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Erster Teil Sonntag, 20. Mai

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Der Junge konnte im Dunkeln nichts sehen, aber das war auch nicht nötig. Erfahrung und langjährige Praxis sagten ihm, dass es gut kam. Schön gleichmäßig. Mit weichem Schwung. Er bewegte den ganzen Arm, sanft das Handgelenk. Lass die Kugel rollen. Keine Nasen. Wunderbar.

Er hörte das Zischen der ausströmenden Luft und spürte das Rollen der Kugel. Es waren beruhigende Empfindungen. Der Geruch erinnerte ihn an die Tüte in seiner Tasche, und er überlegte, ob er sich anknallen sollte. Vielleicht hinterher, beschloss er. Er wollte jetzt nicht aufhören, nicht bevor er den Schriftzug vollendet hatte.

Dann hörte er auf – als außer dem Zischen der Spraydose ein Motor zu hören war. Er drehte sich um, sah aber nirgendwo Licht, nur das silbrig weiße Spiegelbild des Mondes auf dem Wasserbecken und die matte Birne über der Tür zur Pumpstation, die auf halbem Weg zum Damm lag.

Aber er ließ sich nicht täuschen. Es war ein Motor. Hörte sich an wie ein Laster. Und dann meinte der Junge, das Knirschen von Reifen auf dem Kiesweg zu hören, der um das Wasserbecken führte. Es kam näher. Fast drei Uhr morgens, und jemand kam. Weshalb? Der Junge stand auf und warf die Sprühdose über den Zaun zum Wasser hin. Er hörte, wie sie im Unterholz aufschlug, kurz vor der Stelle, die er angepeilt hatte. Er zog die Tüte aus seiner Tasche und beschloss, einen kleinen Zug zu nehmen, um sich etwas Mut zu machen. Er vergrub seine Nase in der Tüte und atmete die Farbdämpfe tief ein. Auf den Absätzen torkelte er rückwärts, und seine Augenlider zuckten unkontrolliert. Die Tüte warf er über den Zaun.

Der Junge nahm sein Motorrad und schob es über die Straße, rüber ins hohe Gras zwischen die Kiefern am Fuße des Hügels. Das ist eine gute Deckung, dachte er, und sehen konnte er von hier auch, wer kam. Der Motor wurde immer lauter. In wenigen Augenblicken musste jemand da sein, aber Scheinwerfer konnte er keine sehen. Das verblüffte ihn. Aber es war zu spät, um zu fliehen. Er legte das Motorrad in das hohe, braune Gras und hielt das freilaufende Vorderrad mit der Hand fest. Dann drückte er sich an den Boden und wartete, wer oder was da kommen mochte.

Harry Bosch konnte den Hubschrauber da oben hören. Irgendwo über der Finsternis kreiste er im Licht. Wieso landete er nicht? Wieso brachte er keine Hilfe? Harry kroch durch einen verräucherten, dunklen Tunnel, und die Batterien seiner Taschenlampe ließen nach. Mit jedem Meter, den er zurücklegte, wurde das Licht schwächer. Er brauchte Hilfe. Er musste sich beeilen. Er musste das Ende des Tunnels erreichen, bevor er kein Licht mehr hatte und allein in der Finsternis hockte. Er hörte, wie der Helikopter ein letztes Mal über ihn hinwegflog. Warum landete er nicht? Wo blieb die Hilfe, die er brauchte? Als das Dröhnen der Rotoren verklang, spürte er, wie seine Panik wuchs, und er bewegte sich schneller, kroch auf zerschrammten und blutigen Knien, hielt mit einer Hand das trübe Licht, stützte sich mit der anderen ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er drehte sich nicht um, denn er wusste, dass hinter ihm im schwarzen Dunst der Feind lauerte. Unsichtbar, aber da. Und er kam näher.

Als das Telefon in der Küche klingelte, war Bosch augenblicklich wach. Er zählte das Läuten, fragte sich, ob er die ersten ein, zwei Male überhört hatte, fragte sich, ob der Anrufbeantworter angestellt war.

War er nicht. Der Anruf wurde nicht entgegengenommen, und erst nach dem achten Mal hörte das Läuten wie üblich auf. Geistesabwesend überlegte er, woher diese Vorschrift stammen mochte. Wieso nicht sechsmal? Wieso nicht zehn? Er rieb seine Augen und sah sich um. Wieder lag er in seinem Wohnzimmersessel, dem weichen Lehnstuhl, dem Herzstück seiner dürftigen Möblierung. Er betrachtete ihn als seinen Bereitschaftssessel. Was allerdings eine nicht ganz zutreffende Bezeichnung war, denn in diesem Sessel schlief er oft, sogar wenn er dienstfrei hatte.

Morgenlicht drang durch einen Spalt in den Vorhängen und lag grell auf dem abgebeizten Kiefernholzboden. Er sah Staubteilchen vor der gläsernen Schiebetür träge im Licht taumeln. Die Lampe auf dem Tisch neben ihm war an, und im Fernseher lief ohne Ton eine Sonntagmorgen-Jesus-Show. Auf dem Tisch neben dem Stuhl die Gefährten seiner Schlaflosigkeit: Kartenspiel, Illustrierte und Krimis. Letztere kaum durchgeblättert, dann weggelegt. Er sah eine zerknüllte Zigarettenschachtel und drei leere Bierflaschen – verschiedene Sorten aus verschiedenen Sixpacks. Bosch war vollständig bekleidet, einschließlich einer zerknitterten Krawatte, die mit einem silbernen 187er Krawattenclip an sein weißes Hemd geklemmt war.

Er fasste an seinen Gürtel und dann nach hinten in die Nierengegend. Er wartete. Als sich der elektronische Pieper meldete, stellte er das entnervende Geräusch augenblicklich ab. Er nahm das Gerät von seinem Gürtel und sah sich die Nummer an. Er war nicht überrascht. Er kam aus dem Sessel hoch, streckte sich, knackte mit den Gelenken in Nacken und Rücken. Er ging in die Küche, wo das Telefon auf dem Tresen stand. »Sonntag, 8:53 Uhr«, schrieb er in ein Notizbuch, das er aus seiner Jackentasche holte, bevor er wählte. Als es zweimal geklingelt hatte, meldete sich eine Stimme: »Los Angeles Police Department. Hollywood Division, Sie sprechen mit Officer Pelch. Was kann ich für Sie tun?«

Bosch sagte: »In der Zeit, die Sie brauchen, das alles loszuwerden, könnte jemand zu Tode kommen. Geben Sie mir den wachhabenden Sergeant.«

Bosch fand in einem Küchenschrank ein neues Päckchen Zigaretten und steckte sich die erste Kippe des Tages an. Er spülte Staub aus einem Glas und füllte es mit Leitungswasser, dann nahm er zwei Kopfschmerztabletten aus einer Plastikflasche, die auch in dem Schrank stand. Gerade schluckte er die zweite davon hinunter, als ein Sergeant namens Crowley abnahm.

»Was ist, hab ich dich aus der Kirche geholt? Bei dir zu Hause hat keiner abgenommen.«

»Crowley, was hast du für mich?«

»Na ja, ich weiß, wir haben dich letzte Nacht wegen dieses Fernsehmords rausgeholt. Aber du bist immer noch dran. Du und dein Partner. Das ganze Wochenende. Das heißt also, du kriegst die Leiche oben in Lake Hollywood. In einer Röhre an der Zufahrtsstraße zum Mulholland-Damm. Kennst du die?«

»Ich weiß Bescheid. Was noch?«

»Die Streife ist da. ME und SID sind informiert. Meine Leute wissen noch nicht, was sie da haben, nur dass es eine Leiche ist. Der Tote steckt gut zehn Meter tief in der Röhre. Na ja, sie wollen nicht ganz reingehen und an einem möglichen Tatort irgendwas durcheinanderbringen. Ich hab gesagt, sie sollen deinen Partner anpiepen, aber der hat sich nicht gemeldet. Ans Telefon geht er auch nicht. Ich dachte, ihr beiden wärt vielleicht zusammen oder so. Dann fiel mir ein, dass er bestimmt nicht dein Typ ist. Und du nicht seiner.«

»Ich werd ihn schon finden. Wenn sie nicht ganz reingegangen sind, woher wissen sie dann, dass es eine Leiche ist und nicht bloß einer, der seinen Rausch ausschläft?«

»Sie sind wohl ein Stück weit drin gewesen und haben mit einem Stock ordentlich an dem Mann rumgestochert. Der ist steif wie ein Schwanz in der Hochzeitsnacht.«

»Sie wollen an einem Tatort nichts durcheinanderbringen und stochern mit einem Stock an der Leiche rum. Das ist ja toll. Sind diese Typen bei uns, weil die Zugangsbestimmungen zum College verschärft worden sind, oder was?«

»Hey, Bosch, wir kriegen einen Anruf, und wir müssen ihm nachgehen. Okay? Möchtest du, dass wir unsere Leichenfunde direkt ans Morddezernat weiterleiten? Ihr Jungs wärt nach einer Woche reif für die Anstalt.«

Bosch zerdrückte die Kippe in der Spüle und sah aus dem Küchenfenster. Am unteren Ende des Hügels konnte er eine der Touristenbahnen sehen, die zwischen den beigefarbenen Studios von Universal City herumfuhren. Die Seitenwand eines der endlosen Gebäude war himmelblau angestrichen, darauf weiße Wolkenfetzen. Für Außenaufnahmen, wenn sich die natürliche Umgebung von L.A. weizenbraun färbte.

Bosch sagte: »Wie kam der Anruf rein?«

»Anonym auf 911. Kurz nach vier. Die Telefonistin sagte, der Anruf wäre von einer Zelle am Boulevard gekommen. Irgendjemand hat sich da draußen rumgetrieben und die Leiche in dem Rohr gefunden. Wollte seinen Namen nicht verraten. Hat nur gesagt, da wär ein Toter im Rohr, das war alles. Sie bringen das Band runter ins ComCenter.«

Bosch spürte, wie er langsam wütend wurde. Er nahm die Flasche mit den Kopfschmerztabletten aus dem Schrank und steckte sie in seine Tasche. Während er über den Vier-Uhr-Anruf nachdachte, öffnete er den Kühlschrank und sah hinein. Er fand nichts, was ihn interessierte. Er sah auf seine Uhr.

»Crowley, wenn die Meldung um vier Uhr morgens eingegangen ist, wieso kommst du dann jetzt damit zu mir, fast fünf Stunden später?«

»Hör zu, Bosch, wir hatten nur einen anonymen Anruf. Das war alles. Die Telefonistin sagte, es wäre ein Junge gewesen, weiter nichts. Auf eine solche Information hin wollte ich nicht einen meiner Männer mitten in der Nacht in diese Röhre schicken. Hätte ein Streich sein können. Hätte ein Hinterhalt sein können. Herrgott noch mal, es hätte alles Mögliche sein können. Ich hab gewartet, bis es hell wurde und hier langsam etwas Ruhe einkehrte, dann hab ich gegen Ende der Schicht ein paar von meinen Männern hingeschickt. Da wir gerade vom Schichtende reden … ich bin so gut wie auf dem Weg. Ich hab nur gewartet, bis ich was von denen höre und dann von dir. Noch was?«

Bosch hätte ihn gern gefragt, ob ihm schon mal in den Sinn gekommen wäre, dass es in der Röhre dunkel war, egal ob sie um vier oder um acht darin herumstocherten, aber er ließ es. Was sollte das schon bringen?

»Noch was?«, sagte Crowley wieder.

Bosch wollte nichts einfallen. Crowley durchbrach die Stille.

»Ist wahrscheinlich nur wieder ein Junkie, der den Löffel abgegeben hat, Harry. Kein eigentlicher 187er-Fall. Passiert doch dauernd. Teufel auch, du weißt doch, dass wir letztes Jahr schon mal einen aus derselben Röhre gezogen haben … ach so, das war, bevor du nach Hollywood gekommen bist … also damals klettert so ein Typ in diese Röhre – die Landstreicher, die schlafen ständig da oben – aber er, ein Knacki, setzt sich den Goldenen Schuss, und aus. Abgemeldet. Nur, dass wir ihn damals nicht so schnell gefunden haben, und bei der Sonne auf der Röhre hat er zwei Tage lang da drin gebraten. Geröstet wie ein Truthahn. Nur hat er nicht so gut gerochen.«

Crowley lachte über seinen eigenen Scherz. Bosch nicht. Der wachhabende Sergeant fuhr fort.

»Als wir den Mann rausgeholt haben, steckte die Nadel noch in seinem Arm. Ist diesmal bestimmt dasselbe. Ein Scheißjob, ein Toter unter vielen. Fahr da raus, und wenn du mittags wieder zurück bist, leg dich aufs Ohr und sieh dir vielleicht die Dodgers an. Und dann am nächsten Wochenende? Steckt der Nächste in der Röhre, und du hast dienstfrei. Das sind drei Tage am Stück. Nächstes Wochenende ist Memorial Day. Tu mir also einen Gefallen. Fahr raus und sieh dir an, was da los ist.«

Bosch dachte einen Moment nach und wollte schon auflegen, dann sagte er: »Crowley, was soll das heißen, den anderen habt ihr nicht so schnell gefunden? Woher willst du wissen, dass wir diesen schnell gefunden haben?«

»Meine Leute da draußen sagen, sie können bei dem Toten nichts riechen, nur Pisse. Der muss frisch sein.«

»Sag deinen Leuten, ich bin in einer Viertelstunde da. Sag ihnen, sie sollen an meinem Tatort keinen Mist bauen.«

»Sie …«

Bosch wusste, dass Crowley seine Leute wieder verteidigen wollte, legte aber auf, bevor er es sich anhören musste. Er steckte sich die nächste Zigarette an, als er zur Haustür ging, um sich die Times von der Treppe zu holen. Er breitete die zwölf Pfund Sonntagszeitung auf dem Küchentresen aus und fragte sich, wie viele Bäume dafür sterben mussten. Er fand den Immobilienteil und blätterte darin herum, bis er eine große Anzeige für Valley Pride Properties fand. Er fuhr mit dem Finger über eine Liste frei zu vermietender Häuser, bis er eine Adresse fand, unter der »Sprechen Sie mit Jerry« stand. Er wählte die Nummer.

»Valley Pride Properties, kann ich Ihnen helfen?«

»Jerry Edgar, bitte.«

Einige Sekunden vergingen, und Bosch hörte es ein paarmal klicken, bis sein Partner an den Apparat kam.

»Jerry am Apparat, kann ich Ihnen helfen?«

»Jed, wir haben gerade einen Auftrag bekommen. Oben am Mulholland-Damm. Und du trägst deinen Pieper nicht.«

»Scheiße«, sagte Edgar, dann war es still. Bosch konnte beinahe hören, was er dachte: Drei Besichtigungen hab ich heute. Es blieb still, und Bosch stellte sich seinen Partner am anderen Ende der Leitung in einem 900-Dollar-Anzug mit bankrottem Stirnrunzeln vor. »Was für einen Auftrag?«

Bosch erzählte ihm das wenige, was er wusste.

»Wenn du möchtest, dass ich das solo mache, tu ich es«, sagte Bosch. »Wenn Ninety-eight irgendwas will, denk ich mir was aus. Ich sag ihm, du kümmerst dich um die Fernsehsache und ich mich um die Leiche in dem Rohr.«

»Ja, ich weiß, dass du das tun würdest, aber es ist schon okay. Ich mach mich auf den Weg. Ich muss bloß jemanden finden, der für mich einspringt.«

Sie wollten sich bei der Leiche treffen, und Bosch legte auf. Er schaltete den Anrufbeantworter ein, nahm zwei Päckchen Zigaretten aus dem Schrank und schob sie in die Tasche seines Sakkos. Dann griff er in einen anderen Schrank und holte den Nylon-Holster hervor, in dem seine Waffe steckte, eine 9 mm Smith & Wesson, geladen mit acht XTPs. Bosch dachte an die Anzeige, die er in einem Polizeimagazin gesehen hatte. Garantiert tödlich. Ein Geschoss, das beim Aufprall zum Anderthalbfachen seiner Größe anwächst, tödlich tief in den Körper eindringt und maximale Einschusskanäle hervorruft. Wer immer das geschrieben hatte, wusste, wovon er redete. Vor einem Jahr hatte Bosch einen Mann aus sieben Metern Entfernung erschossen. Drang unter der rechten Achsel ein, trat unter der linken Brustwarze aus, zerschlug dabei Herz und Lunge. XTP. Maximale Einschusskanäle. Er klemmte den Holster auf der rechten Seite an seinen Gürtel, damit er ihn mit der linken Hand greifen konnte.

Er ging ins Badezimmer und putzte sich die Zähne ohne Zahnpasta. Er hatte keine mehr und vergessen, welche zu besorgen. Er zerrte einen feuchten Kamm durch sein Haar und starrte einen Moment lang seine rot umränderten, vierzig Jahre alten Augen an. Dann untersuchte er die grauen Haare, die das Braun aus seinem lockigen Haar mehr und mehr verdrängten. Sogar der Schnurrbart wurde grau. Beim Rasieren hatte er graue Stoppeln im Waschbecken entdeckt. Er betastete sein Kinn, beschloss, sich nicht zu rasieren, und ging aus dem Haus, ohne auch nur die Krawatte gewechselt zu haben. Seinem Klienten war es ohnehin egal.

Bosch fand eine Stelle ohne Taubenscheiße und stützte seine Ellbogen auf das Geländer, das oben am Mulholland-Damm entlanglief. Zwischen seinen Lippen steckte eine Zigarette. Durch zwei Hügel konnte er hinunter auf die Stadt sehen. Der Himmel war pulvergrau, und wie ein Leichentuch lag der Smog über Hollywood. Einige ferne Türme der Innenstadt ragten aus der Giftwolke auf, doch der Rest der Stadt blieb unter der Decke verborgen. Hollywood sah aus wie eine Geisterstadt.

Ein leicht chemischer Geruch lag in der warmen Brise, und nach einer Weile wusste er, was es war. Malathion. Im Radio hatte er gehört, dass die Helikopter in der Nacht Nord-Hollywood bis hin zum Cahuenga Pass mit Gift gegen die Fruchtfliegen besprüht hatten. Sein Traum fiel ihm ein, und er erinnerte sich an den Hubschrauber, der nicht landen wollte.

Hinter ihm erstreckte sich die blaugrüne Weite des Wasserreservoirs der Stadt, zweihundertvierzig Millionen Liter Trinkwasser, gebändigt von einem altehrwürdigen Damm im Canyon zwischen zwei Hollywood-Hügeln. Ein zwei Meter breiter Streifen aus getrocknetem Lehm zog sich am Ufer entlang und erinnerte daran, dass L.A. das vierte Jahr einer Dürreperiode erlebte. Weiter oben am Ufer des Bassins gab es einen drei Meter hohen Maschendrahtzaun, der das gesamte Ufer umfasste. Bei seiner Ankunft hatte sich Bosch diesen Zaun genauer angesehen und gefragt, ob damit die Leute vor dem Wasser oder das Wasser vor den Leuten geschützt werden sollte.

Bosch trug einen braunen Overall über seinem zerknitterten Anzug. Schweiß zeichnete sich durch beide Kleiderschichten unter seinen Achseln und am Rücken ab. Sein Haar war feucht, sein Bart hing. Er war in der Röhre gewesen. Er spürte, wie das leise, warme Kitzeln der Santa-Ana-Winde den Schweiß in seinem Nacken trocknete. Sie kamen früh in diesem Jahr.

Harry war kein großer Mann. Er war knapp unter eins achtzig und schlank gebaut. Die Zeitungen – wenn sie ihn beschrieben – nannten ihn »drahtig«. Unter dem Overall hatte er Muskeln wie Nylonseile, kräftig, aber nicht protzig. Seine Augen waren schwarzbraun und gaben nur selten Gefühle oder Absichten preis.

Die Röhre lag über der Erde und verlief etwa fünfzig Meter an der Zufahrtsstraße zum Wasserbecken entlang. Drinnen wie draußen war sie verrostet. Sie war leer und unbenutzt, sah man von denen ab, die ihr Inneres als Unterkunft oder ihr Äußeres für Graffiti benutzten. Bosch hatte keine Ahnung, wozu sie diente, bis der Aufseher der Anlage es ihm mitteilte. Die Röhre war ein Schlammschutz. Heftiger Regen, sagte der Aufseher, könne Erdmassen lösen und Schlamm von den Hügeln ins Becken abrutschen lassen. Die einen Meter dicke Röhre, die von irgendeinem vergessenen Projekt stammte, war zum Schutz des Wasserreservoirs in einem gefährdeten Bereich angebracht worden. Sie wurde von einer zentimeterdicken Eisenstrebe gehalten, die im Beton darunter eingegossen war.

Bosch hatte seinen Overall angezogen, bevor er in die Röhre kroch. Die Buchstaben LAPD prangten in weißer Farbe auf dem Rücken. Nachdem er ihn aus dem Kofferraum des Wagens geholt und übergezogen hatte, fiel ihm auf, dass das Ding wahrscheinlich sauberer war als der Anzug, den er damit schützen wollte. Aber er trug ihn trotzdem, denn er hatte ihn schon immer getragen. Er war ein methodisch vorgehender, von Haus aus misstrauischer Detective.

