Читать книгу Dr. Love und die schüchterne Forelle - Michael Bresser - Страница 7
02. In Jägermeister getauft
ОглавлениеMir bleiben alle Worte im Halse stecken. Alle Studienleistungen verfallen? All die vielen Vorlesungen und Seminare umsonst? Doch dann quillt es aus mir heraus.
»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein? Ich bin wirklich krank. Prüfungsphobie gepaart mit Sozialphobie.« Warum rede ich erst jetzt?
»Wir sind nicht das Sozialamt, Herr Singer. Sie können selbstverständlich Einspruch einlegen. Da empfehle ich Ihnen aber, sich sehr gute Atteste zu besorgen. Sonst sehe ich schwarz. Außerdem wüsste ich nicht, was Sie mit einer sogenannten Sozialphobie« – er lächelt selbstgefällig – »beruflich machen wollen. Mir fällt da Wärter auf einer Vogelinsel ein. Es sei denn, Sie haben auch eine Vögelphobie.«
Er lacht über seinen Altherrenwitz, als hätte er das Bonmot des Jahrhunderts kreiert. Seine Kollegen wirken peinlich berührt, sagen aber nichts.
»Bitte geben Sie mir eine Chance. Bei der nächsten Prüfung läuft es besser. Oder fragen Sie mich jetzt«, bettele ich.
»Herr Studiosus, manchmal verliert man, manchmal gewinnen die Anderen.« Anrein fühlt sich in seiner Rolle als Zerstörer meiner Existenz sichtlich wohl.
»Wir nehmen es Ihnen übel, dass Sie nach den ersten Fragen eine Krankheit vorschieben. Da gehe ich mit dem Kollegen d’accord. Wir wollen aber jetzt nicht auch noch Kübel voll Häme über Sie ausschütten«, sagt Mörike mit einem schiefen Blick in Richtung Anrein.
»Nein«, versichert Frau Lehmkuhl. Es schmerzt mich besonders, mich vor ihr blamiert zu haben. »Wenn Sie Ihre Krankheit von einem Arzt attestieren lassen, bekommen Sie vielleicht eine Wiederholungschance. Aber nach unserem jetzigen Eindruck müssen wir Sie durchfallen lassen. Sorry.«
Wahrscheinlich hat sie gar nichts gegen mich. Sieht aus, als ob ihr mein Schlamassel leidtäte. Aber ich habe es selber versaut, die Prüfung und mein Leben. Schon lange vorher hätte ich mein Leben auf die Reihe bringen sollen. Es kann nicht mehr schlimmer kommen. Das denke ich zumindest zu diesem Zeitpunkt. Manchmal bin selbst ich Optimist.
Wie betrunken wanke ich aus dem Raum, stolpere fast.
»Geht es Ihnen gut?« Die Lehmkuhl scheint wirklich besorgt.
»Mhm«, murmele ich und bin schon draußen. Studienabschluss ade, Volontariat good-bye, Hartz IV willkommen!
Ich torkele durch die Gänge der Universität, bade in Selbstmitleid und verfluche die Ungerechtigkeit der Professoren und der Welt. In meinem Kopf erklingt Redemption Day von Johnny Cash: »It’s in the soul to feel such things. But weak to watch without speaking. Oh what mercy sadness brings. If God be willing.« Ich fühle mich von Gott und dem Rest der Welt verlassen. Eine Art Erlösung im irdischen Leben wäre klasse. Ein platzender Knoten, ein Eimer voll Glück, den das Schicksal über mich ausschüttet. Aber das sind unerfüllbare Träume.
Ich trete aus der Uni, gehe zur Rasenfläche und drehe mir eine Zigarette. Das Nikotin des schwarzen Tabaks durchflutet sofort mein Gehirn, und ich nehme die Welt durch Rauchschleier wahr. Es fühlt sich weniger schlimm als vorher an. Mein Handy vibriert. Zorro.
»Timo, wie ist es gelaufen? Alles roger?«
»Nix ist roger. Ich habe versagt. Alles war weg. Mensch, ich war vollkommen blockiert.«
Schweigen. Dann fragt er »Wirklich so schlimm?«
»Schlimmer, Lehmkuhl war eine Frau. Vor der habe ich mich bis zum Gehtnichtmehr blamiert.«
Zorro hustet. »Sorry, habe ein Rachenspray inhaliert. Das scheine ich nicht besonders zu vertragen. Was spielt es für eine Rolle ob Lehmkuhl Mann oder Frau ist? Willst du was von ihr?«
»Quatsch«, werde ich ärgerlich. »Die hat promoviert, vielleicht sogar habilitiert. Was soll die mit einem anfangen, der noch nicht einmal seine Magisterprüfung gebacken kriegt. Aber sie sieht gut aus. Das ist für mich ein Blockierreiz.«
»Blockwatt?«
Ich nehme einen letzten Zug und trete die Zigarette im Gras aus. »Blockierreiz. Wenn ich eine attraktive Frau sehe, setzt mein Verstand aus. Kennst du doch.«
»Klar, das geht vielen Männern so. Aber wenn das eine Professorin ist – nee, das verstehe ich nicht. Sie prüft dich doch nur. Ist das nicht egal, wie sie aussieht?«
Ich stöhne inner- und äußerlich. »Theoretisch ja, praktisch nein. Ich denke bei gut aussehenden Frauen nur daran, für was für einen gnadenlosen Versager sie mich halten müssen.«
»Alter Falter, ich habe noch keine Frau kennengelernt, die beißt. Außer ich will es. Was stört es dich, was die von dir denkt. Je cooler du bist, desto mehr fliegen die Damen auf dich.« Ein Brüllen tönt durch den Hörer. »Entschuldigung, eine innere Beklemmung musste raus. Kommt von der Chemie. Scheiß Medikament. Das werden die nie auf den Markt bringen. Das schwör ich dir.«
»Für mein Studium zahlt man mir ohne Abschluss keinen Cent«, sage ich frustriert.
Tobias röchelt wieder. »Es zählt doch, was du weißt, nicht welches Etikett auf dir klebt. Oder?«
Dieses Psychogeschwätz mag ich nicht, vor allem, wenn es um mich geht.
