. Sie kannten sich zwar erst einige Stunden, aber in vielen Dingen waren sie einer Meinung. Sie waren keine Penner und wollten es auch nicht werden.

Am nächsten Morgen ging Karl zum Arbeitsamt. Er war relativ früh und meldete sich an der Pforte. Wieder saß er auf dem Flur und es hieß warten. Karl fragte sich was schief gelaufen war, in seinem bisherigen Leben. Er kam zu dem Schluss, nichts war schiefgelaufen. Er war schon in jungen Jahren am politischen Geschehen interessiert, er hatte immer den Eindruck, dass Wenige entscheiden und dass Wenige viel haben. Warum war das so? Er hatte einiges an Literatur zu diesem Thema gelesen in Verbindung mit den politischen Geschehnissen der letzten hundert Jahre. Eine passende Antwort hatte er nicht gefunden. Wir leben in einer freiheitlichen Gesellschaft und diese Freiheit kommt immer denen zugute, die sie politisch, wirtschaftlich und für persönliche Vorteile immer wieder missbrauchen und gut damit leben. Ja, und da hatte der kleine Karl etwas getan, was er nicht durfte. Er hat sich die Freiheit genommen zu laut zu demonstrieren und einen Polizisten mit Milchgesicht und blödem Getue eins in die Fresse zu hauen und ihn und andere Polizisten große Arschlöcher zu nennen. Das war natürlich gar nicht artig und deshalb saß er jetzt hier auf dem Arbeitsamt und musste warten.

Die Selbstgefälligkeit der Sachbearbeiter, ihre Gleichgültigkeit, die gelangweilten Mienen, beschäftigen mit immer mehr Papierkram, war von einer Arbeitsvermittlung weit entfernt, da es ja sowieso keine Arbeit gab. Karl empfand es als einzige Demütigung. Männer, Frauen, Junge, Alte, Dicke und Dünne sie alle hofften, dass in ihrem Sinne entschieden würde. Jeder hoffte, wenn die Tür aufging, dass sein Name gerufen wurde. Es war öde und langweilig, ab und zu schob ein Mitarbeiter einen Aktenwagen in die einzelnen Büros. Das zeigte, dass jeder Wartende für die Bürokratie auf einen Aktenordner reduziert war, mit großem und kleinem Inhalt. Dauergäste gehörten schon zum lebenden Inventar und wurden entsprechend behandelt. Bei all diesen Überlegungen hätte er beinah seinen Namen überhört.

Im Grunde war Karl sauer über das Prozedere. Bevor der Sachbearbeiter etwas sagen konnte, hielt Karl ihm seinen Entlassungsschein unter die Nase. Der Typ nahm ihn, überflog ihn, drehte ihn um und legte ihn vor sich hin. Er benutzte seine Schreibmaschine wie ein Klavier, lehnte sich nach getaner Arbeit auf seinem Bürostuhl zurück und sagte: „Herr Hent, wie lange haben Sie als kaufmännischer Angestellter gearbeitet?“

„Es waren zehn Jahre.“

„Haben Sie die zehn Jahre durchgehend bei einem Arbeitgeber verbracht?“

„Ja, ich hatte nur diesen Arbeitgeber.“

„Ich weiß nicht, was Sie ins Gefängnis gebracht hat, aber da Sie vorbestraft sind ist es für mich schwer Sie zu vermitteln.“

„Ich habe also keine Chance mehr in meinem Beruf zu arbeiten?“

Karl hatte die Frage so gestellt, als wüsste er bereits, was ihm der Mann sagen würde.

„Nun ja, es wird nicht einfach werden. Selbst eine untergeordnete Arbeit kann ich nicht anbieten, weil ich sie einfach nicht habe. Ich brauche eine Verdienstbescheinigung.“

Er griff in eine Schublade, holte die passenden Unterlagen, legte sie auf den Tisch und händigte sie einzeln seinem neuen Kunden aus.

„Die Bearbeitung wird ein paar Tage dauern, deswegen muss ich Sie bitten, die Bescheinigung, vom Arbeitgeber ausgefüllt, umgehend herein zu bringen.“

„Ich bin mittellos und brauche eine finanzielle Überbrückung.“

„Sie bekommen einen Barscheck von 150 DM, der Ihnen in kleinen Raten vom Arbeitslosengeld abgezogen wird.“

Karl war freundlich gestimmt, weil ihm so unbürokratisch geholfen wurde. Karl, mit allen Unterlagen versorgt, fuhr mit der Straßenbahn ins Männerheim. Wie am Vortag gab es wieder eine Warteschlange, aber da es zügig ging, war er bald in seinem Zimmer. Otto lag im Bett und schlief. Er war besoffen und zwar ordentlich. Karl schaute sich um und dachte, dieses Dreckloch kann man auch nur im Suff ertragen. Er hatte sich einige Sachen für Körperpflege, Tabak und Zigaretten gekauft. Otto hatte ihm geraten seine Sachen immer mitzunehmen und Wertsachen am Körper zu tragen und nachts unter dem Kopfkissen zu verstauen. Die Schränke und auch die Zimmertüren ließen sich nicht abschließen. Die Männer sollten sich gar nicht erst wohnlich einrichten. Die Einrichtung war eine reine Schlafmöglichkeit.

Karl ging zum Essen. Als er zurück kam saß Otto am Tisch, mit einem Flachmann, den er eingeschmuggelt hatte. Er sah kurz auf und meinte: „Na Bruder, was hast du erreicht?“

Er sagte das mit ironischem Unterton, als sei alles vergebliche Liebesmüh.

„Ich habe immerhin 150 DM abgestaubt.“

„Ja, ja, lange wird das nicht reichen.“

„Ich weiß“, sagte Karl und steckte sich eine Zigarette an.

„Morgen fahre ich zu meiner Mutter und zu meiner alten Firma. Und wie hast du den Tag verbracht?“

„Um neun Uhr raus, ich habe im Park ein ruhiges Plätzchen gefunden und wenn es regnet gehe ich in den Bahnhof. Von was lebst du? Ich bekomme ja Sozialhilfe, das ist nicht viel aber ich komme damit aus.“

Karl wusste von seinem Zimmergenossen so gut wie nichts. Der war auch nicht sehr gesprächig. Warum sollte er auch, dachte Karl und wollte auf keinen Fall aufdringlich nachfragen. Irgendwann würde er selbst davon reden. Er war klein von Statur, mit schütterem Haar und breitem Gesicht. Besser gesagt, aufgequollenem Gesicht. Der Alkohol hatte ihm schon beträchtlich zugesetzt. Er sah das Leben von seiner ironisch humorigen Seite. Wollte Otto überhaupt aus dieser Scheiße heraus kommen? Armut stinkt, sieht auch nicht gut aus. Karl wollte so nicht leben. Vielleicht konnte er Otto aus seiner Lethargie holen.

Am nächsten Morgen fuhr Karl mit dem Zug zu seinem alten Arbeitgeber und dabei wollte er seine Mutter besuchen. Das Verhältnis war nicht das Beste, aber er hoffte, nach all den Jahren, einen Weg zu ihr zu finden. Der Tag war schön, die Bahn schaukelte durch die Landschaft und hielt buchstäblich an jedem Baum.

Der Personalchef der Großhandelsfirma war ziemlich kurz ab.

„Herr Hent, Sie können nicht auf Ihre Papiere warten. Sie werden von uns ausgefüllt und gehen den postalischen Weg. Sie können sich darauf verlassen, wir sind dazu verpflichtet Ihre Angelegenheit zügig zu bearbeiten.“

Karl musste sich damit zufrieden geben. Der Besuch bei seiner Mutter lag ihm im Magen. Vor der Tür, in einem großen Wohnblock, hatte er Angst zu klingeln. Wie würde sie auf ihn reagieren? Nachdem er geklingelt hatte dauerte es eine Weile, er hörte schlurfende Schritte und die Tür wurde langsam geöffnet. Es war eine ältere Frau mit schmalem Gesicht und ergrautem Haar. Als sie Karl erkannte, sagte sie nichts und ließ ihn in die Wohnung. Sie saßen im Wohnzimmer und seine Mutter sah ihn lange an und sagte: „Du bist schmal geworden, nahezu dünn.“

„Ja, ja Mama, mir fehlt dein zu Hause.“

Sie faltete ihre Hände, als wollte sie beten und sagte dann: „Du bist ein Mann von fast dreißig Jahren, du könntest längst dein eigenes Zuhause haben. Im Augenblick muss ich sehen, wie ich für mich allein zu recht komme, was nicht einfach ist.“

Die Mutter dachte an die Zeit, als die Familie noch komplett war. Ihr Mann, ein höherer Beamter, war vor zwanzig Jahren bei einem Verkehrsunfall verstorben. Karl ging noch zur Realschule, die er mit guten Noten verließ. Auch die Lehre zum Kaufmann hatte er gut beendet und entsprechende Arbeit gefunden. Dann merkte sie, dass Karl seine politischen Ansichten radikalisierte. Schon früh interessierte er sich für die allgemeinen Geschehnisse. Dann fand sie in seinem Zimmer linksorientierte Literatur, auch billige Agitationspropaganda. Anfangs konnte sie sich das nicht erklären und fand es nicht so tragisch. Als er das erste Mal ein Mädchen mit nach Hause brachte, wurde ihr klar, dass diese junge Frau, die einige Jahre älter war, ihn entsprechend beeinflusste. Das war kein Umgang für Karl und sie fragte sich, was der tatsächliche Grund für diese Beziehung war. Es war und blieb der einzige Besuch, denn beide Frauen mochten sich nicht.

Zwei Beamte vom Verfassungsschutz tauchten bei ihr auf, um einige Fragen zu stellen und teilten ihr mit, dass ihr Sohn einer kommunistisch, stalinistischen Gruppe angehörte. Die hatten die gewaltsame Demonstration organisiert, mit dem Ziel, der Polizei einen Denkzettel zu verpassen. Karl hatte sich besonders aktiv gezeigt und einen jungen Beamten krankenhausreif geschlagen. Die Schlapphüte vom Verfassungsschutz meinten, die Gruppe sei zwar klein, doch straff geführt und äußerst brutal. Die Mutter konnte sich diese Entwicklung nicht erklären und suchte nach Gründen in der Erziehung und Kindheit. Karl war nicht bereit seine Einstellung zum Staat und seiner Gesellschaft zu ändern.

„Ich habe keine Chance mit dieser Vorstrafe in meinem Beruf je wieder Fuß zu fassen. Ist das gerecht? Meine Strafe habe ich abgesessen, auf vorzeitige Entlassung verzichtet, nun soll ich auch noch kleine Brötchen backen? Nein Mama, das kannst du nicht erwarten, dass ich dem politischen Klüngel in den Hintern krieche.“

Wenn er sich so ereiferte, sah sie seinen Vater vor sich. Auch er war selten von seinen Vorstellungen abzubringen.

„Nun lassen wir das Thema und freuen uns auf dieses Zusammensein“, sagte seine Mutter. „Ich bin eine alte Frau, will keinen Ärger und will auch keinen Besuch von der Polizei.“

Sie ging in die Küche und kam mit einem Tablett mit Kaffee, Tassen und Gebäck zurück.

„Wo bist du untergekommen?“

Sie stellte die Sachen auf den Tisch.

„Ich habe ein nettes Zimmer in einem christlichen Wohnheim“, log er.

Der abschätzende Blick seiner Mutter sagte ihm, dass sie nicht so recht an das nette Zimmer glaubte.

„Was willst du nun beruflich machen?“, fragte sie weiter und er sprach von Außendienstarbeit für eine Versicherung.

Warum belog er seine Mutter, das hatte sie nicht verdient. Er wollte nicht mit Fragen behelligt werden. Wer gibt schon gerne zu, dass er bis zum Hals in der Scheiße sitzt. Es wurde dann doch noch ein gemütlicher Nachmittag. Kindheitserinnerungen wurden ausgetauscht, besondere Ereignisse aufgewärmt, es gab Dinge, an die man sich besser nicht erinnerte. Als er sich verabschiedete, hatte die Mutter Tränen in den Augen und der Groll vergangener Jahre schien vergessen.

Auf der Rückfahrt hatte Karl Zeit, über seine Zukunft nachzudenken. Das Wiedersehen mit seiner Mutter machte ihn nachdenklich. Seine Kindheit verlief ohne Blessuren und seine Mutter hatte getan, was Mütter allgemein tun, für den Sohn das Beste. Er hatte auch Fragen gestellt, auf die sie keine Antwort hatte. Widersprüche, die sich im Alltag bemerkbar machten, waren nicht zu übersehen.

Ein Klima von Misstrauen und Wut, dumme Sprüche von Erfolg und Anerkennung haben mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Leute, die die Fäden ziehen und den, der nach oben will, nicht dulden, weil er nicht zu ihnen gehört. Streikende Arbeiter mit roten Fahnen sind Vergangenheit. Spontane, doch wirkungsvolle, Demos waren angesagt.

Karl schaute gelangweilt aus dem Zug. Er brauchte keine Diskussionen, er brauchte eine Wohnung oder ein Zimmer, um aus dem Männerheim zu kommen. Da angekommen stand er wieder mal in der Schlange. Es kotzte ihn an, jeden Abend diese traurigen Gestalten zu sehen, leere Gesichter, vom Alkohol gezeichnet. Er hoffte Otto vorzufinden, doch der war nicht da. Auch in der Schlange hatte er ihn nicht gesehen. Vielleicht wusste die Pforte etwas, doch der Mann hinter der Scheibe schüttelte den Kopf. Er konnte sich nicht mal an den Namen erinnern. Wer war schon Otto Krämer, ein Nichts und wäre er in ein Loch gefallen, keiner hätte ihn vermisst. Am Morgen wollte Karl nach ihm suchen. Er ging zur Polizei, für ihn war das die Höhle des Löwen. Etliche Leute standen an einem langen Tresen, die heftig und laut mit den Beamten debattierten. Karl wartete, bis er dran kam. Ein älterer Polizist fragte ihn, ob er helfen könne.