Als er mit einer Taschenlampe in der Hand in den feucht riechenden, beängstigend engen Zylinder kroch, spürte er, wie sich seine Kehle zusammenzog und sein Herz schneller schlug. Eine vertraute Leere packte seine Eingeweide. Angst. Dann aber knipste er die Lampe an, und mit der Dunkelheit verflog auch das unangenehme Gefühl. Er machte sich an die Arbeit. Jetzt stand er auf dem Damm und rauchte und dachte nach. Crowley, der wachhabende Sergeant, hatte recht gehabt, der Mann in der Röhre war mit Sicherheit tot. Aber er hatte ebenso unrecht gehabt. Es würde kein einfacher Fall werden. Harry würde nicht rechtzeitig zu Hause sein, um sich aufs Ohr zu hauen oder die Dodgers auf KABC anzuhören. Hier lief irgendwas falsch. Harry musste keine drei Meter weit in die Röhre kriechen, um sich seiner Sache sicher zu sein.

Es gab keine Spuren in der Röhre. Oder besser gesagt, es gab keine brauchbaren Spuren. Der Boden war bedeckt mit trockenem, orangefarbenem Schlamm und lag voller Papiertüten, leerer Weinflaschen, Wattefetzen, gebrauchter Spritzen, Schlafstellen aus Zeitungspapier – Abfall von Obdachlosen und Drogenabhängigen. All das hatte sich Bosch im Licht der Taschenlampe angesehen, als er sich langsam der Leiche näherte. Und er fand keine erkennbare Spur, die der Tote, der mit dem Kopf voran in der Röhre lag, verursacht haben konnte. Irgendwas stimmte da nicht. Wenn der Tote aus eigenem Antrieb hineingekrochen war, musste es Anzeichen dafür geben. Wenn er hineingezogen worden war, hätte man es auch sehen müssen. Aber es war nichts festzustellen, und das war nicht das Einzige, was Bosch beunruhigte.

Als er bei der Leiche war, sah er, dass das Hemd des toten Mannes – ein schwarzes, am Kragen offenes Militärhemd – über seinen Kopf gezogen war und die Arme sich darin verheddert hatten. Bosch hatte schon genug Leichen gesehen, und er wusste sehr wohl, dass während der letzten Atemzüge buchstäblich nichts unmöglich war. Er hatte an einem Fall gearbeitet, bei dem sich ein Mann in den Kopf geschossen hatte und dann, bevor er starb, die Hosen wechselte, weil er offenbar nicht wollte, dass man seine Leiche mit Exkrementen verschmiert fand. Doch das Hemd und die Arme des Toten in dem Rohr konnte Harry so nicht hinnehmen. Für Bosch sah es aus, als hätte jemand die Leiche am Kragen in die Röhre gezerrt.

Bosch hatte den Toten weder angerührt noch das Hemd vom Gesicht gezogen. Er hatte gesehen, dass es sich um einen männlichen Weißen handelte. Er fand keinen direkten Hinweis auf die tödliche Verletzung. Nachdem er die Leiche untersucht hatte, schob sich Bosch vorsichtig über sie hinweg, wobei sein Gesicht bis auf zehn Zentimeter an ihn herankam, und kroch dann die dahinter liegenden vierzig Meter ab. Er fand weder Spuren noch sonst irgendwas von Wert. Nach zwanzig Minuten stand er wieder im Sonnenlicht. Dann schickte er einen Tatortspezialisten namens Donovan hinein, der die Lage der Abfälle aufzeichnen und die Position der Leiche auf Video festhalten sollte. Donovans Miene verriet seine Überraschung darüber, wegen eines Falles, den er als Überdosis abgeschrieben hatte, in das Rohr kriechen zu müssen. Wahrscheinlich hat er Karten für die Dodgers, dachte Bosch.

Nachdem er Donovan die Röhre überlassen hatte, steckte sich Bosch eine Zigarette an und trat an das Geländer des Damms, um auf die stinkende Stadt hinabzusehen und vor sich hinzubrüten.

Am Geländer konnte er den Verkehrslärm hören, der vom Hollywood Freeway herauftrieb. Aus dieser Entfernung klang er beinah sanft. Wie ein stiller Ozean. Durch den Canyon sah er blaue Swimmingpools und spanische Ziegeldächer.

Eine Frau in einem weißen Top und hellgrünen Jogging-Shorts lief auf dem Damm an ihm vorbei. Ein kleines Radio hing an ihrem Hosenbund, und ein dünner, gelber Draht führte zu den Kopfhörern, die in ihren Ohren steckten. Sie schien in ihrer eigenen Welt zu sein, nahm die Ansammlung von Polizisten gar nicht wahr, bis sie an das gelbe Band am Ende des Damms kam, das den Tatort absperrte. In zwei Sprachen forderte es sie auf, nicht weiterzugehen. Einen Moment lang joggte sie auf der Stelle. Das lange, blonde Haar klebte am Schweiß auf ihren Schultern, und sie sah sich die Polizisten an, die größtenteils auch sie betrachteten. Dann drehte sie sich um und kam wieder an Bosch vorbei. Er folgte ihr mit seinem Blick, und ihm fiel auf, dass sie, als sie am Pumpenhaus vorbeikam, ihren Kurs änderte, um irgendetwas auszuweichen. Er ging hinüber und fand Glas auf dem Gehweg. Er sah hoch und bemerkte die zerbrochene Birne in der Fassung über der Tür zum Pumpenhaus. In Gedanken machte er eine Notiz, dass er den Aufseher fragen wollte, ob die Birne in letzter Zeit überprüft worden war.

Als Bosch wieder zu seiner Stelle am Geländer zurückkam, bemerkte er eine undeutliche Bewegung unter sich. Er blickte nach unten und sah einen Kojoten, der zwischen den Kiefernnadeln und dem Müll herumschnüffelte, der den Boden unter den Bäumen vor dem Damm bedeckte. Das Tier war klein, sein Fell zerzaust, und an manchen Stellen war es vollkommen kahl. Nur wenige waren in den abgesperrten Teilen der Stadt noch übrig, suchten nach Aas im Müll der menschlichen Aasgeier.

»Sie holen ihn jetzt raus«, sagte eine Stimme hinter ihm.

Bosch drehte sich um und sah einen der Uniformierten, der dem Tatort zugeteilt war. Er nickte und folgte ihm den Damm hinunter, unter dem gelben Band hindurch und zurück zu der Röhre.

Grunzen und schweres Keuchen hallten aus dem Schlund der mit Graffiti übersäten Röhre. Ein Mann ohne Hemd, sein muskulöser Rücken zerkratzt und schmutzig, kam rückwärts heraus und zerrte an einer dicken, schwarzen Plastikfolie, auf der die Leiche lag. Das Gesicht des Toten blickte noch immer nach oben, und die Arme waren unter dem schwarzen Hemd verborgen. Bosch sah sich nach Donovan um und fand ihn an der Heckklappe eines blauen Einsatzfahrzeugs beim Verstauen eines Videorekorders. Harry ging hinüber.

»Du musst leider noch mal rein. Der ganze Abfall da drinnen, Zeitungen, Dosen, Tüten, ich hab ein paar Spritzen gesehen, Watte, Flaschen, ich will das alles mitnehmen.«

»Kannst du haben«, sagte Donovan. Er wartete kurz und fügte hinzu: »Ich will ja nichts sagen, Harry, aber ich meine, glaubst du wirklich, da ist was dran? Ist die Sache es wert, dass wir uns dafür den Arsch aufreißen?«

»Ich schätze, wir werden es erst wissen, wenn sie ihn aufgeschnitten haben.«

Er wandte sich ab, blieb aber stehen.

»Hör zu, Donnie, ich weiß, es ist Sonntag, aber danke, dass du noch mal reingehst.«

»Kein Problem. Das sind alles Überstunden.«

Der Mann ohne Hemd und ein Helfer des Coroners hockten am Boden und beugten sich über die Leiche. Beide trugen weiße Gummihandschuhe. Der Techniker war Larry Sakai, ein Mann, den Bosch seit Jahren kannte und noch nie gemocht hatte. Neben ihm stand eine offene Angelkiste am Boden. Er nahm ein Skalpell heraus und machte einen zwei Zentimeter langen Schnitt an der Seite der Leiche, kurz über der linken Hüfte. Es trat kein Blut aus der Wunde. Er holte ein Thermometer aus der Kiste und befestigte es am Ende einer gebogenen Sonde. Er schob es in den Einschnitt, drehte es geschickt, wenn auch etwas grob, und trieb es bis hinauf in die Leber.

Der Mann ohne Hemd verzog das Gesicht, und Bosch fiel auf, dass er an seinem rechten Auge eine blau tätowierte Träne hatte. Es war sicher der einzige Ausdruck von Mitgefühl, den der Tote zu erwarten hatte.

»Die Todeszeit dürfte eine harte Nuss werden«, sagte Sakai. Er sah nicht von seiner Arbeit auf. »Wissen Sie, so eine Röhre … bei den steigenden Temperaturen verfälscht sie den Temperaturverlust in der Leber. Osito hat drinnen abgelesen, es waren siebenundzwanzig Grad. Zehn Minuten später waren es neunundzwanzig. Wir haben keine feste Temperatur, weder in der Leiche noch im Rohr.«

»Also?«, fragte Bosch.

»Also werde ich Ihnen hier nichts sagen können. Ich muss ihn mitnehmen und ein bisschen rechnen.«

»Sie meinen, Sie wollen ihn jemandem geben, der weiß, wie man es ausrechnet?«, fragte Bosch.

»Sie werden es schon erfahren, wenn Sie zur Autopsie kommen. Keine Sorge, Mann.«

»Apropos, wer schneidet denn heute?«

Sakai antwortete nicht. Er war mit den Beinen des Toten beschäftigt. Er nahm die beiden Schuhe und verdrehte die Fußgelenke. Er schob seine Hände die Beine hinauf und fasste unter die Oberschenkel, hob die Beine an und beobachtete, wie sie an den Knien einknickten. Dann drückte er mit den Händen auf den Unterleib, als suche er nach geschmuggelten Drogen. Schließlich langte er in das Hemd und versuchte, den Kopf des toten Mannes herumzudrehen. Doch der rührte sich nicht. Bosch wusste, dass Leichenstarre am Kopf begann, dann den Körper und anschließend die Gliedmaßen steif werden ließ.

»Der Hals dieses Mannes sitzt bombenfest«, sagte Sakai. »Der Magen steht kurz davor. Nur die Gliedmaßen lassen sich noch gut bewegen.«

Er zog einen Bleistift hinter dem Ohr hervor und drückte das Radiergummiende an der Seite des Rumpfes gegen die Haut. Rötliche Flecken zeigten sich auf dem Teil der Leiche, der dem Erdboden am nächsten war, so als wäre der Mann mit Rotwein abgefüllt. Es waren Leichenflecken. Wenn das Herz aufhört zu pumpen, sucht sich das Blut den tiefsten Punkt. Als Sakai den Bleistift gegen die dunkle Haut drückte, färbte sie sich nicht weiß, ein Zeichen dafür, dass das Blut vollständig geronnen war. Der Mann war seit Stunden tot.

»Die Leichenfärbung ist gleichmäßig«, sagte Sakai. »Das, zusammen mit der Spritze, sagt mir, dass der Bursche vielleicht sechs bis acht Stunden tot ist. Bis wir mit den Temperaturen arbeiten können, muss Ihnen das genügen, Bosch.«

Sakai sah nicht auf, als er es sagte. Er und Osito fingen an, die Taschen in den grünen Militärhosen des Toten umzudrehen. Sie waren leer, ebenso wie die großen, ausgebeulten Taschen an den Oberschenkeln. Sie rollten die Leiche auf die Seite, um in den Gesäßtaschen nachzusehen. Während sie damit beschäftigt waren, beugte sich Bosch hinab, um einen Blick auf den nackten Rücken des Toten zu werfen. Die Haut war schmutzig und gerötet von Leichenflecken. Aber er sah keine Kratzer oder sonstige Spuren, die den Schluss zuließen, dass die Leiche über den Boden geschleift worden war.

»In der Hose ist nichts, Bosch, kein Ausweis«, sagte Sakai.

Dann begannen sie vorsichtig, dem Toten das schwarze Hemd auszuziehen. Er hatte struppiges Haar mit vielen grauen Strähnen, kaum noch schwarz, was es einmal gewesen sein mochte. Der Bart war ungepflegt, und er sah aus wie etwa fünfzig, woraufhin Bosch ihn auf etwa vierzig schätzte. In der Brusttasche des Hemdes fand sich etwas. Sakai fischte es heraus, betrachtete es einen Augenblick, dann legte er es in den Plastikbeutel, den sein Partner offenhielt.

»Bingo«, sagte Sakai und reichte Bosch den Beutel nach oben. »Das ist doch eine Spur. Erleichtert uns den Job um einiges.«

Als Nächstes zog Sakai die Augenlider des toten Mannes hoch. Die Augen waren blau und von einem milchigen Film überzogen. Beide Pupillen hatten sich zur Größe einer Bleistiftmine zusammengezogen. Ausdruckslos starrten sie Bosch an, jede Pupille ein kleines, schwarzes Vakuum.

Sakai machte sich ein paar Notizen auf einem Klemmbrett. Seine Entscheidung in diesem Fall war getroffen. Dann zog er ein Stempelkissen und eine Karte aus der Angelkiste neben sich. Er färbte die Finger der linken Hand ein und begann, sie darauf zu pressen. Bosch bewunderte, wie schnell und geschickt er arbeitete. Aber dann erstarrte Sakai.

»Hey, sieh sich das mal einer an.«

Vorsichtig bewegte Sakai den Zeigefinger. Er ließ sich leicht in alle Richtungen drehen. Das Gelenk war sauber gebrochen, aber man sah keine Spur einer Schwellung oder Blutung.

»Ich würde meinen, das war nachträglich«, sagte Sakai.

Bosch beugte sich vor, um genauer sehen zu können. Er nahm die Hand des Toten und betastete sie selber. Er sah Sakai an, dann Osito.

»Bosch, damit brauchen Sie gar nicht erst anzufangen«, bellte Sakai. »Sehen Sie ihn nicht so an. Er weiß, was er tut. Ich habe ihn selbst ausgebildet.«

Bosch erinnerte Sakai nicht daran, dass er höchstpersönlich am Steuer des Wagens gesessen hatte, aus dem vor ein paar Monaten eine Bahre samt Leiche gerollt war, mitten auf den Ventura Freeway. Während der Rushhour. Die Bahre war die Ausfahrt am Lankershim Boulevard hinuntergerollt und an einer Tankstelle ins Heck eines Wagens geknallt. Wegen der Trennwand aus Fiberglas hatte Sakai erst am Leichenschauhaus bemerkt, dass der Tote unterwegs auf der Strecke geblieben war.

Bosch überließ dem Helfer die Hand des toten Mannes. Sakai wandte sich Osito zu und stellte ihm eine Frage auf spanisch. Ositos kleines, braunes Gesicht wurde sehr ernst, und er schüttelte energisch den Kopf.

»Er hat die Hände des Mannes nicht angerührt. Also warten Sie bis zur Autopsie, bis Sie etwas sagen, was Sie nicht genau wissen.«

Sakai fuhr fort, die Fingerabdrücke zu nehmen, dann reichte er Bosch die Karte.

»Tüten Sie die Hände ein«, sagte Bosch zu ihm, obwohl es nicht nötig war. »Und die Füße.«

Er stand wieder auf und wedelte mit der Karte, um die Tinte zu trocknen. In der anderen Hand hielt er die Plastiktüte mit den Beweisstücken, die Sakai ihm gegeben hatte. Darin hielt ein Gummiband eine Injektionsspritze, eine kleine Ampulle, halb voll mit etwas, das wie schmutziges Wasser aussah, ein Stück Watte und ein Streichholzheftchen zusammen. Es war ein Fixerbesteck, und es sah ziemlich neu aus. Die Nadel war sauber, ohne jede Spur von Rost. Die Watte, schätzte Bosch, war nur ein- oder zweimal als Sieb benutzt worden. In den Fasern sah man winzige, weißlich braune Kristalle. Als er den Beutel umdrehte, konnte er beide Seiten des Streichholzheftchens sehen und ihm fiel auf, dass nur zwei Streichhölzer fehlten.

In diesem Augenblick kam Donovan aus dem Rohr gekrochen. Er trug einen Bergarbeiterhelm mit einer Grubenlampe. In einer Hand hielt er mehrere Plastiktüten, in denen sich jeweils vergilbtes Zeitungspapier, Lebensmittelverpackungen, eine zerdrückte Bierdose befanden. In der anderen hielt er ein Klemmbrett, auf dem eingezeichnet war, wo jeder dieser Gegenstände in der Röhre gelegen hatte. Spinnweben hingen an den Seiten des Helms. Schweiß lief über sein Gesicht und verfärbte die Atemmaske, die er über Mund und Nase trug. Bosch hielt die Tüte mit dem Fixerbesteck hoch. Abrupt blieb Donovan stehen.

»Hast du da drinnen eine Pfanne gefunden?«, fragte Bosch.

»Scheiße, das ist ein Junkie?«, sagte Donovan. »Ich wusste es. Wozu machen wir hier den ganzen Mist?«

Bosch antwortete nicht. Er wartete ab.

»Ja, ich habe eine Coladose gefunden«, sagte Donovan.

Der Spurensicherungsexperte sah die Plastiktüten durch und reichte Bosch eine herüber. Sie enthielt zwei Hälften einer Coladose. Die Dose sah einigermaßen neu aus und war mit einem Messer in zwei Teile geschnitten worden. Die untere Hälfte hatte man umgedreht und die konkave Oberfläche als Pfanne benutzt, um darin Heroin und Wasser zu kochen. Die meisten Junkies benutzten keine Löffel mehr. Einen Löffel bei sich zu haben, war ein möglicher Grund, verhaftet zu werden. Dosen waren leicht zu beschaffen, leicht zu benutzen und zu vernichten.

»Wir brauchen die Fingerabdrücke vom Besteck und von der Pfanne, so bald wie möglich«, sagte Bosch. Donovan nickte und schleppte die Plastiktüten zum Transporter. Bosch wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Männern vom Coroner zu.

»Er hat kein Messer bei sich, stimmt’s?«, sagte Bosch.

»Stimmt«, sagte Sakai. »Wieso?«

»Ich brauche ein Messer. Unvollständiger Tatort ohne Messer.«

»Na und? Der Typ ist ein Junkie. Junkies beklauen andere Junkies. Wahrscheinlich haben seine Kumpels es mitgenommen.«

Sakai krempelte die Ärmel des Toten auf. Zum Vorschein kam ein Muster aus vernarbter Haut an beiden Armen. Alte Einstichspuren, Krater von Abszessen und Infektionen. In der Beuge des linken Armes waren ein frischer Einstich und unter der Haut eine rötlichgelbe Blutung zu sehen.

»Bingo«, sagte Sakai. »Ich würde sagen, der Typ hat sich die volle Dröhnung in den Arm geknallt und pfffft, das war’s. Wie gesagt, Sie haben hier einen Drogenfall, Bosch. Ihr Tag ist heute früh zu Ende. Holen Sie sich eine Karte für die Dodgers.«

Bosch ging wieder in die Hocke, um genauer hinsehen zu können.

»Das erzählt mir hier jeder«, sagte er.

Und wahrscheinlich hat Sakai recht, dachte er. Aber noch wollte er diesen Fall nicht zu den Akten legen. Zuviel passte nicht zueinander. Die fehlenden Spuren im Rohr. Das Hemd über den Kopf gezogen. Der gebrochene Finger. Kein Messer.

»Wie kommt es, dass sämtliche Einstiche alt sind, bis auf den einen?«, fragte er mehr sich selbst als Sakai.

»Wer weiß?«, antwortete Sakai trotzdem. »Vielleicht war er eine Zeit lang nicht drauf und hat beschlossen, wieder anzufangen. Einmal Junkie, immer Junkie. Die brauchen keine Gründe.«

Beim Betrachten der Einstiche im Arm des toten Mannes bemerkte Bosch kurz unter dem Ärmel, der am linken Bizeps zusammengerollt war, blaue Farbe auf der Haut. Er sah nicht genug, um erkennen zu können, was es war.

»Ziehen Sie das hoch«, sagte er und zeigte darauf.

Sakai schob den Ärmel bis zur Schulter und legte eine Tätowierung aus roter und blauer Tinte frei. Es war eine karikierte Ratte, die auf den Hinterbeinen hockte und mit großen Zähnen ordinär grinste. In der einen Hand hielt die Ratte eine Pistole, in der anderen eine Schnapsflasche mit der Aufschrift »XXX«. Die blaue Schrift über und unter dem Cartoon war vom Alter und der gespannten Haut verzogen. Sakai versuchte, sie zu lesen.

»Da steht ›Force‹ … nein, ›First Infantry‹. Der Typ war in der Armee. Der untere Teil macht keinen … das ist eine andere Sprache. ›Non … Gratum … Anum … Ro …‹ Das kann ich nicht entziffern.«

»Rodentum«, sagte Bosch.

Sakai sah ihn an.

»Küchenlatein«, erklärte Bosch. »Nicht mehr wert als ein Rattenschiss. Er war eine Tunnelratte. Vietnam.«

»Wie auch immer«, sagte Sakai. Er warf einen prüfenden Blick auf die Leiche und das Rohr und sagte: »Na, in einem Tunnel ist er dann auch krepiert, nicht? In gewisser Weise.«

Bosch berührte das Gesicht des toten Mannes und strich ihm das struppige, grauschwarze Haar aus der Stirn und den leeren Augen. Da er es ohne Handschuhe tat, unterbrachen die anderen ihre Arbeit und beobachteten dieses ungewöhnliche, höchst unhygienische Verhalten. Bosch kümmerte sich nicht darum. Lange Zeit starrte er in das Gesicht, sagte nichts, hörte nicht, ob etwas gesagt wurde. In dem Augenblick, als ihm klar wurde, dass er das Gesicht kannte, genau wie er die Tätowierung kannte, blitzte das Bild eines jungen Mannes vor seinem inneren Auge auf. Grobknochig und braun gebrannt, das Haar kurz geschoren. Lebendig, nicht tot. Er stand auf und wandte sich abrupt von dem Toten ab.