»Ohne Magister kein Volontariat. Da nützen dir auch Tausende Artikel über Lütje-Lage-Besäufnisse auf dem Schützenfest nix. Aber was soll es. Ich kann da momentan nichts ändern.« Ich kicke gegen eine leere Fantadose.
»Ist klar, dass du fertig bist. Aber wir überlegen uns was gemeinsam wegen Job und so. Auch wegen Frauen. Vielleicht mit Ali. Du wirst sehen, bald sieht die Welt anders aus.«
Ali Gethmann ist wie Zorro ein Kumpel aus der Schulzeit. Allerdings hat er sein BWL-Studium im Gegensatz zu mir mit Bravour gemeistert. Gleich nach dem Studium hat er eine Unternehmensberatung für Existenzgründer eröffnet. Und die läuft blendend. In Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrisen bleibt vielen Leuten nichts anderes übrig, als den Schritt in die Selbständigkeit zu wagen. Und dabei sie unterstützt Ali. Gut, wie ich glaube.
»Schön, dass du an mich glaubst.« Ich fühle ich mich etwas getröstet. »Ich gehe jetzt zum Geburtstag meiner Mutter. Da habe ich heute besonders große Lust drauf.«
»Ich würde mir einen verlöten. Dann vergisst du den Uni-Mist. Ich horche jetzt an der Matratze und hoffe, dass ich nicht im Schlaf röchele. Sonst steht Opa Pflüger vor der Tür.«
Opa Pflüger, Vorname Gerd-Hugo, ist der Nachbar über unserer Zweier-WG. Uns ist es jeden Tag ein Rätsel, welche Mütter solche Söhne gebären. Obwohl unsere Mietskaserne am Pfarrlandplatz um die Jahrhundertwende gebaut wurde, hört man jedes Husten in den Nachbarwohnungen. Das ist prickelnd. Wenn der Lautstärkepegel in unserer Wohnung den der Unibibliothek erreicht, kann man Gift nehmen, dass Gerd-Hugo mit dem Besen auf unsere Decke schlägt. Er scheint den ganzen Tag nur darauf zu lauern, Geräusche in unserer WG wahrzunehmen. Läuft einmal Musik bei uns – zugegeben, sie läuft ziemlich oft –, wummert er gegen unsere Wohnungstür und brüllt irgendwas von Ruhestörung, Adolf Hitler und Lagern, in die Leute, wie wir gehörten würden. Das war anfangs lustig, mittlerweile nervt es nur. Wir hoffen, dass ein glücklicher Zufall uns von diesem Mitbewohner befreit. Warum kann er nicht im Lotto gewinnen und zieht auf die Kanaren?
Meine Eltern wohnen im Zooviertel. Das ist eine nette Gegend, in der gut betuchte Menschen und welche, die so wirken wollen, ihr stilvolles Leben zur Schau stellen. Ehe Neid aufkommt: Meine alten Herrschaften gehören dem bürgerlichen Mittelstand an. Beide waren Lehrer. Diese Berufsgruppe kann sich ein eigenes Haus in dieser Wohngegend normalerweise nicht aus eigenen Kräften leisten. Allerdings gehört meinem Opa Günter die SMB, was Singer Maschinen Bau bedeutet. Er hat nach dem Krieg begonnen, Maschinen für die Autoindustrie herzustellen. Aus der Rumpelbude in Hannover-Lahe wurde ein Unternehmen, das Wertarbeit made in Germany bis nach Japan und Amiland exportiert. Mittlerweile ist es auch in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Ich habe mich genau wie mein Vater nie besonders für Maschinen, Autoproduktion und Devisengewinne interessiert. Sehr zum Ärger meines Opas. Er hält meinen Vater nach wie vor für einen missratenen Nichtsnutz, der es zu nichts im Leben gebracht hat. Dennoch hat er meinen Eltern zur Hochzeit die Gründerzeitvilla in der Nähe der Eilenriede, dem Hannöverschen Stadtwald, geschenkt. Da hat er sich wirklich nicht lumpen lassen. Ich habe das efeuumrankte Haus immer sehr geliebt, wusste aber, dass ich mir später nichts Vergleichbares würde erlauben können. Es sei denn, mir würde es geschenkt.
Ich klingele. Mama öffnet. Sie geht mir bis zur Brust, ihre früher brünetten Haare strahlen heute grau. Die warmen braunen Augen weiten sich vor Freude, mich zu sehen. Ich liebe meine Mutter. Wenn ich Komplexe im Umgang mit Frauen habe, liegt das nicht an ihr.
»Gerhard, der Junge ist da. Lass dich umarmen. Erzähl doch, wie war die Prüfung?«
Mein Vater taucht ebenfalls in der Diele auf. Er ist gut einen halben Kopf größer als meine Ma. Über einem karierten Hemd trägt er eine Lederweste. Ein wilder Bart ist das Relikt der Studienzeit. Mein Pa war nämlich Achtundsechziger und ist stolz drauf. Ich finde es superpeinlich, dauernd von in der Jugend angezettelten Revolutionen zu palavern und wie ein Spießer zu leben. Links reden, rechts streben. Aber er ist pensioniert. Da stört sich keiner an seinem Gerede. Ansonsten ist er ein netter Kerl. Nur ziemlich schräg.
»Hallo, Mama. Alles Gute zum Geburtstag.« Ich hole den Blumenstrauß hinter dem Rücken hervor, den ich vorhin auf der Georgstraße gekauft habe.
»Timo«, sagt sie, »Timo, das wäre doch nicht notwendig gewesen.« Aber in ihren Augen sehe ich, dass sie sich freut.
»Nein, nicht notwendig«, schaltet sich Vater ein. »Geschenke fördern den kapitalistischen Konsum. Ingrid und ich machen diesen Mumpitz nicht mehr mit und schenken uns seit Jahren nichts mehr. Das weißt du doch.«
»Ja, aber manchmal freut sich eine Frau über kapitalistischen Mumpitz«, sagt Mama, und ihre Augen schimmern feucht.