„Ich vermisse einen guten Freund, vielleicht können Sie mir helfen?“

„Nun ja, ich brauche Namen, Anschrift und Familienstand.“

Er griff unter den Tresen, reichte Karl ein Formular zum Ausfüllen. Karl konnte die Fragen nur unzureichend beantworten. Der Polizist verlangte seinen Ausweis, den er nicht hatte.

„Haben Sie denn nichts, was Sie ausweisen könnte, Führerschein, Kreditkarte?“

„Ich kann Ihnen nur meinen Entlassungsschein geben.“

Das Gesicht des Beamten verfinsterte sich. Er nahm das Papier und verschwand damit im Nebenraum. Es dauerte eine Weile bis er wiederkam und Karl den Schein zurückgab.

„Sie müssen da, wo Sie zuletzt gemeldet waren, einen neuen Personalausweis beantragen. Was ihren Freund betrifft, werden wir das örtliche Krankenhaus und umliegende Kliniken anrufen. Sie wohnen beide im Männerheim hier in der Nähe?“

Karl bejahte das.

„Setzen Sie sich auf die Bank und warten Sie.“

Karl beobachtete das Treiben. Die laute, ja schreiend geführte, Auseinandersetzung war beendet. Es war nun ruhig, denn der Grund, ein betrunkener älterer Mann, war kurzerhand in eine Ausnüchterungszelle gesperrt worden. Es war ein Familienstreit. Zwei schwarze Zeitgenossen in Handschellen wurden an Karl vorbei in die hinteren Räume geführt. Sie protestierten in englischer Sprache, was ihre Situation nicht veränderte. Es war ein Kommen und Gehen. Karl langweilte sich nicht. Nach einer guten Stunde kam der Polizist und teilte ihm mit, dass ein Otto Krämer gestern in das örtliche Krankenhaus eingeliefert worden sei. Er müsste stationär behandelt werden. Über den Grund könne und dürfe er keine Auskunft geben.

Karl fuhr mit der Straßenbahn zum Krankenhaus. Durch den abendlichen Berufsverkehr war es schwierig, voran zukommen. Am Krankenhaus suchte er eine Telefonzelle, um in der Herberge Bescheid zu geben, dass er später käme. Er suchte die Station, auf der Otto lag. Im Schwesternzimmer saßen ein Arzt und zwei Schwestern. Die Tür war offen und Karl trat ein.

„Ich bin ein Freund von Otto Krämer und möchte Ihn besuchen.“

Der Arzt, ein großer Mensch, wirkte in seinem weißen Kittel schlaksig und unfertig.

„Ich weiß nicht, ob ich Ihnen Auskunft geben darf“, meinte er und schaute etwas verunsichert.

„Herr Krämer hat keinen Menschen, der sich um Ihn kümmert, seine Familie hat sich von ihm losgesagt. Ich kenne ihn auch erst seit einiger Zeit. Ich glaube, er wird sich über meinen Besuch freuen.“

„Nun gut, dann werde ich Sie kurz informieren. Herr Krämer hat eine chronische Leberentzündung, die mit einer Schrumpfung des Organs einhergeht. Er muss einige Zeit hier bleiben, zur Entgiftung, kann dann aber wieder entlassen werden. Wir wissen, dass Herr Krämer weiter Alkohol trinkt und über kurz oder lang an dieser Krankheit stirbt. Er kennt seinen Zustand und weiß, wie es um Ihn steht.“

Otto lag im Einzelzimmer. Eine Seite des Bettes stand an der Wand, die andere Seite war mit einem Gitter gesichert. Als Karl ins Zimmer kam, saß Otto im Bett und schaute erwartungsvoll auf seinen Besuch. Er hatte einen Kopfverband und ein weißes OP Hemdchen an. Das ganze wirkte einfach komisch. Karl konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

„Bruder, was für eine Überraschung.“

Otto nahm nicht Karls Hand, sondern den ganzen Arm, um ihn zu begrüßen. Er konnte seine Freude nicht verbergen.

„Es gab Zeiten, da wollte ich keinen Besuch, aber jetzt freue ich mich.“

Karl holte sich einen Stuhl und setzte sich ans Bett.

„Mensch Otto, was machst du für einen Scheiß, einfach zu verschwinden?“

„Es ist nicht das erste Mal, dass ich im Krankenhaus liege, es ist der Alkohol und er wird mich umbringen. Komm mir nicht mit Ratschlägen, die habe ich zur Genüge gehört.“

Otto hatte sich zurückgelegt und starrte zur Decke.

„Ich bin nicht gekommen, um dir Ratschläge zu erteilen. Ich wollte sehen wo der Typ geblieben ist, der im Bett über mir so furchtbar schnarcht. Was hältst du davon, aus diesem Männerheim raus zu kommen?“

Otto sagte lange nichts, dann meinte er: „Wie oft habe ich versucht, aus dem Dreckloch heraus zu kommen. Meine Versuche sind alle gescheitert und das war eindeutig meine Schuld. Karl, glaube mir, ich bin am Ende, ich habe keine Zukunft mehr.“

Er glaubte ihm und es tat ihm furchtbar leid, zumal das Häufchen Mensch, dass da im Bett lag, die Wahrheit sprach.

„Was ist denn mit deinem Kopf passiert, Otto?“

„Auf dem Weg ins Heim bin ich derart auf die Schnauze gefallen, dass ich mein Bewusstsein verloren habe. Als ich wieder zu mir kam, habe ich erst mal randaliert. Meine Blutwerte waren derart im Keller, dass ich hier bleiben musste. Erzähl, du warst bei deiner Mutter?“

„Ja, ich war da und es war recht nett.“

Otto schaute Karl prüfend an und sagte: „Überzeugend kommt die Nettigkeit bei mir nicht an.“

„Nun ja, was soll ich sagen. Ich bin ein erwachsener Mann und meine Mutter eine alte Frau. In der Vergangenheit zu kramen endet meist in Sentimentalität.“

Otto sagte: „Ich habe auch lange an die Vergangenheit gedacht. Habe mir meine Frau, meine Kinder, zurück gewünscht, doch es blieb bei frommen Wünschen. Meine Eltern lebten nicht mehr und bei den Schwiegereltern konnte ich natürlich kein Verständnis erwarten.“

„Was hat dich denn zur Unperson gemacht?“

„Seit zwanzig Jahren war ich im Bankgeschäft tätig, kannte das tägliche Einerlei in und auswendig. Dieses dezente Getue von Höflichkeit und vornehmer Betriebsamkeit. Der Druck, gewinnbringende Produkte zu verkaufen, wurde immer stärker. Es war eine kleine Bank und die Kunden kleine Leute, hin und wieder ein örtlicher Geschäftsmann. Für meine Familie war die Welt in Ordnung. Ich hatte mir angewöhnt eine Pulle Cognac im Schreibtisch zu deponieren und mir ab und an ein Schlückchen zu gönnen. Wie das so geht, der Abstand zwischen den Schlückchen wurde immer kürzer und die Flasche musste immer öfter durch eine neue ersetzt werden. Es dauerte lange, bis man dahinter kam, ich sollte ja stellvertretender Direktor werden, was unter diesen Umständen unmöglich war. Meine Frau fiel aus allen Wolken. Sie konnte nicht verstehen, dass ich alles aufs Spiel setzte. Sie hatte kein Verständnis dafür, was mich über Jahre quälte. Als dann der Alkohol dazu kam, war für sie das Fass voll. Ich habe zwei Töchter, die in einem Alter waren, wo man Verständnis oder Mitgefühl erwarten konnte. Na ja, außer Spesen nichts gewesen. Um es kurz zu machen, meine Frau ließ sich scheiden und ich wurde schuldig geschieden. Ich verlor meine Arbeit und dann ging es nur noch abwärts. Danach bin ich durch den Scheuersack gegangen und der hat mir den Rest gegeben, den Rest, der vor dir liegt.“

Otto hatte sich in Rage geredet, erschöpft legte er sich zurück. Dann sagte er, etwas ruhiger geworden: „Natürlich war das ein langer Prozess. Ich hätte eine Alternative haben müssen. Dann, Schritt für Schritt, einen anderen, besseren Weg für mich finden. Aber der Suff hatte mich fest im Griff. Wenn du nicht mehr kannst, sucht er sich ein neues Opfer. Wer aus dieser verfluchten Tretmühle raus will, wird bestraft, es sei denn, er ist finanziell unabhängig.“

Eine Schwester kam. Sie brachte das Abendbrot für Otto. Für Karl war die Besuchszeit zu Ende. Er versprach, wieder zu kommen. Draußen spürte er die Wärme eines schönen Sommerabends. Es gab einen Park mit bunten Blumen und weißen Bänken, die unter großen, ausladenden Bäumen standen. Karl setzte sich und beobachtete das bunte Treiben. Der Park war für die Tageszeit gut besucht. Viele Kinder, Familien und Patienten, die von ihren Angehörigen begleitet wurden, nutzten den Park.

Er dachte an Otto, der mit dem Teufel Alkohol kämpfte und wohl verlieren würde. Zum Glück spielte Alkohol bei ihm und auch in seiner Familie keine Rolle. Sinnloses Saufen kannte er nicht, er hatte auch nie irgendwelche Ausfälle. Am meisten beschäftigen ihn die Gründe für Ottos Absturz. Es war schon mutig, alles hinzuschmeißen und bereit sein, die Folgen zu tragen. Es gab Aussteiger, die einen besseren Weg gefunden haben. Fremdbestimmung und Ausbeutung konnte man bisher nicht verhindern. Wer vermochte das zu ändern?

Karl war so in Gedanken, dass er die junge Frau, die direkt auf ihn zukam, erst bemerkte, als sie vor ihm stand. Karl war überrascht. Er kannte sie aus dem Büro der Streetworker.

„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“

„Ja klar dürfen Sie.“ und machte ihr Platz.

„Ich habe hier einen Freund im Krankenhaus besucht.“

Hübsch sah sie aus, in ihrem Sommerkleid. Sie sagte: „Ich gehe bei schönem Wetter nach der Arbeit oft durch den Park nach Hause. Zu jeder Jahreszeit zeigt sich der Park in einem anderen Kleid und das ganz uneigennützig.“

Sie lachte, ihr Lachen war Ausdruck ihrer Lebensfreude.

„Na, Herr Hent, wie geht es Ihnen?“

„Meine Situation ist nicht die Beste, aber ich bemühe mich, das zu ändern. Das Wohnen ist das Problem. Ich muss da raus, diese Unterbringung kann kein positiver Anfang sein.“

„Das glaube ich, aber ich weiß auch, wie schwer es ist, eine Wohnung oder ein Zimmer zu finden. Ich habe auch sehr lange gesucht, dazu noch die zweifache Mietvorauszahlung. Mein Chef war mir behilflich.“

„Der Typ mit der Nickelbrille von den Streetworkern?“

„Er ist wohl nicht Ihre Kragenweite, oder liege ich da falsch? Wissen Sie, er hat, was seine Arbeit angeht, einige Federn lassen müssen, wie viele in seinem Beruf.“

Karl war etwas verlegen und steckte sich eine Zigarette an.

„Wenn man aus dem Knast kommt, denkt man in anderen Kategorien, dazu gehört auch eine gute Portion Misstrauen.“

Er sah auf die Uhr und sagte: „Ich muss los, sonst bleibt mir nur die Parkbank für die Nacht.“

„Ich gehe ein Stück mit Ihnen, es gehört zu meinem Heimweg.“

Der Park hatte sich geleert, die Menschen gingen nach Hause. Als sie sich trennten, sagte Karl: „Wollen wir uns wieder hier im Park treffen, um die gleiche Zeit?“

„Bevor ich ja sage, ich heiße Lena Don, Ihren Namen kenne ich ja, meinen Beruf kennen Sie. Eigentlich bin ich Krankenschwester, aber ich wollte den dauernden Wechseldienst nicht mehr machen und habe mich bei der Stadt um eine Stelle im Sozialdienst bemüht.“

„Nennen Sie mich doch einfach Karl.“

„Okay, dann bis morgen.“

Als sie ging, drehte er sich noch mal um und konnte gerade noch einen bunten Fleck erkennen.

Im Männerheim wollte man Karl nicht herein lassen. Er wäre zu spät. Die Sozialarbeiterin, die zufällig das Heim verließ, fragte den Pförtner, ob es ein Problem gäbe.

„Wir dürfen Niemanden nach der Einlasszeit aufnehmen.“

Karl erwiderte, dass er sich telefonisch gemeldet habe, da er einen kranken Heimbewohner im Krankenhaus besucht habe und es später werden könnte.

„Lassen Sie den Mann herein, Sie hören doch, er hatte sich gemeldet.“

Mit einem Lächeln ging sie an Karl vorbei und stieg in ihr Auto.

„Zukünftig gibt es keine Sonderbehandlung“, knurrte der Pförtner und ließ ihn herein. Im Flur gab es eine Prügelei wegen der Plätze im Aufenthaltsraum. Zwei bullige Ordner sorgten für Ruhe. Die beiden Streithähne mussten samt Plastiktüten das Heim verlassen. Als Karl sein Zimmer betrat, schlug ihm ein fürchterlicher Gestank entgegen. Das obere Bett war neu belegt, der Mann war total besoffen. Er hatte ins Bett uriniert und lag zusätzlich in seinem Erbrochenen, das auf den Boden tropfte. Karl meldete den Sachverhalt an der Pforte. Der Typ machte kein aufhebens und gab Karl ein anderes Zimmer.

„Das ist ein Dreibettzimmer, aber die Männer sind okay. Wer nicht pünktlich ist bekommt das, was noch übrig ist.“

Er sagte das mit Schadenfreude.

„Was ist mit dem Volltrunkenen auf dem Zimmer?“

„Der macht morgen früh die Bude sauber, ansonsten übernimmt das die Putzkolonne. Was ist mit deinem Zimmergenossen, den du im Krankenhaus besucht hast?“

„Du meinst Otto Krämer, so heißt der Genosse.“

„Ja, ja, ist schon gut.“

„Der will wahrscheinlich in sein Bett, das der Neue bepinkelt hat.“

Karl sagte das voller Häme.