Dabei stieß er mit Jerry Edgar zusammen, der endlich eingetroffen war und sich gerade über die Leiche beugen wollte. Beide traten einen Schritt zurück, einen Moment lang wie benommen. Bosch griff sich an die Stirn. Edgar, der wesentlich kleiner war, befühlte sein Kinn.

»Scheiße, Harry«, sagte Edgar. »Bist du okay?«

»Ja. Und du?«

Edgar sah nach, ob an seiner Hand Blut war.

»Ja. Tut mir leid. Wieso springst du hier so rum?«

»Ich weiß nicht.«

Edgar warf über Harrys Schulter einen Blick auf die Leiche, dann folgte er seinem Partner, fort von der Meute.

»Tut mir leid, Harry«, sagte Edgar. »Ich musste eine Stunde warten, bis ich jemanden hatte, der meine Termine übernehmen konnte. Also, sag an, was haben wir hier?«

Edgar rieb sich beim Sprechen noch immer das Kinn.

»Weiß nicht genau«, sagte Bosch. »Ich möchte, dass du dich in einen von diesen Wagen mit MCT setzt. Eins, das funktioniert. Sieh nach, ob du irgendwas zu dem Namen Meadows, Billy, findest, oder besser zu William. Geburtsjahr dürfte 1950 sein. Seine Adresse müssten wir von der Verkehrsbehörde kriegen können.«

»Ist das der Tote?«

Bosch nickte.

»Nichts, keine Adresse auf seinem Ausweis?«

»Er hatte keinen Ausweis. Ich hab ihn erkannt. Also prüf das über Funk nach. Es müsste in den letzten paar Jahren einige Kontakte gegeben haben. Zumindest Drogengeschichten bei der Van Nuys Division.«

Edgar schlenderte zu der Reihe von parkenden Streifenwagen hinüber, um einen mit mobilem Computerterminal zu finden. Da er ein stattlicher Mann war, wirkte sein Gang schwerfällig, aber Bosch wusste aus Erfahrung, dass es nicht immer leicht war, mit ihm Schritt zu halten. Edgars Kleidung war makellos. Er trug einen maßgeschneiderten, braunen Anzug mit dünnen Nadelstreifen. Sein Haar war kurz geschnitten und seine Haut beinahe so weich und schwarz wie eine Aubergine. Bosch sah Edgar hinterher und konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass er sein Eintreffen so hingedreht hatte, dass er gerade eben zu spät kam, um sein Ensemble nicht zerknittern zu müssen, indem er in einen Overall stieg und durch das Rohr kroch.

Bosch trat an den Kofferraum seines Wagens und holte die Polaroidkamera heraus. Dann ging er zu der Leiche zurück, stellte sich breitbeinig darüber und beugte sich vor, um Fotos vom Gesicht zu machen. Drei würden genügen, sagte er sich und legte die Polaroids zum Entwickeln auf das Rohr. Er musste das Gesicht einfach anstarren, die Veränderungen, die die Zeit mit sich gebracht hatte. Er dachte an das Gesicht und das besoffene Grinsen an jenem Abend, als die Ratten der First Infantry geschlossen aus dem Tätowiersalon in Saigon gekommen waren. Es hatte die abgekämpften Amerikaner vier Stunden gekostet, aber sie waren zu Blutsbrüdern geworden, als sie sich alle dasselbe Brandzeichen verpassen ließen. Bosch erinnerte sich an Meadows’ Begeisterung über ihre Verbundenheit und die Angst, die sie gemeinsam teilten.

Harry trat von der Leiche zurück, während Sakai und Osito einen schwarzen, schweren Plastiksack mit einem Reißverschluss in der Mitte entfalteten. Als der Leichensack offen war, hoben die Leute des Coroners Meadows an und legten ihn hinein.

»Sieht aus wie dieser verdammte Rip Van Winkle«, sagte Edgar, als er näher kam.

Sakai zog den Reißverschluss zu, und Bosch sah, dass ein paar von Meadows’ grauen Locken darin eingeklemmt waren. Meadows wäre es egal. Er hatte Bosch einmal gesagt, eines Tages würde er in einem Leichensack enden. Wie alle anderen auch, sagte er.

Edgar hielt in einer Hand ein kleines Notizbuch, einen goldenen Füller in der anderen.

»William Joseph Meadows, 21.7.50. Hört sich das gut an, Harry?«

»Ja, das ist er.«

»Na, du hattest recht, es gab mehrfach Kontakt. Aber nicht nur Junkiezeugs. Wir haben einen Bankraub, versuchten Raub, Besitz von Heroin. Wir haben Landstreicherei hier oben am Damm vor einem Jahr oder so. Und tatsächlich ein paar Verfahren wegen Drogen. Das eine in Van Nuys, von dem du gesprochen hast. Was war er, dein Informant?«

»Nein. Hast du eine Adresse?«

»Wohnt im Valley. Sepulveda, oben bei der Brauerei. Schwierig, in der Gegend ein Haus zu verkaufen. Wenn er also kein Informant war, woher kennst du den Mann?«

»Ich kannte ihn nicht … jedenfalls nicht in letzter Zeit. Ich kannte ihn in einem anderen Leben.«

»Was heißt das? Wann kanntest du ihn?«

»Das letzte Mal hab ich Billy Meadows vor gut zwanzig Jahren gesehen. Er war … es war in Saigon.«

»Tja, das dürfte etwa zwanzig Jahre her sein.« Edgar ging zu den Polaroids hinüber und sah sich die drei Aufnahmen von Billy Meadows’ Gesicht an. »Kanntest du ihn gut?«

»Eigentlich nicht. So gut wie man jemanden da unten eben kennengelernt hat. Du vertraust den Leuten dein Leben an, und dann ist es vorbei, und du merkst, dass du die meisten von ihnen gar nicht gekannt hast. Ich hab ihn kein einziges Mal getroffen, nachdem ich wieder hier war. Letztes Jahr haben wir telefoniert, das war alles.«

»Wie hast du ihn erkannt?«

»Hab ich zuerst gar nicht. Bis ich die Tätowierung an seinem Arm gesehen habe. Da kam mir das Gesicht bekannt vor. Wahrscheinlich erinnert man sich an Leute wie ihn. Ich jedenfalls.«

»Wahrscheinlich …«

Sie ließen das Schweigen etwas wirken. Bosch versuchte, einen Entschluss zu fassen, wie es weitergehen sollte, konnte sich aber nur über den Zufall wundern, dass er an einen Tatort gerufen wurde, an dem er Meadows fand. Edgar störte seine Nachdenklichkeit.

»Würdest du mir erzählen, was deiner Meinung nach hier faul sein soll? Donovan da drüben sieht aus, als wenn er sich wegen der Arbeit, die du ihm aufhalst, gleich in die Hosen macht.«

Bosch erzählte Edgar von den Problemen, dem Fehlen erkennbarer Spuren im Rohr, dem Hemd, das über den Kopf gezogen war, dem gebrochenen Finger und dass kein Messer zu finden war.

»Kein Messer?«, sagte sein Partner.

»Er brauchte irgendwas, um die Dose in zwei Teile zu schneiden, damit er eine Pfanne hatte … falls die Pfanne seine war.«

»Er könnte sie mitgebracht haben. Möglich, dass jemand drinnen war und das Messer mitgenommen hat, als der Mann schon tot war. Falls da überhaupt ein Messer war.«

»Ja, könnte sein. Es gibt keine Spuren, die uns irgendwas verraten könnten.«

»Na ja, aus seiner Akte wissen wir, dass er ein ausgebrannter Junkie war. Als du ihn kanntest, war er da auch so?«

»Bis zu einem gewissen Grad. Konsument und Verkäufer.«

»Na, da hast du es doch, Langzeitabhängiger, man kann nie sagen, was sie als Nächstes tun, ob sie von dem Scheißzeug loskommen oder wieder anfangen. Das sind Verlorene, Harry.«

»Aber er war weg davon … wenigstens glaube ich das. Er hat nur einen einzigen frischen Einstich im Arm.«

»Harry, du hast gesagt, du hast diesen Mann seit Saigon nicht mehr gesehen. Woher willst du wissen, ob er drauf war oder nicht?«

»Ich hab ihn nicht gesehen, aber mit ihm gesprochen. Er hat mich einmal angerufen, irgendwann im letzten Jahr. Juli oder August, glaube ich. Eine Streife hatte ihn wegen seiner Einstichspuren aufgegriffen und nach Van Nuys geschafft. Irgendwoher, vielleicht aus der Zeitung oder so – es war etwa zur selben Zeit wie die Dollmaker-Sache – hat er erfahren, dass ich Bulle bin und rief mich im Morddezernat an. Rief aus dem Van-Nuys-Gefängnis an und fragte, ob ich ihm nicht helfen könnte. Er hätte nur etwa dreißig Tage absitzen müssen, aber er sagte, er wäre völlig fertig. Und er, hm, sagte, diesmal könne er seine Zeit nicht absitzen, allein könne er nicht runterkommen …«

Bosch brach ab, bevor er die Geschichte zu Ende gebracht hatte. Nach langer Zeit half ihm Edgar wieder auf die Sprünge.

»Und …? Komm schon, Harry, was hast du getan?«

»Und ich hab ihm geglaubt. Ich hab mit dem Cop geredet. Ich weiß noch, dass er Nuckles hieß. Guter Name für einen Streifenbullen, dachte ich. Und dann hab ich die Veteranenfürsorge oben in Sepulveda angerufen und Meadows in den Entzug gelotst. Nuckles hat mitgespielt. Er ist selbst Veteran. Er hat den Staatsanwalt dazu gebracht, den Richter um eine Verschiebung zu ersuchen. Also, jedenfalls hat die Klinik Meadows aufgenommen. Sechs Wochen später habe ich mich erkundigt, und sie sagten, er hätte es voll durchgezogen, wäre runter und es ginge ihm so weit ganz gut. Ich meine, das haben sie mir erzählt. Sie sagten, er wäre in der zweiten Betreuungsstufe. Gespräche mit einem Psychiater, Gruppentherapie … Seit dem ersten Anruf hab ich nie wieder mit Meadows gesprochen. Er hat nie mehr angerufen, und ich habe nicht versucht, ihn zu besuchen.«

Edgar sah auf seinen Block. Bosch merkte, dass die Seite, auf die er starrte, leer war.

»Hör mal, Harry«, sagte Edgar, »das ist fast ein Jahr her. Eine lange Zeit für einen Fixer, oder? Wer weiß? Er könnte seitdem dreimal schwach geworden und wieder von der Droge runtergekommen sein. Aber das ist hier nicht unser Problem. Die Frage ist: Was willst du mit dem anfangen, was wir hier haben? Was willst du wegen heute unternehmen?«

»Glaubst du an Zufälle?«, fragte Bosch.

»Ich weiß nicht. Ich …«

»Es gibt keine Zufälle.«

»Harry, ich weiß nicht, wovon du redest. Aber willst du meine Meinung hören? Ich sehe hier nichts Außergewöhnliches. Einer kriecht in eine Röhre, in der Dunkelheit kann er vielleicht nicht sehen, was er tut, er pumpt sich zu viel Stoff in den Arm und krepiert. Das ist alles. Vielleicht war jemand bei ihm und hat beim Abhauen die Spuren verwischt. Und das Messer mitgenommen. Es könnten hundert versch …«

»Manchmal ist es eben nicht so offensichtlich, Jerry. Das ist hier das Problem. Es ist Sonntag. Alle wollen nach Hause. Golf spielen. Häuser verkaufen. Sich das Match ansehen. Keinen kümmert es. Nur der Form halber. Siehst du nicht, dass es genau das ist, worauf sie bauen?«

»Wer ist ›sie‹, Harry?«

»Wer immer das getan hat.«

Einen Moment lang hielt er den Mund. Er überzeugte kaum sich selbst, von anderen ganz zu schweigen. Auf Edgars Einsatzfreude anzuspielen wäre ein Fehler. Er würde den Job hinschmeißen, sobald sich ihm die Gelegenheit bot. Dann würde er eine Anzeige von der Größe einer Visitenkarte in die Gewerkschaftszeitung setzen – Ehemaliger LAPD-Beamter gibt Kollegen Prozente – und dann eine Viertelmillion jährlich verdienen, indem er Häuser an Cops oder im Auftrag von Cops im San Fernando Valley oder dem Santa Clarita Valley oder dem Antelope Valley oder sonst einem Valley verkaufte, das die Bulldozer gerade ansteuerten.

»Was wollte er in dem Rohr?«, sagte Bosch dann endlich. »Du hast gesagt, er wohnt oben im Valley. Wieso sollte er hier runterkommen?«

»Harry, wer weiß? Der Typ war ein Junkie. Vielleicht hat seine Frau ihn rausgeworfen. Vielleicht ist er da oben krepiert, und seine Freunde haben seinen toten Arsch hier runtergeschleppt, weil sie das alles nicht erklären wollten.«

»Das ist immer noch ein Verbrechen.«

»Ja, es ist ein Verbrechen, aber sag mir Bescheid, wenn du einen Staatsanwalt gefunden hast, der daraus einen Fall macht.«

»Sein Besteck sah sauber aus. Neu. Die anderen Spuren an seinem Arm sehen alt aus. Ich glaube nicht, dass er wieder gedrückt hat. Nicht regelmäßig. Irgendwas stimmt da nicht.«

»Na, ich weiß nicht … Weißt du, wegen AIDS und so, sie sollen ihr Besteck sauber halten.«

Bosch starrte seinen Partner an, als wäre er ihm vollkommen fremd.

»Harry, hör auf mich. Ich will doch nur sagen, dass er vielleicht vor zwanzig Jahren im Schützengraben dein Kumpel war, aber noch im letzten Jahr war er ein Junkie. Du wirst niemals für alles, was er gemacht hat, eine Erklärung finden. Ich weiß nicht, was es mit dem Besteck und den Spuren auf sich hat, aber ich weiß, dass diese Sache nicht danach aussieht, dass wir uns daran alt und runzlig arbeiten sollten. Das hier ist reine Routine. Wochenenden und Urlaub sind da nicht eingeschlossen.«

Bosch gab auf … für den Augenblick.

»Ich fahre rauf nach Sepulveda«, sagte er. »Kommst du mit, oder willst du zurück zu deiner Immobilie?«

»Ich mach meinen Job«, sagte Edgar ruhig. »Nur weil wir nicht einer Meinung sind, heißt das nicht, dass ich nicht tue, wofür ich bezahlt werde. So ist es nie gewesen und wird es auch nie sein. Aber wenn es dir nicht passt, wie ich meine Geschäfte mache, gehen wir morgen früh zu Ninety-eight und bitten um einen Wechsel.«

Augenblicklich tat Bosch sein Schuss unter die Gürtellinie leid, aber er sagte es nicht. »Okay. Du fährst da rauf, siehst nach, ob jemand zu Hause ist. Wir treffen uns, wenn ich mit dem Tatort fertig bin.«

Edgar ging hinüber zu der Röhre und nahm eines der Polaroids von Meadows an sich. Er schob es in seine Manteltasche, dann ging er die Zufahrtsstraße hinunter zu seinem Wagen, ohne noch ein weiteres Wort zu Bosch gesagt zu haben.

Nachdem Bosch seinen Overall ausgezogen und zusammengefaltet in den Kofferraum seines Wagens gelegt hatte, sah er sich an, wie Sakai und Osito die Leiche rüde auf die Bahre und dann hinten in den blauen Transporter rutschen ließen. Er überlegte, wie er es schaffen konnte, die Autopsie als vorrangige Angelegenheit behandeln zu lassen, was bedeutete, dass sie am nächsten Tag und nicht erst vier oder fünf Tage später durchgeführt würde. Er holte den Mann von der Gerichtsmedizin ein, als der gerade die Fahrertür öffnete.

»Wir hauen ab, Bosch.«

Bosch legte seine Hand an die Tür, verhinderte so, dass Sakai hineinklettern konnte.

»Wer schneidet heute?«

»Bei dem hier? Niemand.«

»Kommen Sie schon, Sakai. Wer hat Dienst?«

»Sally. Aber er wird den hier nicht zu sehen kriegen, Bosch.«

»Hören Sie, ich habe dasselbe gerade mit meinem Partner durchgekaut. Kommen Sie jetzt nicht auch noch so, ja?«

»Bosch, hören Sie. Sehen Sie es doch ein. Ich arbeite seit sechs Uhr gestern Abend, und das hier ist der siebte Tatort, um den ich mich kümmere. Wir haben mehrere Fahrerfluchten, Wasserleichen, einen Sexfall. Die Leute können es gar nicht erwarten, dass wir zu ihnen kommen. Keine Rast für müde Krieger, und das bedeutet: keine Zeit für etwas, das Sie für einen Fall halten. Hören Sie dieses eine Mal auf Ihren Partner. Diese Sache ist eine Routineangelegenheit. Das heißt, wir werden Mittwoch dazu kommen, vielleicht Donnerstag. Ich verspreche: spätestens Freitag. Und toxikologische Ergebnisse dauern mindestens zehn Tage. Das wissen Sie. Wozu die verdammte Eile?«

»Dauern. Toxikologische Ergebnisse dauern zehn Tage.«

»Am Arsch.«

»Sagen Sie Sally, ich brauch die Voruntersuchung noch heute. Ich komm später vorbei.«

»Himmel, Bosch, hören Sie doch, was ich sage. Bei uns stapeln sich Leichen auf den Bahren im Flur, von denen wir wissen, dass sie 187er sind und aufgeschnitten werden müssen. Salazar wird keine Zeit für etwas haben, das für mich und alle anderen hier – abgesehen von Ihnen – wie ein Drogentoter aussieht. Reine Routine, Mann. Was soll ich ihm sagen, damit er die Autopsie noch heute vornimmt?«

»Zeigen Sie ihm den Finger. Sagen Sie ihm, dass es in dem Rohr keinerlei Spuren gab. Denken Sie sich was aus. Sagen Sie ihm, der Tote war ein Mann, der sich mit Nadeln viel zu gut auskannte, um sich eine Überdosis zu spritzen.«

Sakai lehnte die Stirn gegen die Seite des Transporters und lachte laut auf. Dann schüttelte er den Kopf, als hätte ein kleines Kind einen Spaß gemacht.

»Und wissen Sie, was er zu mir sagen wird? Er wird sagen, dass es egal ist, wie lange der Mann gedrückt hat. Sie drehen alle ab. Bosch, wie viele fünfundsechzigjährige Junkies sieht man rumlaufen? Keiner von denen schafft es so weit. Am Ende kriegt die Nadel sie immer. Genau wie den Mann im Rohr.«

Bosch drehte sich um, weil er sichergehen wollte, dass keiner der Uniformierten etwas hörte. Dann wandte er sich wieder Sakai zu.

»Sagen Sie ihm, ich komme später vorbei«, sagte er leise. »Wenn er bei der Voruntersuchung nichts findet, gut, dann stellen Sie die Leiche ans Ende der Schlange auf dem Flur oder parken Sie sie unten bei der Tankstelle an der Lankershim. Dann soll es mir egal sein, Larry. Aber sagen Sie es ihm. Es ist seine Entscheidung, nicht Ihre.«

Bosch nahm die Hand von der Tür und trat zurück. Sakai stieg in den Wagen und knallte die Tür zu. Er ließ den Motor an und starrte Bosch lange durch die Scheibe an, bevor er sie herunterkurbelte.

»Bosch, Sie sind eine echte Nervensäge. Morgen früh. Das ist alles, was ich für Sie tun kann. Heute ist nichts zu machen.«

»Erster Schnitt am Morgen?«

»Hauptsache, heute lassen Sie uns in Ruhe.«

»Erster Schnitt?«

»Ja, ja. Erster Schnitt.«

»Selbstverständlich lasse ich Sie in Ruhe. Ich sehe Sie morgen.«

»Mich nicht, Mann. Ich werde schlafen.«

Sakai kurbelte das Fenster hoch, und der Wagen fuhr an. Bosch trat zurück, um ihn vorbeizulassen, und als er weg war, stand er da und starrte die Röhre an. Da nahm er die Graffiti eigentlich zum ersten Mal wahr. Nicht, dass ihm nicht aufgefallen wäre, dass die Röhre buchstäblich mit gesprayten Botschaften übersät war, aber diesmal sah er sich die einzelnen Zeichnungen an. Viele waren alt, ineinander verwoben – ein Muster aus Buchstaben, die Drohungen ausstießen, die entweder lang vergessen oder längst eingelöst waren. Es gab Slogans: »Raus aus L.A.« Es gab Namen: »Ozone«, »Bomber«, »Stryker« und viele andere. Einer der neueren Schriftzüge fiel ihm ins Auge. Er bestand nur aus drei Buchstaben, etwa vier Meter vor dem Ende der Röhre – »Sha«. Die drei Buchstaben waren in einer fließenden Bewegung gesprüht. Das S war oben gezackt und dann mit Konturen versehen. Es sah aus wie ein Maul. Ein weit aufgerissener Rachen. Zähne waren keine zu sehen, aber Bosch konnte sie spüren. Es schien, als wäre das Werk nicht vollendet. Dennoch war es gut, originell und sauber. Er richtete die Polaroidkamera darauf und machte ein Foto.