»Ja«, sagt Vater nun doch eine Spur verlegen. »Manchmal schon, in der Regel nicht. Aber keine Regel ohne Ausnahme. Das ist das Prinzip von Regeln. Es gibt immer Ausnahmen. Und so eine Ausnahme sind heute deine Blumen. Das hast du gut abgepasst, Timo. Respekt. Ich bin dennoch froh, dass wir nicht alle diese korrupte Floristikindustrie bereichern. Wusstet ihr, dass viele Blumen in Drittweltländern von Kindern gepflückt werden? Das habe ich neulich gelesen. Die Leute schaffen sich dort ein Dutzend Sprösslinge an, damit diese durch ihre Arbeit auf den Blumenfeldern die Familie ernähren können. Und bei uns tun die Leute so, als freuten sie sich darüber. An das Leid denkt niemand. Aber heute ist es in Ordnung, Mama freut sich.«
»Ich freue mich wirklich, Timo«, beteuert Mama. Wahrscheinlich versteht sie Pas Gequatsche genauso wenig wie ich.
Im Grund ist er ein lieber Kerl, aber das versteckt er gut.
»Erzähl doch. Wie war die Prüfung? Bist du jetzt ein Herr Magister?« Mutter drückt mich erwartungsvoll am Arm. »Hast du mit ›Eins‹ bestanden? Weißt du, eine Drei oder Vier würde auch reichen. Fühl dich nicht unter Druck gesetzt«, plappert sie aufgeregt.
»Zensuren sind ein Überbleibsel vergangener Systeme, wo wir froh sein sollten, dass sie ausgestorben sind. Es ist eine Schande, dass Schüler und Studenten heute noch immer bewertet werden. Wie vor hundert Jahren«, weiß mein Vater.
»Wenn mich nicht alles täuscht, hast du deine Schüler auch zensiert und dich aufgeregt, dass die verzogenen Blagen kapitalistischer Eltern von Jahrgang zu Jahrgang schlechter werden.« Diese Bemerkung kann ich mir nicht verkneifen.
Gerhards Gesicht läuft rot an. »Was sollte ich denn machen? Das System hat mich gezwungen. Ich finde es unfair, dass du mir das vorwirfst. Du weißt doch, dass ich mit Kollegen in den Siebzigern eine eigene Schulform gründen wollte. Leider haben mir die Behörden einen Stein nach dem anderen vor die Füße geworfen haben. Nee, Timo, ich habe mein Bestes versucht, aber die Zeit war damals nicht reif für die Singer-Pädagogik. Da musste ich mich anpassen. Aber die Hoffnung stirbt nie. Es werden bessere Zeiten kommen. Das kann noch etwas dauern. Die heutigen Schüler werden doch zu bloßen Konsumenten erzogen, keiner wehrt sich. Nur so können Konflikte wie die Finanzkrise oder der Irak-Krieg entstehen.« Endlich holt er Luft.
»Wegen deutscher Schüler?« Seine Argumentation verblüfft mich immer wieder. Bevor er zu einer neuen Tirade ansetzt, sage ich: »Ich habe mit ›Eins‹ bestanden. Alles paletti, Gerhard.«
Ich kann meine Niederlage einfach nicht eingestehen. Das würde zu weiteren Diskussionen mit Gerhard führen, auf die ich keine Lust habe. Im schlimmsten Fall würde er Beschwerdebriefe an Bundespräsident Wulff schreiben. Als ich auf dem Gymnasium einmal eine Geschichtsklausur versemmelt hatte, schickte er einen sechsseitigen Brief an den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder. Schließlich stammt der auch aus Niedersachsen. In diesem unsäglichen Schreiben beklagte er sich über die unerträglichen Zustände an deutschen Schulen, faschistische Lehrer und den Niedergang des Abendlandes. Herr Schröder oder einer seiner Sekretäre haben sogar geantwortet und sich für sein Interesse an der politischen Gestaltung unseres Landes bedankt. Ich habe mich in Grund und Boden geschämt, als mein Vater meinem Geschichtslehrer Dr. Podler dieses Schreiben unter die Nase hielt:
Der sagte dazu ganz ruhig: »Werter Kollege Singer. Ihr Engagement in allen Ehren. Aber Timos Aussage, Adenauer sei ein größerer Agitator als Göbbels gewesen, entspricht nicht dem heutigen Stand der Forschung. Und diesen muss ich bewerten.« Den Rest der Diskussion gebe ich lieber nicht wieder. Damals hatte ich Gerhards Sprüche unreflektiert niedergeschrieben, ohne zu bedenken, dass diese nicht der allgemeinen Auffassung entsprachen. Nach zwei Stunden gab Gerhard klein bei, verfluchte aber alle reaktionären Kollegen. Das gab einen Rüffel vom Direktor, und Vater hielt eine Zeit lang die Klappe. Mein Leben auf der Schule hat das nicht leichter gemacht, aber ich habe überlebt. Das ist schließlich alles. Auf neue Diskussionen habe ich keine Lust, daher verschweige ich meine Niederlage.
»Das ist toll. Ich freue mich so«, jubiliert Mutter. »Ich wusste, dass mein Junge Erfolg im Leben haben würde.«
»Respekt, Timo«, freut sich auch Vater. »Du hast es den Deppen von der Prüfungskommission gezeigt. Ein Singer lässt sich vom System nicht kleinkriegen.«
Innerlich zieht sich mir alles zusammen.
»Ich finde es natürlich auch aus finanziellen Erwägungen toll, dass du dein Studium beendet hast«, frohlockt er.
»Warum, Gerhard?«
»Na, ich brauche dich nicht mehr zu unterstützen. Du hast doch eine Stelle als Volontär. Nicht, dass ich dir ungern unter die Arme gegriffen hätte. Aber es entlastet unser Budget doch sehr, wenn du auf eigenen Füßen stehst. Egal, lasst uns ins Wohnzimmer gehen.«
Gott sei Dank habe ich für heute das Kapitel Magisterprüfung abgeschlossen. Denke ich zu diesem Zeitpunkt jedenfalls. Aber es kommt immer schlimmer, als man denkt. Dabei bin ich kein unverbesserlicher Pessimist, sondern bodenständiger Realist. Und meine etwas reservierte Ansicht über die Freundlichkeit des Lebens bestätigt sich wenige Sekunden später.