„Er bekommt eine neue Matratze, dafür sorge ich.“

Das Dreibettzimmer lag im zweiten Stock. Karl betrat den Raum und suchte im Halbdunkel nach dem freien Bett. Es roch nach kaltem Rauch und Schweißfüßen. Seltsam, dachte er, es sind ja noch zwei Betten frei. Als er genauer hinsah bemerkte er, dass in einem Bett zwei Männer lagen. Sie hatten sich umarmt und schnarchten um die Wette. Auch das noch, dachte Karl und packte seine Sachen mit dem Stoffbeutel unter sein Kopfkissen. Für ihn war das die letzte Nacht in diesem Elend. Selbst im Knast hatte er eine Zelle für sich, ohne Dreck und Unrat und ohne Schwulen.

Morgen wollte er zu Lena ins Büro der Streetworker und sich einen Schlafsack geben lassen. Bei der Witterung schlief er lieber im Freien. Sein größtes Problem war eine vernünftige Bleibe. Die Schwulen schnarchten was das Zeug hielt. Wusste man was für Exoten unter diesem Dach schliefen? Karl hatte nichts gegen Schwule, er konnte sich nicht vorstellen wie diese Menschen ihre Sexualität und ihre Psyche in den Griff bekamen. Für ihn waren es arme Schweine. Es stank, Karl wollte ein Fenster öffnen was aber nicht ging. Vermutlich wollte man vermeiden, dass Möbel aus dem Fenster geworfen wurden. Auch an mögliche Selbstmörder hatte man wohl gedacht. Im ganzen Haus, ausgenommen Büro und Essensausgabe, stank es zum Himmel.

Als Karl wach wurde, hatten die schwulen Männer das Zimmer schon verlassen. Die Toiletten waren eklig und für Karl war es empörend, dass man gegen diese Schweinerei nichts unternahm. Jetzt holte er sich erst einen Schlafsack und hoffte Lena Don anzutreffen. Zu seiner Enttäuschung war sie nicht da. Er fragte einen Praktikanten nach ihr. Sie habe sich krank gemeldet, war die Antwort. Er bekam den Schlafsack und machte sich auf den Weg, um Otto Krämer zu besuchen.

Bei dem herrlichen Sommerwetter war der Park wieder gut besucht. Otto lag noch im Einzelzimmer. Es ging ihm schon recht gut. Er strahlte über sein rundes Gesicht, als er Karl sah. Der Kopfverband und das Gitter am Bett waren entfernt.

„Bruder, welch Glanz in meiner bescheidenen Hütte.“

Otto saß im Bett und gab Karl die Hand.

„Also, wenn ich dich so sehe, glaube ich nicht, dass du krank warst.“

„Ja, manchmal staune ich schon, wie der Organismus sich selbst regeneriert. Ich habe einige Infusionen bekommen und dem Doktor versprochen weniger zu trinken.“

Karl glaubte nicht daran, aber das wollte er ihm nicht sagen, warum auch.

„Es wäre schön, wenn du es schaffen würdest.“

Er sah sich um.

„Was für ein unfreundlicher Raum, gab es denn nichts Anderes?“

„Ich soll morgen entlassen werden und bin heilfroh. Die regelmäßigen Mahlzeiten vermisse ich jetzt schon.“

Er sagte das mit Bedauern und schaute betrübt in die Runde.

„Ach Otto, es gibt doch bessere Wohneinrichtungen von Wohlfahrtsverbänden, die mit der Stadt nichts zu tun haben.“

„Ja, du sagst mir nichts Neues. Ich habe es versucht, doch der Alkohol stand mir immer im Weg. Die strenge Hausordnung und die beschissene Bevormundung wäre der Preis für geregelte Mahlzeiten. Mein Geld vom Sozi müsste ich auch abgeben und für ein bescheidenes Taschengeld eintauschen. Eine kleine Rücklage würde man mir lassen, der Rest in die große Wundertüte. Nein, lass man. Wer Geld hat muss zahlen, wer nichts hat lebt von der Gemeinschaft.“

Oft waren es Landstreicher, die ein oder zwei Tage bleiben durften, auf Kosten der Allgemeinheit.

Karl mochte diesen kleinen Mann, der ihn immer Bruder nannte und der in seiner Hilfslosigkeit und Vereinsamung mit Sarkasmus und Spott seine Wunden verbarg. Zurück ins Heim wollte Karl nicht mehr. Wenn Otto entlassen sei, wollten sie sich im Park treffen.

„Wir sehen uns morgen!“ und Karl ging.

Draußen auf den Stufen blieb er stehen, nutzte seine Hand als Sonnenblende, um nach Lena zu schauen. Er freute sich auf ein Wiedersehen und war ganz aufgeregt. Er wunderte sich über den Zustand. Da war sie! Sie saß wieder unter dem großen Baum auf der weißen Bank. Ihr Haar flatterte im Wind, in Gedanken versunken schaute sie den Kindern zu. Sie sah Karl kommen und wollte aufstehen, doch er setzte sich umgehend zu ihr.

„Ich habe mir heute in Ihrem Büro einen Schlafsack geholt, ein junger Mann sagte Sie seien krankgeschrieben. Ich hatte Sorge, dass Sie nicht kommen würden.“

„Ja, der ewige Stress, mein Arzt meinte, ich brauche dringend Ruhe. Das tägliche Elend nimmt einen schon mit.“

„Ist das nicht ein Fass ohne Boden?“

Karl schaute sie bei der Frage von der Seite an und merkte wie gut es ihm tat, mit dem Mädchen zu reden. Sie zupfte an ihrer Bluse herum und sagte: „Klar ist das ein Fass ohne Boden, aber wir können diese Menschen nicht im Regen stehen lassen. Es müsste sich grundlegend was ändern. Es gibt keine Interessenvertreter und solange das so ist, wird sich kaum etwas ändern.“

Karl meinte: „Ich wusste gar nicht, dass es so was in Deutschland gibt. Waren Sie schon mal in diesem Männerheim?“

Sie schüttelte den Kopf und warf einem Kind den Ball zu, der auf sie zugerollt war. Die Kleine klatschte in die Hände und freute sich.

„Lassen Sie uns den Tag genießen“, sagte sie, stand auf, nahm Karl an die Hand und zog ihn zu sich hoch.

„Karl, was hältst du davon wenn ich dich zum Essen einlade? Du kannst dich ja revanchieren wenn es dir besser geht.“

Das ´Du´ war ihr ganz selbstverständlich über die Lippen gekommen. Karl war überrascht und dachte, warum bin ich nicht selber darauf gekommen? Es war seine Schüchternheit gegenüber Frauen. Es war ihm Recht, wenn das weibliche Wesen die Initiative ergriff. Gemeinsam schlenderten sie zum Ausgang. Karl merkte, dass er seinen Schlafsack auf der Bank liegen gelassen hatte. Er lief zurück, in der Hoffnung ihn noch zu finden. Er hatte Glück. Außer Atem kam er bei Lena an.

„Lieber schlafe ich unter Gottes freiem Himmel, als im Vorhof der Hölle.“

„Ach Karl, der Vorhof der Hölle ist nicht das Männerheim sondern unsere Menschheit schlechthin.“

Er dachte, bildlich gesprochen mag sie Recht haben, es passte nur nicht zu einem jungen lebensfrohen Geschöpf. Frauen mit politischer Dominanz kannte er. Maria Roland, ein kühl distanziertes Weib, die wenig von dem hatte, was man sich unter einer Frau vorstellte. Ein ideologisch vollgestopftes Wesen, die selbst beim Orgasmus an Stalin dachte. Als Akteur einer fanatisierten, politischen linken Sekte hatte er zweieinhalb Jahre in der Kiste gesessen. Von einer Maria Roland hatte er nie mehr etwas gehört.

„Das mit dem Schlafsack im Freien lassen wir lieber. Wenn du versprichst in deinem Sack zu bleiben, kannst du bei mir die Nacht verbringen. Ich suche keinen Beischläfer unter allen Umständen. Du verstehst mich?“

Karl fiel ein Granitstein von der Pumpe. Er dachte an die feuchte Nacht am Sportplatz. Das musste er nicht nochmal haben.

Vom Park war es nicht weit bis zum Stadtzentrum. Menschen saßen unter großen Sonnenschirmen der Cafés und Eisdielen. Lena ging zielstrebig zu einem Restaurant und verschwand mit Karl hinter einer großen Tür mit Butzenscheiben. Es war ein Balkanrestaurant direkt in der Fußgängerzone. Es war mit Landschaftsbildern des Balkans geschmückt. Menschen in den Trachten der einzelnen Völkerschaften. Für Karl war es zu dick aufgetragen, einfach Kitsch. Lena war hier bekannt. Der Inhaber kam auf sie zu und begrüßte sie mit Handschlag. Karl wurde dem Serben vorgestellt. Wenn das Essen nur halb so gut ist, wie dieser Firlefanz, bin ich beruhigt, dachte Karl.

„Als ich noch Krankenschwester war, habe ich seine Frau im örtlichen Krankenhaus gepflegt. Sie hatte Krebs. Es war nur eine Frage der Zeit, wann sie sterben würde. Sie war Mitte fünfzig, sehr nett, ich habe sie auch außer meiner Dienstzeit betreut. Ihr Mann wollte nicht, dass sie ihren wahren Zustand erfuhr. Er glaubte, die Wahrheit würde sie umbringen. Durch die Privatversicherung der Familie wurde zu lange versucht, sie am Leben zu halten. Wie zu erwarten starb sie und er und sein Sohn konnten die Tragödie lange nicht überwinden. Der Besitzer bedankte sich mit einem Ölbild bei mir, mit einer serbischen Landschaft. So Karl, das ist der Grund, warum ich hier bevorzugt bedient werde.“

„Ach Leni, das ist schon okay.“

Er nannte sie Leni und sie fand es in Ordnung, wobei sie sich fragte, ob sie wohl in ihn verliebt sei. Ihrem Wesen nach war sie eine nüchterne, praktische Person, es passte nicht so recht zu ihrem Charakter. Bekannte, Freunde hatte sie nicht und sie vermisste auch nichts. Man ging meist Verpflichtungen ein, die man nicht wollte. Natürlich lernte sie junge Männer kennen, was meist mit einer Bettgeschichte endete. Eine echte Bindung war nie daraus entstanden. Die erwachsenen Knaben waren zu doof, eine Frau zu befriedigen und die alten Säcke wollte sie nicht. Ihr Vater war kein Mann großer Worte und Gefühle. Die Mutter versuchte das zu kompensieren, was in einer Affenliebe ausartete. Der Vater war Justizvollzugsbeamter und hatte in jungen Jahren ein Alkoholproblem. Als Schließer im Knast hatte er kein sonderlich gutes gesellschaftliches Ansehen. Das war der Grund, warum er zum Trinker wurde. Nach Entziehungskuren auf Kosten der Allgemeinheit wurde er als Beamter in die Verwaltung versetzt. Als Aktenschieber durfte er über die Flure stolpern und auf seine Pensionierung warten. Die Mutter hatte sich abgefunden und machte das Beste daraus.

Nach ihrem Examen als Krankenschwester suchte Lena eine kleine Einzimmerwohnung und lebte so, wie sie es für richtig hielt. Durch ihren Beruf fand sie in der Hilfe für Mitmenschen eine gewisse Befriedigung. Sie wusste wohl, dass die Voraussetzungen für eine Verbesserung der sozialen Verhältnisse nur durch Umgestaltung der gesellschaftlichen Ordnung zu finden sei. Das war starker Tobak den man in Westdeutschland nicht laut propagieren durfte. Soweit ging die Toleranz nicht.

Das Essen im Restaurant war mehr als gut. Karl war erstaunt, dass auf dem Balkan so gut gekocht wurde. Er sagte es Lena und die meinte: „Glaubst du nicht, dass wir in einigen Dingen mit Vorurteilen behaftet sind?“

„Ja, da magst du Recht haben.“

Als sie gingen, hatte die Dämmerung eingesetzt. Kleine Geschäfte hatten schon geschlossen, doch in den Biergärten und gemütlichen Kneipen saßen überwiegend junge Leute und genossen die frische Abendluft. Karl Hent freute sich, ihm war an diesem Tag nur Schönes und Erfreuliches zuteil geworden. Diese kleine zarte Person hatte das möglich gemacht und in seiner noch düsteren Situation ein Fenster zu einer besseren Welt geöffnet. Er durfte bei Ihr die Nacht verbringen, ohne Asyl! Es überkam ihn ein Gefühl von Dankbarkeit und Freude.

Lena ging schweigend neben ihm. Auch sie machte sich Gedanken über den jungen Mann an ihrer Seite. Auf den ersten Blick wirkte er in seiner Größe schlaksig und unfertig obwohl er ja bereits Ende zwanzig war. Das störte sie aber nicht. Etwas Zeit und persönliche Erfolge würden das ausgleichen. Sie spürte sein Verlangen nach Wärme und Geborgenheit. Lena wohnte in einer so genannten Schlafstadt, Betonburgen mit einigen Stockwerken. Die Gebäude waren noch recht neu, etwas Grünfläche zwischen den Parkplätzen und hier und da ein kümmerliches Bäumchen. Hier wohnten Arbeiter und kleine Angestellte, zumal die Mieten hier noch bezahlbar waren.

Lenas Wohnung lag im obersten Stock, mit einem kleinen Balkon. Aus dieser Höhe war es ein herrlicher Blick über die Stadt, die allmählich von unzähligen Lichtern in allen Farben beleuchtet wurde. Das Wohn-Schlafzimmer war einfach aber gemütlich eingerichtet, die schmale Küche und das Badezimmer waren fensterlos und für eine Person konzipiert.

„Ich mache uns ein leckeres Mixgetränk und wir könnten fernsehen“, sagte Lena.