Bosch ging zum Polizeitransporter hinüber, steckte die Aufnahme in seine Tasche. Donovan war gerade dabei, die Ausrüstung auf Borden und die Tüten mit den Beweisstücken in hölzernen Napa-Valley-Weinkisten zu verstauen.

»Hast du irgendwelche abgebrannten Streichhölzer gefunden?«

»Ja, eins. Ein frisches«, sagte Donovan. »An einem Ende abgebrannt. Es lag etwa drei Meter weit drinnen. Steht da auf der Liste.«

Bosch sammelte ein Klemmbrett auf, an dem ein skizziertes Diagramm der Röhre steckte. Der Fundort der Leiche war eingezeichnet, ebenso die Stellen, an denen die anderen Gegenstände im Rohr gelegen hatten. Bosch fiel auf, dass das Streichholz etwa fünf Meter von der Leiche entfernt gefunden worden war. Dann zeigte Donovan ihm das Streichholz am Boden eines Plastikbeutels. »Ich sag dir Bescheid, ob es aus dem Heftchen stammt, das dem Toten gehört hat«, sagte er. »Falls du das gerade überlegen solltest.«

Bosch sagte. »Was ist mit den Uniformierten? Was haben die gefunden?«

»Ist alles da drüben«, sagte Donovan und deutete auf eine Holzkiste, in der noch weitere Tüten mit Beweisstücken lagen. Sie enthielten Abfälle, die die Streifenbeamten in einem Radius von fünfzig Metern um die Röhre eingesammelt hatten. Jeder Beutel enthielt eine Beschreibung des jeweiligen Fundortes. Bosch nahm die Beutel heraus und sah sich den Inhalt genau an. Das meiste war Abfall, der wahrscheinlich nichts mit der Leiche zu tun hatte. Es waren Zeitungen, Lumpen, ein hochhackiger Schuh, ein weißer Strumpf mit getrockneter, blauer Farbe. Eine Schnüffeltüte.

Bosch nahm einen Beutel in die Hand, der das Oberteil einer Sprühdose enthielt. Im nächsten Beutel war die Dose selbst. Auf dem Krylon-Etikett stand »Ocean Blue«. Bosch wog den Beutel in der Hand und schätzte, dass noch Farbe in der Dose war. Er nahm den Beutel mit zur Röhre, öffnete ihn, tippte die Düse mit einem Kugelschreiber an, sprühte einen blauen Strich neben die Buchstaben »Sha«. Er sprühte zu viel. Die Farbe verlief an der Wölbung der Röhre und tropfte auf den Kies. Aber Bosch konnte sehen, dass die Farben übereinstimmten.

Darüber dachte er einen Moment lang nach. Warum sollte ein Graffiti-Sprayer eine halb volle Dose Farbe wegwerfen? Er sah nach, was auf dem Beutel stand. Man hatte sie am Rand des Reservoirs gefunden. Jemand hatte versucht, sie in den See zu werfen, aber nicht getroffen. Wieder dachte er: wieso? Er hockte sich neben die Röhre und sah sich die Buchstaben genau an. Er kam zu dem Schluss, dass die Botschaft oder der Name, was immer es sein sollte, nicht vollständig sein konnte. Irgendwas war passiert, das den Sprayer veranlasst hatte, aufzuhören und die Dose, den Deckel und seine Schnüffeltüte über den Zaun zu werfen. War es die Polizei gewesen? Bosch nahm sein Notizbuch und schrieb auf, dass er Crowley nach Mitternacht anrufen wollte, um nachzufragen, ob sich jemand von seinen Leuten während der Frühschicht am Reservoir aufgehalten hatte.

Aber was, wenn es kein Cop gewesen war, der den Sprayer dazu gebracht hatte, seine Sachen über den Zaun zu werfen? Was, wenn der Sprayer beobachtet hatte, wie die Leiche hergeschafft wurde? Bosch dachte daran, was Crowley über den anonymen Anrufer gesagt hatte. Ein Junge, weiter nichts. Hatte der Sprayer angerufen? Bosch brachte die Dose zurück zum SID-Wagen und reichte sie Donovan.

»Nimm hiervon Abdrücke, wenn du mit dem Besteck und der Pfanne fertig bist«, sagte er. »Ich glaube, das könnte einem Zeugen gehören.«

»Wird gemacht«, sagte Donovan.

Bosch verließ die Hügel und nahm am Barham Boulevard die Auffahrt zum Hollywood Freeway. Nachdem er den Cahuenga Pass hinter sich gelassen hatte, fuhr er über den Ventura Freeway nach Westen, dann auf dem San Diego Freeway in Richtung Norden. Für die zehn Meilen brauchte er knapp zwanzig Minuten. Es war Sonntag, und so herrschte nicht viel Verkehr. An der Roscoe bog er ab und fuhr zwei Blocks weit ostwärts in Meadows’ Wohnviertel an der Langdon hinein. Wie in den meisten Vororten im Raum Los Angeles gab es in Sepulveda sowohl gute als auch schlechte Viertel. Bosch erwartete von Meadows’ Straße weder getrimmte Rasenflächen noch Rinnsteine, vor denen sich Volvos aneinanderreihten, und er wurde auch nicht enttäuscht. Es war mindestens zehn Jahre her, dass die Apartments ansehnlich gewesen waren. Vor den Fenstern der Erdgeschosswohnungen sah man Gitter, und Graffiti an allen Garagentoren. Der scharfe Gestank der Brauerei an der Roscoe wehte in das Viertel hinein. Die Gegend roch wie eine Bar um vier Uhr morgens.

Meadows hatte in einem U-förmigen Apartmenthaus gewohnt, das aus den Fünfzigern stammte, als noch nicht der Gestank von Hopfen in der Luft lag, an den Straßenecken noch keine Gangbanger herumlungerten und es noch Hoffnung für das Viertel gab. In der Mitte des Hofes war ein Pool, den man aber schon lange mit Sand und Erde zugeschüttet hatte. Jetzt bestand der Innenhof aus einem nierenförmigen Beet mit braunem Gras, eingefasst von schmutzigem Beton. Meadows’ Wohnung lag an einer Ecke im ersten Stock. Bosch konnte das gleichmäßige Summen vom Highway hören, als er die Treppe nahm und den Korridor vor den Apartments entlang ging. Die Tür zu 7 B war unverschlossen und führte in ein kleines, kombiniertes Wohn- und Esszimmer mit Kochnische. Edgar stand an einen Tresen gelehnt und schrieb etwas in sein Notizbuch. Er sagte: »Hübsch hier, hm?«

»Ja«, sagte Bosch und sah sich um. »Keiner zu Hause?«

»Nein. Ich hab eine Nachbarin von nebenan gefragt, und sie hat seit vorgestern niemanden hier gesehen. Sie hat gesagt, dass der Mann, der hier gewohnt hat, Fields hieß, nicht Meadows. Nett, hm? Sie hat gesagt, er hätte hier ganz allein gewohnt. Wäre seit etwa einem Jahr hier und meistens für sich allein gewesen. Das war alles, was sie wusste.«

»Hast du ihr das Bild gezeigt?«

»Ja, sie hat ihn erkannt. Hat ihr aber nicht gefallen, sich das Foto von einem toten Mann anzusehen.«

Bosch trat in einen kleinen Flur, der zum Badezimmer und ins Schlafzimmer führte. Er sagte: »Hast du die Tür aufgebrochen?«

»Nichts da … die war offen. Ohne Scheiß, ich klopf zweimal an und will gerade meine Tasche aus dem Wagen holen und das Schloß knacken, da denk ich, egal, versuch dein Glück und dreh am Knopf.«

»Und die Tür geht auf.«

»Sie geht auf.«

»Hast du mit dem Vermieter gesprochen?«

»Die Vermieterin ist nicht da. Sollte sie sein, aber vielleicht ist sie essen gegangen oder H besorgen. Ich glaube, alle, die ich bisher hier gesehen hab, sind Fixer.«

Bosch kam ins Wohnzimmer zurück und sah sich um. Da gab es nicht viel. Eine Couch mit grünem Vinylbezug stand an der einen Wand, ein Polstersessel an der gegenüberliegenden, daneben auf dem Teppich ein kleiner Farbfernseher. Im Esszimmer gab es einen Resopaltisch mit drei Stühlen. Der vierte Stuhl stand einsam an der Wand. Bosch betrachtete einen alten, mit Brandflecken übersäten Kaffeetisch vor der Couch, auf dem ein übervoller Aschenbecher stand und ein Buch mit Kreuzworträtseln lag. Karten waren zu einer unvollendeten Patience gelegt. Es gab einen TV Guide. Bosch hatte keine Ahnung, ob Meadows rauchte, aber er wusste, dass man bei der Leiche keine Zigaretten gefunden hatte. Er machte sich im Geiste eine Notiz, dies später nachzuprüfen.

Edgar sagte: »Harry, die Wohnung wurde gefilzt. Nicht nur, dass die Tür offen stand und alles. Mir scheint, da ist noch mehr. Die Wohnung ist komplett durchsucht worden. Die haben ihren Job halbwegs anständig gemacht, aber man merkt es trotzdem. Sie hatten es eilig. Sieh dir das Bett an und den Schrank, und du weißt, was ich meine. Ich werde es noch mal bei der Vermieterin versuchen.«

Edgar ging hinaus und Bosch durch das Wohnzimmer ins Schlafzimmer. Auf dem Weg bemerkte er den Uringeruch. An einer Wand des Schlafzimmers stand ein Doppelbett ohne Rückenlehne. Man sah eine schmierige Verfärbung an der weißen Wand, etwa auf der Höhe, wo Meadows seinen Kopf angelehnt haben musste, wenn er im Bett saß. Gegenüber stand eine alte Anrichte mit sechs Schubladen. Ein billiges Rattan-Nachtschränkchen mit einer Lampe war neben dem Bett. Ansonsten gab es nichts in dem Zimmer, nicht mal einen Spiegel.

Bosch sah sich zuerst das Bett an. Es war ungemacht, und die Kissen und Decken lagen in der Mitte auf einem Haufen. Bosch fiel auf, dass ein Zipfel einer der Decken zwischen Matratze und Rahmen steckte, in der Mitte der linken Bettseite. So war das Bett mit Sicherheit nicht gemacht worden. Bosch zog den Zipfel unter der Matratze hervor und ließ ihn lose herabhängen. Er hob die Matratze an, als wolle er darunter nachsehen, dann ließ er sie fallen. Der Deckenzipfel steckte wieder zwischen Matratze und Rahmen. Edgar hatte recht.

Als Nächstes öffnete er die sechs Schubladen. Die Kleidung, soweit vorhanden – Unterwäsche, weiße und dunkle Socken und mehrere T-Shirts – waren sauber gefaltet und wirkten unangetastet. Als er die unterste Schublade schloss, merkte er, dass sie klemmte und sich nicht vollständig hineinschieben ließ. Er zog sie ganz aus der Kommode. Dann zog er eine weitere Schublade heraus. Dann die anderen. Als sie draußen waren, checkte er die Unterseiten, ob irgendwas daran klebte oder geklebt hatte. Er fand nichts. Er schob sie wieder hinein, allerdings in anderer Reihenfolge, bis jede einzelne leicht zu bewegen war und sich vollständig schließen ließ. Am Ende passten die Schubladen. Er war überzeugt davon, dass jemand sie herausgezogen hatte, um darunter und dahinter etwas zu suchen, und dass dieser jemand sie dann falsch wieder einsortiert hatte.

Er trat in den begehbaren Wandschrank und stellte fest, dass nur ein Viertel des vorhandenen Raums genutzt wurde. Am Boden standen zwei Paar Schuhe, ein Paar schwarze Reebok-Laufschuhe, die voller Sand und grauem Staub waren, und ein Paar Schnürstiefel, die aussahen, als wären sie erst vor Kurzem geputzt und eingefettet worden. Grauer Staub von den Schuhen lag auch überall auf dem Teppich. Er ging in die Hocke und nahm etwas davon zwischen die Finger. Es schien Betonstaub zu sein. Er zog eine kleine Tüte aus der Tasche und streute ein paar Körnchen hinein. Dann steckte er die Tüte weg und stand auf. Fünf Hemden hingen auf Bügeln, ein weißes Oxford mit geknöpftem Kragen und vier langärmlige, schwarze Pullover wie der, den Meadows getragen hatte. Auf den Bügeln neben den Hemden hingen zwei Paar verwaschene Jeans und zwei Pyjama- oder Karatehosen. Die Taschen aller vier Hosen waren herausgezogen. In einem Plastikwäschekorb fanden sich schmutzige schwarze Hosen, T-Shirts, Strümpfe und ein Paar Boxershorts.

Bosch trat aus dem Schrank und ließ das Schlafzimmer hinter sich. Im Badezimmer blieb er stehen und öffnete den Medizinschrank. Er fand eine halb leere Tube Zahnpasta, ein Fläschchen mit Kopfschmerztabletten und eine einzelne, leere Packung für Insulinspritzen. Als er den Schrank schloss, betrachtete er sich und sah die Müdigkeit in seinen Augen. Er strich sein Haar glatt.

Harry kehrte ins Wohnzimmer zurück und setzte sich auf die Couch vor die unvollendete Patience. Edgar kam herein.

»Meadows hat die Wohnung am ersten Juli gemietet«, sagte er. »Die Vermieterin ist wieder da. Eigentlich hatte sie monatsweise vermieten wollen, aber er hat elf Monate im Voraus bezahlt. Vier Scheine pro Monat. Fast fünf Riesen hat er in bar hingelegt. Sie sagt, nach Referenzen hätte sie ihn nicht gefragt. Sie hat nur das Geld genommen. Er wohnte …«

»Sie sagt, er hätte für elf Monate bezahlt?«, unterbrach ihn Bosch. »War das ein Deal? Zahl für elf, und du kriegst den zwölften umsonst?«

»Nichts dergleichen. Ich hab sie danach gefragt, und sie sagt Nein, es wäre von ihm gekommen. Er hätte es so gewollt. Er hätte gesagt, er würde zum ersten Juni ausziehen, dieses Jahr. Das wäre – warte mal – in zehn Tagen? Sie sagt, er hätte ihr erzählt, er wäre wegen einer Art Job hergekommen, aus Phoenix, glaubt sie. Hat gesagt, er wäre so was wie ein Schichtführer für den Tunnelbau bei diesem U-Bahn-Projekt in der Innenstadt. Sie war der Meinung, so lange würde er für den Job brauchen, elf Monate, und dann zurück nach Phoenix gehen.«

Edgar sah in sein Notizbuch, rekapitulierte sein Gespräch mit der Vermieterin.

»Das war es in etwa. Auch sie hat ihn nach dem Foto identifiziert. Auch sie kannte ihn als Fields, Bill Fields. Sagt, er hätte merkwürdige Arbeitszeiten gehabt, als würde er in der Nachtschicht arbeiten oder so was. Sagt, sie hätte gesehen, wie er letzte Woche morgens nach Hause kam und von einem gelben oder beigefarbenen Jeep abgesetzt wurde. Kein Kennzeichen, weil sie nicht drauf geachtet hat. Aber sie sagt, er wäre ganz schmutzig gewesen, daher hätte sie gewusst, dass er von der Arbeit kam.«

Eine Zeit lang schwiegen sie, dachten beide nach.

Schließlich sagte Bosch: »J. Edgar, ich schlage dir einen Deal vor.«

»Du schlägst mir einen Deal vor? Okay, lass hören.«

»Du gehst jetzt nach Hause oder wieder zu deinem Haus oder sonst wohin. Ich mache hier weiter. Ich hol das Band im ComCenter ab, geh wieder ins Büro und fang den Bericht an. Ich werde mal sehen, ob Sakai irgendwelche Angehörigen benachrichtigt hat. Ich glaube, wenn ich mich recht erinnere, kam Meadows aus Louisiana. Egal, jedenfalls habe ich die Autopsie für morgen früh acht Uhr durchgedrückt. Darum kümmere ich mich auf dem Weg ins Büro.

Dafür machst du morgen diese Fernsehsache von gestern Abend fertig und bringst sie rüber zum Bezirksstaatsanwalt. Damit solltest du keine Probleme haben.«

»Du übernimmst also den beschissenen Teil, und ich darf mich amüsieren. Dieser Ein-Transvestit-outet-den-anderen-Fall ist so abgelutscht, wie er nur sein kann. Das soll keine Anspielung sein.«

»Ja. Aber um eine Sache würde ich dich bitten. Wenn du morgen aus dem Valley kommst, halt beim Veteranenkrankenhaus in Sepulveda an und sieh mal, ob du sie überreden kannst, dich einen Blick in seine Akte werfen zu lassen. Vielleicht stehen da ein paar Namen, die uns weiterhelfen. Wie gesagt, angeblich soll er sich während der ambulanten Behandlung einem Psychiater gegenüber und in einem dieser gruppendynamischen Treffen geäußert haben. Vielleicht hat einer von den Typen mit ihm gemeinsam gedrückt und weiß, was da los war. Es ist weit hergeholt, ich weiß. Wenn sie dir das Leben schwer machen, ruf mich an und ich bemühe mich um einen Durchsuchungsbefehl.«

»Hört sich gut an. Aber ich mache mir Sorgen um dich, Harry. Ich meine, wir beide sind noch nicht allzu lange Partner, und ich weiß, dass du dich wahrscheinlich wieder nach Downtown zum Morddezernat hocharbeiten willst, aber ich sehe nicht, was es bringen soll, wenn du dir in dieser Sache den Arsch aufreißt, ja, diese Bude ist gefilzt worden, aber das ist nicht die Frage. Die Frage ist, wieso. Und wenn ich es genau betrachte, will mir nichts so richtig aufstoßen. Für mich sieht es so aus, als hätte jemand den toten Meadows unten am Reservoir abgeladen und die Wohnung durchsucht, um seinen Stoff zu finden. Falls er welchen hatte.«

»Wahrscheinlich war es so«, sagte Bosch einige Augenblicke später. »Aber ein paar Dinge stören mich trotzdem. Ich möchte noch ein bisschen daran rumtüfteln, bis ich mir sicher bin.«

»Na, wie gesagt, ich hab damit keine Probleme. Du bietest mir das saubere Ende der Latte an.«

»Ich glaube, ich werde mich noch mal etwas umsehen. Geh du nur, und wir sehen uns morgen, wenn ich von der Autopsie komme.«

»Okay, Partner.«

»Und, Jed?«

»Ja?«

»Mit Downtown hat das alles nichts zu tun.«

Bosch saß allein, sinnierte vor sich hin und suchte das Zimmer nach Geheimnissen ab. Schließlich fiel sein Blick auf die Karten, die ausgebreitet vor ihm auf dem Kaffeetisch lagen. Patience. Er sah, dass alle vier Asse aufgedeckt waren. Er nahm den Stapel mit den restlichen Karten und ging ihn durch, nahm immer drei Karten auf einmal. Dabei stieß er auf Pik Zwei und Drei und die Herz Zwei. Das Spiel war keineswegs steckengeblieben. Es war unterbrochen worden, nicht beendet.

Er wurde unruhig. Er sah in den grünen, gläsernen Aschenbecher und stellte fest, dass sämtliche Kippen filterlose Camel waren. Handelte es sich um Meadows’ Marke oder die seines Mörders? Er stand auf und lief im Zimmer herum. Wieder fiel ihm der leichte Uringeruch auf. Er ging zurück ins Schlafzimmer. Er zog die Schubladen der Kommode auf und sah sich deren Inhalt noch mal an. Ihm fiel nichts auf. Er trat ans Fenster und sah die Rückseite eines weiteren Apartmenthauses auf der anderen Seite der Gasse. Unten stand ein Mann vor einem Einkaufswagen. Mit seinem Knüppel stocherte er in einem Müllcontainer herum. Der Wagen war voller Aluminiumdosen. Bosch trat zurück, setzte sich auf das Bett und lehnte den Kopf gegen die Wand, wo ein Brett hätte sein sollen und die weiße Farbe schmuddelig grau war. Die Wand in seinem Rücken fühlte sich kühl an.

»Erzähl mir was«, flüsterte er in die Leere hinein.

Er war sicher, dass irgendetwas das Kartenspiel unterbrochen hatte und Meadows hier gestorben war. Dann hatte man ihn zu dem Rohr gebracht. Aber wieso? Warum hatte man ihn nicht liegen lassen? Bosch lehnte den Kopf an die Wand und starrte geradeaus. Genau in dem Augenblick bemerkte er den Nagel in der Wand gegenüber. Der Nagel steckte etwa einen Meter über der Kommode, und irgendwann hatte man ihn zusammen mit der Wand weiß gestrichen. Deshalb war er ihm nicht aufgefallen. Er stand auf und ging hinüber, um hinter der Kommode nachzusehen. In dem zehn Zentimeter breiten Spalt zwischen Schrank und Wand sah er den Rand eines heruntergefallenen Bilderrahmens. Mit der Schulter schob er die schwere Kommode von der Wand ab und hob den Rahmen auf. Er trat zurück und setzte sich auf die Bettkante, um ihn zu betrachten. Das Glas war zersprungen, wahrscheinlich beim Herunterfallen. Das kaputte Glas verdeckte zum Teil ein 20 x 25 cm großes Schwarz-Weiß-Foto, das körnig und an den Rändern bräunlich vergilbt war. Das Foto war sicher über zwanzig Jahre alt. Bosch erkannte es, weil er zwischen zwei Sprüngen im Glas sah, wie sein eigenes, junges Gesicht ihn anlächelte.