Denn im Wohnzimmer sitzt die übliche Bagage, die jede Familienfeier zur Klamaukorgie verkommen lässt. Ich frage mich, ob andere Menschen auch so peinliche Verwandte haben wie ich, kann es mir aber beim Willen nicht vorstellen.
Zunächst thront am Kopfende des Esstisches Opa Günter. Sein Eichenstock mit Drachenkopf lehnt am Tisch. Eigentlich braucht der mittlerweile achtzigjährige Unternehmer keine Gehhilfe. Er denkt aber, er müsse sich seinem Alter gemäß verhalten, deshalb der Stock. Daneben sitzt Oma Ilse. Sie ist zwei Jahre älter als Opa, sieht aber zwanzig Jahre jünger aus. Zumindest aus der Ferne. Diverse Operationen bei Dr. Lappmann, Hannovers Schönheitschirurg Nummer eins, machen es möglich. Mit fünfundsiebzig hat sie sich die Brüste machen lassen, die Haut am ganzen Körper wurde geliftet, Botox in die Lippen gespritzt, Haare transplantiert und dauerhaft eingefärbt. Das sind die kleinen Korrekturen, die ich mitbekommen habe. Wenn ich sie frage, ob dieses Retuschieren des natürlichen Verfallprozesses notwendig sei, antwortet sie stets: »Jungchen, ich rauche nicht, trinke nur wenig und gönne mir sonst keinen Luxus.« Recht hat sie. Ihr Leben auf einem 1500 Quadratmeter großen Grundstück mit Reitbahn, Schwimmbad und eigenem Gärtner empfindet sicherlich der Großteil der deutschen Bevölkerung als bescheiden.
Daneben besäuft sich Onkel Udo. Das ist Mas Bruder, dem ein Bauernhof in der Nähe der früheren Grenze bei Helmstedt gehört. Onkel Udo trinkt nur eiskaltes, fast gefrorenes Bier und Jägermeister. Etwas anderes kommt ihm nicht in die Kehle, dafür aber reichlich. Keiner kennt ihn nüchtern, da er bereits zum Zähneputzen Jägermeister gurgelt. So meine Theorie. Er ist auch der Grund, warum ich selber keinen Kräuterlikör aus Wolfenbüttel zu mir nehme. Wenn ich die Flasche mit Hirsch sehe, denke ich immer an eine Kirche. Kein Scherz. Das Bild ist schwarzweiß gehalten, also älter. Dort stehen Udos Eltern um das Taufbecken und halten ein kleines fettkrankes Baby in den Armen, das eine Sonnenbrille trägt und an einer Kippe im Mundwinkel saugt. »Wollt ihr Eltern von Udo Kallupke dieses Kind taufen? Paten haben sich leider nicht bereit erklärt, dieses wunderbare Wesen auf seinem Lebensweg zu begleiten.«
»Ja, so machen wir’s«, erklärt Udo Vater und rülpst.
»So soll es sein«¸ erklärt der Pfarrer und kippt vier 1,5-Liter-Flaschen Jägermeister ins Becken.
»Jetzt muss ich dir leider deinen Nuckel wegnehmen, mein kleiner Hosenscheißer«, sagt Vater Kallupke und zieht Klein-Udo die Zichte aus dem Mund, woraufhin Udo bitterlich zu weinen beginnt.
»Kriegst ihn gleich wieder, Sohnemann«, versichert der Altbauer.
Dann nimmt der Pfarrer den Jungen. »Hiermit taufe ich dich, Udo Bernhard Kallupke, im Namen des Vaters, der Sohnes und des Heiligen Geistes. Des Jägermeistergeistes.« Mit diesen Worten taucht er das Baby in die Brühe und hält es drei Minuten in den Likör.
Dann sagt Mama Kallupke: »Sollten wir ihn nicht wieder an die Luft holen?«
Der Alte winkt ab: »Jägermeister hat noch keinem geschadet. Kräuter sind was Gutes, und der Alkohol macht sie länger haltbar.«
Der Pfarrer leckt sich verlegen etwas Jägermeister vom Finger. »Verzeihung, da habe ich anscheinend den Kleinen vergessen.«
Er zieht ihn aus dem Becken, das Kind strahlt erstaunlicherweise über alle vier Backen, dann steckt der Vater ihm wieder die noch glimmende Zigarette in den zahnlosen Mund.
Bei dieser Vision ekelt es mich. Andere ekeln sich auch vor Onkel Udo, denn besoffen verfehlt er beim Pinkeln regelmäßig die Toilettenschüssel und setzt das ganze Bad unter Urin. Aber irgendwie gehört er dazu und wird daher immer eingeladen.
Ich jedenfalls könnte auf den Landwirt gut verzichten. Seine Frau, Tante Gerti, ist eher unauffällig und in der ganzen Familie beliebt. Keiner versteht, was sie an dem Suffkopp findet. Die Aufgaben in dieser Ehe sind klar verteilt: Sie fährt ihn vom Frühschoppen zum Bierbrunch, vom Stammtisch zum Absacker. Immerhin führen sie ein geregeltes Leben.
»Hey, Timo, mir ischt nach Rotsch«, singt oder besser grölt er, als er mich sieht.
»Hallo, Onkel Udo. Alles klar im Schweinestall?« Ich setze ich mich an den Tisch. »Was soll übrigens ›Rotsch‹ heißen? Ist das ein neues Futtermittel für Kühe?«
»Ach Timo«, legt mir Tante Gerti eine Hand auf die Schulter. »Dein Onkel hat etwas zu viel getrunken. Wahrscheinlich weiß er noch nicht einmal selber, was er sagen wollte. Oder, Udo?«
»Sicher weisch ich dasch. Mir ischt nach Rotsch.«
Opa und Oma schauen wie hypnotisiert auf die Tischdecke, als würde diese gleich psychedelische Bilder werfen.
»Unser Timo ist jetzt Magister«, verkündet Gerhard, der mit einer Flasche Sekt aus der Küche kommt. »Das müssen wir feiern.«
Alle setzen sich kerzengerade auf, auch Udo schafft es, sich in die Senkrechte zu hieven.