Karl war von der Wohnung begeistert. Er hatte immer zu Hause gelebt, als junger Mann noch in seinem Kinderzimmer. In Lenas Bücherecke fand er einiges interessantes und blätterte darin. Inzwischen stellte Lena zwei große Gläser auf das kleine Tischchen.

„Ich habe überwiegend politisch historische Literatur und noch einige Bildbände. Bücher sind für mich etwas ganz Besonderes.“

Sie sagte das mit einem feinen Lächeln. Karl hatte sich zu ihr gesetzt, sah sich um und sagte: „Also, ein Jungmädchenzimmer habe ich mir etwas anders vorgestellt.“

„Du meinst in jeder Ecke und auf dem Bett Plüschtiere?“

„Nun ja, so ähnlich eben.“

„Karl, ich habe auch eine ganz andere Seite und du darfst mir glauben, die hat nichts mit pubertierenden Mädchenträumen zu tun.“

„Ich habe nicht an ein Dummerchen gedacht, sonst wäre ich nicht hier.“

Sie saßen noch lange und sprachen über Gott und die Welt, wobei der liebe Gott keine Rolle spielte. Es war spät. Lena funktionierte ihre Couch zum Bett um. Karl musste in seinem Schlafsack auf dem Boden schlafen. Es war viel zu warm, um den Schlafsack zu schließen. Jede Bewegung ließ ihn zu Lena hoch sehen; er konnte nicht schlafen. Am Morgen war er gerädert, sein Kreuz tat ihm weh. Lena hantierte in der Küche, es roch nach frischem Kaffee, der mobilisierte die Lebensgeister. Karl konnte sie beobachten, wie sie in ihrem roten Bademantel und zerzaustem Haar Frühstück machte.

„Es war eine harte Nacht auf deinem Fußboden.“

Der unterschwellige Vorwurf war deutlich zu hören.

„Ich habe gelitten, ich spüre mein Kreuz nicht mehr.“

„Du Armer, ich dachte immer, dass es in freier Natur in der Nacht auch nicht sehr weich ist. Wenn du recht artig bist, werde ich darüber, ob du in meinem Bett schlafen darfst, nachdenken.“

Sie brachte das Tablett mit Frühstück und Kaffee.

Karl hatte noch etliches zu erledigen. Er musste zum Arbeitsamt, danach wollte er Otto im Krankenhaus besuchen, dann mit Lena einen Bummel durch die Stadt machen. Seine Stimmung war ausgezeichnet. Im Park, an gewohnter Stelle, wollten sie sich treffen. Er ging zu Fuß, um das Geld für die Straßenbahn zu sparen. Wie üblich gab es wieder eine Warteschlange. Wer Leistungen wollte, hatte sich anzustellen. Nach der Anmeldung verteilten sich die Massen auf die einzelnen Flure. Keiner sprach, leise wurden hier und da Erfahrungen ausgetauscht, die Stimmung war gedrückt. Endlich wurde Karl aufgerufen.

„Nehmen Sie Platz, Herr Hent. Haben Sie Ihre Unterlagen mitgebracht?“

Karl gab sie ihm. Der junge Mann blätterte und prüfte die einzelnen Seiten.

„Wie ich Ihnen bereits sagte, habe ich keine Beschäftigung für Sie finden können.“

Er sagte das mit leichtem Bedauern in der Stimme, aber die routinierte Abfertigung war offensichtlich. Der Arbeitsmarkt gab nichts her, die Betroffenen wurden nur verwaltet. Für Karl gab es nicht mal Aussicht auf Arbeit. Er wusste nicht, warum dieser junge Mann im Gefängnis war, wollte es auch nicht wissen. Ihm fiel ein, dass in einer Besprechung von so genannter Arbeitnehmerüberlassung die Rede war. Diese erlaubte einem Vermittlungsbüro Arbeitskräfte an Firmen auszuleihen. Es gab zwar moralische Bedenken, aber es war auch eine Möglichkeit. Er legte die Papiere zusammen und wollte das Gespräch beenden, als Karl noch wissen wollte, wann er mit dem Geld rechnen könne.

„Im Lauf der nächsten Woche haben Sie Ihr Geld. Haben Sie ein Konto angegeben, ah ich sehe schon, alles klar, das geht in Ordnung.“

Karl erhob sich, bekam einen feuchten Händedruck und konnte gehen. Als er auf der Straße stand wurde ihm klar, seine Zukunft war alles andere als rosig. Mit einer Vorstrafe wurde man zweimal bestraft, erst von der Justiz, dann von der Gesellschaft, bei allem geheuchelten Verständnis. Er war verbittert und die nackte Wut nahm ihm das bisschen Luft zum Atmen. Die tausendfach größere Unmoral in Form von Korruption und Gewalt in dieser Gesellschaft wurde kaum beachtet. Sie versteckte sich hinter glitzernden Fassaden aus Glas und Stahl. Karl wusste, der Hass gegen dieses System war mit Hauen und Stechen nicht zu bewältigen und um die Gewaltphantasien eines Karl Hent kümmerte man sich einen Scheiß.

Er wollte ins Krankenhaus. Karl hatte etwas Obst für Otto besorgt, um nicht mit leeren Händen am Bett zu stehen. Auf der Station wurde er von einer Schwester abgefangen.

„Herr Hent, kommen Sie bitte ins Arztzimmer, der Doktor muss Ihnen etwas sagen.“

Karl ließ sich in das Zimmer bringen und setzte sich auf die Untersuchungspritsche.

„Warten Sie, der Arzt kommt gleich.“

Karl wurde unruhig.

„Sagen Sie doch, was soll das, ist dem Krämer was passiert?“

Die Frage brauchte sie nicht zu beantworten, der Arzt betrat den Raum, setzte sich hinter den kleinen Schreibtisch, nahm seine Brille ab und sagte: „Herr Krämer ist in der Nacht an chronischem Leberleiden verstorben. Er hat sich die Infusion heraus gerissen und ist im OP Hemd in den Park gelaufen. Wir haben Herrn Krämer mit Hilfe der Polizei gegen Morgen gefunden. Er lag tot vor einer Bank auf dem Kiesweg.“

Karl saß wie versteinert. Er konnte nicht so recht begreifen, was da gelaufen war.

„Wie ist er unbemerkt durch die Nachtpforte gekommen?“

„Wir wissen es nicht, wahrscheinlich mit dem Aufzug in den Keller und von dort durch eine unverschlossene Tür in den Park“, meinte die Schwester.

Sie schaute besorgt zu Karl.

„Kommen Sie mit, ich mache Ihnen einen starken Kaffee.“

Beide gingen in das Schwesternzimmer. Der Arzt musste weg, er drückte Karl die Hand und verschwand schnellen Schrittes über den langen Flur. Von weitem sah er aus, wie ein Gespenst mit seinem weißen Kittel. Zwei Krankenpfleger machten gerade Pause, einer stand auf und bot seinen Platz an. Die Schwester gab Karl den starken Kaffee. Er trank schweigend. Er war immer noch benommen von der Nachricht. Es tat ihm so Leid um den Otto. Er begann, ohne es recht zu bemerken, zu trauern. Ein schmerzhaftes Gefühl, das er so nicht kannte. Wo mochte Otto jetzt sein, dachte er und verwarf die Frage gleich wieder. Otto war tot, einfach tot und sonst nichts.

„Wollen Sie Ihren Freund noch einmal sehen? Einer der Pfleger geht gerne mit Ihnen ins Leichenhaus“, sagte die Schwester.

Ergänzend fragte sie Karl, ob er die Anschrift von den Angehörigen wüsste.

„Ich kannte Otto Krämer noch nicht lange, er hat nie groß über seine Familie oder Kinder gesprochen, ich kann Ihnen da nicht helfen.“

„Nun gut, wir können es über die Behörden feststellen. Herr Krämer hat noch Toilettensachen und seine Kleidung hier, wollen Sie die Sachen mitnehmen?“

„Nein, nein ich möchte nichts von ihm annehmen.“

„Okay, wir danken Ihnen für die Anteilnahme, der Pfleger bringt Sie nun ins Leichenhaus. Er war sicher ein armer Mensch der furchtbar einsam gestorben ist.“

Sie drehte sich um, ging zum Fenster und blieb dort stehen. Für einen Menschen der täglich mit Krankheit und Tod zu tun hat, war das eine bemerkenswerte Reaktion. Es ging durch den Keller und von dort zu einer kleinen Kapelle, die etwas abseits des Krankenhauses stand, so als wolle sie mit den Lebenden nichts zu tun haben. Im Gotteshaus gab es einen Vorraum, in dem eine Trage stand. Es folgte der eigentliche Leichenraum, einzelne Kabinen mit dunklen Pritschen und einem schwarzen Vorhang. Es roch nach Desinfektionsmitteln. Die Leiche Ottos war mit einem weißen Tuch bedeckt, lediglich ein Zeh war zu sehen. Daran ein Pappschild mit Namen und Geburtsdatum. Der Pfleger hob das Laken an. Das Gesicht, der Hals und die Schulterpartie zeigten bereits eine gelbe Farbe. Das Kinn, die Nase spitz nach vorn ausgeprägt, gab dem Antlitz eine längliche Form. Ein Auge war leicht geöffnet, es war ein schauerlicher Anblick. In diesem Gesicht war kein Leben mehr. Karl schaute, ob er noch etwas Vertrautes finden könnte. Es gab nichts mehr zu finden. Er wandte sich ab, um zu gehen. Er sah gerade noch wie die Leiche wieder bedeckt wurde, nur der große Zeh mit dem Pappschild war noch zu sehen. Karl bedankte sich und ging in den Park. Er hatte noch nie einen Toten gesehen und dieses Erlebnis machte ihm zu schaffen.

Durch Ottos Tod hatte er die Verabredung mit Lena verpasst. Als er zur gewohnten Parkbank kam, war sie nicht mehr da. Ein unwiderstehlicher Drang, jetzt bei ihr zu sein, trieb ihn zu ihrer Wohnung. Sie war nicht zu Hause. Er wurde unruhig, wo mochte sie sein? Es gab einen Spielplatz vor dem Wohnkomplex, mit Bänken. Kinder tollten herum, beobachtet von ihren Müttern. Karl setzte sich auf einen Mauervorsprung in der Nähe des Eingangs zum Wohnsilo. Er dachte an Otto Krämer, den es nicht mehr gab und dessen Reste in der düsteren Kapelle lagen. Es war schrecklich, grausam und so beschissen sinnlos. Alle Gefühle der letzten Tage, ein Brei von hässlichen, unschönen Erlebnissen und als Krönung der Tod. Das ließ Karl deutlich werden wie dünn das Eis war, auf dem er stand. Er hatte noch die Tüte mit dem Obst in der Hand. Er wollte nicht mehr über das Obst an den Toten erinnert werden und warf die Tüte samt Inhalt in den nächsten Abfalleimer.

Endlich kam Lena, sie hatte eingekauft. Karl ging ihr entgegen und nahm ihr die schwere Tasche ab.

„Wartest du schon lange?“, fragte sie und gab ihm einen Kuss.

„Du machst irgendwie einen verstörten Eindruck“, stellte sie fest und sah Karl aufmerksam von der Seite an.

„Ach, ich hatte ein trauriges Erlebnis, aber lass uns erst nach oben gehen.“

Lena packte den Einkauf aus, machte Kaffee und setzte sich zu Karl ins Wohnzimmer. Er konnte ihr all das sagen, was er loswerden musste. Er redete und redete. Lena unterbrach ihn nicht. Sie spürte sein Verlangen, diese unschönen Dinge raus zu lassen. Sie nahm ihn in den Arm und tröstete ihn.

„Karl, der Tod gehört zum Leben, es ist eine Binsenweisheit, ich weiß. Ich habe im Krankenhaus viele Menschen, soweit ich das konnte, auf ihren letzten Gang begleitet. Dieser letzte Akt wird nie zur Routine. Er hat immer sein eigenes Gesicht. Es gab die, die nicht begreifen wollen, dass sie gehen müssen. Die, voller Mitleid mit sich selbst, die nicht verstehen wollen, dass das Leben ohne sie weiter geht und die, die mit Arroganz dem Tode begegnen und auch die, die froh waren endlich sterben zu dürfen.“

Sie machte eine lange Pause, sie hatte Tränen in den Augen.

„Alle waren am Ende ganz ruhig, ganz gelöst, jenseits von Gut und Böse.“

Karl hatte zugehört, er begriff, Leben war vielseitig, es schaffte Situationen, die man nicht nachempfinden konnte. Der Alkohol hatte Otto zerstört und in den Abgrund gezogen. Sie saßen noch eine Weile ohne Licht, die Dämmerung beherrschte den Raum, bis die Dunkelheit kam und Lena Licht einschaltete. Karl sah, dass sein Schlafsack verschwunden war und er mit einem lieben Mädchen, für ihr Alter schon sehr erwachsen, in einem Bett schlafen durfte. Es war keine große Leidenschaft, das gab das Tagesgeschehen nicht her, aber eine Zweisamkeit und das Gefühl zusammen zu gehören.

Karl war allein, Lena war zur Arbeit. Sie hatte einen kleinen Zettel auf den Tisch gelegt und ihn gebeten die Blumen auf dem Balkon zu gießen.

Hab dich lieb“, stand auf dem Zettel. Karl las ihn lächelnd immer wieder, faltete ihn sorgsam zusammen und deponierte ihn in einer Lade, wo er meinte, dass er dort gut aufgehoben sei. Nach dem Frühstück saß er auf dem Balkon.