Bosch drehte den Rahmen um und bog vorsichtig die Blechklammern zurück, die die Pappe an der Rückseite hielten. Als er das vergilbte Foto herausschob, gab das Glas schließlich nach und die Scherben fielen zu Boden. Er betrachtete die Fotografie. Weder vorn noch hinten war ersichtlich, wann sie gemacht worden war. Aber er wusste, sie musste irgendwann Ende 1969 oder Anfang 1970 entstanden sein, da einige der Männer auf dem Bild danach nicht mehr gelebt hatten.

Sieben von ihnen waren auf dem Bild. Alles Tunnelratten. Alle ohne Hemden und stolz auf ihre Sonnenbräune und die Tätowierungen. Die Hundemarken waren zusammengeklebt, damit sie nicht klapperten, wenn die Männer durch die Tunnel krochen. Es musste der Echo-Sektor im Cu-Chi-Distrikt gewesen sein, aber Bosch konnte sich nicht erinnern, in welchem Dorf. Die Soldaten standen in einem Schützengraben zu beiden Seiten eines Tunneleingangs, der nicht breiter war als die Röhre, in der man Meadows tot aufgefunden hatte. Bosch betrachtete sich selbst und fand sein Grinsen auf dem Foto albern. Es war ihm peinlich angesichts dessen, was ihnen nach diesem Augenblick noch bevorgestanden hatte. Dann betrachtete er Meadows auf dem Foto und sah das schmale Lächeln und den leeren Blick. Die anderen hatten immer gesagt, Meadows hätte einen Tausend-Meter-Blick in einem Drei-mal-drei-Meter-Zimmer.

Bosch sah auf das Glas zwischen seinen Füßen hinab und fand einen rosafarbenen Zettel von der Größe eines Baseballtickets. Mit spitzen Fingern sammelte er ihn auf und untersuchte ihn genau. Es war ein Pfandschein aus einem Laden in der Innenstadt. Der Kundenname lautete auf William Fields. Ein verpfändeter Gegenstand war angegeben: ein antikes Armband, Gold mit Einlegearbeiten aus Jade. Das Datum auf dem Schein lag sechs Wochen zurück. Fields hatte 800 Dollar für das Armband bekommen. Bosch steckte den Zettel in eine Klarsichthülle aus seiner Tasche und stand auf.

Wegen des Verkehrs zum Dodger Stadion dauerte die Fahrt in die Innenstadt eine Stunde. Bosch vertrieb sich die Zeit damit, über das Apartment nachzudenken. Es war durchsucht worden, aber Edgar hatte recht. Es war in Eile geschehen. Die Hosentaschen waren der deutliche Hinweis. Zumindest die Schubladen hätte man ordentlich zurückschieben können, und das Foto und den versteckten Pfandschein hätten sie nicht übersehen dürfen. Wozu die Eile? Er schloß daraus, dass Meadows’ Leiche noch im Apartment gelegen hatte. Sie musste weg.

Bosch bog am Broadway ab und fuhr südlich am Times Square vorbei zu der Pfandleihe im Bradbury Building. An den meisten Wochenenden war es in Downtown L.A. so ruhig wie in Forest Lawn, und er ging nicht davon aus, dass der Laden geöffnet hatte. Er war neugierig und wollte nur vorbeifahren und einen Blick auf das Geschäft werfen, bevor er sich zum ComCenter aufmachte. Als er jedoch an der Ladenfront vorüberfuhr, sah er, wie ein Mann mit einer Sprühdose das Wort »Geöffnet« in Schwarz auf eine Sperrholzplatte schrieb. Die Platte ersetzte die Schaufensterscheibe des Ladens. Bosch sah die Scherben auf dem dreckigen Gehweg unterhalb der Sperrholzplatte. Er hielt am Straßenrand. Der Sprayer war schon drinnen, als Bosch an die Tür kam. Er passierte eine Fotozelle, die irgendwo über all den Musikinstrumenten an der Decke eine Glocke erklingen ließ.

»Ich hab nicht geöffnet, nicht sonntags«, rief ein Mann von hinten. Er stand hinter seiner verchromten Registrierkasse, die auf einem Glastresen thronte.

»Auf dem Schild, das Sie gerade geschrieben haben, steht was anderes.«

»Ja, aber das gilt für morgen. Wenn die Leute Bretter vor den Fenstern sehen, denken sie, man hat das Geschäft aufgegeben. Ich hab das Geschäft nicht aufgegeben. Ich hab geöffnet, außer an Wochenenden. Ich hab nur für ein paar Tage ein Brett da draußen. Ich habe ›Geöffnet‹ geschrieben, damit die Leute Bescheid wissen, verstehen Sie? Ab morgen.«

»Gehört der Laden Ihnen?«, sagte Bosch, während er sein Ausweisetui hervorzog und seine Marke aufklappte. »Es wird nur ein paar Minuten dauern.«

»Oh, Polizei. Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Ich warte schon den ganzen Tag auf die Polizei.«

Bosch drehte sich um, verblüfft, dann sah er den Zusammenhang.

»Sie meinen die Scheibe? Deswegen bin ich nicht hier.«

»Was soll das heißen? Die Streifenbeamten haben gesagt, ich soll auf die Detectives warten. Ich habe gewartet. Seit fünf Uhr früh bin ich hier.«

Bosch sah sich im Laden um. Das übliche Angebot von Blechblasinstrumenten, elektronischem Schrott, Schmuck und Sammlerstücken. »Hören Sie, Mr. …«

»Obinna. Oscar Obinna Pfandleihen in Los Angeles und Culver City.«

»Mr. Obinna, wegen Vandalismus tanzen an Wochenenden keine Detectives mehr an. Ich meine, vielleicht tun sie es nicht mal mehr in der Woche.«

»Vandalismus? Ich wurde ausgeraubt. Ein echter Raub.«

»Sie meinen, ein Einbruch? Was wurde gestohlen?«

Obinna deutete auf zwei Vitrinen zu beiden Seiten der Kasse. Die oberen Scheiben der Vitrinen waren in tausend Stücke zersprungen. Bosch trat näher heran und sah zwischen den Scherben kleine Schmuckstücke, billig wirkende Ringe und Ohrringe. Außerdem sah er samtbezogene Sockel, verspiegelte Platten und hölzerne Ringstifte, auf denen sich kein Schmuck mehr befand. Er sah sich um und konnte im ganzen Laden keinen weiteren Schaden entdecken.

»Mr. Obinna, ich könnte den wachhabenden Detective anrufen und fragen, ob heute noch jemand zu Ihnen kommt, und wenn ja, wann sie hier sein können. Aber deswegen bin ich nicht gekommen.«

Dann zog Bosch die Klarsichthülle mit dem Pfandschein hervor. Er hielt ihn Obinna hin.

»Kann ich bitte dieses Armband sehen?« Im selben Augenblick, als er es sagte, kam ihm die böse Ahnung. Der Pfandleiher, ein kleiner, rundlicher Mann mit olivfarbener Haut und dunklem Haar, das er sich um den kahlen Schädel drapiert hatte, blickte skeptisch zu Bosch auf, und die buschigen, dunklen Augenbrauen schoben sich zusammen.

»Sie wollen meinen Fall nicht aufnehmen?«

»Nein, Sir. Ich untersuche einen Mordfall. Könnten Sie mir bitte das Armband zeigen, das auf diesem Pfandschein steht? Dann rufe ich im zuständigen Büro an und versuche rauszufinden, ob heute noch jemand wegen Ihres Einbruchs kommt. Vielen Dank für Ihre Kooperation.«

»Aaaah! Das ist typisch! Ich kooperiere. Ich schicke jede Woche meine Listen, mache sogar Fotos für Ihre Hehlerei-Abteilung. Dann bitte ich mal um einen Detective, der einen Raub untersuchen soll, und ich kriege einen Mann, der sagt, sein Job ist Mord. Ich warte seit fünf Uhr heute Morgen.«

»Geben Sie mir Ihr Telefon. Ich besorge Ihnen jemanden.«

Obinna nahm den Hörer vom Wandtelefon und reichte ihn herüber. Bosch gab ihm die Nummer, die er wählen sollte. Während Bosch mit der wachhabenden Beamtin im Parker Center sprach, suchte der Ladeninhaber in einem dicken Buch nach der Eintragung. Die Beamtin, eine Frau, von der Bosch wusste, dass sie während ihrer gesamten Laufbahn noch nie im Außendienst gearbeitet hatte, fragte Bosch, wie es ihm ginge, dann erklärte sie ihm, sie habe den Einbruch in die Pfandleihe an das zuständige Revier weitergeleitet, obwohl sie wusste, dass dort heute keine Detectives sein würden. Das zuständige Revier war Central Division. Bosch ging um den Tresen herum und rief die dortige Dienststelle trotzdem an. Niemand nahm ab. Während das Telefon läutete, begann Bosch ein einseitiges Gespräch.

»Ja, hier ist Harry Bosch, Hollywood Detectives. Ich wollte mich nur nach dem Stand des Einbruchs drüben beim Happy Hocker am Broadway erkundigen … ist er? Wissen Sie, wann? … Mh-hm, mh-hm … Richtig, Obinna. O-B-I-N-N-A.«

Er sah hinüber, und Obinna nickte, dass er korrekt buchstabiert hatte.

»Ja, er wartet hier … gut … ich sage es ihm. Danke.«

Er hängte ein. Obinna sah ihn an, die buschigen Augenbrauen hochgezogen.

»Heute war viel zu tun, Mr. Obinna«, sagte Bosch. »Die Detectives sind im Einsatz, aber sie kommen her. Dürfte nicht mehr allzu lange dauern. Ich habe dem Wachhabenden Ihren Namen gegeben und gesagt, er soll die Männer so schnell wie möglich herschicken. Kann ich jetzt das Armband sehen?«

»Nein.«

Bosch fummelte eine Zigarette aus einer Packung, die er aus seiner Manteltasche gezogen hatte. Er wusste, was kam, bevor Obinna seinen Arm über einer der zertrümmerten Vitrinen ausstreckte.

»Ihr Armband ist weg«, sagte der Pfandleiher. »Ich habe es hier in meiner Liste rausgesucht. Ich sehe, dass ich es hier in der Vitrine hatte, weil es ein sehr schönes Stück war, sehr wertvoll. Jetzt ist es weg. Wir sind beide Opfer des Einbrechers, was?«

Obinna lächelte, offensichtlich froh, seinen Kummer mit jemandem teilen zu können. Bosch betrachtete das Glitzern der Scherben am Boden der Vitrine. Er nickte und sagte: »Ja.«

»Sie kommen einen Tag zu spät, Detective. Schade.«

»Haben Sie gesagt, nur diese beiden Vitrinen wären betroffen?«

»Ja. Eingeschlagen und ausgeräumt. Zackzack.«

»Um welche Uhrzeit?«

»Die Polizei hat mich um halb fünf heute Morgen angerufen. Da wurde der Alarm ausgelöst. Ich bin gleich hergekommen. Als die Scheibe eingeschlagen wurde, ist der Alarm losgegangen. Die Beamten haben niemanden gesehen. Sie haben gewartet, bis ich da war. Seitdem warte ich auf Detectives, die nicht kommen. Ich kann meine Vitrinen nicht sauber machen, bevor sie da waren und diese Sache untersucht haben.«

Bosch dachte an den zeitlichen Ablauf. Die Leiche war irgendwann vor dem anonymen Anruf um vier Uhr abgeladen worden. Der Einbruch in die Pfandleihe hatte etwa zur selben Zeit stattgefunden. Ein Armband des Toten war gestohlen worden. Es gibt keine Zufälle, sagte er zu sich selbst.

»Sie sagten irgendwas von Fotos. Listen und Fotos für das Dezernat Hehlerei?«

»Ja, LAPD, das stimmt. Ich gebe Listen von allem, was ich annehme, an die Detectives weiter. Das steht so im Gesetz. Ich kooperiere in jeder Hinsicht.«

Obinna nickte energisch und betrachtete traurig seine zerbrochene Vitrine.

»Was ist mit den Fotos?«, sagte Bosch.

»Ja, Fotos. Diese Detectives, sie sagen, ich soll Fotos von meinen besten Erwerbungen machen. So können sie gestohlene Ware besser erkennen. Das ist nicht vorgeschrieben, aber wie ich sage, ich arbeite mit. Ich kaufe eine Polaroidkamera. Ich hebe die Fotos auf, falls sie kommen und nachsehen wollen. Tun sie nie. Ist alles Quatsch.«

»Haben Sie ein Foto von diesem Armband?«

Wieder zogen sich Obinnas Augenbrauen hoch, als er diese Idee zum ersten Mal überdachte.

»Ich glaube«, sagte er, und dann verschwand er durch einen schwarzen Vorhang in einem Korridor hinter dem Tresen. Einige Augenblicke später kam er mit einem Schuhkarton voller Polaroids zurück, an denen gelbe Durchschläge aus Kohlepapier hingen. Er blätterte die Fotos durch, zog gelegentlich eines heraus, krauste die Augenbrauen und steckte es dann wieder an seinen Platz zurück. Schließlich fand er, was er suchte.

»Hier. Das ist es.«

Bosch nahm das Foto und betrachtete es.

»Antik, Gold mit geschnitzter Jade, sehr hübsch«, sagte Obinna. »Ich erinnere mich, erstklassige Ware. Kein Wunder, dass der Drecksack, der mir die Scheibe eingeschlagen hat, es haben wollte. Angefertigt in den dreißiger Jahren, Mexiko … Ich habe dem Mann achthundert Dollar gegeben. Einen so hohen Preis habe ich noch nicht oft für ein Schmuckstück bezahlt. Ich erinnere mich, wie ein sehr dicker Mann hier reinkam mit dem Super-Bowl-Ring. 1983. Sehr hübsch. Ich habe ihm eintausend Dollar gegeben. Er ist nie wiedergekommen.«

Er streckte seine linke Hand aus, um den überdimensionalen Ring vorzuzeigen, der an seinem stummeligen Finger noch größer wirkte.

»Der Mann, der das Armband verpfändet hat – erinnern Sie sich an den genauso gut?«, fragte Bosch.

Obinna machte ein verdutztes Gesicht. Bosch fand, seine Augenbrauen wirkten wie zwei miteinander kämpfende Planierraupen. Er zog eines der Polaroids von Meadows aus der Tasche und reichte es dem Pfandleiher. Der sah es sich genau an.

»Der Mann ist tot«, sagte Obinna nach einem Moment. Die Planierraupen schienen vor Angst zu erzittern. »Der Mann sieht tot aus.«

»Dafür brauche ich Ihre Hilfe nicht«, sagte Bosch. »Ich möchte wissen, ob er das Armband versetzt hat.«

Obinna gab ihm das Foto zurück. Er sagte: »Ich glaube, ja.«

»Ist er jemals hier gewesen und hat irgendwas anderes versetzt, vor oder nach dem Armband?«

»Nein. Ich glaube, ich würde mich an ihn erinnern. Ich würde sagen, Nein.«

»Ich nehme das hier mit«, sagte Bosch und hielt das Polaroid von dem Armband hoch. »Wenn Sie es brauchen, rufen Sie mich an.«

Er legte eine seiner Visitenkarten auf die Kasse. Die Karte war von der billigen Sorte, Name und Telefonnummer waren handschriftlich eingetragen. Als er unter einer Reihe von Banjos hindurch zur Ladentür ging, sah Bosch auf seine Uhr. Er wandte sich zu Obinna um, der wieder in seinem Karton mit Polaroids kramte.

»Mr. Obinna, der Wachhabende hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, dass Sie besser nach Hause gehen sollten, wenn die Detectives nicht binnen einer halben Stunde da wären. Die Beamten würden dann morgen früh kommen.«

Obinna starrte ihn an, ohne ein Wort zu sagen. Die Planierraupen griffen an und kollidierten. Bosch hob den Kopf und sah sich selbst in dem polierten Messingknie eines Saxofons, das an der Decke hing. Ein Tenor. Dann drehte er sich um, ging zur Tür hinaus und machte sich auf den Weg zum ComCenter, wo er das Tonband abholen wollte.

Der wachhabende Sergeant im ComCenter unter der City Hall ließ Bosch den Notruf von einem der großen Tonbandgeräte überspielen, die niemals aufhören, sich zu drehen und die Schreie der Großstadt festzuhalten. Die Stimme des Notdienstes war weiblich und schwarz. Der Anrufer war männlich und weiß. Der Anrufer klang wie ein Junge.

»Notruf neun eins eins. Was möchten Sie melden?«

»Äh, äh …«

»Kann ich Ihnen helfen? Was möchten Sie melden?«

»Äh, ja, ich melde, dass Sie da einen toten Mann in einer Röhre haben.«

»Sie sagen, Sie melden einen Toten?«

»Ja, das stimmt.«

»Was meinen Sie mit einer Röhre, Sir?«

»Er liegt in einer Röhre oben beim Damm.«

»Welcher Damm ist das?«

»Äh, Sie wissen schon, wo das Wasserreservoir und das alles ist, beim Hollywood-Zeichen.«

»Ist das der Mulholland-Damm, Sir? Oberhalb von Hollywood?«

»Ja, der. Genau. Mulholland. Ich wusste den Namen nicht mehr.«

»Wo ist die Leiche?«

»Da oben gibt es eine dicke, alte Röhre. Sie wissen schon, die, in der die Leute schlafen. Der Tote liegt da in der Röhre. Hinten drin.«

»Kennen Sie diese Person?«

»Nein, Mann, kein Stück.«

»Schläft er?«

»Scheiße, nein.« Der Junge lachte nervös. »Er ist tot.«

»Wieso sind Sie so sicher?«

»Ich bin mir sicher. Ich sag es Ihnen doch. Wenn Sie nicht wollen …«

»Wie ist Ihr Name, Sir?«

»Was soll das? Wozu brauchen Sie meinen Namen? Ich hab ihn nur gesehen. Ich hab es nicht getan.«

»Woher soll ich wissen, dass dies ein ernst gemeinter Anruf ist?«

»Sehen Sie in der Röhre nach, und Sie wissen es. Ich weiß nicht, was ich Ihnen noch sagen soll. Was hat mein Name damit zu tun?«

»Für unsere Akten, Sir. Können Sie mir Ihren Namen sagen?«

»Äh, nein.«

»Sir, werden Sie warten, bis ein Officer eintrifft?«

»Nein, ich bin schon weg. Ich bin nicht da, Mann. Ich bin unten …«

»Ich weiß, Sir. Auf meinem Bildschirm sehe ich, dass Sie in einer Telefonzelle an der Gower in der Nähe vom Hollywood Boulevard sind. Werden Sie warten, bis ein Officer da ist?«

»Wie …? Egal, ich muss los. Sehen Sie nach. Die Leiche ist da. Ein toter Mann.«

»Sir, wir würden gern mit Ihnen …«

Die Verbindung wurde unterbrochen. Bosch steckte die Kassette in seine Tasche und ging auf demselben Weg aus dem ComCenter hinaus, auf dem er hereingekommen war.

Es war fast zehn Monate her, seit Harry Bosch zuletzt den dritten Stock des Parker Centers betreten hatte. Gut zehn Jahre war er beim Morddezernat gewesen, dann aber seit seiner Suspendierung und der Versetzung von der Spezialeinheit zu den Hollywood Detectives nie mehr hierher gekommen. An dem Tag, an dem er es erfahren hatte, war sein Schreibtisch von Lewis und Clarke, zwei Gorillas von der Abteilung für Innere Angelegenheiten, leer geräumt worden. Sie hatten sein Zeug im Revier von Hollywood auf dem Schreibtisch abgeladen, an dem die Mordfälle bearbeitet wurden, und dann auf seinem Anrufbeantworter zu Hause die Nachricht hinterlassen, wo er seine Sachen finden könne. Jetzt, zehn Monate später, ging er wieder über den geweihten Flur der Eliteeinheit und freute sich, dass Sonntag war. Er würde keine bekannten Gesichter treffen. Kein Grund, sich abzuwenden.

Zimmer 321 war leer, abgesehen von einem Detective, der Wochenenddienst hatte und den Bosch nicht kannte. Harry zeigte auf den hinteren Teil des Zimmers. »Bosch, Hollywood Detectives. Ich muss mal die Kiste da hinten benutzen.«

Der Detective vom Dienst, ein junger Bursche mit einem Haarschnitt, der noch aus seiner Zeit beim Marine Corps stammen musste, saß am Schreibtisch und blätterte in einem Waffenkatalog. Er drehte sich zu den Computern an der Rückwand um, als wollte er sichergehen, dass sie noch da waren, und sah dann Bosch wieder an.

»Schlage vor, Sie benutzen den in Ihrer eigenen Abteilung«, sagte er.

Bosch ging an ihm vorbei. »Ich habe nicht die Zeit, nach Hollywood rauszufahren. In zwanzig Minuten hab ich eine Autopsie«, log er.

»Wissen Sie, ich hab schon von Ihnen gehört, Bosch. Ja. Die Fernsehserie und das alles, Sie waren früher mal auf diesem Flur. Früher mal.«

Der letzte Satz hing in der Luft wie Smog, und Bosch versuchte, ihn zu ignorieren. Als er nach hinten zu den Computerterminals ging, konnte er nicht anders, als einen Blick auf seinen alten Schreibtisch zu werfen. Er fragte sich, wer ihn jetzt wohl benutzte. Alles lag durcheinander, und ihm fiel auf, dass die Karten auf dem Rolodex neu und ohne Eselsohren waren. Nagelneu. Harry drehte sich um und sah den Detective vom Dienst an, der ihn noch immer beobachtete.

»Ist das dein Schreibtisch, wenn du nicht gerade Sonntagsdienst hast?«

Der Junge lächelte und nickte.