»Für mich keinen Sekt, nur noch ein eiskaltes Bier.« Er artikuliert sich erstaunlich deutlich.
»Ich halte wenig von diesen sogenannten Geisteswissenschaften«, hebt Opa nun an. »Jura, BWL oder Maschinenbau sind Fächer, mit denen man in der Wirtschaft unterkommen kann. Ich hätte dir bei einem entsprechenden Studium einen guten Posten bei der SMB besorgt. Aber du wolltest nicht. Nun gut. Magister ist besser als nichts. Daher auch von mir die besten Glückwünsche.«
»Dir ist nichts gut genug, weder dein Sohn noch dein Enkel. Timo hat Tag und Nacht gelernt, um es den Professoren zu zeigen. Du solltest stolz sein«, keift Gerhard.
Opa verdreht die Augen und winkt ab.
»Seid ruhig. Wie kann man sich an diesem Tag nur streiten. Mein Geburtstag und Timos Examenstag. Wenigstens heute sollten wir ohne Zank feiern«, bittet Mama.
Alle stoßen an, ich mit – und schäme mich maßlos für meine Feigheit. Selbst vor Onkel Udo. Der Mann ist zwar ein Idiot, aber auf seine Art ehrlich.
»Prostatata!«, tönt er.
»Und warum ist dein permanent alkoholisierter Bruder hier? Du weißt, dass solche Leute nicht dem Niveau der Singers entsprechen.«
»Was?«, fragt Udo.
»Das finde ich garstig«, schaltet sich Tante Gerti ein. »Udo kann doch nichts für sein kleines Alkoholproblem. Er ist krank.«
»Krank im Kopf«, erwidert Opa und stößt mit seinem Stock aufs Parkett.
»Halt die Klappe, du alter Geldsack!«, keift Udo.
Ich nehme mir auch einen Jägermeister. Schmeckt gar nicht so schlecht. Ich kippe einen zweiten hinterher, sonst kann ich das alles nicht aushalten.
»Jetzt hört aber auf. Mir geht es nicht gut«, wirft Mutter ein.
Das bringt die Streithähne zur Ruhe.
»Was hast du denn?«, fragt Oma Ilse.
»Ich habe seit zwei Wochen Schmerzen in der Magengegend. Die kommen und gehen in unregelmäßigen Abständen. Mein Hausarzt hat mir ein Mittel gegen Sodbrennen verschrieben. Das hilft aber nicht wirklich. Ich werde morgen zu einem Facharzt gehen.«
»Toi, toi, toi! Wenn du einen wirklich guten Internisten brauchst, kann ich mit Doktor Lappmann sprechen. Der weiß, wer zur Crème de la crème gehört«, zeigt sich Oma hilfsbereit.
»Lass mal. Doktor Poggenbühl soll auch sehr gut sein. Klara Steinbach geht zu ihm und ist sehr zufrieden. Ein kompetenter Mann, und du hast keine Wartezeiten.«
»Na, Ihr seid doch auch privat versichert, da sollten die Ärzte Termine sowieso einhalten. Wie läuft die Ehe der Steinbachs? Die hatten doch Probleme, habe ich gehört.«
»Die haben sich mittlerweile zusammengerauft«, plaudert Mama aus dem Nähkästchen. »Klaus ist mit seiner Firma verheiratet, das wird sich nie ändern. Aber er hatte zwischenzeitlich eine Affäre mit einer Sekretärin angefangen. Das hat sich, wie Klara erzählt, mittlerweile erledigt. Sie gehen jede Woche zur Paartherapie. Das hilft.«
Ich trinke noch einen Jägermeister.
Onkel Udo nickt mir aufmunternd zu. »Kommscht auf den Geschmack, Timo, wasch?«
Mein Nicken verläuft bereits ein wenig unkoordiniert, da ich keinen Alkohol gewöhnt bin, zumindest nicht in erhöhter Taktzahl.
»Wo ist eigentlich Nadine?«, fragt mich Oma Ilse. Alle im Raum verstummen.
Nun kommen wir zu einer weiteren Geschichte, für die ich mich maßlos schäme. Ich möchte eine Freundin haben, nichts lieber als das. Aber durch meine Angstzustände, das Zittern, Stottern, Schwitzen beim geringsten Anzeichen von Attraktivität war es mir bisher unmöglich, eine Beziehung zu einem weiblichen Wesen einzugehen.
Nun fragte meine besorgte Familie andauernd, was mit einer Freundin sei.
»Willst du nicht?« – »Du solltest mal, wir möchten gerne eine Schwiegertochter und später Enkelkinder.« – »Mach dir nichts draus. Du bist halt nicht der Allerschönste. Aber irgendwann. Du weißt: Jeder Topf findet einen Deckel.« – »Wenn du vom anderen Ufer bist, das ist kein Problem für uns. Wir sind tolerant.«
Irgendwann nervt das. Vor allem wenn die Fragen gut gemeinten Aktionen weichen. Zuerst wurden mir Kontaktanzeigen von Parship und Elitepartner zugesteckt. Natürlich ganz unauffällig. Ich ging bei meinen Eltern auf die Toilette, da lag eine Anzeige auf dem Klodeckel. Intelligenter, solventer Akademiker Ende zwanzig sucht repräsentative Sie. Aussehen zweitrangig. Daneben war mit Kuli geschrieben: »Die Gebühren für die Vermittlung würden wir übernehmen.« Super.
Mein Vater gibt sich immer progressiv, doch hat er quälende Ängste, dass ich homosexuell bin. Das würde er nie offen zugeben. Aber in seinen Erzählungen von der wilden Studienzeit spielen die schwulen Unikumpel immer nur witzige bis blamable Rollen. Er versichert hinterher immer, dass seine Generation auch die Schwulen von der Geißel der Gesellschaftsdoktrinen befreit habe, doch überzeugend klingt seine liberale Haltung nicht.
Da musste eine Lösung her. Und die hieß Nadine – wie in dem Song der irischen Bluesröhre Rory Gallagher. Und es war reiner Zufall. Ich war auf der Party eines Kommilitonen in der List, nicht weit von meinem Elternhaus entfernt. Nadine war mir gleich zu Anfang aufgefallen: hochgewachsen, schlank, schwarze Lackstiefel, dazu ein Ledermantel, wie ihn SS-Offiziere getragen hatten. Sehr provokativ. Dazu trug sie ihre dunklen Haare wie die Filmstars der Vierziger und besaß ein loses Mundwerk. Sie sah einfach fantastisch aus, als sie zu Whole lotta love abtanzte.