Um eine Anmeldung im Meldeamt zu erreichen, hatte er die Adresse des Männerheims angegeben. Lenas Adresse kam nicht in Frage; er wollte kein Problem mit der Wohnungsgesellschaft. Am Männerheim fragte er nach möglicher Post. An der Pforte bekam er einen Brief vom Arbeitsamt. Es war ein Arbeitsangebot. Eine Verleihfirma stellte einer Produktionsfirma Arbeiter zur Verfügung. Karl sollte als Hilfskraft einen personellen Engpass abdecken. Der Maschinenbaubetrieb lag in einem neuen Industriegebiet vor der Stadt. Das Büro des Verleihers befand sich allerdings im Zentrum. Er fand es nicht so toll, als Hilfsarbeiter seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er wollte gerade gehen, da sagte ihm der Mann hinter der Scheibe, dass der Sozialarbeiter des Hauses ihn sprechen wolle. Karl fragte verwundert: „Ist Frau Dietz nicht im Haus?“

„Frau Dietz hat Urlaub, Herr Koch hat ihre Vertretung übernommen.“

Im Haus regierte die Putzkolonne. Trotz der täglichen Reinigung der Flure und Toiletten war der säuerliche Geruch von Armut nicht zu beseitigen. Er klopfte beim Sozialdienst. Dort saß ein älterer Typ im karierten Hemd und brauner Strickkrawatte, die er bei dem dicken Hals gelockert hatte. Der Schreibtisch war leer, als wolle er jedem Besucher sagen, ich bin nur die Vertretung und möchte keine Probleme aufgehalst bekommen. Er bot keinen Platz an.

„Ich habe Sie her beordert, weil Sie hier gemeldet sind aber nicht hier wohnen. So geht das nicht!“

Karl wusste sofort, mit diesem Zeitgenossen gab es Ärger, er stellte sich auf Konfrontation ein.

„Wo ich tatsächlich wohne oder mich aufhalte geht Sie einen Scheißdreck an. Sie wissen so gut wie ich, dass man in diesem stinkenden Loch nicht wohnen kann.“

Der Sozialmensch war kurz irritiert aber dann meinte er etwas sagen zu müssen.

„Sie haben hier um Hilfe nachgesucht und Hilfe bekommen.“

Karl unterbrach ihn: „Von Ihnen habe ich gar nichts bekommen.“

„Ich verbiete Ihnen, in diesem Ton mit mir zu reden!“

„Sie können mir gar nichts verbieten, Sie Pausenclown!“

Das war´s dann wohl, dachte Karl und wollte gehen.

„Einen Moment“, der Typ stand auf, stützte sich mit beiden Händen am Schreibtisch ab und schrie: „Mit Leuten wie Ihnen werden wir fertig, dass dürfen Sie mir glauben. Ihre Post wird ab sofort nicht mehr angenommen. Ich werde der Polizei, was Ihre amtliche Anmeldung anbelangt, den Sachverhalt melden. Zudem haben Sie ab sofort dauerhaftes, absolutes Hausverbot.“

Karl drehte sich um und verließ den Raum. An der Pforte fragte er nach dem Zeitpunkt der Beisetzung von Otto. Er wollte doch gern dabei sein. Aber der Mann hinter der Glasscheibe wusste von nichts. Das hier ein Bewohner verstorben war, ging ihm am Arsch vorbei. Karl war verbittert, wer hier wohnt ist ein Niemand. Wie das mit seiner Anmeldung weiter gehen sollte, wusste er nicht. Ich komme aus diesem Dunstkreis von Hilfsbedürftigkeit nicht heraus, dachte er.

Der Wind hatte aufgefrischt und schob Papierfetzen über die Straße. Es würde wohl Regen geben. Karl machte sich auf den Heimweg. Lena würde sicher schon warten.

„Mein Gott, ist das schön, nach Hause zu kommen“, sagte er, um gleich die Frage zu stellen: „Ist das auch wirklich mein zu Hause?“

Lena war in der Küche und rief: „Ich teile mit dir Tisch und Bett und ich denke, dann ist das auch dein zu Hause. Einen nackten Beischläfer brauche ich nicht. Das ist mir zu wenig.“

„Du hast ja Recht, aber wenn ich sehe, wie Menschen, die einen Neuanfang wollen, mit Dreck beworfen werden, dann entsteht Wut und Hass auf die Hohlköpfe, die sich ausdenken, was nur ihnen nutzt.“

Er erzählte ihr die Story aus dem Männerheim.

„Ich kenne diesen Koch, er gehört noch zu denen die meinen, ein Bett und einen Kanten Brot und das war es. Resozialisierung ist für Ihn ein böhmisches Dorf. Ein Arsch wie Koch ist ein Bremsklotz in der sozialen Arbeit. Der denkt nur noch an seine Rente.“

Karl zeigte ihr das Arbeitsangebot. Sie las es durch und rümpfte die Nase.

„Was hat man sich da einfallen lassen? Ich verleihe einen Menschen als Arbeitskraft an eine Firma. Was sind das nur für seltsame Methoden. Das Arbeitsamt verbessert seine Statistik, der Verleiher macht ein gutes Geschäft, er verdient am Unglück anderer. Die Firma zahlt eine Pauschale an den Verleiher ohne sich um Sozialbeiträge zu kümmern. Wird der Mann nicht mehr gebraucht, schmeißt man ihn raus.“

Lena hatte sich in Rage geredet und Karl wunderte sich über ihren Gefühlsausbruch.

„Ja, ja, einige landen dann im Männerheim. Lena, du und ich können nichts daran ändern.“

„Ich weiß, ich bin ja schon froh etwas zu helfen.“

Ihre Verbitterung war nicht zu überhören. Sie nahm nochmal das Schreiben zur Hand.

„Du wirst dich bei diesem Verleiher vorstellen müssen, sonst wird dir dein Arbeitslosengeld gestrichen. Die sind sofort bei der Hand, wenn es um Einsparungen geht.“

Das Büro des Verleihers war äußerst modern, Karl wunderte sich, wie die Herrschaften residierten. Eine junge Frau, im eleganten Outfit, nahm ihm sein Schreiben ab, ließ ihn einen langen Fragebogen ausfüllen und führte ihn in ein Büro. Er war der einzige Besucher und trotzdem sollte er noch warten. Das gehört wohl dazu, dachte er. Endlich brachte die Dame ihn in einen Raum. Hinter einem metallenen, modernen Schreibtisch saß ein Mann, dunkler Anzug, Krawatte und Lackschuhe. Der Typ hat mein Alter dachte Karl und schaute ihn leicht amüsiert näher an. Der sah auf den Fragebogen und meinte: „Wo haben Sie die letzten zwei Jahre gearbeitet?“

„Im Knast“, sagte Karl und wartete gespannt auf die Reaktion des Mannes.

Der schaute kurz auf, machte einige Notizen auf dem Fragebogen und sagte: „Ich suche eine kräftige Hilfskraft für eine Maschinenfabrik. Sie haben eine kaufmännische Ausbildung und Büroarbeit gemacht, ist das richtig?“

Er wartete die Antwort nicht ab und meinte: „Was Sie verbrochen haben interessiert mich nicht. Ich erwarte Pünktlichkeit und Fleiß. Haben Sie einen Führerschein, ein Auto?“

„Fahrerlaubnis ja, Auto kann ich mir nicht leisten.“

„Was nicht ist, kann ja noch werden.“

Er stand auf, gab Karl die Hand.

„Morgen früh um sechs Uhr sind Sie am Arbeitsplatz. Sie bekommen eine Karte für den Meister im Betrieb. Ein Herr Herms wird Sie einweisen. Sie arbeiten als Schleifer an großen Metallteilen. Über Ihren Lohn haben wir ja gesprochen. Es steht alles in Ihrem Arbeitsvertrag, den Sie in einem Exemplar für uns unterschreiben. Das andere ist für Sie. Frau Lins, unsere Sekretärin, wird Ihnen alles erklären und das Nötige aushändigen.“

Tatsächlich war über den Stundenlohn nicht gesprochen worden. Es war ein sehr bescheidener Betrag, von dem unter dem Strich nicht viel übrig blieb. Er war offensichtlich über den Tisch gezogen worden und hatte es erst bemerkt, nachdem er unterschrieben hatte.

„Sie brauchen einen Blaumann, feste Arbeitsschuhe und passende Handschuhe“, sagte die Bürolady, gab ihm den Vertrag, einen Zettel mit den Personalien und Verwendungszweck.

Vor dem Büro saßen noch Männer, die ihre Fragebögen ausfüllten. Vom kaufmännischen Angestellten zum schlecht bezahlten Hilfsarbeiter, welch ein Absturz, dachte Karl verbittert, als er mit der Straßenbahn zu Lena fuhr.

Er schaute auf die Uhr und vergewisserte sich, dass sie zu Hause sein müsste. Er hatte keinen Schlüssel, sollte aber einen bekommen. Prima, sie war da und machte gerade Abendbrot. Sie begrüßte ihn in ihrer fröhlichen Art. Karl ging ins Wohnzimmer und las im Arbeitsvertrag endlich das Kleingedruckte. Was ihn gleich erboste war die Klausel, in der angedroht wurde, dass bei Fehlverhalten des Vertragspartners eine Geldstrafe bis zu einer Höhe von vierzehn Arbeitstagen einbehalten wurde. Was sind das nur für Schweine, dachte Karl und das sagte er auch. Lena deckte den Tisch und sah neugierig auf Karl und den Arbeitsvertrag.

„Lass uns erst essen, dann reden wir darüber.“

Karl schaute böse.

„Ich habe keinen Hunger mehr, ich fühle mich beschissen. Ich muss Geld verdienen, es muss doch einen vernünftigen Anfang geben. Warum wird mir alles so schwer gemacht? Allein das Berufsverbot, es ist ein Berufsverbot, wenn man ein polizeiliches Führungszeugnis braucht, um als Kaufmann zu arbeiten. Soll ich als Hilfsarbeiter durchs Leben gehen?“

Er sah hilfesuchend zu Lena, bis er ihre warme Hand spürte und sich etwas beruhigte.

„Komm, iss etwas, lass uns gleich beraten, was wir machen können. Du brauchst Arbeitsklamotten. Wir fahren ins Büro und ich werde sehen, ob ich im Lager fündig werde.“

Sie fuhren zu Lenas Arbeitsplatz. Im Büro war niemand. Lena hatte alle Schlüssel und im Keller war einiges, was nach Arbeitskleidung aussah. Nur Arbeitsschuhe gab es nicht, es mussten Winterschuhe herhalten. Wieder draußen wurden Sie von einem heftigen Regenguss überrascht. Es waren die ersten Zeichen des Herbstes, der Sommer verschwand bis zum nächsten Jahr.

Karl musste früh raus, um pünktlich zur Arbeit zu kommen. Bepackt mit seinen Sachen und Broten musste er nach längerer Straßenbahnfahrt noch ein gutes Stück zu Fuß gehen. Das stank ihm schon. Es war sein erster Arbeitstag in einer Fabrik, ein seltsames Gefühl. Es gab zwei große Produktionshallen und ein modernes Verwaltungsgebäude aus Metall und Glas. Es wurden Rohre für Großprojekte gefertigt. Sie stapelten sich in allen Längen und Durchmessern. Der Pförtner, nahm Karls Zettel, setzte einen Stempel mit Uhrzeit und gab ihn zurück.

„Siehst du die rote Tür an der Halle?“, er zeigte in die Richtung. „Da gehst du rein, zeigst dem Meister Weißbrot den Zettel, der weist dich ein. Er ist der große Mann im grauen Kittel und weißem Helm.“

Karl ging zur roten Tür, ein ohrenbetäubender Lärm und der Geruch von Rost schlug ihm entgegen. Große Kräne transportierten gestapelte Rohre an massiven Haken über die Köpfe der Arbeiter. Ein Glaskasten mit steiler Treppe war die Meisterbude. Karl sah einen Mann mit weißem Helm am Schreibtisch. Wenn er den Kopf hob, konnte er die gesamte Halle überblicken. Der Meister nahm ihn abschätzend in Augenschein.

„Was haben Sie früher gemacht?“, fragte er gelangweilt.

Bevor Karl antworten konnte, meinte er: „Ach lassen wir das. Sie haben einen Tag, um sich zurecht zu finden. Wenn Sie morgen noch da sind, erwarte ich volle Leistung. Er nahm den Zettel, bestätigte, dass Karl bei ihm angekommen war.

„Sie sind der sechste, die anderen haben nur einen Tag ausgehalten, dann das Handtuch geschmissen. Bin gespannt, wie lange es bei Ihnen dauert.“

Er stand auf.

„Ich zeige Ihnen den Umkleide- und den Pausenraum, dann Ihren Arbeitsplatz.“

Die Räume waren ausreichend. Es dauerte bis Karl all das erhielt was er brauchte, um mit der Arbeit anzufangen. Eine Schutzbrille und einen Seitenschleifer, um abstehende Grate zu entfernen. Die ungewohnte Arbeit war schwer. Der Lärm, der Metallstaub und der Rost waren alles andere, nur nicht gesund. Den Lärmschutz und die Staubmaske musste er sich selbst besorgen. Die betriebseigenen Leute hatten alle Schutzhelme, die Leiharbeiter liefen in Räuberzivil. Sie machten die Drecksarbeit und das bei mieser Bezahlung. Das war der Leitung und dem Meister völlig egal. Das war moderne Sklaverei.

Nach zirka einer Stunde tippte ihm jemand von hinten auf die Schulter. Vor ihm stand ein drahtiges Kerlchen im Blaumann und roter Mütze.

„Ich bin der Vormann der Leiharbeiter und kümmere mich um eure Belange.“

Karl gab ihm die Hand und meinte: „Wer hat dich als Vorarbeiter eingesetzt?“

„Das hat der Weißbrot veranlasst, eigentlich sorge ich für den Unfallschutz und habe dir Handschuhe und Mundschutz mitgebracht.“

Er gab Karl die Sachen.

„Wie viele Fremdarbeiter gibt es hier?“

Das Wort Fremdarbeiter wurde von Karl extra betont.

„Na, so etwa 25, von mehreren Verleihern. Ich muss an die Arbeit, ich bin Hugo Randschein, wenn was ist, ich arbeite hinter dir.“

Karl dachte, der Weißbrot wird sicher die Männer aushorchen. Seine Vermutung wurde schon bald bestätigt. Die ersten Tage waren die Schlimmsten. Zu Hause beklagte er sich bitter bei Lena, die am wenigsten dafür konnte. Sie behandelte ihn schon wie ein rohes Ei, sprach ihm gut zu und verteilte Streicheleinheiten.