»Du hast es verdient, Jungchen. Du bist genau der Richtige für den Job. Das Haar, das blöde Grinsen. Du wirst es weit bringen.«

»Nur weil man dich hier rausgeschmissen hat, weil du eine wandelnde Ein-Mann-Armee bist … ach, leck mich am Arsch, Bosch, du bist doch erledigt.«

Bosch zog einen Stuhl auf Rollen von einem Schreibtisch heran und schob ihn vor den IBM-PC an der Rückwand. Er schaltete ein, und ein paar Sekunden später erschienen die bernsteinfarbenen Buchstaben auf dem Bildschirm: »HITMAN« – Homicide Information Tracking Management Automated Network.

Einen Augenblick lang lächelte Bosch über das unaufhörliche Bedürfnis des Dezernats nach Akronymen. Es kam ihm vor, als hätte man jede Einheit, jede Einsatzgruppe und Computerakte auf einen Namen getauft, dessen Akronym etwas Elitäres vermitteln sollte. Für die Öffentlichkeit waren Akronyme gleichbedeutend mit Taten, mit enormem Personalaufwand zur Bekämpfung lebensbedrohlicher Probleme. Da gab es »HITMAN«, »COBRA«, »CRASH«, »BADCATS«, »DARE«. Hundert weitere. Irgendwo im Parker Center sitzt jemand, der den ganzen Tag nichts anderes macht, als sich eingängige Akronyme auszudenken, dachte er. Computer hatten Akronyme, sogar Ideen hatten Akronyme. Wenn deine Spezialeinheit kein Akronym hatte, dann warst du in diesem Dezernat einen Dreck wert.

Als er im HITMAN-Programm war, erschien ein Fragenfeld zu dem gesuchten Fall, und er füllte die Leerstellen aus. Dann tippte er drei Stichworte ein: »Mulholland-Damm«, »Überdosis« und »vorgetäuschte Überdosis«. Dann drückte er die entsprechende Taste, und eine halbe Minute später erklärte ihm der Computer, dass ein Suchlauf durch achttausend Mordfälle, die auf der Festplatte gespeichert waren und etwa zehn Jahre umfassten, nur sechs Treffer gebracht hatte. Bosch rief einen nach dem anderen auf. Die ersten drei waren ungeklärte Morde an jungen Frauen, die man Anfang der Achtziger tot neben dem Damm gefunden hatte. Sie alle waren erwürgt worden. Bosch warf einen kurzen Blick auf die Information und ging zum nächsten weiter. Der vierte Fall betraf eine Leiche, die vor fünf Jahren im Wasserbecken getrieben hatte. Die Todesursache war nicht Ertrinken gewesen, doch Näheres war nicht bekannt. Bei den letzten beiden handelte es sich um Drogentote. Einer war bei einem Picknick im Park oberhalb des Reservoirs umgekommen. Die Sache sah für Bosch ziemlich eindeutig aus, und er ging weiter. Der letzte Fall betraf eine Leiche, die man vor vierzehn Monaten in der Röhre gefunden hatte. Als Todesursache wurde Herzstillstand aufgrund einer Überdosis braunen Heroinkonzentrats festgestellt.

»Der Verstorbene war dafür bekannt, dass er sich regelmäßig am Damm aufhielt und in der Röhre schlief«, stand auf dem Bildschirm. »Keine weiteren Vorfälle.«

Das war der Tote, von dem Crowley, der wachhabende Sergeant in Hollywood, am Telefon gesprochen hatte. Bosch drückte eine Taste und druckte die Informationen zu dem letzten Fall aus, wenn er auch nicht glaubte, dass der etwas mit seinem Fall zu tun hatte. Er ging aus dem Programm und schaltete den Computer ab, dann saß er noch einen Moment da und dachte nach. Ohne von seinem Stuhl aufzustehen, rollte er vor einen anderen PC. Er stellte ihn an und gab sein Passwort ein. Er nahm das Polaroid aus der Tasche, sah sich das Armband an und fütterte die Datei gestohlener Gegenstände mit der Beschreibung des Schmuckstücks. Das allein schon war eine Kunst. Er musste das Armband so beschreiben, wie er glaubte, dass andere Cops es tun würden, Cops, die möglicherweise Beschreibungen eines ganzen Inventars gestohlener Schmuckstücke aus einem Raub oder einem Diebstahl eingeben mussten. Er beschrieb das Armband einfach als »antikes Goldarmband mit geschnitztem Delfin aus Jade«. Er drückte die Suchtaste, und nach dreißig Sekunden sagte der Bildschirm »Nicht gefunden«. Er versuchte es noch einmal, tippte »Gold- und Jadearmband« ein und drückte die Suchtaste. Diesmal gab es 436 Treffer. Zu viele. Er musste die Herde ausdünnen. Er tippte »Goldarmband mit Jadefisch« und drückte auf »Suchen«. Sechs Treffer. Schon besser.

Der Computer sagte, ein Goldarmband mit einem geschnitzten Jadefisch tauche in vier Polizeiberichten und zwei Bulletins auf, die seit seiner Einführung 1983 in das Computersystem eingegeben worden waren. Bosch wusste, dass wegen der zahlreichen doppelten Ausführungen in sämtlichen Departments alle sechs Eintragungen ohne Weiteres vom selben Fall oder derselben Meldung über ein verloren gegangenes oder gestohlenes Armband stammen konnten. Er holte die Kurzfassungen der Polizeiberichte auf den Schirm und stellte fest, dass sein Verdacht zutraf. Die Berichte stammten allesamt vom selben Einbruch im September an der Ecke Sixth und Hill in Downtown L.A. Geschädigte war eine Frau namens Harriet Beecham, einundsiebzig, aus Silver Lake. Bosch versuchte sich zu erinnern, welches Gebäude oder Geschäft sich an dieser Ecke befand. Es gab keine Zusammenfassung des Verbrechens im Computer. Er würde ins Archiv gehen und sich einen Ausdruck geben lassen müssen. Es gab jedoch eine knappe Beschreibung des jadebesetzten Goldarmbandes und verschiedener weiterer Schmuckstücke, die man der Beecham entwendet hatte. Das Armband, das die Beecham als gestohlen gemeldet hatte, konnte möglicherweise das Stück sein, das Meadows versetzt hatte, oder vielleicht auch nicht … Die Beschreibung war zu vage. Mehrere weiterführende Aktenzeichen waren angegeben, die Bosch allesamt in sein Notizbuch schrieb. Dabei schien es ihm, als hätten Harriet Beechams Verluste eine ungewöhnliche Menge an Papierkram mit sich gebracht.

Als Nächstes rief er die Information zu den beiden Bulletins auf. Beide stammten vom FBI, und das erste war zwei Wochen nach dem Raub aufgesetzt worden. Drei Monate später hatte man es erneut veröffentlicht, nachdem der Schmuck der Beecham noch immer nicht aufgetaucht war. Bosch schrieb die Nummer des Bulletins auf und stellte den Computer ab. Er ging hinüber zur Ermittlungsgruppe »Geschäftseinbrüche«. Auf einem Stahlregal, das die gesamte Rückwand einnahm, reihten sich Dutzende schwarzer Ordner aneinander, in denen die Bulletins und Fahndungsmeldungen vergangener Jahre aufbewahrt wurden. Bosch nahm den Ordner mit der Aufschrift »September« und begann ihn durchzusehen. Bald merkte er, dass die Bulletins nicht chronologisch geordnet und keineswegs alle im September herausgegeben waren. Es gab überhaupt kein System. Möglicherweise würde er alle zehn Monate seit dem Raub durchsehen müssen, um das Bulletin zu finden, das er suchte. Er nahm einen Stapel Ordner aus dem Regal und setzte sich an den Tisch für Einbruchsdelikte. Wenige Augenblicke später spürte er, dass auf der anderen Seite des Tisches jemand war.

»Was willst du?«, sagte er ohne aufzusehen.

»Was ich will?«, sagte der Detective vom Dienst. »Ich will wissen, was zum Teufel Sie da machen, Bosch. Das hier ist nicht mehr Ihre Dienststelle. Sie können nicht einfach hier reinplatzen und so tun, als würden Sie den Laden schmeißen. Stellen Sie den Scheiß wieder zurück, und wenn Sie was suchen, kommen Sie morgen wieder und fragen nach, verdammt. Und erzählen Sie mir nicht wieder den Blödsinn mit der Autopsie. Sie sind schon eine halbe Stunde da.«

Bosch blickte zu ihm auf. Er schätzte ihn auf achtundzwanzig, vielleicht neunundzwanzig, noch jünger als Bosch gewesen war, als er beim Morddezernat angefangen hatte. Entweder waren die Ansprüche gesunken, oder das Morddezernat war nicht mehr, was es mal war. Bosch wusste, dass beides stimmte. Er widmete sich wieder dem Bulletin-Ordner.

»Ich rede mit dir, Arschloch!«, bellte der Detective.

Bosch streckte seinen Fuß unter dem Tisch aus und trat gegen den Stuhl, der ihm gegenüber stand. Der Stuhl schoss unter dem Tisch hervor, und seine Lehne traf den Detective zwischen die Beine. Er klappte zusammen, gab ein Uumpf von sich und tastete nach dem Stuhl, um sich abzustützen. Bosch wusste, dass sein Ruf für ihn arbeitete. Harry Bosch: Einzelgänger, Kampfmaschine, Killer. Komm schon, Junge, sagte er damit, tu was.

Aber der junge Detective starrte Bosch nur an, hielt Wut und Erniedrigung im Zaum. Er war ein Cop, der die Waffe ziehen, aber nicht abdrücken konnte. Und als Bosch dies wusste, wusste er auch, dass der Bengel kneifen würde.

Der junge Cop schüttelte den Kopf, wedelte mit den Armen, als wollte er sagen, jetzt ist es aber genug, und kehrte an seinen Tisch zurück.

»Mach schon, schreib mich auf, Jungchen«, sagte Bosch seinem Rücken zugewandt.

»Du kannst mich mal«, gab der Junge kraftlos zurück.

Bosch wusste, dass er sich keine Sorgen machen musste. Das IAD, das Department für Innere Angelegenheiten, würde sich die Beschwerde eines Officers über einen anderen ohne Zeugen oder Bandaufzeichnung nicht einmal ansehen. Das Wort eines Cops gegen das eines anderen war etwas, bei dem man in diesem Dezernat nichts unternehmen würde. Tief in ihrem Inneren wussten sie, dass das Wort eines Cops nichts wert war. Deshalb arbeiteten die Leute vom IAD immer paarweise.

Eine Stunde und sieben Zigaretten später hatte Bosch es gefunden. Die Fotokopie eines Polaroids von dem jadebesetzten Goldarmband gehörte zu einem fünfzig Seiten dicken Packen von Beschreibungen und Fotos von Gegenständen, die bei einem Raub in der WestLand National Bank an der Ecke Sixth und Hill verschwunden waren. Endlich konnte Bosch die Adresse einordnen und erinnerte sich an das dunkel getönte Glas des Gebäudes. Im Inneren der Bank war er nie gewesen. Ein Banküberfall, bei dem Schmuck geraubt wurde, dachte er. Das machte nicht viel Sinn. Er betrachtete die Liste. Bei fast allen Gegenständen handelte es sich um Schmuckstücke, doch für einen Banküberfall waren es zu viele. Allein Harriet Beecham hatte acht alte Ringe, vier Armreifen, vier Ohrringe verloren. Außerdem hatte man die Stücke als gestohlen, nicht als geraubt vermerkt. Er ging die Fahndungsmeldungen durch, konnte aber nichts finden. Nur einen Kontakt zum FBI: Special Agent E.D. Wish.

Dann fiel ihm auf, dass in einem Feld auf dem Fahndungsblatt drei Tage als Datum des Einbruchs angegeben waren. Ein Einbruch, verteilt über eine Spanne von drei Tagen in der ersten Septemberwoche. Das Wochenende um den Labor Day herum. Da waren die Banken in der Innenstadt drei Tage geschlossen. Jemand hatte ein Ding in einer Bank mit einem Tresorraum gedreht. Ein Tunneljob? Bosch lehnte sich zurück und dachte darüber nach. Wieso erinnerte er sich nicht daran? So ein Einbruch wäre doch tagelang durch die Medien gegangen. Im Dezernat hätte man sogar noch länger davon gesprochen. Dann fiel ihm ein, dass er am Labor Day in Mexiko gewesen war, und die drei darauffolgenden Wochen ebenfalls. Der Bankraub war geschehen, als er seine einmonatige Suspendierung wegen des Dollmaker-Falles verbüßt hatte. Er beugte sich vor, nahm einen Hörer ab und wählte.

»Times, Bremmer.«

»Hier ist Bosch. Sie arbeiten immer noch jeden Sonntag, was?«

»Von zwei bis zehn, jeden Sonntag, ohne Bewährung. Also, was gibt’s? Seit … hm … Ihrem Problem mit der Dollmaker-Sache haben Sie nichts mehr von sich hören lassen. Gefällt Ihnen die Hollywood Division?«

»Geht so. Muss ja.« Er sprach leise, damit der Detective vom Dienst ihn nicht belauschen konnte.

Bremmer sagte: »So schlimm? Na, ich habe gehört, Sie hätten heute Morgen die Leiche vom Damm gekriegt.«

Joel Bremmer schrieb schon länger für die Times über die Polizeiarbeit, als die meisten Cops bei der Truppe waren, Bosch eingeschlossen. Es gab nicht viel, was er über das Department nicht hörte oder nicht mit einem Anruf herausfinden konnte. Vor einem Jahr hatte er Bosch angerufen, ob er einen Kommentar zu seiner Suspendierung abgeben wollte, ohne Bezahlung. Bremmer hatte früher als Bosch davon gewusst. Normalerweise hasste das Department die Times, und die Times sparte nie mit ihrer Kritik am Department. Aber mitten drin saß Bremmer, dem jeder Cop trauen konnte, was viele, wie Bosch, auch taten.

»Ja, das ist mein Fall«, sagte Bosch. »Bisher gibt es da nicht viel. Aber Sie müssen mir einen Gefallen tun. Wenn es so läuft, wie ich annehme, dürfte es etwas werden, was Sie interessiert.«

Bosch wusste, dass er ihn nicht zu ködern brauchte, aber der Reporter sollte wissen, dass es später noch etwas geben konnte.

»Was brauchen Sie?«, sagte Bremmer.

»Wie Sie wissen, habe ich am Labor Day im letzten Jahr meinen verlängerten Urlaub genommen, dank des IAD. Deswegen ist mir diese Sache entgangen. Aber da gab es …«

»Der Tunneljob? Sie wollen mich doch nicht nach der Tunnelsache fragen, oder? Hier unten in Downtown? Der ganze Schmuck? Verkäufliche Pfandbriefe, Aktien, vielleicht Drogen?«

Bosch hörte, wie die Stimme des Reporters eine Spur eindringlicher wurde. Er hatte recht gehabt. Es war ein Tunnel gewesen, und die Geschichte war lang und breit ausgeschlachtet worden. Wenn Bremmer sich so sehr dafür interessierte, handelte es sich um einen wichtigen Fall. Trotzdem überraschte es Bosch, dass er nichts davon gehört hatte, als er im Oktober wieder an seine Arbeit gegangen war.

»Ja, genau die Sache«, sagte er. »Ich war weg, deshalb habe ich es verpasst. Irgendwelche Festnahmen?«

»Nein, nichts dergleichen. Zuständig ist das FBI, soweit ich weiß.«

»Ich möchte mir heute Abend die Ausschnitte ansehen. Ginge das?«

»Ich kümmere mich um Kopien. Wann kommen Sie?«

»Ich mach mich bald auf den Weg.«

»Ich gehe recht in der Annahme, dass es etwas mit der Leiche von heute Morgen zu tun hat?«

»Sieht so aus. Vielleicht. Ich kann jetzt nicht reden. Und ich weiß, dass die Spinner vom FBI den Fall haben. Mit denen treffe ich mich morgen. Deshalb möchte ich die Ausschnitte heute Abend noch sehen.«

»Ich bin da.«

Als er aufgelegt hatte, betrachtete Bosch die FBI-Fotokopie des Armbands. Es gab keinen Zweifel, dass es sich um das Stück handelte, das Meadows versetzt hatte und das auf Obinnas Polaroid zu sehen war. Das Armband auf dem FBI-Foto lag um ein mit Leberflecken übersätes Handgelenk. Drei kleine, geschnitzte Fische schwammen auf einer Woge aus Gold. Bosch nahm an, dass es sich um Harriet Beechams einundsiebzigjähriges Handgelenk handelte und man das Foto aus Versicherungsgründen aufgenommen hatte. Er sah zu dem Detective vom Dienst hinüber, der noch immer in seinem Waffenkatalog blätterte. Er hustete laut, wie er es in einem Film mit Nicholson gesehen hatte, und riss gleichzeitig das Fahndungsblatt aus dem Ordner. Der Junge sah zu Bosch herüber, dann widmete er sich wieder Waffen und Munition.

Als er das Fahndungsblatt in seine Tasche schob, ging Boschs elektronischer Pieper los. Er nahm den Hörer ab und rief das Revier in Hollywood an, rechnete damit, dass ihn eine weitere Leiche erwartete. Ein wachhabender Sergeant namens Art Crocket, den alle nur Davey nannten, nahm den Anruf entgegen.

»Harry, bist du immer noch draußen?«, sagte er.

»Ich bin im Parker Center. Musste ein paar Sachen nachsehen.«

»Gut, dann bist du ja schon in der Nähe vom Leichenschauhaus. Ein gewisser Sakai hat angerufen und gesagt, er muss dich sprechen.«

»Mich sprechen?«

»Er hat gesagt, ich soll dir ausrichten, dass sich was ergeben hätte und sie die Autopsie schon heute machen. Genauer gesagt, sind sie im Augenblick dabei.«

Bosch brauchte fünf Minuten zum County-USC-Hospital und eine Viertelstunde, um einen Parkplatz zu finden. Das Büro des Gerichtsmediziners lag hinter einem der Krankenhausgebäude, die nach dem Erdbeben 1987 für abbruchreif erklärt worden waren. Es war ein gelbes, zweistöckiges Fertighaus ohne architektonischen Reiz oder Ausstrahlung. Als Bosch durch die Glastüren trat, durch die die Lebenden hereinkamen, und dann weiter in die Eingangshalle ging, kam er an einem Detective vom Sheriff’s Department vorbei, mit dem er Anfang der Achtziger einige Zeit in der Night-Stalker-Sondereinheit zusammengearbeitet hatte.

»Hey, Bernie«, sagte Bosch und lächelte.

»Leck mich am Arsch, Bosch«, sagte Bernie. »Wir anderen haben auch Fälle, die wichtig sind.«

Bosch blieb einen Augenblick lang stehen und sah dem Detective hinterher, der über den Parkplatz lief. Dann ging er hinein und dann nach rechts, einen behördengrünen Korridor hinunter, kam durch zwei Paar Doppeltüren – und der Gestank wurde immer schlimmer. Es roch nach Tod und extrastarkem Desinfektionsmittel. Der Tod behielt die Oberhand. Bosch betrat den gelb gefliesten Desinfektionsraum. Larry Sakai war da und zog gerade einen Umhang aus Papier über. Papiermaske und -schuhe hatte er schon an. Bosch nahm sich die gleiche Ausrüstung aus einem der Pappkartons auf dem Metalltisch und begann, sie überzuziehen.

»Was ist mit Bernie Slaughter los?«, fragte Bosch. »Was ist ihm hier drinnen passiert, dass er so sauer ist?«

»Sie sind passiert, Bosch«, sagte Sakai, ohne ihn anzusehen. »Er wurde gestern Morgen rausgerufen. Irgend so ein Sechzehnjähriger hat seinen besten Freund erschossen. Oben in Lancaster. Sieht aus wie ein Unfall, aber Bernie wartet, dass wir Schusskanal und Schmauchspuren checken. Er will den Fall abschließen. Ich hatte ihm gesagt, wir würden heute spät dazu kommen, also hat er sich auf den Weg gemacht. Nur kommen wir heute gar nicht mehr dazu. Weil Sally unbedingt Ihren Fall bearbeiten will. Fragen Sie mich nicht, wieso. Als ich den Toten reingebracht habe, hat er ihn sich nur kurz angesehen und entschieden, dass wir ihn heute machen. Ich habe ihm gesagt, dass wir dafür jemanden rausschmeißen müssen, und er hat gesagt, nimm Bernie. Aber den konnte ich nicht mehr rechtzeitig an den Apparat kriegen, um zu verhindern, dass er extra herkommt. Deswegen ist Bernie sauer. Sie wissen, dass er ganz da unten in Diamond Bar wohnt. Eine lange Fahrt umsonst.«

Bosch hatte Maske, Umhang und Schuhe an und folgte Sakai den langen, gefliesten Korridor zu den Autopsieräumen hinunter. »Dann sollte er vielleicht auf Sally sauer sein und nicht auf mich«, sagte er.

Sakai antwortete nicht. Sie traten an den ersten Tisch, auf dem Billy Meadows lag, nackt, im Nacken von einem kurzen Kantholz gestützt. Sechs Metalltische standen im Raum. Sie alle hatten Rinnen an den Rändern und Abflusslöcher an den Ecken. Auf jedem lag eine Leiche. Dr. Jesus Salazar stand mit dem Rücken zu Bosch und Sakai über Meadows’ Brust gebeugt.