Durch mehrere Wodka-Redbulls ermutigt, traute ich mich, sie anzusprechen.
»Ich bin die Gitarre und du meine Blues-Harp. Lass uns gemeinsam im Takt der Liebe grooven», artikulierte ich ohne Stottern. Den Spruch hatte ich aus einem Buch mit dem Titel Angriff auf die Frau – Flirten für Dumme. Sie musterte mich von oben nach unten und wieder retour.
»Mit einem hässlichen Ekelschlumpf wie dir würde ich nicht mal die Toilette abputzen. Verpiss dich.«
Ich habe gelesen, dass langfristige Beziehungen oft mit Missverständnissen beginnen. Allerdings kann ich mir nur schwer vorstellen, dass Julia Romeo »Ekelschlumpf« genannt hat. Selbst Nancy dürfte Sid Vicious freundlicher begrüßt haben. Dennoch, das war sie: meine große Liebe. Ich nahm ihr die reservierte Reaktion auf meinen Anmachspruch nicht krumm und beschloss, die Zeit für mich spielen zu lassen. Ich setzte mich in eine Ecke und beobachtete meine Wunderfrau beim Tanzen, Trinken und Chillen. Um ein Uhr begann sich die Fete zu leeren. Nadine hatte gut getankt, wie ich bemerkte. Sollte sie ihren Spaß haben. Irgendwann kam sie auf mich zugetorkelt. Selbst betrunken wirkte sie eleganter als die Dietrich.
»Ey«, sagte sie. Mir wurde ganz schummrig, und das lag nicht am Alkohol. »Was spannste mich die ganze Zeit an. Biste ein Stalker?«
Ich fasste Mut. Du wirst mit dieser fantastischen Frau eine Beziehung eingehen. Sie wird dich lieben und ehren, dachte ich, und …
»Ey, mach das Maul auf, wenn ich mit dir rede, Spacken«, zischte sie. »Spacken« klang freundlicher als »Ekelschlumpf«. Machte unsere Beziehung Fortschritte?
»Sag einmal: Hast du schon eine Schlafgelegenheit? Bei mir wäre was frei, gibt auch Frühstück ans Bett.« Direkter war ich noch nie bei einer Frau geworden. Würde mein Mut belohnt werden?
Sie überlegte, schaute mich mit immer kleiner werdenden Augen an. Schließlich sagte sie: »Du hast recht. Ich muss eigentlich noch nach Bremen. Aber warum nicht hier pennen. Geht klar. Aber eins sag ich dir vorneweg: Anpacken ist nicht. Komm nicht auf dumme Gedanken. Und du schläfst in einem anderen Raum. Capisci?«
»Gebongt, ich will dir nur helfen«, sagte ich. Ich dachte aber, da geht bestimmt etwas. Spätestens morgen sieht sie in mir den Mann, der sie durchs Leben begleitet, sie auf Händen bis in eine gemeinsame Wohnung trägt.
Ich rief ein Taxi und half Nadine ins Auto, da sie nicht mehr sicher stehen konnte.
»Finger weg, Spargelaffenarsch!«, zischte sie.
Meine Ma sagt immer: »Was sich liebt, das neckt sich.« Wurden die ersten Zeichen von Liebe immer deutlicher?
»Bitte, Madame.« Ich ließ mich nicht beirren. Fünf Minuten später bezahlte ich den Taxifahrer.
»Wow, ihr hat ein schönes Haus. Wohnst du noch immer bei deinen Eltern?«, sagte sie, als ich sie den Treppenaufgang hochschleppte.
»Nein, ich lebe mit einem Kumpel in einer Zweier-WG in Limmer. Aber die wird zurzeit renoviert, daher schlafe ich bei meinen Eltern. Nichts Dauerhaftes.«
Unsere Männerbude wollte ich ihr erst zeigen, wenn die Beziehung gefestigter war.
Ich führte sie mit einigen Schwierigkeiten zu meinem Zimmer in der ersten Etage. Meine Eltern schienen zu schlafen. Gott sei Dank. Nadine warf sich angezogen auf mein Jugendbett und flüsterte noch: »Denk daran, Säger. Anpacken verboten und anderes Zimmer.« Dann schlief sie schon. Ich malte ein Schild »Nicht stören!!! Damenbesuch!!!« und hängte es an die Tür. Doch wo sollte ich bleiben? Ach, egal. Ich nahm eine Decke und legte mich auf den Boden. Nadine bekam sowieso nicht mit, dass ich im selben Raum nächtigte. Vor Aufregung bekam ich kaum ein Auge zu, schlief aber irgendwann auch ein.
»Was machst du Clerasilantiwerbung in einem Zimmer mit mir? Hast du mich angefasst? Ich trete dir gleich in die Klöten!« So charmant wurde ich geweckt.
»Hast du gut geschlafen?«, fragte ich. »Die Decke ist sehr kuschelig. Frühstück?«
Wenn Blicke töten könnten, wäre es um mich schlecht bestellt gewesen. Was hatte die Frau? Wir waren füreinander bestimmt. Und daher gab ich die Hoffnung nicht auf. Ma bereitet ein ausgezeichnetes Frühstück. Und Liebe geht durch den Magen. Das habe ich gelesen, Beweise habe ich aber noch nicht.
»Warum nicht«, zeigt sich Nadine besänftigt. »Ich könnte etwas zwischen den Kauleisten gebrauchen.« Ah, die These über Liebe und Magen stimmt, freute ich mich.
»Moment«, sagte ich.
Ich rannte aus dem Zimmer. Im Esszimmer führte Gerhard mit der Linken einen Toast mit Leberwurst zum Mund, mit der Rechten verrührte er Milch im Kaffee. Mutter legte gerade das vierte Gedeck auf.