14 Tage später, kurz vor Feierabend, gab es in Karls Nähe eine laute Auseinandersetzung. Ein Mitarbeiter, auch von Karls Verleihfirma, hatte sich bei Weißbrot beschwert, weil ihm für sechs Minuten Verspätung 30 Minuten von der Arbeitszeit abgezogen worden waren. Das war natürlich unverhältnismäßig viel. Der gute Randschein stand dabei und unterstützte den Meister. Seine Aufgabe wäre, vermittelnd einzugreifen. Doch Weißbrot machte Nägel mit Köpfen und setzte den Mitarbeiter vor die Tür. Er mochte ihn wohl auch nicht. Für Karl war klar, der Randschein war eine schlappe Titte, sonst nichts. Letztlich war er der typische Arschkriecher.

Der tägliche Lärm, die Dunstwolke die nicht abzog, der Flugrost in Ohren, Nase, Zähnen und in den Haaren, nach acht Stunden hatte Karl die Schnauze voll. Auch noch als billiger Leiharbeiter beschimpft zu werden, brachte das Fass zum überlaufen. Er wusste zwar, der Tritt nach unten gehört zum System. Wo es nichts mehr zu treten gibt, ist das Ende der Ausbeutung erreicht. Zu Hause musste Lena sich den Ärger anhören. Er hatte ja Recht, aber was wollte er dagegen tun? Karl, der diese Arbeitswelt nicht kannte, war empört über das, was er täglich erlebte. In einer Pause nahm er sich den Hugo zur Brust. Der ahnte schon, was Karl von ihm wollte und war schon auf Vorwürfe eingestellt.

„Ich habe beobachtet und gehört, wie du den Kollegen bei Weißbrot in die Pfanne gehauen hast, warum?“

„Was hast du gehört? Nichts hast du gehört!“

„Bist du für uns oder bist du Weißbrots Marionette?“

„Ich tue, was ich kann.“

Karl ließ sich nicht beruhigen und Hugo versuchte den Rückzug.

„Erzähl mir nichts, du bist und bleibst ein großer Scheißkerl und ich werde dafür sorgen, dass du deinen Posten verlierst.“

Wie er das machen wollte wusste er nicht, aber die Drohung stand erst mal im Raum. Karl glaubte die Auseinandersetzung war nötig, jetzt hatte er natürlich einen sehr schweren Stand in der Firma. Hugo ging ihm aus dem Weg aber Karl war sich sicher, dass er ihn bei Weißbrot schlecht machen würde. Aber die Dinge nahmen einen völlig anderen Verlauf, so dass ein Randschein für Karl keine Rolle mehr spielte.

Er wollte seinen vereinbarten Abschlag holen. Im Büro hatten sich wohl an die zwanzig Kollegen eingefunden. Sie wollten ihr Geld und es herrschte große Aufregung. In einem der Büros sah man durch die Glasscheibe gestapelte Umzugskisten und es war klar, dass die Vögel ausflogen. Die Lady hatte sich hinter den Kisten versteckt und den Raum abgeschlossen. Im anderen Büro saß der Boss im edlen Zwirn und Lackschuhen. Einige der Männer bedrängten ihn, doch er saß lässig in seinem Bürostuhl.

„Ich bin pleite. Wenn Sie Forderungen haben, wenden Sie sich an den Konkursverwalter.“

Das wiederholte er zigmal. Karl war klar, er konnte sein hart verdientes Geld abschreiben. Eine unbändige Wut erfasste ihn. Er suchte sich einen Weg durch die Menge. Am Schreibtisch fegte er alles mit einer Hand weg, was so auf einem Schreibtisch liegt, auch das bunte Telefon. Der elegante Scheißer war aufgesprungen, doch Karl packte ihn an der Krawatte und zog ihn über den Tisch. Mit der anderen Hand hatte er blitzschnell seine Haare erwischt und schlug seinen Kopf mehrmals auf den Schreibtisch. So lange, bis ein älterer Mann ihn energisch davon abhielt. Der Betroffene hatte sich mit Sicherheit die Nase gebrochen und eine stark blutende Platzwunde auf der Stirn. Sein schicker Anzug und das Hemd, alles war blutig. Auch Karl kam wieder zu sich und das war gut so.

„Man sollte dich erschlagen, du Schwein“, sagte Karl.

Er sah sich um und schaute in ängstlich betretene Gesichter und rief laut über die Köpfe: „Hat jemand gesehen wer das war? Ich habe nichts bemerkt.“

Er nahm seine Tasche, die er bald vergessen hätte und verschwand. Das war auch höchste Zeit. Vor dem Bürohaus kam schon die Polizei und zwei Beamte stürmten die Treppe herauf. Karl stand in einem Stehcafé und beobachtete den Eingang. Langsam kam er wieder runter, sodass er die letzten zwanzig Minuten rekapitulieren konnte. Er machte sich über seinen unkontrollierten Wutausbruch Gedanken. Wie oft hatte er sich wegen seines Jähzorns schon Ärger eingehandelt. Die Mutter glaubte, es wäre der Erbteil seines Vaters, was natürlich keine Entschuldigung war.

Über vierzehn Tage hatte er umsonst gearbeitet, hatte Lärm, Dreck und Anfeindungen ertragen, um dann mit leeren Händen da zu stehen. Dieser Verleiher hatte monatelang abkassiert, keine Sozialbeiträge abgeführt, das Geld gebunkert und dann Konkurs angemeldet. Wie oft hatte er das wohl schon praktiziert und wie oft würde er das weiter machen, unter dem Namen seiner Frau, seiner Freundin oder eines unbescholtenen Partners? Diese Leute hatten schlicht und einfach eine hohe kriminelle Energie. Die Sklaven hatten umsonst gearbeitet und standen wieder auf der Straße, durften sich wieder in die Schlange der Arbeitslosen einreihen, um wieder an einen Verleiher vermittelt zu werden. Karl hielt nichts von diesen Leuten, wie auch, bei der schlechten Erfahrung. Die Sachbearbeiter hatten keine Ahnung von der Realität, sie richteten sich nach Verordnungen und Gesetzen. Karl war entschlossen, auf die Hilfe des Amtes zu verzichten.

Er ging zu Fuß nach Hause. Er musste Lena seine desolate Situation klar machen. Keine Arbeit, kein Geld und womöglich die Kripo im Nacken. Im Bullenkloster war er zwar noch gemeldet, es war nur eine Frage der Zeit, bis die Herren vor Lenas Tür standen. Lena besaß kein Telefon, er konnte sie nicht auf seine beschissene Lage vorbereiten. Wie sollte das nur weitergehen und klingelte an der Tür. Er hatte ein beklemmendes Gefühl als er Lena an der Tür sah. Sie war bleich. Mit gequältem Lächeln ließ sie ihn herein.

„Du hast Besuch“, sagte sie und schon packte ihn ein Kripomann. Er drängte ihn mit dem Gesicht zur Wand und legte Karl Handschellen an. Zwei weitere Kollegen nahmen ihn in die Mitte, zerrten ihn aus der Wohnung in den Hausflur, dann schoben sie ihn die Treppe herunter. Karl hatte keine Gelegenheit, etwas gegen die Griffe der Bullen zu tun. Obwohl alles sehr schnell ging, gab es genügend Zaungäste, die gaffend im Treppenhaus und vor dem Wohnblock standen und diskutierten. Mit Lena konnte er nicht mehr reden, was hätte er zwischen Tür und Angel auch sagen sollen. Er war in eine simple Polizeifalle getappt. Das ärgerte ihn am meisten. Er spürte eine heftige Wut auf die Polizei und abgrundtiefen Hass auf die Staatsgewalt. In ein Auto gepfercht wurde er ins Polizeipräsidium gekarrt. Die Handschellen wurden ihm abgenommen und gleich drei Vernehmer wollten von ihm Dinge hören, von denen er angeblich nichts wusste. Natürlich war ihm klar, was gemeint war und natürlich wollten sie Einzelheiten erfahren. Karl verweigerte die Aussage. Die Frage war, was wusste die Polizei?

„Wir haben Sie vorläufig festgenommen, weil Sie uns als gewalttätig gemeldet wurden“, sagte der Ältere, der auch die Vernehmung führte.

„Wir ermitteln gegen dich wegen Hausfriedensbruch und schwerer Körperverletzung“, sagte ein Zweiter, der am Fenster stand und in seinen Zähnen stocherte.

„Wir haben Zeugen, die den Tathergang genau beschreiben können. An deiner Stelle würde ich reinen Tisch machen und hoffen, dass der Richter milde gestimmt ist.“

Alles heiße Luft, was der Bulle da verzapft, dachte Karl und schlug lässig die Beine übereinander.

„Ich weiß nicht, wovon Sie reden“, sagte Karl und schaute sich interessiert im Raum um.

Der dritte Polizist, der noch nichts gesagt hatte, kam Karl ganz nah, beugte sich zu ihm runter und sagte: „Wir haben noch eine alte Rechnung zu begleichen. Wir denken da an den jungen Kameraden Hans Meiering, den du zum Krüppel geschlagen hast.“

Karl merkte, es wurde eng für ihn, denn was hier ablaufen sollte, war kein normales Verhör. Er hatte Angst, in einer Zelle geschlagen zu werden. Was dort ablief hörte und sah man nicht und wenn doch, hätte es wohl seine Richtigkeit. Karl galt als einer, der schnell zuschlägt. Niemand wollte den Grund für sein Verhalten wissen. Die Polizei musste sich natürlich vor solch brutalen Schlägern schützen und reagierte entsprechend. Es gab immer eine Möglichkeit, den Frust in Form von blauen Augen und Blutergüssen abzureagieren, die nicht lebensbedrohlich waren, aber sehr wehtaten. Natürlich kam das selten vor, aber hin und wieder war es wohl so. Gegen Polizei und Vollzugsbeamte juristisch vor zu gehen war nicht einfach und hatte selten Erfolg. Karl sagte: „Von mir bekommen Sie nur meine Personalien und sonst nichts. Ich habe ein Recht, die Aussage zu verweigern.“

„Schön, schön, das Recht haben Sie“, sagte der Ältere und versuchte vergeblich sein Hemd in die Hose zu stopfen, aber seine Wampe war ihm im Weg.

„Wie kommen Sie dazu, mich dauernd zu duzen?“, fragte er den Kripomann, der immer noch am Fenster hing und sich langweilte.

„Du bist für uns ein kleiner gewalttätiger Dummkopf und sonst nichts.“

„Und du bist für mich ein beschissener Bulle, der den Arsch auf hat.“

Der Mann am Fenster kam auf Karl zu und er hätte zugeschlagen, wenn es nicht an der Tür geklopft hätte. Lena und ein älterer, korpulenter Mann betraten den Raum. Von seinem Äußeren machte er den Eindruck eines freundlichen, gut gelaunten Onkels. Der Mann stellte sich vor: „Ich bin Rechtsanwalt Müller und vertrete Herrn Hent. Meine Begleiterin ist die Verlobte von ihm.“

Karl dachte, was ist sie doch für ein Pfundskerl, wo hat sie nur so schnell den Rechtsanwalt her? Das er ihr Verlobter war, dagegen hatte er nichts. Karl unterschrieb sofort eine Vollmacht für den Müller. Die Polizisten hatten noch nichts gesagt, aber ihre Gesichter erinnerten an Leute, die bei einer Dummheit gestört wurden.

„Wir kennen uns doch“, meinte der ältere Beamte.

„Sie haben vor drei Jahren den Fall Schneider verteidigt und verloren, liege ich da richtig?“

„Sie liegen richtig“, sagte Müller, „nach der Beweislage hätte man Sie und einige Ihrer Kollegen einsperren sollen“ und fragend ironisch ergänzte er: „liege ich da richtig? Sie haben es geschafft den Staatsanwalt für sich einzunehmen. Der Richter, ein alter Mann, hat Ihnen geglaubt. Heute bin ich gekommen, um Herrn Hent aus Ihren Klauen zu befreien.“

Der Beamte, der Karl fast geschlagen hätte, sagte: „Ihr Verhalten und Ihre Beschuldigung ist für uns eine einzige Zumutung, Sie sollten sich zurückhalten, Herr Rechtsanwalt Müller.“

Das Wort Rechtsanwalt betonte er in einer Weise, die den Menschen Müller in Frage stellte. Karl verfolgte alles amüsiert, hoffte aber hier bald raus zu kommen. Lena saß neben Karl auf einem Stuhl.

„Ich kenne Herrn Müller als Pflichtverteidiger für Menschen, die wegen kleiner Delikte vor den Strafrichter sollen. Nun Karl, was ist los? Du bist mir wohl eine Erklärung schuldig.“

„Ich hatte doch gar keine Zeit mit dir zu reden, du weißt doch selbst, was die Bullen in deiner Wohnung mit mir abgezogen haben.“

Etwas leiser, zu ihr gebeugt: „Ich habe Scheiße gebaut, das muss ich dir leider beichten.“

Müller war sich sicher, dieser Franz Teefen, der Leiter des Kommissariats, hatte mal wieder die Sau raus gelassen und ohne ausreichende Gründe den Karl Hent nach Stasi Manier festgenommen. Es lag wohl eine Strafanzeige wegen Körperverletzung vor, aber dieser Einsatz war völlig überzogen. Müller dachte, irgendwann finde ich Beweise gegen diese Type, dann darf er, wenn er Glück hat, wieder Streifendienst schieben.

„Herr Teefen, haben Sie stichhaltige Beweise gegen meinen Mandanten, die eine längere Festnahme rechtfertigen?“

„Wir haben die Anzeige und jede Menge Zeugen, glaubwürdige Zeugen.“

„Haben Sie Vernehmungsprotokolle der Zeugen? Haben Sie am Tatort genaue Untersuchungen gemacht?“

„Wir sind dabei“, sagte Teefen. „Kollegen der Spurensicherung haben ihre Arbeit aufgenommen.“

Er spürte, dass er diese Runde verlieren würde, dafür war dieser alte Fuchs von Rechtsanwalt viel zu schlau.