»Tag, Harry, ich hab schon gewartet«, sagte Salazar und sah noch immer nicht auf. »Larry, hiervon werde ich Proben brauchen.« Mit seinem Gummihandschuh hielt er etwas, das aussah wie ein viereckiger Pfropfen Fleisch mit rosa Muskelfasern. Er legte es in eine Stahlpfanne, eine von der Sorte, mit denen man Brownies macht, und reichte sie Sakai. »Machen Sie mir ein paar Vertikale, eine vom Einstichkanal, dann zum Vergleich je eine von den Seiten.«

Sakai nahm die Pfanne und ging hinaus ins Labor. Bosch sah, dass das Stück Fleisch aus Meadows’ Brust stammte, etwa zwei bis drei Zentimeter über der linken Brustwarze.

»Was hast du gefunden?«, fragte Bosch.

»Bin mir noch nicht sicher. Wir werden sehen. Die Frage ist: Was hast du gefunden, Harry? Mein Mitarbeiter hat gesagt, du hättest die Autopsie gern noch heute gehabt. Wieso das?«

»Ich habe ihm gesagt, es müsste heute sein, weil ich wollte, dass sie morgen gemacht wird. Ich dachte, darauf hätten wir uns auch geeinigt.«

»Ja, das hat er mir gesagt, aber ich bin neugierig geworden. Ich liebe rätselhafte Fälle, Harry. Wieso glaubst du, an dieser Sache wäre was faul, wie ihr Detectives sagt?«

Wir sagen es nicht mehr, dachte Bosch. Wenn es erst mal im Film auftaucht und Leute wie Salazar es übernehmen, ist es aus der Mode.

»Anfangs passten nur ein paar Dinge nicht zusammen«, sagte Bosch. »Inzwischen sind es mehr geworden. Für mich sieht es aus wie Mord. Da gibt es nichts mehr zu rätseln.«

»Was für Sachen?«

Bosch holte sein Notizbuch hervor und fing an, darin herumzublättern, während er sprach. Er zählte die Dinge auf, die ihm am Tatort aufgefallen waren: der gebrochene Finger, das Fehlen erkennbarer Spuren in der Röhre, das Hemd, das über den Kopf gezogen war.

»Er hatte ein Fixerbesteck in der Tasche, und wir haben einen Kocher und eine Pfanne in der Röhre gefunden, aber das Ganze wirkt irgendwie nicht echt. Für mich sieht es aus wie eine Finte. Es kommt mir so vor, als ob er mit diesem Schuss umgebracht wurde. Die anderen Narben sind alt. Seine Arme hat er seit Jahren nicht benutzt.«

»Da hast du recht. Neben dem frischen Einstich im Arm ist der Unterleib der einzige Bereich, an dem die Einstiche neu sind. Die Innenseiten der Oberschenkel benutzen normalerweise nur Leute, die sich große Mühe geben, ihre Sucht zu verbergen. Aber andererseits könnte es auch sein, dass er zum ersten Mal wieder die Arme genommen hat. Was hast du sonst noch, Harry?«

»Er hat geraucht, da bin ich ziemlich sicher. Bei der Leiche waren keine Zigaretten.«

»Könnte die nicht jemand der Leiche weggenommen haben? Bevor sie entdeckt wurde? Ein Leichenfledderer?«

»Stimmt. Aber wieso hat er die Kippen genommen und das Besteck nicht? Und dann ist da noch die Wohnung. Irgendjemand hat sie durchsucht.«

»Könnte jemand gewesen sein, der ihn kannte. Jemand, der nach seinen Vorräten gesucht hat.«

»Stimmt auch wieder.« Bosch blätterte in seinem Notizbuch ein paar Seiten weiter. »Im Fixerbesteck bei der Leiche fanden sich bräunlich-weiße Kristalle in der Watte. Ich hab schon oft braunes Heroin gesehen und weiß, dass es die Watte dunkelbraun färbt, manchmal sogar schwarz. Sieht so aus, als hätte er gutes Zeug in den Arm bekommen, wahrscheinlich von Übersee. Das passt nicht zu der Art und Weise, wie er gelebt hat. Das ist Reiche-Leute-Stoff.«

Salazar dachte einen Moment lang nach, bevor er sagte: »Das sind eine ganze Menge Vermutungen, Harry.«

»Aber dann ist da noch was, und daran fange ich gerade erst an zu arbeiten: Er hatte mit einem großen Ding zu tun.«

Bosch gab ihm eine kurze Zusammenfassung von dem, was er über das Armband, die Entwendung aus dem Banktresor und die Pfandleihe wusste. Salazars Domäne waren von jeher die forensischen Details eines Falles gewesen, aber Bosch hatte schon immer auf Sally vertraut und es manchmal hilfreich gefunden, ihm Einzelheiten eines Falles zu erzählen. Die beiden hatten sich 1974 kennengelernt, als Bosch noch Streifenpolizist und Sally der neue stellvertretende Coroner gewesen war. Bosch war zum Objektschutz an der East 54th in South Central eingeteilt gewesen, wo nach einem Schusswechsel mit der Symbionese Liberation Army ein Haus ausgebrannt war und man fünf Leichen im qualmenden Schutt gefunden hatte. Sally sollte feststellen, ob irgendwo in der Asche eine sechste lag – Patty Hearst. Drei Tage hatten die beiden zusammen dort verbracht, und als Sally aufgab, hatte Bosch seine Wette, dass sie noch lebte, gewonnen. Wo auch immer.

Als Bosch mit der Geschichte vom Armband fertig war, schien Sallys Sorge, Billy Meadows’ Tod berge möglicherweise gar kein Geheimnis, besänftigt. Er wirkte angespornt. Er drehte sich zu einem Wagen um, auf dem sein Sezierbesteck lag, und rollte ihn neben den Obduktionstisch. Er stellte das Diktiergerät an und nahm ein Skalpell und eine ganz normale Gartenschere in die Hand. Er sagte: »Na gut, machen wir uns an die Arbeit.«

Bosch trat ein Stück zurück, um Spritzern auszuweichen und lehnte sich gegen einen Tresen, auf dem ein Tablett mit Messern, Sägen und Skalpellen stand. Ein Schild fiel ihm ins Auge, das seitlich an dem Tablett klebte. Darauf stand: »Müssen geschärft werden.«

Salazar sah auf Billy Meadows hinab und begann: »Die Leiche ist die eines gut entwickelten Mannes kaukasischer Abstammung, einhundertfünfundsiebzig Zentimeter groß, wiegt einhundertfünfundsechzig Pfund und wirkt im Allgemeinen seinem angegebenen Alter von vierzig Jahren entsprechend. Der Tote ist kalt und unbalsamiert, befindet sich in vollständiger Leichenstarre und zeigt eine nachträgliche, bedingt bleibende Verfärbung.«

Bosch sah ihm anfangs zu, dann fiel ihm allerdings die Plastiktüte mit Meadows’ Kleidern auf dem Tresen neben der Besteckschale auf. Er zog sie herüber und öffnete sie. Augenblicklich brannte der Uringeruch in seiner Nase, und einen Moment lang dachte er an das Wohnzimmer in Meadows’ Wohnung. Er zog ein Paar Handschuhe über, während Salazar mit der Beschreibung der Leiche fortfuhr.

»Am linken Zeigefinger lässt sich ein fühlbarer Bruch ohne Fleischwunde, blutige Quetschung oder Blutung feststellen.«

Bosch warf einen Blick über seine Schulter und sah, dass Salazar mit dem stumpfen Ende des Skalpells am gebrochenen Finger herumwackelte, während er dabei in den Rekorder sprach. Er beendete seine äußerliche Beschreibung der Leiche mit der Erwähnung der Einstiche.

»Zu sehen sind blutige Einstiche, die von einer Nadel herrühren, oben auf der Innenseite der Oberschenkel und an der Innenseite des linken Armes. Der Armeinstich sondert eine blutige Flüssigkeit ab und scheint jüngeren Ursprungs zu sein. Keinerlei Schorfbildung. In der linken, oberen Brust befindet sich ein weiterer Einstich, der geringe Mengen von Flüssigkeit absondert und etwas größer als der Einstich einer Nadel zu sein scheint.«

Salazar legte eine Hand über das Mikrophon des Rekorders und sagte zu Bosch: »Ich lasse Sakai Proben vom Brusteinstich nehmen. Das sah sehr interessant aus.«

Bosch nickte, drehte sich wieder zum Tresen um und fing an, Meadows’ Kleidung auszubreiten. Hinter sich hörte er, wie Salazar mit der Schere den Brustkorb des Mannes öffnete.

Der Detective zog beide Taschen heraus und sah sich die Fusseln an. Er drehte die Strümpfe um und prüfte die Innennähte von Hose und Hemd. Nichts. Er nahm ein Skalpell aus der Müssen-geschärft-werden-Schale, durchschnitt die Nähte von Meadows’ Ledergürtel und trennte ihn auf. Wieder nichts. Hinter seinem Rücken hörte er, wie Salazar sagte: »Die Milz wiegt hundertneunzig Gramm. Die Kapsel ist intakt und etwas faltig, das Parenchym ist hellrot und wulstig.«

Bosch hatte das alles schon Hunderte von Malen gehört. Das meiste von dem, was der Pathologe in seinen Rekorder diktierte, sagte dem Detective nichts. Er war nur am Ergebnis interessiert. Was hatte die Person auf dem Stahltisch getötet? Wer? Und wie?

»Die Gallenblase ist dünnwandig«, sagte Salazar. »Sie enthält einige Kubikzentimeter grünlichblauer Gallenflüssigkeit ohne Steine.«

Bosch stopfte die Kleidungsstücke zurück in die Plastiktüte. Dann holte er Meadows’ lederne Arbeitsschuhe aus einer zweiten Plastiktüte. Rötlichorangefarbener Staub rieselte aus dem Inneren der Schuhe. Ein weiterer Hinweis darauf, dass jemand die Leiche in die Röhre gezerrt hatte. Die Absätze waren über den getrockneten Schlamm geschrammt und hatten den Staub in die Schuhe gelenkt.

Salazar sagte: »Die Blasenschleimhaut ist intakt, und darin enthalten sind nicht mehr als fünfzig Milliliter hellgelber Urin. Die äußeren Genitalien und Vagina sind nicht weiter bemerkenswert.«

Bosch drehte sich um. Salazar hielt seine Hand über das Mikrophon des Diktiergeräts. Er sagte: »Pathologenhumor. Wollte nur sehen, ob du zuhörst, Harry. Es könnte sein, dass du es irgendwann bezeugen musst. Um meine Aussage zu stützen.«

»Das möchte ich bezweifeln«, sagte Bosch. »Niemand langweilt die Geschworenen gern zu Tode.«

Salazar stellte die kleine Kreissäge an, mit der man Schädel öffnet. Sie klang wie ein Bohrer beim Zahnarzt. Bosch wandte sich wieder den Schuhen zu. Sie waren ordentlich gefettet und gepflegt. Die Gummisohlen waren nur wenig abgetragen. In einer der tiefen Rillen im Profil des rechten Schuhs steckte ein weißer Stein. Bosch löste ihn mit dem Skalpell heraus. Es war ein kleiner Brocken Zement. Der weiße Staub auf dem Teppich in Meadows’ Wandschrank fiel ihm ein. Er überlegte, ob der Staub oder dieser Brocken vielleicht von dem Beton aus dem Tresorraum der WestLand Bank stammte. Wenn aber die Schuhe so gut gepflegt waren, konnte der kleine Brocken dann die neun Monate seit dem Einbruch im Profil gesteckt haben? Das war unwahrscheinlich. Vielleicht stammte er von der Arbeit beim U-Bahn-Bau. Falls Meadows tatsächlich so einen Job gehabt hatte. Bosch warf den Zementbrocken in einen kleinen Plastikumschlag und steckte ihn in die Tasche zu den anderen, die er im Laufe des Tages gesammelt hatte.

Salazar sagte: »Bei der Untersuchung des Kopfes und des Schädelinhalts zeigt sich weder ein Trauma, noch eine pathologische Vorerkrankung oder eine angeborene Anomalie. Harry, ich werde mir jetzt den Finger ansehen.«

Bosch stellte die Schuhe wieder in die Plastiktüte und wandte sich zum Autopsietisch um, als Salazar ein Röntgenbild von Meadows’ linker Hand gegen einen Lichtkasten an der Wand hielt.

»Siehst du hier diese Splitter?«, fragte er, während er auf kleine, spitze, weiße Flecken im Negativ deutete. Drei davon lagen in der Nähe des gebrochenen Gelenks. »Wäre das hier ein alter Bruch, wären sie mit der Zeit in das Gelenk gewandert. Narben sind auf dem Röntgenbild keine zu erkennen, aber das werde ich mir gleich mal ansehen.«

Er trat an die Leiche und machte mit dem Skalpell einen T-förmigen Schnitt in die Haut an der Oberseite des Gelenks. Dann zog er die Haut zurück, bohrte mit dem Skalpell im rosigen Fleisch herum und sagte: »Nein … nein … nichts. Das war nachträglich, Harry. Meinst du, es könnte einer von meinen Leuten gewesen sein?«

»Ich weiß nicht«, sagte Bosch. »Sieht nicht so aus. Sakai hat gesagt, er und sein Helfer wären vorsichtig gewesen. Ich bin mir sicher, dass ich es nicht gewesen sein kann. Wie kommt es, dass die Haut nicht beschädigt wurde?«

»Das ist eine interessante Frage. Ich weiß es nicht. Irgendwie wurde der Finger gebrochen, ohne dass äußerlicher Schaden entstand. Darauf habe ich keine Antwort. Aber es dürfte nicht allzu schwierig gewesen sein. Einfach den Finger festhalten und nach unten reißen. Vorausgesetzt, man bringt es über sich. So etwa.«

Salazar ging um den Tisch. Er hob Meadows’ rechte Hand und riß den Finger nach hinten. Ihm fehlte die Hebelkraft, und er konnte das Gelenk nicht brechen.

»Schwieriger, als ich dachte«, sagte er. »Vielleicht hat jemand mit einem stumpfen Gegenstand auf den Finger geschlagen. Mit einem Ding, das die Haut nicht beschädigt.«

Als Sakai eine Viertelstunde später mit den Proben hereinkam, war die Autopsie beendet und Salazar nähte Meadows’ Brustkorb mit einer dicken, gewachsten Schnur zu. Dann nahm er einen von der Decke hängenden Schlauch, spritzte die Leiche ab und befeuchtete das Haar. Sakai band die Arme und Beine mit einem Seil zusammen, um zu verhindern, dass sie sich in den verschiedenen Stadien der Leichenstarre bewegten. Bosch sah, dass das Seil in die Tätowierung an Meadows’ Arm schnitt, direkt am Hals der Ratte.

Mit Daumen und Mittelfinger drückte Salazar Meadows’ Augen zu.

»Bringen Sie ihn in die Box«, sagte er zu Sakai. Dann zu Bosch: »Sehen wir uns mal die Proben an. Es kam mir seltsam vor, weil das Loch größer war als bei einer normalen Nadel, und die Stelle an der Brust ist ziemlich ungewöhnlich.

Der Einstich wurde zweifellos vor dem Tod vorgenommen, möglicherweise während des Todes … es gab nur eine leichte Blutung. Aber es hat sich kaum Schorf auf der Wunde gebildet. Das heißt also: kurz bevor oder während er gestorben ist. Möglicherweise die Todesursache, Harry.«

Salazar brachte die Proben zu einem Mikroskop, das auf dem Tresen im hinteren Teil des Raumes stand. Er suchte eine der Proben aus und legte sie auf die Sichtscheibe. Er beugte sich darüber, und nach einer halben Minute sagte er: »Interessant.«

Dann sah er sich kurz die anderen Proben an. Als er fertig war, legte er die erste Probe wieder auf die Sichtscheibe.

»Okay, ich habe dort, wo der Einstich war, aus der Brust ein quadratisches Stück von zweieinhalb Zentimetern entnommen. Ich bin mit dem Schnitt etwa vier Zentimeter in die Brust eingedrungen. Diese Probe ist ein vertikales Präparat der Probe und zeigt den Verlauf des Einstichs. Kannst du mir folgen?«

Bosch nickte.

»Gut. Das ist in etwa so, als würde man einen Apfel aufschneiden, um den Gang eines Wurmes freizulegen. Die Probe zeigt den Verlauf der Perforation, jeden direkten Schlag und jede Verletzung. Sieh es dir an.«

Bosch beugte sich über das Okular des Mikroskops. Die Probe zeigte eine gerade, etwa zweieinhalb Zentimeter tiefe Perforation durch die Haut und in den Muskel, die sich am Ende wie ein Nagel verjüngte. Der rosige Muskel färbte sich am unteren Ende der Penetration dunkelbraun.

»Was bedeutet das?«, fragte er.

»Es bedeutet«, sagte Salazar, »dass der Einstich durch die Haut ging, durch die Faszie – das ist die sehnenartige Muskelhaut – und dann direkt in den pektoralen Muskel. Ist dir die dunkler werdende Färbung des Muskels um die Penetration herum aufgefallen?«

»Ja, ist sie.«

»Harry, das kommt, weil der Muskel dort verbrannt ist.«

Bosch wandte sich vom Mikroskop ab und sah Salazar an.

Unter der Atemmaske des Pathologen schien sich ein schmales Lächeln abzuzeichnen.

»Verbrannt?«

»Ein Elektroschocker«, sagte der Pathologe. »Einer, der seinen Elektrodenpfeil tief ins Hautgewebe dringen lässt. Etwa drei bis vier Zentimeter. Wenn es in diesem Fall auch wahrscheinlicher sein dürfte, dass die Elektrode manuell tiefer in den Brustkorb gepresst wurde.«

Bosch überlegte einen Augenblick. Es wäre praktisch unmöglich, einen bestimmten Elektroschocker nachzuweisen. Sakai kam wieder herein, lehnte sich an den Tresen bei der Tür und sah ihnen zu. Salazar nahm drei Glasröhrchen mit Blut und zwei mit einer gelblichen Flüssigkeit vom Gerätewagen. Außerdem stand da noch eine kleine Stahlschüssel mit einem braunen Klumpen, den Bosch als Leber erkannte.

»Larry, hier sind die toxikologischen Proben«, sagte Salazar. Sakai nahm sie entgegen und verschwand.

»Was du da sagst, deutet auf Folter hin, Elektroschock«, sagte Bosch.

»So sieht es aus«, sagte Salazar. »Nicht so stark, dass es ihn töten würde, dafür ist das Trauma zu gering. Aber möglicherweise stark genug, um Informationen aus ihm herauszuholen. Ein Stromstoß kann eine ziemliche Überzeugungskraft haben. Ich glaube, dafür gibt es genügend Beispiele. Wenn die Elektrode an der Brust des Delinquenten befestigt wird, merkt er wahrscheinlich, wie ihm der Saft direkt ins Herz fließt. Dann wäre er gelähmt. Er würde ihnen erzählen, was sie wissen wollen und könnte dann nur noch zusehen, wie sie ihm die tödliche Dosis Heroin in den Arm spritzen.«

»Können wir irgendwas davon beweisen?«

Salazar sah auf den Fliesenboden hinab, legte einen Finger an seine Maske und kratzte sich an der Lippe darunter. Bosch brauchte unbedingt eine Zigarette. Seit fast zwei Stunden war er jetzt im Autopsieraum.

»Irgendwas davon beweisen?«, sagte Salazar. »Nicht medizinisch. Die toxikologischen Proben sind in einer Woche fertig. Nur mal angenommen, sie kommen als Überdosis Heroin zurück. Wie sollen wir beweisen, dass jemand anderes sie ihm in den Arm gegeben hat, nicht er selbst? Medizinisch können wir es nicht. Aber wir können zeigen, dass auf das Opfer zum Zeitpunkt des Todes oder kurz davor ein traumatischer Angriff in Form eines Elektroschocks verübt wurde. Er wurde gefoltert. Nach Eintritt des Todes wäre dann da noch der unerklärliche Bruch des ersten Fingers der linken Hand.«

Wieder rieb er sich über die Maske und sagte abschließend: »Ich könnte aussagen, dass es Mord war. Sämtliche medizinischen Beweise zusammengefasst weisen auf Tod durch Dritte hin. Aber im Augenblick gibt es dafür keinen Anlass. Wir warten die Ergebnisse der Toxikologie ab, und dann stecken wir die Köpfe noch mal zusammen.«

Bosch hielt eine Zusammenfassung dessen, was Salazar gesagt hatte, in seinem Notizbuch fest. Er würde es für seinen eigenen Bericht brauchen.

»Natürlich«, sagte Salazar, »ist es eine ganz andere Frage, ob man irgendetwas davon einer Jury von Geschworenen zweifelsfrei beweisen kann. Ich nehme mal an, Harry, du wirst das Armband auftreiben oder rausfinden müssen, was so viel wert war, dass ein Mann dafür gefoltert und getötet wurde.«

Bosch klappte sein Notizbuch zu und fing an, den Papierkittel auszuziehen.

Die untergehende Sonne ließ den Himmel brennen, rosa und orange. Die Farben leuchteten wie die Neoprenanzüge von Surfern. Wie schön doch diese Täuschung ist, dachte Bosch, als er auf dem Hollywood Freeway in Richtung Norden nach Hause fuhr. Das hatten die Sonnenuntergänge hier so an sich. Sie ließen einen vergessen, dass es der Smog war, der ihre Farben so leuchtend machte. Dass hinter jedem hübschen Bild eine hässliche Geschichte lauern konnte.