»Moin. Nadine frühstückt mit. Keine dummen Fragen, bitte.«
Gerhard grinste wie die halslose Katze aus Alice in Wonderland. »Guten Morgen, Casanova. Geht klar, unsere Lippen sind versiegelt«. Er knuffte mich verschwörerisch.
Auch Mutter konnte sich das Strahlen nicht verkneifen.
»Unser Sohn hat eine Freundin, das muss ich gleich Tante Gerti erzählen.«
Mir wurde mulmig. »Halt doch mal den Ball flach, Mutter. Das ist kein großes Ding.«
Gerhard hob beschwichtigend die Hände. »Der Junge hat recht, Ingrid. Wir haben es damals doch auch wild getrieben. Da müssen wir jetzt kein Fass aufmachen.«
Mir schwante Übles, aber da musste ich durch. Ich stiefelte in mein Zimmer, wo Nadine sich gerade einen Joint baute.
»Frühstück ist angerichtet. Kommst du?«, lächelte ich. Irgendetwas hatte die Frau, das meine Angstzustände ausschaltete. Ich fühlte mich in ihrer Gegenwart völlig frei.
»Der Johnny war als Nachtisch gedacht«, zeigte sie sich begeistert. »Kann nicht schaden, den Magen zu füllen. Hoffentlich labern mich deine Eltern nicht voll. Da kann ich gar nicht drauf. Boah, meine Birne platzt gleich. Ich sollte bei Alkohol echt kürzertreten.«
Im Esszimmer dienerte mein Vater vor Nadine. Ich wäre am liebsten im Boden versunken. So einen Mist machte er sonst nie.
»Herzlich willkommen in unseren bescheidenen Hallen«, faselte er. Hatten sie mir nicht versprochen, die Klappe zu halten.
Nadine musterte ihn mit schiefem Blick und hielt meiner Mutter die Hand hin. Bevor Ma sie ergreifen konnte, zog meine Angebetete sie wieder weg.
»Nadine. Sorry, mir ist heute nicht nach Quatschen. Habt ihr Bircher-Müsli? Da kann ich mich reinlegen. Wäre super.«
»Tut mir leid«, sagte Ma. »Aber Rührei mit Schinken haben wir. Ist es in Ordnung, wenn wir uns duzen? Ich bin Ingrid.«
»Alles roger. Eigentlich stehe ich nicht auf Cholesterinbomben, aber man lebt nur einmal, frau auch. Warum nicht. Vielleicht wirkt sich das positiv auf meinen Schädel aus. Scheiß Kater.«
»Natürlich duzen wir uns.« Vater war ganz aus dem Häuschen. »Ich bin Gerhard. Mensch, und mit Quatschen hatten wir es in eurem Alter auch nicht. Aber Achtundsechzig war das völlig normal. Wir haben gekifft, gesoffen und gefickt, was das Zeug hält. Heute nimmt doch kein Jugendlicher solche Wörter in den Mund, ohne rot zu werden. Das habe ich auch immer meinen Schülern erzählt: Ich ficke gerne und bin völlig frei.«
Nadine schaufelte sich Rührei auf den Teller und starrte Gerhard mit großen Augen an. »Alles klar«, sagte sie. »Nimmst du heute noch Drogen, Alter?« Sie schmierte sich ein Brot und träufelte Honig auf die Butter.
Gerhard fühlte sich geschmeichelt. Mensch, war mein Erzeuger peinlich. Mutter schaute auf die Tischdecke, als sprächen die Rosenornamente zu ihr.
»Nicht mehr regelmäßig, aber ab und an schon. Wir ficken dafür regelmäßig, nicht wahr, Ingrid.«
Meine Mutter murmelte unverständlich. Es ist für Kinder unvorstellbar, dass ihre Eltern Geschlechtsverkehr haben. Aber dass mein Vater auch noch andauernd darüber redete, war unerträglich.
»Wir haben nicht nur die Gesellschaft revolutioniert, auch unsere Körper haben wie Kerzen den Sommer der Liebe entzündet. Mit Jimi Hendrix, den Beach Boys, den Stones. Die Beatles waren uns zu mainstreamig, was, Ingrid?«
»Mensch, Alter. Die Stones sind alte Säcke, wenn die nicht Mainstream sind, wer dann. Hör lieber moderne Mucke wie Jupiter Jones oder Tomte. Dann schwimmst du im Groove der Zeit.« Bei Nadine konnte er wenig Eindruck schinden.
»Die Stones waren damals knorkomat, richtig grovy, das kannst du mir glauben«, ereiferte sich Gerhard. »Obwohl nie Mick Jagger der Philosoph der Stones war. Er war das Sprachrohr, aber nie der Kopf. Keith Richards war der Adorno des Rock’n’Roll«, fantasierte er jetzt auch noch. Warum musste ich immer in solch schrägen Filmen landen.
»Hat er dir das bei einem gemeinsamen Trip verraten?«, gab Nadine zurück und schaufelte sich einen Löffel Rührei zwischen die schneeweißen Zähne.
»Du wirst lachen. Ich hatte einen Kumpel, dessen Bruder eine Frau kannte, die mit Keith in die Kiste gesprungen ist. Das war bei einem Auftritt in Hamburg. Und da hat er ihr die unglaublichsten Geschichten erzählt. Da hätte ich gerne Mäuschen gespielt.«
Mutter hielt sich an ihrer Tasse fest, und auch ich war mit Dads Erzählchen restlos überfordert.
»Genug geplaudert», sprang Nadine auf. »Interessant bei euch, aber zu Hause wartet meine Katze auf Verköstigung. Hasta la vista.«
»Ich bring dich zur Tür«, sagte ich und eilte ihr nach.
Als wir auf der Treppe standen, meinte sie: »Alter, mach dir nichts draus. Dein Vater ist ein viel größerer Idiot als du. Das erklärt alles. Danke für Bett und Futter. Trotzdem hoffe ich, dass man sich nie wiedersieht.»
Als ich an die elterliche Tafel zurückkehrte, sagte Gerhard:
»Ich hoffe, dass ich sie nicht vertrieben habe. Vielleicht ist sie zart besaitet und verträgt die offene Sprache der Apo-Studenten nicht.« Meine Mutter hatte ihn anscheinend ordentlich zusammengestaucht.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte ich und verfluchte ihn im Stillen.