„Mit diesen dürftigen Fakten werden Sie keinen Haftbefehl bekommen. Sie können Herrn Hent nicht länger festhalten und das wissen Sie auch. Für Vernehmungen steht Herr Hent jederzeit zur Verfügung, nicht wahr Herr Hent?“

„Natürlich“, sagte Karl und war sicher, mit Lena nach Hause gehen zu können.

Müller hatte sich mächtig ins Zeug gelegt. Er löste den oberen Knopf seines Hemdes, um sich etwas zu erleichtern, nahm seine Aktentasche und wartete, bis Karl seine Sachen bekam, Geldbörse, Zigaretten und den neuen Personalausweis. Als sie auf der Straße standen, überlegte RA Müller einen Augenblick und sagte: „Ich lade Sie zum Kaffee ein, ich kenne ein nettes, kleines Bistro.“

Sie saßen an einem Fensterplatz mit Blick auf die lebhafte Fußgängerzone. Die Einladung hatte natürlich einen Grund. Müller wollte diesen Karl Hent näher kennen lernen, ihm behutsam auf den Zahn fühlen. Im Übrigen fühlte er sich in väterlicher Art der Lena Don verpflichtet. Er kannte ihre mühevolle Arbeit mit den Armen dieser Stadt. Er bat Karl, ihm doch die Hintergründe ehrlich zu schildern, so wie es wirklich war. Karl wollte ihm nichts verschweigen, er hoffte Verständnis für seine Tat zu finden. Müller hörte sich alles in Ruhe an, ohne Karl zu unterbrechen. Nachdem alles gesagt war, gab es eine längere Pause. Müller lehnte sich zurück und sagte: „Sie haben zwei Möglichkeiten: Sie bekommen eine Vorladung, werden zur Straftat vernommen und als Wiederholungstäter verurteilt. Auch wenn die Gründe verständlich sind, bei schwerer Körperverletzung wird die Strafe nicht milde ausfallen. Oder Sie tauchen ab, mit der Folge, dass Sie zur Fahndung ausgeschrieben werden und über kurz oder lang der Polizei ins Netz gehen. Sollten Sie es schaffen sich ins Ausland abzusetzen, bis zum Ablauf der Verjährungsfrist dort überleben, könnten Sie als freier Mann zurückkommen. Aber es dürfte nicht einfach werden.“

Müller bot Karl eine Zigarette an, er selbst wollte mit dem Rauchen aufhören. Karl hatte sich alles angehört, zog mit Genuss an der Zigarette und ließ den Rauch tief durch die Lunge ziehen. Der Mann hat ja Recht dachte er. Er wollte den weiteren Weg mit Lena besprechen. Für RA Müller war der Fall Hent vorerst erledigt. Die Zukunft dieses jungen Mannes sah nicht rosig aus. Er ging davon aus, dass Hent untertauchen würde. Er hatte oft versucht junge Menschen vor langen Haftstrafen zu bewahren. Im Fall Hent stand die Karre voll im Dreck. Sein Jähzorn, der ihn immer wieder beherrschte und meist mit brutalen Schlägen endete, würde ihn noch in manche Schwierigkeit bringen.

Müller erhob sich, nahm seine Aktentasche, verabschiedete sich und ging. Lena und Karl gingen zu Fuß nach Hause. Ein kalter Ostwind kündete den Winter an und beide freuten sich auf die warme Wohnung. Wie sollte es nur weitergehen, was würde aus ihrer Beziehung, wenn Karl untertauchen musste? Lena wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie war böse auf Karl, aber es tat weh, die Verbindung einfach wegzuwerfen. Sie konnte verstehen, dass Karl dem Lumpen von Arbeitsverleiher eine verpasst hatte, aber ihn gleich halb tot zu schlagen, dann noch vor Zeugen, was für eine verfahrene Situation, eine ausgemachte Scheiße.

„Hör zu, wenn du untertauchen willst, brauchst du Geld und auch einen gut gefälschten Reisepass.“

Karl meinte: „Das hört sich an, als wäre es ein Kinderspiel.“

„Lass mich mal machen, es ist ein Versuch, aber es könnte klappen.“

Die nächsten Tage verbrachte er in der Wohnung. Er hatte Zeit, über seine Lage nachzudenken. Kein Geld, keine Arbeit und die Polizei saß ihm im Nacken. Das gefiel ihm gar nicht. Es war zum Verzweifeln. Seit Wochen lebte er von Lenas Geld und das war auch nicht viel. War das eine Grundlage für eine feste dauerhafte Beziehung? Wohl kaum.

Lena war unterwegs, einen falschen Pass für Karl zu besorgen. Sie betrat das jugoslawische Restaurant, bestellte sich einen Kaffee und wollte den Inhaber sprechen. Es dauerte nicht lange und der Geschäftsführer, ein schlanker Mann mit Hakennase, dunklem Haar, kam zum Tisch, um nach den Grund zu fragen.

„Herr Salowitsch ist nicht im Hause, kann ich Ihnen helfen?“

„Ich kann mein Problem nur mit Herrn Salowitsch besprechen. Es ist nett, dass Sie mir helfen wollen. Ich komme heute Abend wieder. Sagen Sie Herrn Salowitsch, Lena Don möchte Ihn sprechen.“

„Ich werde das ausrichten“, sagte der Geschäftsführer.

Er fühlte sich etwas brüskiert. Lena ging. Sie merkte, ihre Welt war nicht mehr in Ordnung, etwas Bedrohliches hatte sich zwischen Karl und ihrem Leben geschoben. Wie sollte es weitergehen? In ihrem eigenen Interesse musste sie diese Beziehung aufgeben. Als sie nach Hause kam, saß er wie immer vor der Glotze.

„Ich muss ernsthaft mit dir reden. Diese Untätigkeit, dieses Herumsitzen, geht mir auf den Keks. Ich weiß, du kannst es momentan nicht ändern, es sei denn, du bist bereit für dein Verhalten Verantwortung zu übernehmen.“

Karl wurde böse. Er begriff nicht, dass er sich selbst in diese scheußliche Lage gebracht hatte.

„Als dieser geschniegelte Fatzke seine Leute mit warmen Worten abgespeist hat, ist mir die Sicherung durchgebrannt.“

„Ja, ja, die Sicherung ist dir durchgebrannt, du musst natürlich für Alle die Vergeltung üben. Glaubst du denn, dass auch nur einer für dich aussagen wird? Glaubst du das wirklich?“

Lena hatte sich in Rage geredet, sie konnte Karl nicht mehr ertragen, in seiner Uneinsichtigkeit und Lethargie.

„Ich muss noch einmal wegen deines Passes in die Stadt. Du weißt, ich mache mich strafbar. Es ist das letzte Mal, dass ich dir helfe.“

Karl begriff ihren plötzlichen Stimmungsumschwung nicht. Er hoffte, dass es nur ein momentaner Tiefpunkt wäre. Sie ging in den Flur, zog Mantel, Mütze und Handschuhe an und verließ wortlos die Wohnung. Karl trat auf den Balkon und sah gerade noch, wie sie die Straßenbahn bestieg. Er war doch so froh, sie zu haben. Sie hatte ihn in den letzten Wochen immer wieder aufgebaut in ihrer netten Art. Er hingegen hatte den Bogen überspannt, in der vermeintlichen Gewissheit, dass sie für alles Verständnis hat.

Es regnete, Karl saß in der Couchecke und machte kein Licht. Er beobachtete, wie der Tag langsam der Dunkelheit wich. Das Kindergeschrei hatte aufgehört, die Spielplätze waren leer, fast alle Fenster des Wohnblocks waren erhellt.

Lena wurde, als sie das Lokal betrat, sogleich vom Besitzer in Empfang genommen, der sie in den Büroraum führte und erwartungsvoll nach dem Grund ihres Besuches fragte. Herr Salowitsch, ein rundlicher Herr mit Glatze und Schnurrbart, wartete wohlwollend, was Lena von ihm wollte.

„Herr Salowitsch, ich habe ein großes Problem, das heißt, mein Freund ist in Schwierigkeiten.“

Sie erzählte dem Mann die ganze Geschichte. An seinem Gesicht konnte sie sehen, dass er ihren Wunsch gar nicht gut fand.

„Lena, warum glauben Sie, dass ich Ihnen helfen kann? Ich habe doch keine Fälscherwerkstatt im Keller und ich finde Ihr Anliegen an mich schon sehr befremdlich.“

Es entstand eine längere Pause.

„Durch Ihre uneigennützige Hilfe bei meiner todkranken Frau werde ich versuchen, alte Seilschaften neu zu mobilisieren.“

Er nahm ihre Hand und sagte im väterlichen Ton: „Trennen Sie sich von dem Mann, er wird, nachdem, was Sie mir erzählt haben, durch seine aggressive Art immer wieder Probleme bekommen.“

„Sie haben ja Recht, Sie wissen doch, nicht immer entscheidet der Verstand.“

Sie sprachen noch über allgemeine Dinge. Sie wollte gerade gehen, als ihm einfiel, dass er noch zwei Passbilder haben müsste.

„Warum zwei?“, fragte sie.

„Es könnte sein, dass ein Bild unbrauchbar wird und man dann noch ein zweites hat.“

„Natürlich, ich verstehe und was kostet das Dokument?“

„Machen Sie sich darüber keine Gedanken, das geht schon in Ordnung.“

Als sie auf der Straße war. ging ihr das Gespräch mit Salowitsch nicht aus dem Kopf. Warum sie gerade ihn um Hilfe bat konnte sie nicht sagen. Immerhin verlangte sie etwas, womit sich der Betreffende strafbar machte. Es war wohl der Dank für die Pflege an seiner schwerkranken Frau.

Der Regen war in Schnee übergegangen und der Heimweg durch die Stadt war kein Vergnügen. Sie kam an ihrem Arbeitsplatz vorbei und sah ihren Chef am Schreibtisch sitzen. Erst wollte sie kurz reingehen, doch dann nahm sie den Weg nach Hause. Die Geschäfte hatten geschlossen, die Fußgängerzone war tot, nur in den Kneipen brannte noch Licht. Mit Wehmut dachte sie an die schönen Sommertage, die sie mit Karl verbracht hatte. Kurz vor der Haustür fing es wieder an zu regnen. Nass bis auf die Haut schellte sie, weil sie den Schlüssel in der nassen Tasche nicht fand. Karl war eingeschlafen und es dauerte eine Weile, bis er aufmachte.

„Wird ja mal Zeit, ich hatte keinen Schirm und bin völlig durchnässt. Mach mir bitte ein warmes Bad fertig“, sagte sie und zog die nassen Kleider aus.

Sie verschloss das Bad, um zu zeigen, dass sie allein sein wollte. Karl setzte sich vor den Fernseher, rauchte eine Zigarette und sah die Nachrichten. Lena kam aus dem Bad in einem Bademantel gehüllt und machte den Fernseher aus. Sie setzte sich zu Karl auf die Couch und sagte: „Ich habe mit Salowitsch gesprochen.“

„Wer ist Salowitsch?“, fragte Karl.

„Er ist der Inhaber des Restaurants, den ich dir vorgestellt habe. Dieser Mann besorgt dir einen Pass, um mir einen Gefallen zu tun. Es war furchtbar peinlich, ihn darum zu bitten. Sein Gefühl der Dankbarkeit war der Grund, der ihn veranlasste, mir zu helfen.“

Sie sagte das mit Bitterkeit in der Stimme. Karl spürte, es war etwas zu Bruch gegangen. In seiner Hilflosigkeit sagte er nichts.

„Du solltest dich den Behörden stellen und Verantwortung zeigen.“

„Sicher und ab ins Gefängnis gehen“, ergänzte Karl und blickte böse vor sich hin.

„Sicherlich ist das eine bittere Pille, aber mit einer falschen Identität hast du keine Zukunft.“

„Komm mir doch nicht mit der Tour des reuigen Sünders. Unsere Gesellschaft hat einen faulen Kern und ich möchte nicht wissen, wer alles seine Mitmenschen ausplündert, Verbrechen begeht und straffrei davon kommt.“

„Es sind mehr, als wir uns vorstellen können und du gehörst auch dazu, weil du glaubst, Selbstjustiz üben zu dürfen.“

Sie deutete mit der Hand in Richtung Bücherecke: „Dort stehen einige Werke, die sich mit der positiven Veränderung der Gesellschaft befassen. Alles Theorie, die, die es in der Praxis versuchen, scheitern auf der ganzen Linie. Blut und Tränen sind über Jahrhunderte der Preis für eine bessere Welt.“

Es kam zu einer längeren Pause.

„Morgen muss ich zwei Passbilder haben und dem Salowitsch bringen.“

Sie wollten schlafen gehen, doch als Karl aus dem Bad kam, lag sein Schlafsack vor der Couch. Es war bitter, dieses kompromisslose Ende. Es tat ihm weh, mit seinem geschnürten Bündel wieder auf der Straße zu stehen. Was seine Zukunft anging, hatte Lena leider Recht. Auf ihn warteten wenigstens drei bis vier Jahre Gefängnis und das wollte er nicht. Ob er es schaffen würde sich bis zur Verjährung im Ausland aufzuhalten? Wer konnte das voraussehen? Karl ließ sich am nächsten Tag zwei Passbilder machen. Lena war zur Arbeit und Karl langweilte sich vor der Glotze. Für einen Spaziergang war das Wetter zu schlecht und für ein Buch fand er nicht die nötige Ruhe.