Die Sonne hing wie eine kupferne Kugel in der Scheibe auf der Beifahrerseite. Er hatte im Radio einen Jazzsender gesucht, und Coltrane spielte Soul Eyes. Auf dem Sitz neben ihm lag ein Aktenordner mit den Zeitungsausschnitten von Bremmer. Ein Sechserpack Henry’s hielt den Ordner, wo er war. In Barnham fuhr Bosch ab und nahm den Woodrow Wilson hinauf in die Hügel oberhalb von Studio City. Sein Zuhause war ein hölzerner Einzimmerausleger, kaum größer als eine Garage in Beverly Hills. Er hing über dem Rand eines Hügels und wurde an seinem Mittelpunkt von drei Stahlstützen gehalten. Bei Erdbeben war dies ein beängstigender Ort, als forderte man Mutter Natur heraus, die Träger abzuknicken und das Haus wie einen Schlitten den Hügel hinunterzuschicken. Aber der Blick war unbezahlbar. Von der hinteren Veranda aus konnte Bosch im Nordosten Burbank und Glendale sehen. Er sah die rötlich eingefärbten Berge jenseits von Pasadena und Altadena. Manchmal konnte er die hoch aufragenden Rauchsäulen und den orangefarbenen Schimmer der Buschbrände in den Hügeln sehen. Nachts ließ das Rauschen des Freeway unter ihm etwas nach, und die Suchscheinwerfer von Universal City strichen über den Himmel. Das Valley zu überblicken gab Bosch jedes Mal ein Gefühl von Macht, das er sich nicht erklären konnte. Aber er wusste, dass dies einer der Gründe gewesen war, der Hauptgrund eigentlich, warum er das Haus genommen hatte und es nie mehr verlassen wollte.

Vor acht Jahren hatte Bosch es gekauft und eine Anzahlung von 50000 Dollar geleistet, bevor der Immobilienboom krankhafte Ausmaße annahm. Somit blieb eine Belastung von 1400 Dollar monatlich, die er sich ohne Weiteres leisten konnte, denn ansonsten gab er sein Geld nur für Essen, Trinken und Jazz aus.

Das Geld für die Anzahlung stammte von einem Studio, das von ihm das Recht erworben hatte, seinen Namen in einer TV-Serie zu benutzen, die auf einer Reihe von Morden an Besitzern von Schönheitssalons in Los Angeles basierte. Bosch und sein Partner wurden von zwei mittelmäßig bekannten Fernsehschauspielern verkörpert. Sein Partner hatte seine fünfzig Riesen und seine Pension genommen und war nach Ensenada gezogen. Bosch hatte seinen Anteil auf ein Haus gesetzt, von dem er nicht wusste, ob es das nächste Erdbeben überleben würde, ihm aber das Gefühl gab, der König dieser Stadt zu sein.

Trotz Boschs Entschlossenheit, nie mehr wegzuziehen, erklärte ihm Jerry Edgar, sein momentaner Partner und Teilzeit-Immobilienmann, dieses Haus wäre inzwischen dreimal so viel wert, wie er dafür bezahlt hatte. Wann immer das Thema auf Immobilien kam, was oft der Fall war, riet Edgar Bosch, es zu verkaufen und die günstige Gelegenheit zu nutzen. Edgar wollte es übernehmen. Doch Bosch wollte einfach bleiben, wo er war.

Als er beim Haus ankam, war es schon dunkel. Er trank das erste Bier im Stehen auf der hinteren Veranda und sah auf den Lichterteppich hinab. Er trank eine zweite Flasche, als er mit dem geschlossenen Ordner auf dem Schoß in seinem Bereitschaftssessel saß. Er hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen, und das Bier tat bald seine Wirkung. Er fühlte sich träge, doch trotzdem unruhig, und hatte Hunger. Er stand auf, ging in die Küche und schmierte sich ein Truthahn-Sandwich, das er mit einem weiteren Bier zu seinem Sessel trug.

Nachdem er gegessen hatte, wischte er die Sandwichkrümel vom Ordner und schlug ihn auf. In der Times hatte es vier Geschichten über den Einbruch in der WestLand Bank gegeben. Er las sie in der Reihenfolge ihres Erscheinens. Die erste war nur kurz und stand auf Seite 3 des Lokalteils. Die Informationen waren offenbar an dem Dienstag zusammengetragen worden, an dem man den Einbruch entdeckt hatte. Zu diesem Zeitpunkt waren weder LAPD noch FBI daran interessiert, mit der Presse zu sprechen oder die Öffentlichkeit über die Geschehnisse zu informieren.

Behörden untersuchen Bankeinbruch

Eine nicht näher bezeichnete Menge von Wertgegenständen wurde während des verlängerten Wochenendes aus der WestLand National Bank in Downtown gestohlen. Das meldeten die Behörden am Dienstag.

Nach Angaben von Special Agent John Rourke war der Einbruch, den das FBI gemeinsam mit dem Los Angeles Police Department untersucht, entdeckt worden, als Mitarbeiter der an der Ecke Hill Street und Sixth Avenue gelegenen Bank am Dienstag eintrafen und feststellten, dass der Tresorraum mit den Schließfächern leer geräumt worden war.

Rourke sagte, eine Schätzung der gestohlenen Wertsachen sei noch nicht vorgenommen worden. Quellen aus dem Umfeld der Untersuchung vermuten jedoch, aus den Kundenschließfächern im Tresor der Bank seien Juwelen und andere Gegenstände im Wert von über einer Million Dollar entwendet worden.

Rourke wollte ebenfalls keine Aussage darüber machen, wie die Einbrecher in den Tresor gelangt waren, sagte jedoch, das Alarmsystem habe nicht richtig funktioniert. Er weigerte sich, dies weiter auszuführen.

Ein Sprecher von WestLand wollte sich am Dienstag nicht zu dem Einbruch äußern. Nach Aussage der Behörden gab es weder Festnahmen noch Verdächtige.

Bosch schrieb den Namen John Rourke in sein Notizbuch und ging zu der nächsten Zeitungsgeschichte über, die sehr viel länger war. Sie war am Tag nach der ersten veröffentlicht und zur Schlagzeile auf der Titelseite des Lokalteils gemacht worden. Sie hatte eine zweizeilige Überschrift, und daneben gab es ein Foto von einem Mann und einer Frau, die im Tresorraum standen und in ein mannsgroßes Loch im Boden sahen. Hinter ihnen war ein Stapel von Schließfächern zu sehen. Die meisten der kleinen Türen standen offen. Bremmers Name stand über der Geschichte.

Mindestens 2 Millionen Dollar Beute bei Tunnelraub

Gauner hatten langes Wochenende Zeit zum Graben

Der Artikel basierte auf der ersten Geschichte, ergänzt um das Detail, dass die Eindringlinge einen Tunnel in die Bank gegraben hatten, etwa hundertfünfzig Meter weit von einem Hochwassertunnel, der unter der Hill Street verlief. In dem Artikel stand, man habe den letzten Durchbruch im Boden des Tresorraums mit Sprengstoff vorgenommen. Nach Angaben des FBI hatten sich die Einbrecher den größten Teil des Wochenendes im Tresor aufgehalten und die einzelnen Schließfächer aufgebohrt. Es wurde angenommen, dass der Tunnel vom Hochwasserkanal zum Tresor in etwa sieben bis acht Wochen vor dem Raub gegraben worden war.

Bosch machte sich eine Notiz, dass er beim FBI fragen wollte, wie der Tunnel gegraben worden war. Falls man schwere Gerätschaften eingesetzt hatte, hätte die Alarmanlage, die sicher wie in den meisten Banken sowohl Geräusche als auch Vibrationen registrierte, die Erschütterungen wahrnehmen und den Alarm auslösen müssen. Außerdem fragte er sich, wieso der Sprengsatz nicht Alarm geschlagen hatte.

Dann sah er sich den dritten Artikel an, der einen Tag nach dem zweiten veröffentlicht worden war. Er war nicht von Bremmer verfasst worden, obwohl auch er im Lokalteil stand. Es war ein Bericht über die Leute, die zu Dutzenden vor der Bank Schlange standen, um nachzusehen, ob ihre Schließfächer unter denen waren, die man aufgebrochen und ausgeraubt hatte. Das FBI begleitete sie in den Tresorraum und nahm ihre Aussagen auf. Bosch überflog die Geschichte, sah aber immer wieder dasselbe: Leute, die wütend oder verzweifelt oder beides waren, da sie Dinge verloren hatten, die im Tresor gelandet waren, weil sie glaubten, hier wären sie sicherer als zu Hause. Gegen Ende der Geschichte wurde Harriet Beecham erwähnt. Man hatte sie interviewt, als sie aus der Bank kam, und sie hatte dem Reporter erklärt, sie habe ihre gesamte Schmucksammlung verloren, die sie auf Weltreisen mit ihrem verstorbenen Mann Harry zusammengetragen hatte. In dem Artikel stand, die Beecham habe ihre Augen mit einem Spitzentaschentuch getupft.

»Ich habe die Ringe verloren, die er mir in Frankreich gekauft hat, ein Goldarmband mit Jadebesatz aus Mexiko«, sagte die Beecham. »Wer auch immer das getan hat, er hat mir meine Erinnerungen genommen.«

Höchst melodramatisch. Bosch fragte sich, ob sich der Reporter das letzte Zitat ausgedacht hatte.

Die vierte Geschichte im Ordner war eine Woche später erschienen. Sie stammte von Bremmer, war kurz und auf den letzten Seiten des Lokalteils versteckt, noch hinter den Nachrichten aus dem Valley. Bremmer berichtete, dass die Untersuchung der WestLand-Sache ausschließlich vom FBI geführt wurde. Das LAPD hatte anfangs geholfen, aber als die Spuren undeutlicher wurden, hatte man den Fall in die Hände der Bundesbehörden gelegt. Erneut wurde Special Agent Rourke zitiert. Er sagte, nach wie vor seien Agenten rund um die Uhr mit dem Fall beschäftigt, jedoch habe man bisher weder Fortschritte gemacht, noch ließe sich ein konkreter Verdacht äußern. Von den gestohlenen Gegenständen aus dem Tresor sei noch nichts wieder aufgetaucht.

Bosch schloss den Ordner. Der Fall war zu groß, als dass das FBI ihn wie einen Banküberfall abschütteln konnte. Er fragte sich, ob Rourke die Wahrheit gesagt hatte, was das Fehlen konkreter Verdächtiger anging. Er fragte sich, ob Meadows’ Name jemals aufgetaucht war. Vor zwei Jahrzehnten hatte Meadows in den Tunneln unter den Dörfern von Südvietnam gekämpft und manchmal auch dort gelebt. Wie alle Tunnelkämpfer verstand er etwas von Abbrucharbeiten. Aber das betraf die Zerstörung von Tunneln. Implosionen. Konnte er gelernt haben, wie man den Stahlbetonboden eines Banktresors sprengte? Dann wurde Bosch klar, dass Meadows nicht unbedingt gewusst haben musste, wie man so etwas machte. Er war sicher, dass für das Ding in der WestLand Bank mehr als eine Person nötig gewesen war.

Er stand auf und holte sich noch ein Bier aus dem Kühlschrank. Bevor er aber zu seinem Sessel zurückkehrte, machte er einen Umweg ins Schlafzimmer, wo er ein altes Fotoalbum aus der untersten Schublade der Kommode holte. Als er wieder in seinem Sessel saß, trank er das Bier halb aus und schlug dann das Buch auf. Haufenweise Fotos lagen lose zwischen den Seiten. Er hatte sie schon längst einkleben wollen, war nur noch nicht dazu gekommen. Er schlug das Buch kaum jemals auf. Die Seiten waren vergilbt und an den Ecken bräunlich verfärbt. Sie waren brüchig, ganz wie die Erinnerungen, die diese Fotos wachriefen. Einzeln nahm er die Schnappschüsse in die Hand und betrachtete sie, war sich irgendwann darüber im Klaren, dass er sie nie eingeklebt hatte, weil es ihm gefiel, die Bilder in der Hand zu halten, sie zu fühlen.

Die Fotos waren allesamt in Vietnam aufgenommen. Wie das Bild, das er in Meadows’ Wohnung gefunden hatte, waren auch diese größtenteils schwarz-weiß. Damals war es in Saigon billig gewesen, einen Schwarz-Weiß-Film entwickeln zu lassen. Auf einigen Bildern war Bosch zu sehen, aber bei den meisten handelte es sich um Aufnahmen, die er mit einer alten Leica gemacht hatte. Sein Pflegevater hatte sie ihm vor der Abreise gegeben, ein Friedensangebot des alten Herrn. Er war dagegen, dass Harry ging, und es hatte Streit darum gegeben. Deshalb wurde die Kamera verschenkt. Und angenommen. Aber Bosch gehörte nicht zu denen, die Geschichten erzählten, als sie heimkehrten, und die Fotos wurden über die Seiten des Albums verteilt, gar nicht erst eingeklebt und kaum jemals angesehen.

Wenn es ein wiederkehrendes Thema dieser Fotos gab, dann waren es lächelnde Gesichter und Tunnel. Auf fast allen Bildern sah man Soldaten, die mit herausfordernden Posen am Schlund eine Lochs standen, das sie wahrscheinlich gerade gestürmt und erobert hatten. Auf einen Außenstehenden mussten die Bilder fremdartig wirken, vielleicht sogar faszinierend. Für Bosch waren sie unheimlich, wie Zeitungsfotos von Leuten, die in Autowracks eingeklemmt waren und darauf warteten, von den Feuerwehrmännern befreit zu werden. Die Bilder zeigten lächelnde Gesichter junger Männer, die in die Hölle hinabgestiegen und wieder herausgekommen waren, um in die Kamera zu lächeln. »Aus heiterem Himmel ins finstere Loch« nannten sie es, wenn sie in einen Tunnel gingen. Jeder Einzelne ein schwarzes Echo. Nur Tod in seinem Inneren. Und dennoch stiegen sie hinein.

Bosch blätterte eine rissige Seite um, und dort starrte ihn Billy Meadows an. Die Aufnahme war zweifellos wenige Minuten nach dem Foto entstanden, das Bosch in Meadows’ Wohnung gefunden hatte. Dieselben Soldaten. Derselbe Schützengraben und derselbe Tunnel. Echo Sektor, Cu-Chi-Distrikt. Nur war Bosch nicht auf diesem Bild, weil er den Schnappschuss gemacht hatte. Seine Leica hatte Meadows’ leeren Blick und das bekiffte Grinsen eingefangen – seine blasse Haut sah wächsern aus, aber straff. Er hatte den wahren Meadows eingefangen, dachte Bosch. Er legte das Foto auf das Blatt zurück und blätterte weiter. Das Nächste zeigte ihn selbst, niemanden sonst. Er erinnerte sich genau daran, wie er die Kamera auf dem Holztisch in einer Hütte postiert und den Timer eingestellt hatte. Dann war er vor die Kamera getreten. Sie hatte geklickt, zeigte, wie er ohne Hemd dasaß und das Sonnenlicht durch das Fenster auf die Tätowierung an seiner sonnengebräunten Schulter fiel. Hinter ihm, wenn auch unscharf, sah man zwischen dem Stroh am Boden der Hütte den dunklen Eingang zu einem Tunnel. Der Tunnel war eine verschwommene, bedrohliche Finsternis wie der grauenhafte Mund auf Edvard Munchs Gemälde Der Schrei.

Während er das Foto betrachtete, erinnerte sich Bosch, dass es den Tunnel in einem Dorf zeigte, das sie Timbuk 2 genannt hatten. Sein letzter Tunnel. Auf diesem Bild lächelte er nicht. Seine Augen saßen in tiefen Höhlen. Und auch jetzt, als er es ansah, lächelte er nicht. Er hielt das Foto in beiden Händen, rieb geistesabwesend seine Daumen am Rand auf und ab. Er starrte das Foto an, bis Erschöpfung und Alkohol ihn in einen Dämmerzustand sinken ließen. Beinahe traumähnlich. Er erinnerte sich an diesen letzten Tunnel, und er erinnerte sich an Billy Meadows.

Drei von ihnen gingen hinein. Zwei von ihnen kamen heraus.

Der Tunnel war bei einer Routinedurchsuchung in einem kleinen Dorf im E-Sektor entdeckt worden. Das Dorf hatte keinen Namen auf den Karten, deshalb nannten die Soldaten es Timbuk 2. Überall tauchten diese Tunnel auf, und es waren nicht genug Ratten da, sie anzugehen. Als unter einem Reiskorb in einer Hütte der Tunneleingang entdeckt wurde, wollte der Sergeant nicht warten müssen, bis ein Hubschrauber mit neuen Ratten landete. Er wollte weiterkommen, aber er wusste, dass der Tunnel überprüft werden musste. Also fällte er eine Entscheidung, wie sie so oft im Krieg getroffen wurde. Er schickte drei seiner eigenen Männer hinein. Drei Jungfrauen, die Hosen voll, vielleicht seit sechs Wochen im Land. Der Sergeant sagte ihnen, sie sollten nicht weit reingehen, nur Sprengladungen anbringen und wieder rauskommen. Macht schnell und deckt euch gegenseitig. Gehorsam stiegen die drei grünen Jungs in das Loch hinab. Aber eine halbe Stunde später kamen nur zwei wieder heraus. Die beiden, die wiedergekommen waren, sagten, sie seien verschiedene Wege gegangen. Der Tunnel verzweigte sich in mehrere Richtungen, und sie hatten sich getrennt. Gerade als sie das erzählten, war ein Donnern zu hören, und Lärm und Qualm und Staub drangen wie ein mächtiger Husten aus dem Schlund des Tunnels. Die C-4-Sprengsätze waren detoniert. Der Lieutenant kam und sagte, ohne den Vermissten würden sie die Zone nicht verlassen. Der Trupp wartete einen ganzen Tag lang, bis sich Qualm und Staub im Tunnel gelegt hatten, und dann wurden per Hubschrauber zwei Tunnelratten abgesetzt – Harry Bosch und Billy Meadows. Es sei ihm egal, ob der vermisste Soldat noch lebe, erklärte ihnen der Lieutenant. Holt ihn raus. Er wollte keinen seiner Jungs in dem Loch zurücklassen. »Geht rein und holt ihn raus da, damit er eine anständige Beerdigung kriegt.«

Meadows sagte: »Von unseren Leuten würden wir auch keinen da unten lassen.«

Dann stiegen Bosch und Meadows hinab und stellten fest, dass der Haupteingang zu einem Kreuzungsraum führte, in dem Reiskörbe gestapelt wurden und drei weitere Gänge begannen. Zwei davon waren bei den C-4-Explosionen eingebrochen. Der dritte stand noch offen. Es war der, den der vermisste Soldat genommen hatte. Und es war der Weg, den sie nahmen. Sie krochen durch die Finsternis, Meadows voran, benutzten ihre Lampen nur selten, bis sie nicht weiter kamen. Meadows stocherte am Boden des Tunnels herum, bis er eine versteckte Tür fand. Er brach sie auf, und sie ließen sich in eine tiefer gelegene Ebene des Labyrinths hinab. Ohne ein Wort zu sagen, zeigte Meadows in eine Richtung und kroch davon. Bosch wusste, er sollte die andere Richtung nehmen.

Beide wären jetzt allein, es sei denn, vor ihnen wartete der Vietcong. Bosch befand sich in einem gewundenen Gang, in dem es warm war wie in einem Dampfbad. Der Tunnel stank feucht und ein wenig wie eine Latrine. Er roch den vermissten Soldaten, bevor er ihn sah. Er war tot, seine Leiche verweste schon, aber dennoch saß er breitbeinig mitten im Tunnel, die Spitzen seiner Stiefel deuteten nach oben. Der Tote lehnte an einem Pfosten, der im Boden des Tunnels steckte. Ein Stück Draht, das ein paar Zentimeter weit in seinen Hals schnitt, war um den Pfosten gewickelt und hielt ihn aufrecht. Aus Angst vor einer Sprengfalle rührte Bosch ihn nicht an. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe über die Halswunde und folgte der Spur getrockneten Blutes auf der Leiche. Der tote Mann trug ein grünes T-Shirt, auf dem vorn in Blockbuchstaben sein Name stand. »Al Crofton« war dort unter dem Blut zu lesen. Fliegen klebten im verkrusteten Blut auf seiner Brust, und einen Moment lang fragte sich Bosch, wie sie den Weg hierher gefunden hatten. Er ließ das Licht zwischen die Beine des Soldaten sinken und sah, dass auch dort schwarzes, getrocknetes Blut war. Die Hosen waren aufgerissen, und Crofton sah aus, als hätte ihn ein wildes Tier angefallen. Der Schweiß begann in Boschs Augen zu brennen, und sein Atem wurde lauter und hastiger, als er es wollte. Im selben Augenblick wurde er sich dessen bewusst, ebenso wie der Tatsache, dass er nichts dagegen tun konnte. Croftons linke Hand lag mit der Handfläche nach oben am Boden neben seinem Oberschenkel. Bosch leuchtete darauf und sah die blutigen Hoden. Er unterdrückte den Zwang, sich übergeben zu müssen, konnte aber nicht verhindern, dass er hyperventilierte.

Er presste die Hände vor den Mund und versuchte, sein keuchendes Atmen zu verlangsamen. Es ging nicht. Er verlor die Kontrolle. Er geriet in Panik. Er war zwanzig Jahre alt, und er hatte Angst. Die Wände des Tunnels kamen immer näher. Er rollte sich von der Leiche weg und ließ die Lampe fallen, deren Licht aber auf Crofton gerichtet blieb. Bosch trat nach den Lehmwänden des Tunnels und rollte sich zusammen. Tränen spülten den Schweiß in seinen Augen fort. Anfangs kam es leise, doch bald erschütterte sein Schluchzen den ganzen Körper, und es schien in alle Richtungen zu hallen, bis dahin, wo der Charlie hockte und wartete. Mitten in der Hölle.

Schwarzes Echo

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