Aber Nadine, die ich übrigens nie wiedersehen sollte, benutzte ich. Jede Woche erzählte ich meinen Eltern, wie toll sich die Beziehung mit Nadine entwickelte: Ich lernte ihre reizenden, vollkommen normalen Eltern kennen, wir fuhren nach Paris, tanzten die Nächte durch und verlobten uns auf einem Kreuzfahrtschiff vor der finnischen Küste. Ohne Familie und voller Romantik. Meine Eltern luden sie jede Woche ein. Doch Nadine arbeitete als Projektmanagerin für eine internationale Werbeagentur. Immer war sie unabkömmlich. Ich sagte meinem Vater, dass die Plädoyers für freie Liebe Nadine nicht besonders gefallen hätten. Sie sei eher zartbesaitet. Da verringerte sich die Häufigkeit der Erkundigungen über das Wohlergehen meiner Liebsten. Und der beste Effekt dieser kleinen Schwindelei: Die Kontaktanzeigen auf dem Lokus waren passé.
Das ist meine Liebesgeschichte mit Nadine, die in Zeitraffer vor meinem inneren Auge abläuft.
»Hallo, jemand zu Hause?«, holt mich Großmutter aus meinen Träumen.
»Nadine beaufsichtigt Werbeaufnahmen in Los Angeles«, flunkere ich. »Die ist etwa drei Wochen in den Staaten.«
»Also, ich weiß nicht, ob diese Nadine die Richtige für dich ist«, unkt Oma. »Immer auf dem Jück. Das hält doch die beste Beziehung nicht aus. Habt ihr euch schon mal über Familie ausgetauscht? Nun hast du eine feste Stellung, da wird es höchste Zeit für den nächsten Schritt.«
Ma springt mir zur Seite. »Nun setz den Jungen doch nicht unter Druck. Wir sind froh, dass Timo überhaupt eine Freundin hat. Das ergibt sich alles von selber. Erst einmal ist wichtig, dass er sein Studium geschafft hat und auf eigenen Füßen steht. Der Rest kommt.«
»Wir hatten es damals auch nicht so mit dem Heiraten«, bringt sich Gerhard in die Diskussion ein. Hoffentlich erzählt er nichts vom Summer of Love. »Die Zeiten haben sich gewandelt, Gott sei Dank.«
Ich gebe auch meinen Senf dazu: »Wir wollen uns Zeit lassen. Nadine ist nicht der Hochzeits-Typ, ich übrigens auch nicht.«
Oma schaut Opa tief in die Augen. Der nickt.
»Ja, so seid ihr jungen Leute«, lächelt Oma. »Aber wir haben uns etwas ausgedacht, um euch eine Hochzeit schmackhaft zu machen.«
Opa stößt mit dem Stock auf den Boden. »Nur ordentliche Verhältnisse führen zu Erfolg. Ich habe deine Großmutter in jungen Jahren geehelicht und es nicht bereut. Ich habe auch schwierige Zeiten durchgemacht. Da hat deine Oma mir immer den Rücken freigehalten. Es geht nichts über eine gesunde Ehe.«
Was meine Großeltern da sagen, kommt mir Spanisch vor. Was wollen die von mir? Gleich soll ich es erfahren.
»Es hat uns sehr missfallen, wie sich dein Vater in seiner Studentenzeit verhalten hat. Zum Schluss hat seine Rumtreiberei« – Oma wirft Gerhard einen finsteren Blick zu – »doch ein gutes Ende gefunden. Aber da mussten wir nachhelfen. Wir haben deinen Eltern dieses Haus geschenkt, damit sie heiraten. Im Grunde sind alle Menschen Kapitalisten, auch wenn sie anders daherreden.« Sie lächelt finster.
Was haben die bloß mit Heiraten. Onkel Udo hat in diesem Moment die Augen geschlossen, so dass ich ihm problemlos seinen Jägermeister klauen kann. Das Zeug schmeckt wirklich gut, finde ich jetzt. Nicht zu süß, nicht zu bitter, was will man mehr von einer Spirituose?
»Dein Vater hatte ja mit deiner Mutter eine feste Freundin, bei der man erwarten konnte, dass die Ehe hält. Bei dir Timo, kennen wir deine Nadine nicht persönlich. Deine Eltern erzählen zwar, dass sie ein nettes Mädchen ist. Aber ansonsten macht sie sich rar. Vielleicht will sie nichts mit deiner Familie zu tun haben. Nun gut. Die Zeiten haben sich geändert, die Frauen auch. Deine Großeltern sind durchaus moderne Menschen. Um es kurz zu machen: Wir schenken dir zweihunderttausend Euro, wenn du dich innerhalb von drei Monaten verlobst. Es muss nicht diese Nadine sein. Aber wir möchten gerne Urenkel haben.«
Mein Vater schluckt. »Ihr könnt meinen Sohn nicht kaufen. Der verdient sein eigenes Geld. Wenn er sich verlobt, tut er das aus freien Stücken.«
»Dich haben wir auch durch unser kleines Geschenk positiv beeinflusst«, sagt Oma kalt. »Jetzt hältst du den Mund, Gerhard.«
»Und als Zubrot«, grinst Opa »erhältst du einen Posten im Aufsichtsrat meiner Firma. Dann weiß ich, dass sich zumindest einer mit dem Familienerbe auseinandersetzt. Das gibt neben deinem Zeitungsgehalt ein schönes Sümmchen, mit dem du locker vier Personen ernähren kannst.«
Ich nehme die Jägermeisterflasche, setze an und trinke. Nach einer gefühlten Minute setze ich ab und komme mir sternhagelvoll vor.
»Jungchen«, sagt Oma. »Mit dem Alkohol solltest du dich etwas zurückhalten.«
Mensch, was wollen die von mir? Ich bekomme nichts gebacken. Keinen Studienabschluss, kein Job, keine Freundin. Wie soll ich in drei Monaten verlobt sein. Wenn ich nicht so breit wäre, hätte ich Panikattacken. Aber so ist mir alles egal.
»In dr-ei Monnaden bin isch verlobt«, lalle ich. »Oppa, mach den Scheck fettig.«