Dann fiel ihm ein, nach der Ruhestätte von Otto zu fragen. Er dachte, dass das Krankenhaus ihm sicher helfen könnte. Lena besaß kein Telefon, er musste in eine öffentliche Zelle und erfuhr, dass Otto auf dem Hauptfriedhof begraben war, die Nummer des Grabes müsste der Verwaltung bekannt sein. Karl fand das Grab und ein Holzkreuz mit Ottos Namen, sowie einen verwelkten Blumenstrauß. Es war wohl eine sehr einfache Beerdigung gewesen. Nun ja, das Sozialamt hatte gesetzliche Vorgaben. Er hätte gern gesehen, wie so eine Beerdigung ablief. Vier Sargträger und ein Himmelskomiker? Vermutlich ja, Bruder, das war´s und ich hoffe, der Billigsarg verschafft dir ein bequemes liegen. Ich habe dich ja kaum gekannt, aber als Mensch warst du mir lieb und recht. Eine Rose, die er von einem anderen Grab genommen hatte, legte er auf die nasse Erde. Mach´s gut Alter!

Bedrückt und traurig ging er nach Hause. Lena war schon da und machte Essen, das gab Karl das Gefühl, dass sich nichts geändert hätte. Er erzählte ihr seinen Tag und sie fand es gut, dass er das Grab von Otto besucht hatte. Sie aßen schweigend, bis Lena sagte: „Es ist ein Brief für dich da.“

Sie reichte ihm Karl.

„Es ist ein behördliches Schreiben.“

Karl öffnete das Kuvert, es war eine Vorladung der Kriminalpolizei zur Vernehmung. Er legte den Brief zur Seite und aß weiter.

Später setzte Lena sich zu ihm und sagte: „Wenn du dich vor Gericht verantworten würdest, würde ich zu dir halten und auf dich warten, danach könnten wir ja einen unbelasteten Neuanfang versuchen.“

Ihre Stimme klang warm und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

„Ich würde alles tun, um dir zu helfen, ich glaube, ich hab dich lieb. Aber einen brutalen Schläger, der von der Polizei gesucht wird, der passt nicht in mein Leben. Ich sehe täglich genug Elend und Menschen, die für jede Hilfe dankbar sind.“

Karl hatte geduldig zugehört, seine Entscheidung war längst gefallen. Er hielt sich zurück, er wollte keinen Streit. Lena merkte, ihre Argumente konnten Karl nicht umstimmen. Der Zug war abgefahren! Beide einigten sich, dass Karl, sobald er seinen Pass hätte, seiner Wege gehen sollte. Er musste fürchten, dass die Polizei sich bei Lena melden würde, um ihn festzunehmen, da er nicht zur Vernehmung erschienen war. Tage später wurde Lena angerufen; Salowitsch wollte sie sprechen. Nach der Arbeit ging sie zu ihm. Der Geschäftsführer mit der Hakennase kam auf sie zu und übergab ihr ein kleines Päckchen.

„Herr Salowitsch lässt sich entschuldigen und wünscht Ihnen alles Gute.“

Er drehte sich abrupt um und ließ Lena einfach stehen. Was die Hakennase wusste, konnte sie nur erahnen, aber das Verhalten dieses Mannes sagte alles. Dies war offensichtlich ein Rauswurf. Sie war böse auf Karl, sie war böse auf Salowitsch und sie war böse auf sich selbst. Es war bitterkalt und auf dem Nachhauseweg verflog diese hilflose Wut. Was blieb war der Entschluss, sich dieses Problems zu entledigen.

Karl saß wie immer vor der Glotze. Sie öffnete das Päckchen, in dem sich der nagelneue deutsche Reisepass mit Gültigkeit von zehn Jahren befand. Er war ausgestellt auf den Namen Klaus Blender und das Geburtsdatum entsprach in etwa Karls Alter.

„Du verlässt morgen früh mit mir die Wohnung.“

Sie sagte das mit einer Entschiedenheit, die keinen Widerspruch duldete.

„Die Wohnungsschlüssel bekomme ich jetzt.“

Karl gab ihr die Schlüssel und hätte er etwas mehr Geld gehabt, er hätte die Wohnung sofort verlassen. Sie saß auf der Couch und sah zu, wie Karl die Reisetasche packte. Es tat ihr leid, wie sie mit ihm umging, aber für sie gab es keinen anderen Weg.

Der nächste Morgen, es war noch dunkel, nass und kalt. Auf den Gehwegen lag grauer matschiger Schnee. Die Menschen kamen in kleinen Gruppen aus den Mietskasernen. Vermummt sammelten sie sich an den Busstationen, um in die Innenstadt zu kommen. Lena und Karl tranken jeder eine Tasse Kaffee ohne Frühstück. Beide waren darauf bedacht, bloß keine Gefühle zu zeigen. Die waren auch nicht mehr angebracht. Im Treppenhaus sah man sich kaum und in der Dunkelheit verlor man sich. An der Bushaltestelle suchten ihre Blicke Karl. Sie konnte ihn nicht finden, als sie im Bus saß, sah sie ihn auf dem Bürgersteig, seine schwarze Reisetasche umgehängt, in Richtung Stadt gehen. Was würde er wohl machen? Er hatte doch kaum Geld und die Polizei war auch hinter ihm her. Sie nahm sich vor, nicht mehr an ihn zu denken, ihre Arbeit half ihr dabei.

Karl ging zum Hauptbahnhof, seit je ein Ort der Kommunikation, des Treffens und Abschieds und auch ein Treffpunkt der Heimatlosen und Entwurzelten. Er hatte Hunger und aß ein belegtes Brötchen. Es war Betrieb. Die Einen flott und zielstrebig, die Anderen schlendernd mit viel Zeit. Was sollte er tun? Er stand mal wieder vor dem Nichts. Wo sollte er schlafen? Das Männerheim war ihm versperrt, das billigste Hotel konnte er sich nicht leisten und im Freien zu schlafen war eine Tortur, bei den Minusgraden. Er musste zu Geld kommen, aber wie? Ein Banküberfall? Vor Tagen hatte er schon mal daran gedacht aber den Gedanken gleich wieder verworfen. Er hatte moralische Bedenken. Von kriminellen Elementen hatte er sich, auch im Gefängnis, fern gehalten. Er hatte aus politischen Gründen gehandelt, so glaubte er. Einen Polizisten krankenhausreif zu schlagen, war das eine politische Tat? Seine Vorstellungen von Klassenkampf und Revolution waren in der Polizeizelle schnell verflogen und von seinen Mitkämpfern hatte es keine Unterstützung gegeben. Wer von denen vor Gericht stand, wusste er nicht. Er konnte doch nicht der Einzige sein, der sich zu verantworten hatte.

Was er jetzt plante war Raub, für den er keine moralische Legitimität hatte. Wenn er an das Männerheim dachte, waren seine Bedenken, was den Bankraub anging, schnell verflogen. Ihn packte auch eine gehörige Portion Angst, aber die Vorstellung, genügend Geld zu haben, war verlockend. Es war ein hin und her der Überlegungen. Er dachte an eine kleine Zweigstelle am Rand der Stadt. Unmittelbar in der Nähe befand sich ein großes Waldgebiet, in dem er untertauchen konnte. Würde der Überfall kurz vor Schalterschluss gemacht, hätte er den Vorteil der Dunkelheit. Eine Plastikpistole und ein Schal müssten ausreichen. Eine Verfolgung in den Wald war wenig erfolgreich für die Polizei. Hubschrauber mit Scheinwerfern im großen Waldgebiet bei Dunkelheit wenig aussichtsreich. Ein Großeinsatz vieler Beamten mit Hunden und Taschenlampen hatte in dem Feuchtgebiet kaum Erfolg. Ob die Filiale mit Kameras ausgerüstet war, wusste er nicht. Karl wusste aber, dass seit einiger Zeit Kameras zur Sicherheit am Schalter angebracht wurden. Karl hatte keine Wahl. Ohne Bett und ohne Körperpflege sah er nach Tagen aus, wie ein Penner. Das Ding musste noch heute über die Bühne gehen. Er blieb noch eine Weile am Bahnhof und verbrachte den Rest des Tages im Park. Im Spielwarenladen kaufte er sich eine echt aussehende schwarze Pistole. Um nicht aufzufallen noch andere Kleinigkeiten. Sein Geld reichte gerade noch, um mit dem Bus zur Bankfiliale zu fahren. Es war bereits dunkel und zur Bank musste er noch einige Minuten gehen. Alles war ruhig, ein kleiner Lebensmittelladen hatte bereits geschlossen. Hier draußen gingen die Menschen früher nach Hause. Als er auf der Höhe der Bank war, musste er eine Hauptstraße überqueren. Karl sah, dass sich kein Kunde in der Zweigstelle aufhielt. Er hatte eine Menge Angst, als er schnellen Schrittes zur Kasse ging. Ein Teil der Mitarbeiter hielt sich schon in den hinteren Räumen auf. In der Kasse stand eine junge Frau, die Karl, der sich mit dem Schal vermummt hatte, mit ängstlichem Blick und bleichem Gesicht anstarrte. Karl hielt ihr seine Plastikpistole vor und fummelte mit dem Ding vor der Kassiererin herum. Vor lauter Aufregung hatte er nichts gesagt während die junge Frau die losen Geldscheine auf den Tresen legte. Immer wenn sie innehielt, hob Karl die Pistole und zeigte drohend und unmissverständlich, dass er mehr haben wollte. Da er vor lauter Aufregung vergessen hatte eine Tüte mitzunehmen, stopfte er die Scheine in seine Mantel- und Hosentaschen. Tatsächlich hatte er keinen Platz, um das restliche Geld noch mitzunehmen. Da niemand etwas gesagt hatte und alles sehr schnell ging, hatte niemand den Überfall bemerkt. Als Karl sich umdrehte und zum Ausgang lief, fing die Kassiererin laut an zu schreien. Das war alles, was er noch mitbekam. Er rannte über die Straße, über einen Feldweg und verschwand im Wald. Hier, im Schutz der Dunkelheit, blieb er einen Augenblick stehen, um das Geld so in den Hosen, Jacke und Manteltaschen unterzubringen, dass er es nicht verlor. Wie konnte ich Trottel bloß so dämlich sein und eine Plastiktüte vergessen, dachte er und hetzte weiter durch das nasse Unterholz des Waldes. Wege musste er meiden und Gestrüpp, Wurzelwerk und umgestürzte Baumreste machten das Laufen nicht einfach. Nun hörte er auch das Martinshorn der Polizeiwagen. Wieder packte ihn die Angst, gefasst zu werden. Es durfte nicht alles umsonst gewesen sein, dass trieb ihn weiter. Er stolperte, fiel hin und blieb liegen, weil er keine Kraft mehr hatte. Er war so ausgepumpt, er hörte nur noch den eigenen Atem. Nach und nach beruhigte er sich. Die Dunkelheit und die Stille hielten ihn gefangen und er spürte die Kälte und Feuchtigkeit, die in die Kleidung zog, bis auf die Haut.

Von den Verfolgern war nichts zu hören und zu sehen. Karl glaubte, dass die Polizei Fahrzeugkontrollen machte und öffentliche Plätze überwachte. Karl dachte, ich werde die Nacht hier im Wald verbringen und früh am Morgen in die Stadt gehen. Es war eine lange Nacht. Mit Tannenzweigen, die abgeschlagen auf einem Haufen lagen, machte er sich ein notdürftiges Dach. Der feine, alles durchdringende, Schneeregen wurde etwas abgehalten. Dann versuchte Karl die Geldscheine zu bündeln, doch das war bei der Nässe nicht möglich. Er sorgte dafür, dass die Taschen verschlossen blieben und er kein Geld verlieren konnte. So kauerte er unter dem Tannenverschlag. Er spürte die Tropfen, die ihn völlig durchnässten. Ab und zu döste er, aber nicht lange denn er vernahm Geräusche, die ihm sein überspanntes Gehirn vorgaukelte und ihn nicht schlafen ließ. Als es heller wurde, hörte er den morgendlichen Berufsverkehr. Karl schreckte hoch, sah auf die Uhr, es war kurz nach sieben. Er befand sich immer noch in der Nähe der Hauptstraße. Vermutlich war er im Kreis gelaufen und hatte die Orientierung verloren. Steif durch die Nässe und Kälte kroch er aus seinem Versteck. Ein kleiner Taschenspiegel ließ ihn sein Äußeres begutachten. Was er sah, war das unrasierte, verdreckte Gesicht von einem Gestrandeten. Der Ausdruck Penner war wohl das passendere Wort.

Vorsichtig stolperte er durch den Wald zur Straße, um die nächste Bushaltestelle zu finden. Da standen Schulkinder, die auch in die Stadt wollten. Es waren meist Mädchen, die den seltsamen jungen Mann beäugten. Sie lachten und tuschelten. Karl schämte sich und wäre am liebsten gegangen. Der Bus war voll und Karl stand eingepfercht mit seinen nassen, schmutzigen Klamotten zwischen den Menschen. Zu seiner Erleichterung nahm aber keiner Notiz von ihm. Sie waren wohl alle mit sich selbst beschäftigt und Karl wurde in seinem Zustand nicht wahrgenommen. Die Menschen waren auf dem Weg zur Arbeit und sahen gelangweilt über die Schultern anderer Fahrgäste. Karl fühlte sich zwischen den Leuten relativ sicher. Wer würde schon in ihm einen Bankräuber vermuten, in dem abgerissenen Zustand. Am Bahnhof leerte sich der Bus. Karl suchte die Toilette auf. Die Putzfrau schaute verächtlich auf den Benutzer mit dem nassen Regenmantel und aufgeweichten Schuhen. In welchem Dreckloch hat der wohl die Nacht verbracht, dachte sie und schüttelte den Kopf.

Auf der Toilette verstopfte Karl mit Klopapier erst mal die Gucklöcher, die neugierige Menschen gemacht hatten. Er fragte sich, was es bei diesem Geschäft wohl zu sehen gibt.

Er zählte das Geld. Alles zusammen waren es 24.000 DM. Für die Angst und Aufregung der letzten Stunden war es nur ein mickriges Sümmchen. Nur nicht auffallen, dachte er. Seinen schmutzigen Mantel hatte er extra auf der Toilette liegen lassen, seine Jacke und Hose hatten weniger gelitten. Karl musste sich ein neues Outfit zulegen

Abgefahren - Leben an der Abbruchkante

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